Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/21/2009

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Die Sitzung ist eröffnet. Vor dem Eintritt in die Tagesordnung möchte ich Folgendes bekannt geben: Interfraktionell ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 6 - es handelt sich dabei um den Dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung sowie weitere Berichte zum Thema um die Beratung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen mit dem Titel „Programm für ein selbstbestimmtes Leben ohne Armut - Eine Neuformulierung des Dritten Armuts- und Reichtumsberichtes“ auf Drucksache 16/10654 zu ergänzen. Außerdem soll der Tagesordnungspunkt 9 abgesetzt und an dieser Stelle der Tagesordnungspunkt 16, bei dem es um die Medienkompetenz Älterer geht, beraten werden. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf: Befragung der Bundesregierung Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Gesetzentwürfe zur Verbesserung des Kinderschutzes und zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes. Wegen des ressortübergreifenden Themas wird zunächst die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Frau Dr. Ursula von der Leyen, und anschließend die Bundesministerin der Justiz, Frau Brigitte Zypries, das Wort für einen einleitenden Bericht erhalten. - Ich bitte Sie, Frau von der Leyen.

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Kabinett hat heute einen Gesetzentwurf zur Verbesserung des Kinderschutzes beschlossen. Dieser Gesetzentwurf schließt Lücken, vor allem zum Schutz kleinerer Kinder. Wir wissen, dass ein Drittel der Kinder, die misshandelt werden, jünger als ein Jahr sind. In zwei Dritteln der Fälle ist es die leibliche Mutter, die dies getan hat, und in einem Drittel der Fälle der leibliche Vater oder der neue Partner. Jetzt werden drei Rechtsbereiche verbindlich geregelt: Erstens. Wir schaffen eine Befugnisnorm zur Informationsweitergabe für sogenannte Berufsgeheimnisträger. Das wird in einem zweistufigen Verfahren geregelt. Die erste Stufe besteht darin, dass zum Beispiel ein Arzt oder eine Ärztin oder Rechtsanwälte, die den Verdacht auf Vernachlässigung oder Misshandlung haben, verpflichtet sind, zunächst das vertrauensvolle Gespräch mit den Eltern zu suchen, Hilfe zu suchen. Wenn dieses Gespräch nicht fruchtet und die Hilfe nicht angenommen wird, muss in einer zweiten Stufe das Jugendamt eingeschaltet werden. Wichtig ist, dass dann der Kinderschutz über der Schweigepflicht steht. Wir sehen in dem Gesetzentwurf ausdrücklich die Möglichkeit vor, dass sich diese Berufsgruppen fachlich beraten lassen, um bei ihrer Einschätzung sicher zu sein. Dieses zweistufige Verfahren soll auch für andere Berufsgruppen gelten, die mit der Erziehung, Betreuung und Ausbildung von Kindern befasst sind, zum Beispiel Lehrerinnen und Lehrer. Diese Berufsgruppen handelten bisher quasi in einem luftleeren Raum. Es gab keine Regelung. Jetzt soll gelten: Erst muss das Gespräch mit den Eltern und fachliche Hilfe gesucht und dann als Ultima Ratio das Jugendamt eingeschaltet werden. Zweiter Punkt. Mit dem Kinderschutzgesetz schaffen wir verbindliche Standards für die Arbeit des Jugendamtes. Wir regeln, dass bei Verdachtsmomenten bezüglich Misshandlung und Verwahrlosung grundsätzlich das Kind angeschaut werden muss. Das heißt, es reicht nicht aus, sich auf Aussagen Dritter zu verlassen oder nur nach Aktenlage zu entscheiden. In vielen Jugendämtern ist das bereits gängige Praxis, aber eben nicht überall, wie wir durch die Auswertung der schrecklichen Fälle von Kindstötung, schwerer Misshandlung und Verwahrlosung wissen. Es ist auch geregelt, dass grundsätzlich, im Sinne einer Regelverpflichtung, der Hausbesuch gilt. Dritter Punkt. Die Informationen über das Kind werden bei einem Wohnortwechsel der Familie weitergegeben. Wir wissen aus den Auswertungen von Kinderschutzfällen, dass manche Familien, die auffällig Redetext geworden sind, umziehen, um sich der Kontrolle des Jugendamtes zu entziehen. Wir regeln nun verbindlich, dass die Informationen von einem Jugendamt zum nächsten weitergegeben werden müssen, und zwar nicht nur in Form der Akten; grundsätzlich muss auch ein Übergabegespräch stattfinden. Somit setzt der Entwurf des Kinderschutzgesetzes auf Grundlage der Beschlüsse, die sowohl von der Bundeskanzlerin als auch von allen Regierungschefs der Länder gemeinsam gefasst worden sind, klare Signale für einen besseren Kinderschutz in Deutschland.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Ministerin Zypries, bitte.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin von der Leyen hat es gerade gesagt: Bei den Gesetzentwürfen, die das Kabinett heute beschlossen hat, geht es um die Umsetzung der Beschlüsse des sogenannten Kindergipfels vom Juni des letzten Jahres. Das Bundesministerium der Justiz ist davon durch eine Erweiterung des Führungszeugnisses betroffen. Lassen Sie mich das ganz kurz erklären: Das Führungszeugnis ist eine Bescheinigung darüber, ob jemand eine Straftat begangen hat und wozu er verurteilt wurde. Wir sehen mit diesem Gesetzentwurf vor, ein sogenanntes erweitertes Führungszeugnis einzuführen. Das heißt, wir wollen auch solche Verurteilungen zu Tagessätzen oder Freiheitsstrafen in ein Führungszeugnis aufnehmen, die bisher nicht dokumentiert werden. Das Führungszeugnis - wie auch die Löschungsfristen für registrierte Verurteilungen - wägt ja zwischen dem Interesse der Menschen, mit denen ein verurteilter Straftäter umgeht, und seinem Interesse an der Resozialisierung ab. Deswegen sehen wir Löschungsfristen vor, und Erstverurteilungen bis zu 90 Tagessätzen oder bis zu drei Monaten Freiheitsstrafe wurden bisher nicht ins Führungszeugnis aufgenommen. Wir haben jetzt einen Vorschlag vorgelegt, den das Hohe Haus zu beraten haben wird, in dem wir vorsehen, dass künftig auf Anfrage auch mitgeteilt wird, ob jemand insbesondere aufgrund eines Sexualdeliktes zu weniger als 90 Tagessätzen oder weniger als drei Monaten Freiheitsstrafe erstmalig verurteilt wurde. Dies wurde bisher nicht ausgewiesen. Angefordert werden kann dieses sogenannte erweiterte Führungszeugnis immer dann, wenn Personen regelmäßig mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt kommen. Wir haben also auch hier das Resozialisierungsinteresse des Täters im Blick behalten, indem wir eben nicht, wie es in dem Ihnen vorliegenden Bundesratsentwurf der Fall ist, vorsehen, dass generell für jede Einstellung eine solche Mitteilung erfolgt. Vielmehr differenzieren wir zwischen Menschen, die bei ihrer beruflichen oder auch ehrenamtlichen Beschäftigung mit Kindern und Jugendlichen regelmäßig in Kontakt kommen, und solchen, die das nicht tun. Das heißt ganz konkret: Jemand, der zum Beispiel den ganzen Tag auf einem Kran sitzt oder eine Betonmischmaschine fährt, hat so gut wie keine Möglichkeit, bei der Ausübung seines Berufs mit Kindern und Jugendlichen in Kontakt zu kommen, und braucht deshalb dieses erweiterte Führungszeugnis nicht vorzulegen. Allerdings empfehlen wir dringend allen Personen, die beruflich oder ehrenamtlich Menschen beschäftigen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, künftig dieses sogenannte erweiterte Führungszeugnis zu verlangen, um sich auf diesem Wege vergewissern zu können, ob die Person aufgrund von leichteren Straftaten insbesondere im Bereich der Sexualdelikte verurteilt wurde. Das sind die Grundzüge. Für Fragen stehe ich zur Verfügung.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Danke schön, Frau Ministerin. - Ich bitte, zunächst Fragen zu dem Themenbereich zu stellen, über den soeben berichtet wurde. Ich gebe das Wort zur ersten Frage der Kollegin Deligöz.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich habe eine Frage an Frau von der Leyen. Frau von der Leyen, habe ich richtig verstanden, dass Sie planen, die Schweigepflicht der sogenannten Geheimnisträger, also zum Beispiel Ärzte, Berater und andere, zulasten des Vertrauensverhältnisses zu den Patienten oder Klienten zu lockern? Warum glauben Sie - dann, wenn ich Sie richtig verstanden habe -, dass die bereits bestehenden Regelungen, zum Beispiel § 34 des Strafgesetzbuches, nicht ausreichend sind und erweitert werden müssen?

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Bitte schön.

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Wir wollen die Regeln zur Schweigepflicht zugunsten des Kinderschutzes verändern. Das wird vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte ausdrücklich begrüßt. Bisher ist im Strafgesetzbuch geregelt - Sie haben darauf hingewiesen -, wann und wie ein Arzt oder eine Ärztin bestraft werden kann, wenn er oder sie die Schweigepflicht bricht. Das hat in der Ärzteschaft zu einer großen Unsicherheit geführt: Wenn ein Arzt ein Kind sieht, bei dem der Verdacht auf Misshandlung besteht, dann weiß er nicht, ob er das Jugendamt informieren darf, ohne straffällig zu werden. Deshalb ist jetzt klargestellt, dass erst das vertrauensvolle Gespräch mit den Eltern und Hilfe gesucht wird. Wenn das aber nicht fruchtet, muss der Arzt oder die Ärztin nicht noch den schlagenden Vater fragen, ob das Jugendamt eingeschaltet werden darf. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Die nächste Frage stellt die Kollegin Haßelmann.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Auch ich habe eine Frage an die Familienministerin. Frau von der Leyen, wenn das, was Sie bislang im Kabinett diskutiert - das ist auch öffentlich nachzulesen - und hier gerade erläutert haben, vom Parlament so beschlossen werden würde, würden die Aufgaben der Kommunen in Sachen Kinderschutz erheblich erweitert, zumindest wenn ernsthaft an der Umsetzung dieser zahlreichen Aufgaben gearbeitet würde. Deshalb möchte ich Sie fragen, inwieweit geklärt ist, ob die Kommunen in die Lage versetzt werden, diese Aufgaben durchzuführen, ob auch ihre finanzielle Ausstattung deutlich erweitert würde; denn sie müssten ihre Leistungen im Jugendamtsbereich sowie in anderen Bereichen intensivieren. Gibt es Vereinbarungen zwischen den Ländern und Ihnen über die konkrete Frage, wie die Kommunen in die Lage versetzt werden, diesen erweiterten Aufgabenbereich wahrzunehmen und ihn auch zu finanzieren?

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Bitte schön.

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Sie sprechen den zweiten Regelungsbereich an, nämlich die Klarstellung für Jugendämter, dass diese dann, wenn ein Verdacht auf Misshandlung oder Verwahrlosung vorliegt, verpflichtet sind, sich das Kind anzuschauen, statt nur in die Akten zu sehen oder sich auf das Wort von Eltern oder Großeltern zu verlassen, wenn diese sagen: Dem Kind geht es gut; es ist im Augenblick nicht da; es schläft; wir können es Ihnen nicht zeigen. In der überwiegenden Zahl der Jugendämter ist es schon heute der Regelfall, dass man sich das Kind ansieht. Ich denke, es ist nachvollziehbar und plausibel, dass man sich bei Verdacht auf Misshandlung eines Kindes zuerst das Kind anschaut. Aber es gibt und gab Fälle - das haben wir in der Auswertung festgestellt -, in denen über Wochen nur aufgrund der Aktenlage entschieden wurde. Man hat sich darauf verlassen, dass Dritte gesagt haben, dem Kind gehe es gut. Auf diese Weise ist gewissermaßen unter den Augen des Jugendamtes oder der Behörden ein Kind verhungert. Deshalb stellen wir die Lage klar. Ich sehe das auch als Rückenstärkung für die Jugendämter. Wie gesagt, die überwiegende Zahl der Jugendämter verfährt so, dass das Kind angeschaut wird. Aber in den Jugendämtern, in denen dies mangels Zeit oder Personal nicht möglich ist, muss in der Tat, gemeinsam etwa mit dem Stadtkämmerer, der Kommune oder der Verwaltung, die Frage beantwortet werden: Warum geht bei uns nicht das, was in anderen Kommunen selbstverständlich ist? - Wir wollten gesetzlich klarstellen, dass es selbstverständlich sein muss, dass die Kinder persönlich angeschaut werden.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Lehrieder.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Frage geht ebenfalls an die Frau Familienministerin von der Leyen. Frau von der Leyen, was ist, wenn eine Familie den Hausbesuch nicht zulässt, das heißt, wenn die aufsuchende Hilfe an der Haustür abgewiesen wird? Und werden künftig auch Fachkräfte der freien Träger, zum Beispiel die Erzieherinnen in Kitas, zu diesen Hausbesuchen verpflichtet?

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Ihre Frage bezieht sich auf die Regelverpflichtung zum Hausbesuch. Der Gesetzentwurf besagt, dass in der Regel ein Hausbesuch stattfinden muss; denn wir haben festgestellt, dass es gerade im Hinblick auf kleine Kinder und Säuglinge ganz entscheidend ist, zu prüfen: Wie leben sie? Wie sieht die Wohnung aus? Wie ist ihre Umgebung? Von dieser Regelverpflichtung gibt es allerdings Ausnahmen. Wenn vermutet wird, dass die Gewaltsituation eskaliert, zum Beispiel bei sexuellem Missbrauch, ist das Jugendamt nicht verpflichtet, einen Hausbesuch durchzuführen. Dann müssen zuerst andere Wege gegangen werden. Sie fragten, was geschieht, wenn Eltern das Zutrittsrecht verweigern. In einem solchen Fall bleibt alles wie bisher; denn es ist das Recht der Wohnungsinhaber, in diesem Falle der Eltern, den Zutritt zur Wohnung zu verweigern. Wenn aber Gefahr für Leib und Leben des Kindes besteht, muss die Polizei eingeschaltet werden. Die Polizei kann sich dann Zutritt zur Wohnung verschaffen. Hier gibt es also eine ganz klare Trennung zwischen dem, was Aufgabe des Jugendamtes ist, und dem Schutz des Kindes bei Gefahr für Leib und Leben, der in letzter Konsequenz Aufgabe der Polizei ist. Zu Ihrer zweiten Frage. Die Erzieherinnen und Erzieher, von denen Sie sprachen, werden nicht verpflichtet, Hausbesuche durchzuführen. Uns war wichtig, einen Bereich zu regeln, der bisher noch nicht geregelt war: Wie können sich Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer verhalten, wenn der Verdacht der Misshandlung oder Verwahrlosung besteht? Da gilt: Zunächst muss ein Gespräch mit den Eltern geführt und Hilfe von außen gesucht werden, und erst wenn alle Stricke reißen, muss das Jugendamt eingeschaltet werden, das dann seine Pflicht tun muss.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Auch ich habe eine Frage an Frau von der Leyen. Mir ist allerdings nicht klar, ob das Thema, das ich ansprechen möchte, in Ihrem Gesetzentwurf enthalten ist; in Ihrem Vortrag haben Sie es nämlich nicht erwähnt. Sie haben sich in den letzten Tagen wiederholt zur Sperrung kinderpornografischer Inhalte im Internet geäußert. Daher möchte ich von Ihnen wissen: Wird dieses Thema auch in Ihrem Gesetzentwurf aufgegriffen, und, wenn ja, wie werden die entsprechenden Regelungen ausgestaltet? Volker Beck ({0}) In dem Ziel, die Kinderpornografie rückstandslos aus dem Netz und aus unseren Gesellschaften zu verbannen, sind wir uns einig. Allerdings haben Sie in Fernsehinterviews darauf hingewiesen, dass die Rechtslage in vielen Ländern der Welt ein Verbot der Einstellung kinderpornografischen Materials, die Verfolgung der Einsteller und somit die Sperrung dieser ekelhaften Inhalte nicht ermögliche. Ich möchte von Ihnen wissen: In welchen Ländern gibt es diese Probleme? Welche Länder haben eine Rechtslage, die es nicht ermöglicht, die Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie im Netz zu verbieten? Welche Versuche unternimmt die Bundesregierung, die Kooperation auf internationaler Ebene zu verbessern? Die internationale Kooperation scheint auf diesem Gebiet ohnehin wesentlich wichtiger zu sein als eine Sperrung dieser Inhalte. Denn eine Sperre würde von findigen Leuten sowieso umgangen werden, wie Sie selbst auf Ihrer Website zugeben. Außerdem stößt in der Internet-Community eine Sperre in diesem Bereich wegen einer möglichen Übertragung auf andere Bereiche auf erhebliche Bedenken. Letztlich müssen wir uns die Frage stellen, ob wir unseren Bürgern überhaupt noch ein freies Internet zur Verfügung stellen können. Vor diesem Hintergrund bitte ich Sie, Ausführungen zu Ihrer Strategie und zu Ihren Überlegungen im Hinblick auf mögliche Alternativstrategien zur Erreichung dieses Zieles zu machen.

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Zunächst einmal: Eine Zugangssperre im Hinblick auf kinderpornografische Websites ist nicht Bestandteil dieses Kinderschutzgesetzes. Eine solche Regelung müsste im Telemediengesetz, also an anderer Stelle, getroffen werden. Nichtsdestotrotz handelt es sich um ein aktuelles Thema. Sie fragten nach der unterschiedlichen Rechtslage in den verschiedenen Ländern der Welt. Man muss es so formulieren: Erstens. In der Hälfte der Länder dieser Welt wird Kinderpornografie überhaupt nicht geächtet, sondern toleriert bzw. akzeptiert. Zweitens gibt es Länder, in denen Kinderpornografie, also die Vergewaltigung und Misshandlung von Kindern, die mit Kameras gefilmt und von der Bilder oder Filme ins Netz gestellt werden, geächtet wird. Wir wissen, dass es im europäischen Raum mittlerweile 16 Länder gibt, die sehr eng zusammenarbeiten, und zwar auch mit einigen außereuropäischen Ländern. Diese Zusammenarbeit umfasst die gesamte polizeitaktische Ermittlung und den Austausch von Polizeistrategien und Websites, die kinderpornografische Inhalte haben. Das zeigt, dass die wichtigsten Schritte im Kampf gegen Kinderpornografie sind, die Täter zu ermitteln, die es weltweit gibt, und die Quellen zu schließen, die weltweit verbreitet sind. Schon das Wort „weltweit“ zeigt, dass diese Arbeit sehr schwierig, aufwendig und mühselig ist; nichtsdestotrotz muss sie gemacht werden. Drittens sind da die Länder, die mit den Anbietern, die den Kunden den Zugang zum Internet ermöglichen, vereinbaren, dass Seiten mit kinderpornografischem Inhalt geblockt werden. In Europa haben sich inzwischen neun Länder - unter anderem die skandinavischen Länder, Italien, die Schweiz, Großbritannien; hinzu kommt als außereuropäisches Land Neuseeland - zu diesem Zweck zusammengetan. Wir möchten gerne als zehntes Land dabei sein. In diesen Ländern sollen die obersten Polizeibehörden täglich das Internet nach kinderpornografischen Seiten screenen. Diese Seiten werden nämlich schnell wieder aus dem Netz genommen; das Ganze erfolgt sehr dynamisch. Es geht darum, diese Seiten zu identifizieren, das Wissen auszutauschen und es an die Internetanbieter weiterzuleiten, damit diese die Seiten blocken. Das Blocken selbst ist eine Sache von Minuten. Für die Recherche braucht, wie uns die Experten sagen, ein Spezialist etwa eine Stunde am Tag. Natürlich braucht man im Kampf gegen Kinderpornografie verschiedene Bausteine. Die Zugangsblockade ist einer dieser Bausteine. Sie wird schwer Pädokriminelle nicht davon abhalten, ihr schmutziges Geschäft weiter zu betreiben; diese Leute werden Möglichkeiten finden, die Blockade zu umgehen. Aber das Massengeschäft - die 15 000 Zugriffe, die Norwegen jeden Tag blockt, die 50 000 Zugriffe, die Schweden, das ja gerade einmal 9 Millionen Einwohner hat, jeden Tag blockt - können wir durch eine Zugriffssperre unmöglich machen. Damit gehen den Tätern Einnahmen in Millionenhöhe verloren. Deswegen ist dieser Ansatz strategisch wichtig.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Montag, bitte.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön, Frau Präsidentin. - Ich habe Fragen an Frau Bundesjustizministerin Zypries. Frau Zypries, die Bundesregierung avisiert mit diesem Gesetzentwurf, dass Ärzte als Geheimnisträger bei Verdacht einer Gefährdung des Kindeswohls auch - nachdem sie mit den Eltern gesprochen haben - mit den Behörden Kontakt aufnehmen können. Ich möchte Sie zu der Haltung Ihres Hauses und zu Ihrer persönlichen Einschätzung dazu befragen. Die Rechtslage ist doch klar: Wenn eine aktuelle Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit eines Menschen besteht, tritt § 203 StGB zurück. Darüber gibt es keine Unsicherheit; das steht auch in jedem Kommentar. Deswegen ist die Bemerkung Ihrer Kollegin Frau von der Leyen, heute müsse ein Arzt den schlagenden Vater fragen, ob er sich ans Jugendamt wenden dürfe, schlicht unsachlich. Jetzt schlägt die Bundesregierung vor, dass nun statt einer Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit „nur“ - ich sage das bewusst in Anführungszeichen - die Gefährdung des Kindeswohls ausreichen solle. Da stellt sich die Frage, wie sich dieser Tatbestand scharf umfassen lässt. Außerdem soll bereits der Verdacht ausreichen, der sich im Nachhinein als völlig ungerechtfertigt herausstellen kann. Was bedeutet das für § 203 StGB? Wird dieser Paragraf durchlöchert? Was wird bei der von Ihnen geplanten Neuregelung aus dem berechtigten Schutz der Geheimnisträger und der Geheimnisse? Das würde ich von Ihnen als Justizministerin gerne wissen. Ein Zweites. Frau Zypries, Sie haben hier Ausführungen zum Bundeszentralregister gemacht. Es gibt ein erweitertes Zeugnis, das man benötigt, wenn man sich bei Behörden bewirbt oder wenn man Beamter werden will. Dieses erweiterte Zeugnis bekommt man selber gar nicht in die Hand; es wird direkt an den künftigen Arbeitgeber oder an die Dienststelle geschickt. Des Weiteren gibt es das sogenannte beschränkte Zeugnis, in dem Bestrafungen von unter 90 Tagessätzen nicht aufgeführt werden. Das können sich die Bürgerinnen und Bürger selbst bei der Polizeiinspektion abholen. Meine Frage lautet: Ist jetzt daran gedacht, dass das Bundesamt für Justiz in Bonn ein solches erweitertes Führungszeugnis direkt an private Arbeitgeber verschickt? Wenn das so ist: Nach welchen Kriterien soll eigentlich unterschieden werden, welche privaten Arbeitgeber ein solches erweitertes Führungszeugnis erhalten sollen?

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Ministerin, bitte.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Herr Montag, um mit Ihrer zweiten Frage anzufangen: Weil das in der Tat schwierig wäre, ist es nicht vorgesehen, das so zu machen. Das Führungszeugnis, das Sie als Erstes angesprochen haben, ist das sogenannte Behördenzeugnis. Das können nur bestimmte Arbeitgeber anfordern. Wir reden aber nicht nur von bestimmten Arbeitgebern, sondern wir reden von allen Arbeitgebern. Deswegen wird es so sein, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber aufgefordert wird, ein entsprechendes Führungszeugnis zu besorgen. Deshalb lautet mein Appell an die Arbeitgeber, sich solche Führungszeugnisse vorlegen zu lassen. Hier besteht also keine Sorge. Zu dem ersten Punkt. Es geht uns in der Tat darum, den Umfang der Möglichkeiten, prüfen zu können, ob in einer Familie etwas nicht in Ordnung ist, zu erweitern. Deswegen halte ich das auch für richtig. Sie wissen, dass ich da ohnehin eine Position vertrete, die von den Abgeordneten des Rechtsausschusses nicht geteilt wird. In der letzten Legislaturperiode hatten wir schon einmal einen Disput darüber. Ich persönlich halte es für richtig, dass man sagt: Auch dann, wenn sich hinterher herausstellt, dass das Kind nicht geschlagen bzw. vernachlässigt wird, ist es, wenn der begründete Verdacht besteht, dass das - was auch immer dann dahintersteckt - der Fall sein könnte, gerechtfertigt, dass sich das Jugendamt bzw. die Jugendbehörde darum kümmert und mit den Eltern oder mit anderen ein Gespräch führt, um festzustellen, ob dort eine Gefahr vorhanden ist oder eben nicht; denn wenn wir warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist, ist es zu spät. Das ist ja gerade das, was wir vermeiden wollen. Wir wollen deutlich machen: Es gibt hier eine bestimmte Verantwortung, die frühzeitig wahrzunehmen ist. Deswegen halte ich den Vorschlag der Bundesregierung, wie ihn die Kollegin von der Leyen gemacht hat, für richtig. Das wurde durch mein Haus ja auch mitgezeichnet. Wir werden hier im Deutschen Bundestag bei den Beratungen darüber zu diskutieren haben und sehen, ob die Abgeordneten das mittragen oder ob sie meinen, man müsse das anders machen. Das ist der normale Gang der Dinge. Manche sagen Struck’sches Gesetz dazu.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Wunderlich, bitte.

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Dankenswerterweise wurde eine Frage von mir bereits vorweggenommen, bei der es um die geltende Rechtslage und die Schweigepflicht ging, auf die sich viele Ärzte zurückziehen, was im konkreten Einzelfall aber gar nicht zulässig ist. Deswegen sehe ich das Erfordernis nicht ganz so. Es gibt vielleicht ein Erfordernis hinsichtlich eines Umdenkens der Ärzte, aber nicht hinsichtlich der gesetzlichen Regelung. Ich habe eine Frage an Frau von der Leyen. Es gibt den § 8 a des KJHG, in dem es um den Schutzauftrag des Jugendamtes geht. Das ist geltendes Recht. Ist sichergestellt, dass für die Umsetzung des von Ihnen geschilderten Gesetzentwurfs, wie er vom Kabinett verabschiedet worden ist, auch die erforderlichen Mittel zur Verfügung stehen? Im Bereich der Jugendämter und im Jugendhilfebereich ist jahre- und jahrzehntelang gekürzt worden. Es sind Sachmittel und Personalstellen gestrichen worden, sodass der § 8 a KJHG schon jetzt nicht umgesetzt werden kann. Im Konkreten: Es gibt Kommunen, in denen auf einen Sozialarbeiter des Allgemeinen Sozialdienstes 200 Familien kommen. Wenn jetzt noch erweiterte Aufgaben mit Hausbesuchen auf sie zukommen und bei einem normalen Achtstundentag sechs Minuten pro Familie bleiben - man muss natürlich sagen, dass nicht alle Familien Problemfamilien sind -, dann frage ich mich, wie gewährleistet werden soll, dass das personell und finanziell tatsächlich umgesetzt werden kann. Gibt es konkrete Absprachen mit den Ländern und Kommunen dazu? Ganz konkret: Werden die entsprechenden Mittel aufgestockt?

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Die Aufstockung der kommunalen Mittel ist nicht Aufgabe des Bundes, aber wir haben diesen Gesetzentwurf mit den Ländern vorher detailliert abgestimmt. Deswegen hat seine Entwicklung auch lange gedauert. Noch einmal dazu, was ich eben schon ausgeführt habe: Das ist auch als Rückenstärkung für die Jugendämter zu verstehen. In einer Vielzahl der Jugendämter findet ein gutes Management statt und ist aufgrund ausreichender Zeit- und Personalressourcen, von denen Sie eben gesprochen haben, ein guter Kinderschutz gegeben. Aber gerade dann, wenn im Gesetz eindeutig geregelt ist, dass nicht nur nach Aktenlage entschieden werden dürfe, sondern bestimmte Wege gegangen, Gespräche geführt und die Kinder angeschaut werden müssten, ist dies auch ein starkes Argument dafür, dass innerhalb einer Kommune die Mittel zum Beispiel zugunsten des Jugendamtes anders verteilt werden.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Golze, bitte.

Diana Golze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Auch ich habe eine Frage an Frau Bundesministerin von der Leyen: Sie haben zu Beginn Ihrer Ausführungen gesagt, dass es eine Fortbildung und Qualifizierung für Kinder- und Jugendärzte geben solle, damit sie im Einzelfall konkret darauf vorbereitet seien, entscheiden zu können, ob eine Vernachlässigung bzw. ein Verstoß gegen das Kindeswohl vorliege. Wie kann dies angesichts des schon beschriebenen sehr weichen Begriffs „Gefährdung des Kindeswohls“ gewährleistet werden? Wie soll die Qualifikation der Kinder- und Jugendärzte aussehen? Auf welche Erfahrungswerte - mir ist bekannt, dass es in einigen Bundesländern, zum Beispiel in MecklenburgVorpommern, Kolloquien in diese Richtung gibt - greift die Bundesregierung zurück? Wie kann also gewährleistet werden, dass trotz eines so weich umschriebenen Begriffs wie „Gefährdung des Kindeswohls“ eine fassbare Größe für die Kinder- und Jugendärzte gegeben ist, nach der sie entscheiden können?

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Ich habe eingangs nicht gesagt, dass eine Qualifikation und Weiterbildung der Ärzteschaft aufgrund dieses Gesetzes oder durch uns erfolgen müsse. Die Weiterbildung und Qualifikation der Ärztinnen und Ärzte obliegt der Ärzteschaft in Eigenorganisation. Deshalb gibt es im Hinblick auf die Versorgung auch den gesetzlichen Sicherstellungsauftrag, der beinhaltet, dass die Ärzteschaft nach den Standards ihrer Kunst weitergebildet wird. Sie haben eben schon skizziert, dass das Thema „Verwahrlosung und Misshandlung“, das in der Tat schwer zu fassen ist, in der Ärzteschaft im eigenen Interesse, um die Profession fortzubilden, inzwischen viel intensiver diskutiert und auch bei Fortbildungen beachtet wird. Im Gesetz wird deutlich gesagt, dass die Kaskade nach dem Gespräch mit den Eltern bedeutet, nicht nur nach Hilfen für die Eltern zu suchen, sondern dann, wenn man es als Arzt oder Ärztin braucht, auch Hilfe von Expertinnen und Experten zum Beispiel aus Kinderschutzzentren oder von besonders qualifizierten Kinderärzten zu holen, um sich zu vergewissern, dass die Verdachtsdiagnose „Misshandlung und Verwahrlosung“ auf sicheren Füßen steht, bevor an den dritten Schritt gedacht wird, sich mit dem Jugendamt in Verbindung zu setzen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Gruß, bitte.

Miriam Gruß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003760, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank. - Wir alle wissen, dass Prävention besser ist, als erst dann einzuschreiten, wenn schon etwas passiert ist. Daher frage ich Sie, Frau Bundesministerin, ob in diesem Zusammenhang auch geplant ist, ein bundesweites Familienhebammenmodell aufzubauen. Oftmals ergeben sich Fälle von Vernachlässigung und Missbrauch aus Überforderungssituationen, die sich nicht selten bereits sehr früh, etwa in der Schwangerschaft, erkennen lassen. Deswegen halte ich das Familienhebammenmodell für sehr gut. Ist diesbezüglich etwas in der Planung? Meine zweite Frage zielt ebenfalls auf eine Definition ab. In § 2 Abs. 1 und 3 des Gesetzentwurfs werden gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen genannt. Natürlich ist es schwierig, so etwas zu definieren. Können Sie aber trotzdem etwas dazu sagen, wie festgestellt werden soll, was gewichtige Anhaltspunkte sind? Wie sollen sie definiert werden? Ein blauer Fleck ist offensichtlich. Aber oftmals sind Misshandlungen und Vernachlässigungen nicht offensichtlich erkennbar. Was sind also gewichtige Anhaltspunkte? Wie kann man sie feststellen und definieren? - Danke.

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Ich beginne mit dem zweiten Teil Ihrer Frage: Hier ist nicht der Ort, um die Fachdiskussion zu führen, wie man die Diagnose „Misshandlung und Verwahrlosung“ sicher stellen kann. Aber da Sie das Wort „blauer Fleck“ anführen, erinnere ich daran, dass blaue Flecken auf Schienbeinen bei Kindern selbstverständlich sind, weil sie hinfallen und sich stoßen. Anders verhält es sich aber bei massiven blauen Flecken auf dem Rücken oder auf den Streckseiten der Beine, auf die Kinder typischerweise nicht fallen: Das sind die Pfade, bei denen die Ärzteschaft bestimmen muss, welche weiteren Schritte notwendig sind, um das medizinisch klarer zu fassen. Auch unklare Brüche - zum Beispiel ein Schädelbruch -, deren Zustandekommen nicht plausibel ist, sind typische Indizien, bei denen man nicht nur die Behandlung durchführen kann, sondern weiter gehende Fragen stellen muss. Sie fragten nach Modellprojekten zum Beispiel unter dem Stichwort „Familienhebammen“. Solche Modellprojekte werden bereits durchgeführt. Es gibt im Nationalen Zentrum Frühe Hilfen inzwischen zehn bis zwölf Modellprojekte. Allein zwei fallen mir auf Anhieb ein. Das ist zum einen das Modellprojekt „Pro Kind“, das in Bremen, Niedersachsen und Sachsen sehr stark vertreten ist, und zum anderen das Modellprojekt „Guter Start ins Kinderleben“, an dem Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Bayern und Thüringen beteiligt sind. Dabei wird exakt dieser Weg ausprobiert und untersucht, ob es möglich ist, durch eine sehr viel intensivere Begleitung auffälliger Familien mit neugeborenen Kindern durch Familienhebammen sicherzustellen, dass in dieser Ausnahmesituation - es ist ein freudiges Ereignis, aber neugeborene Kinder sind auch manchmal anstrengend - die Kinder den Start ins Kinderleben gut schaffen. Insofern werden bereits Modellprojekte durchgeführt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Noll, bitte.

Michaela Tadjadod (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Frage richtet sich an die Frau Ministerin von der Leyen. Es geht um Folgendes: Wir hören immer wieder von der Problematik, dass sich Familien der Kontrolle entziehen. Das heißt, sie betreiben nicht nur ÄrzteHopping, sondern auch Jugendamt-Hopping und wechseln regelmäßig ihren Wohnsitz. Bietet der Gesetzentwurf mehr Schutzmöglichkeiten? Wie wir wissen, haben zum Beispiel in Duisburg die Ärzte damit begonnen, ihre eigenen Dateien zu vernetzen, um gegebenenfalls - wenn Kinder bei unterschiedlichen Kinderärzten in derselben Stadt vorgestellt werden - durch Abruf der Daten festzustellen, ob das Kind schon einem anderen Arzt vorgestellt wurde. Haben die Jugendämter jetzt mehr Kontrollmöglichkeiten, um bei einem Wohnortwechsel festzustellen, wo das Kind bleibt und ob die anderen Jugendämter entsprechend informiert sind? Bietet der Gesetzentwurf den Kindern den notwendigen Schutz?

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Es sind vor allem zwei Bereiche schärfer gefasst bzw. für die Jugendämter klarer formuliert worden. Erstens. Wenn eine Familie schon dem Jugendamt bekannt und ein Hilfeprozess für die Familie - vor allem zum Schutz der Kinder - eingeleitet worden ist, dann sieht der Gesetzentwurf vor, dass bei einem Umzug der Familie nicht nur die Daten und Akten an das nächste Jugendamt weitergeleitet werden müssen, sondern dass zwischen den beiden Jugendämtern auch ein Übergabegespräch stattfinden muss, was eine sehr viel qualifiziertere Übergabeform als die Übermittlung der Akten ist. Zweitens. Neu ist, dass dann, wenn zum Beispiel eine Familie weggezogen ist und dann Verdachtsmomente aufkommen, das Jugendamt nicht mehr - einfach ausgedrückt - nach der Haltung „aus den Augen, aus dem Sinn“ handeln kann, sondern diese Verdachtsmomente dem neuen zuständigen Jugendamt melden muss, damit dort der weitere Hilfeprozess eingeleitet werden kann. Wir wissen, dass es bei hochproblematischen Familien vorkommt, dass sie zum Teil bis zu achtmal innerhalb von zwei Jahren umziehen, um sich der Kontrolle des Jugendamtes zu entziehen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass der Datenfluss zwischen den Jugendämtern auch über die Landkreisgrenzen hinweg gewährleistet ist. Im dritten Fall, wenn eine Familie bewusst untertaucht, ist das Jugendamt am Ende seiner Möglichkeiten. Dann muss die Polizei eingeschaltet werden.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Mir liegen jetzt drei weitere Fragen vor, die ich noch zulassen werde. - Herr Kollege Beck, bitte.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau von der Leyen, ich möchte noch einmal auf das zurückkommen, worüber wir vorhin diskutiert haben. Können Sie sagen, welche Länder an vorderster Stelle liegen, was das Einstellen von Kinderpornografie ins Internet angeht, und welche Initiativen die Bundesregierung ergriffen hat? Mit den betreffenden Ländern müsste man sich außenpolitisch ins Benehmen setzen, damit die Rechtslage geändert wird. Sie haben nur von Ächten gesprochen. Es geht aber um die Frage, ob es strafrechtlich verboten ist und wie die Verbote umgesetzt werden. Welche Länder fallen als Hauptprovider auf? Wenn Sie die erwähnte andere Strategie verfolgen, dann müssten sie Ihnen unmittelbar präsent sein. Die Frau Justizministerin hat die Stirn gerunzelt. Mich interessiert, was das Justizministerium unter juristischen und rechtstaatlichen Gesichtspunkten von den Vorschlägen einer Sperre hält.

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Sie fragen nach den unterschiedlichen Rechtslagen. Es gibt rund 200 Länder auf unserem Globus. Wenn ich sage, dass Kinderpornografie in der Hälfte der Länder geächtet ist, dann bedeutet das, dass dieses Thema in irgendeiner Form in der Rechtssystematik dieser Länder aufgegriffen worden ist. Ich kann Ihnen aber jetzt über diese 100 Länder und die Rechtssystematiken im Detail keine Auskunft geben. ({0}) - Im Nachhinein gerne. Es gibt Daten von der Weltkonferenz in Rio. Sie fragten auch danach, welche Initiativen ergriffen worden sind. Die Änderung des Telemediengesetzes, wodurch Zugriffssperren ermöglicht werden, liegt in der Zuständigkeit des Bundeswirtschaftsministeriums. All das, was das Bundeskriminalamt betrifft, liegt in der Zuständigkeit des Bundesinnenministeriums. Das Thema Kinderschutz fällt in meine Zuständigkeit. Die betreffenden drei Bundesminister haben sich mit der Internetwirtschaft, das heißt mit sieben der größten Anbieter und den Dachverbänden - 95 Prozent des Marktes sind dadurch vertreten gewesen -, und dem BKA zusammengesetzt und haben darüber diskutiert, welches der beste Weg ist, schnell zu Zugriffssperren zu kommen. Wir sind uns einig, dass solche Sperren technisch und rechtlich möglich sind. Wir streben ein Zweistufenverfahren an. Wir wollen innerhalb der nächsten sechs bis acht Wochen eine für alle Seiten verbindliche Vereinbarung unterschreiben, verbindlich deshalb, weil seitens des Staates, des BKA, die entsprechenden Internetseiten identifiziert werden müssen und weil Verlässlichkeit herrschen muss, dass entsprechende Zugriffssperren vorgenommen werden. Angestrebt ist hierbei eine Änderung des Telemediengesetzes. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Beck, wir sind bereits über die für die Regierungsbefragung vorgesehene Zeit. Sie schneiden Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Ihren zwei Kolleginnen, die sich noch gemeldet haben, die Möglichkeit ab, Fragen zu stellen. Deswegen bitte ich Sie, keine weiteren Zusatzfragen zu stellen.

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Darf ich kurz noch einen Abschlusssatz sagen? - Herr Beck, Sie haben nach dem internationalen Prozess gefragt. Wir werden hier in Kürze eine deutsche Nachfolgekonferenz zum Weltkongress in Rio und im Sommer dieses Jahres eine internationale Nachfolgekonferenz dazu haben.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Jetzt erhält noch Frau Zypries das Wort.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Ich habe wahrscheinlich meine Stirn gerunzelt, um irgendwelche Nieser zu vertreiben, keine Ahnung. - Bekanntlich haben wir, das Bundesjustizministerium, nichts mit der Prävention zu tun. Das Bundesjustizministerium ist für die Strafverfolgung zuständig. Dort sind wir juristisch gut aufgestellt. Gespräche mit Providern laufen bereits, nicht nur über die Bekämpfung der Kinderpornografie. Vielmehr sind wir schon seit meiner Zeit als Staatssekretärin im Bundesinnenministerium sehr erfolgreich bei der Bekämpfung neonazistischer Darstellungen im Internet. Damals wurde beim BKA eine Abteilung zum Streifegehen im Internet eingerichtet. Das wird seither auch im Bereich der Kinderpornografie gemacht. Es geschieht also schon sehr viel. Von der Sache her ist alles, was Frau von der Leyen gesagt hat, richtig.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Haßelmann, ich gebe Ihnen die Gelegenheit zu einer kurzen Frage, bitte.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine Frage richtet sich an die Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Frau von der Leyen. Ich habe Ihren Ausführungen auf meine Frage und auf die des Kollegen Wunderlich entnommen, dass Sie sich im Rahmen des Maßnahmenpaketes zum Kinderschutz mit einer verstärkten Aufgabenwahrnehmung und Aufgabenerweiterung in der Jugendhilfe befassen und darüber mit dem Parlament diskutieren wollen, dass Sie aber nicht beabsichtigen, im Gesetzgebungsverfahren eine dezidierte Vereinbarung mit den Ländern über den kommunalen Finanzausgleich zu treffen, sodass die Kommunen in die Lage versetzt werden, diese Aufgaben finanziell zu schultern. Ist es richtig, dass Sie bei der Position, wonach es der jeweiligen Kommune obliegt, mit ihrem Kämmerer eine Vereinbarung über eine Ausweitung des Aufgabenspektrums zu treffen, bleiben werden? Ich frage das vor dem Hintergrund, dass es eine Reihe notleidender Kommunen gibt, die in der Phase der Haushaltssicherung sind, klar festgelegte Aufgabenfelder haben und keine Möglichkeit haben, das Aufgabenspektrum und die Aufgabenwahrnehmung zu erweitern. Es kann daher der Eindruck entstehen, dass wir hier in Berlin über eine Aufgabenwahrnehmung und -erweiterung diskutieren, die vor Ort gar nicht möglich ist.

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Zunächst einmal möchte ich noch einmal klarstellen, dass dieser Gesetzentwurf Ausfluss einer Zweierkonferenz der Bundeskanzlerin mit allen 16 Regierungschefs war. Das heißt, es ist erklärter Wille der Ministerpräsidenten der Länder, diese Schritte jetzt gemeinsam zu gehen. Diese sind natürlich dafür verantwortlich, das jetzt in ihren Ländern umzusetzen. Deshalb mein zweiter Punkt: Wenn wir alle diesen politischen Willen haben, dann ist das oberste Gebot, dass der Kinderschutz nicht nach Kassenlage erfolgt, sondern dass er in den Ländern und Kommunen gut durchgeführt wird.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Die letzte Frage stellt Frau Kollegin Deligöz. - Sie haben sich nicht gemeldet? ({0}) Dann bedanke ich mich sehr herzlich bei den beiden Ministerinnen für die Beantwortung der Fragen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf: Fragestunde - Drucksachen 16/11612, 16/11632 Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Nr. 10 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde die dringliche Frage auf Drucksache 16/11632 auf. Diese bezieht sich auf den Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts. Die Frage beantwortet Herr Staatsminister Dr. Gernot Erler. Ich rufe die dringliche Frage des Abgeordneten Rainder Steenblock auf: Welche Informationen hat die Bundesregierung über die Hintergründe der Ermordung des Menschenrechtsanwalts Stanislaw Markelow und der Journalistin Anastasija Baburowa in Moskau am 19. Januar 2009 und die Bemühungen der russischen Regierung und der Staatsanwaltschaft zur Aufklärung dieser und früherer Verbrechen an Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten? Bitte schön, Herr Staatsminister.

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Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Lieber Herr Kollege Steenblock, meine Antwort lautet folgendermaßen: Der russische Menschenrechtsanwalt Stanislaw Markelow und die ihn begleitende Journalistin Anastasija Baburowa wurden am 19. Januar 2009 im Zentrum von Moskau auf offener Straße von einem unbekannten maskierten Täter ermordet. Wie schon der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier, am 20. Januar 2009 erklärte, ist die Bundesregierung über die Ermordung bestürzt und verurteilt diese feige Tat auf das Schärfste. Solche Gewalttaten gegen Anwälte und Journalisten, wie auch Festnahmen und Übergriffe, schaffen ein Klima der Angst und drohen zivilgesellschaftliches Engagement zu untergraben. Die russischen Behörden müssen diese Mordfälle rasch aufklären, die Täter und Drahtzieher ermitteln und bestrafen. Stanislaw Markelow war ein respektierter und mutiger Anwalt, der sich insbesondere für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien eingesetzt hat. Die junge Journalistin Anastasija Baburowa arbeitete für die Zeitung Nowaja Gaseta, bei der auch Anna Politkowskaja tätig war. Der Bundesregierung liegen darüber hinaus keine eigenen Erkenntnisse über die Hintergründe der Mordfälle vor. Der Generalstaatsanwalt hat die Leitung der Ermittlungen übernommen. Dies legt die Vermutung nahe, dass die russische Führung die Bedeutung und Tragweite der Mordfälle erkannt hat. Die Bemühungen der russischen Behörden zur Aufklärung früherer Verbrechen an prominenten Vertretern der Zivilgesellschaft haben bislang noch wenig konkrete Ergebnisse gezeigt. Im Mordfall Anna Politkowskaja läuft derzeit ein Gerichtsverfahren.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ihre Zusatzfragen, bitte.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. - Herr Erler, wir sind uns sicherlich in der Bewertung der aktuellen Ereignisse, die Sie gerade vorgetragen haben, einig. Trotzdem würde mich eines interessieren: Dieser Auftragsmord - ein solcher wird es wahrscheinlich gewesen sein - reiht sich auf der einen Seite in die Reihe mehrerer grober Menschenrechtsverletzungen, auch politischer Morde, in der Russischen Föderation ein; auf der anderen Seite hat die russische Regierung einen Glaubwürdigkeitsverlust erlitten, nicht nur durch den aktuellen Gasstreit, sondern auch schon früher durch das Georgien-Engagement, um das einmal vorsichtig zu umschreiben, oder wegen der völlig isolierten Anerkennung von Südossetien und Abchasien. Es gibt also aktuell einen Glaubwürdigkeitsverlust im Hinblick auf die Russische Föderation, den Terry Davis, der Generalsekretär des Europarates, als Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit in der Russischen Föderation beschrieben hat. Wir können kein Interesse an mangelnder Rechtsstaatlichkeit haben; darin sind wir uns einig. Deshalb: Wie bewertet die Bundesregierung das politisch, und welche Aktion - es ist unser Interesse, dass die Russische Föderation ein stabiler, international akzeptierter Verhandlungspartner ist - unternimmt die Bundesregierung, um die Rechtsstaatlichkeit in der Russischen Föderation, soweit ihr das möglich ist, zu fördern?

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Ich glaube, zunächst einmal stimmen wir darin überein, dass es außerordentlich beunruhigend ist, dass in der russischen Öffentlichkeit immer wieder solche Mordfälle vorkommen, deren Aufklärung leider sehr lange braucht oder die zum Teil gar nicht aufgeklärt werden, wie es zum Beispiel bisher weitgehend bei dem Fall Anna Politkowskaja festzustellen ist, der auf den 7. Oktober 2006 zurückgeht. Wir ziehen daraus die Schlussfolgerung, dass wir die vorhandenen offiziellen Gesprächsebenen zwischen der EU und der Russischen Föderation, zum Beispiel im Rahmen des halbjährlich stattfindenden Menschenrechts- und Rechtsstaatsdialoges, nutzen müssen, um immer wieder eine glaubwürdige Aufklärung und Strafverfolgung anzumahnen. Die Tatsache, dass Generalstaatsanwalt Tschaika diesen Fall übernommen hat, ist, wie ich schon gesagt habe, ein Zeichen dafür, dass solche Mahnungen nicht völlig ungehört bleiben. Für uns ist es trotzdem selbstverständlich, dass wir - das geschieht auch - bei unseren Kontakten mit offiziellen Vertretern der russischen Regierung jede Gelegenheit nutzen, um auf den sehr problematischen Eindruck, der bei diesen Fällen zurückbleibt, hinzuweisen und unsere dortigen Partner und Kollegen zu bitten, alles Mögliche zu tun, um eine glaubwürdige Aufklärung zu erreichen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Sie haben noch eine weitere Zusatzfrage.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatsminister, ich will einen weiteren Aspekt ansprechen. Dieser Mord ist ja geschehen, kurz nachdem Budanow, der wegen Kriegsverbrechen in Tschetschenien verurteilt worden war, vorzeitig freigelassen worden ist. Herr Markelow hat die Familie vertreten, deren Tochter von Budanow vergewaltigt und ermordet worden ist. Er hat gesagt, er wolle jetzt auch gegen die vorzeitige Freilassung von Budanow gerichtlich vorgehen. Er ist dann kurze Zeit nach diesen Erklärungen und Vorgängen - es war fast nur ein Tag Abstand - ermordet worden. Gibt es Anhaltspunkte dafür, dass es im Militär der Russischen Föderation Machtzentren gibt, die für diese Auftragsmorde entscheidende Anstöße geben? Gibt es nach Ihren Erkenntnissen in der Russischen Föderation unterschiedliche Entwicklungen, also einerseits eine Entwicklung in Richtung Rechtsstaat und Demokratie und andererseits in Teilen der Regierung anscheinend auch Machtzentren, die kein Interesse daran haben? Wie verhalten Sie sich in dieser Situation?

Not found (Gast)

Herr Kollege Steenblock, zwei Tage nach diesem Vorfall ist es in der Tat schwierig, Überlegungen über die Hintergründe anzustellen. Sie haben korrekterweise den Fall Budanow erwähnt. Dieser Oberst hat eine 18-jährige tschetschenische Frau erst vergewaltigt und dann ermordet und hat dafür zehn Jahre Haft bekommen. Er ist jetzt nach achteinhalb Jahren Haft vorzeitig entlassen worden. Aber ob das der Hintergrund ist, ist nicht sicher, weil der ermordete Anwalt auch in einer Reihe von anderen unbequemen Fällen tätig geworden ist und außerdem konkrete Drohungen gegen ihn ausgesprochen wor21478 den sind, die nicht aus den Reihen des Militärs, sondern aus rechtsradikalen Kreisen kamen, die schon längere Zeit ihre Unzufriedenheit über den Fall Budanow zum Ausdruck gebracht und entsprechende Aktivitäten unternommen haben. Ich glaube, Sie haben Verständnis dafür, dass die Bundesregierung sich an Spekulationen darüber, wie jetzt hier aufgeklärt werden muss und wo die Spuren vielleicht hinführen, nicht im Detail beteiligen kann.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Vielen Dank, Herr Staatsminister, für die Beantwortung dieser dringlichen Frage. Nachdem die dringliche Frage aufgerufen und beantwortet worden ist, rufe ich jetzt die Fragen auf Drucksache 16/11612 in der üblichen Reihenfolge auf. Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Die Fragen beantwortet der Parlamentarische Staatssekretär Peter Hintze. Ich rufe die Frage 1 des Abgeordneten Hans-Josef Fell auf: Welche Wirkungen hätte der Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Energieleitungsausbaugesetz im Hinblick auf die Zulässigkeit von Erdkabeln in der 110-kV-Ebene und die Anerkennung von dadurch verursachten Mehrkosten als nicht beeinflussbare, also auf die Strompreise umlegbare Kostenanteile?

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Herr Kollege Fell, der Gesetzentwurf zum Energieleitungsausbaugesetz betrifft Höchstspannungsnetze, also die 380-kV-Ebene, und nicht die 110-kV-Ebene. Insofern hat er im Sinne Ihrer Frage keine Wirkungen. Da die Bundesregierung aber nicht nur Fragen beantwortet, sondern auch immer darüber nachdenkt, was gemeint ist, will ich fortfahren. Der Entwurf zum Energieleitungsausbaugesetz ist Bestandteil des Entwurfs des Gesetzes zur Beschleunigung des Ausbaus der Höchstspannungsnetze. In dessen Art. 2 findet sich eine Änderung des § 43 Satz 3 des Energiewirtschaftsgesetzes. Das ist für Ihre Frage einschlägig. Das haben Sie wahrscheinlich auch gemeint. In dieser gesetzlichen Vorschrift soll klargestellt werden, dass im Falle der Verkabelung auf der 110-KilovoltEbene im 20-Kilometer-Streifen längs der Küste jede 110-Kilovolt-Leitung in diesem Gebiet als Erdkabel verlegt werden kann, und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine Offshore-Anbindungsleitung oder den Ausbau im vermaschten herkömmlichen Wechselstromnetz handelt. Hinsichtlich der preislichen Wirkung ist darauf hinzuweisen, dass mögliche Mehrkosten solcher Erdkabel gemäß § 11 Abs. 2 Nr. 7 der Anreizregulierungsverordnung in die Netzentgelte einfließen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ihre Zusatzfragen, bitte.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. - Herr Staatssekretär Hintze, dass die verursachten Mehrkosten anerkannt werden, ist natürlich, wenn das so gelingt, erfreulich. Es stellt sich eine weitere Frage. Wenn es um den Höchstspannungsbereich geht, so ist die Verwendung von Erdkabeln auf Pilotprojekte begrenzt. Ist das im 110-kV-Bereich auch so vorgesehen, oder kann im Prinzip jeder, der ein Erdkabel im 110-kV-Bereich verwenden will, dies tatsächlich tun und die Mehrkosten auf die Netzgebühren umlegen?

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Die Vorschrift im Energiewirtschaftsgesetz, in der die Klarstellung getroffen wird, lautet: In Satz 3 werden die Wörter „zwischen der Küstenlinie und dem nächstgelegenen Netzverknüpfungspunkt, höchstens jedoch in einer Entfernung von nicht mehr als 20 Kilometern von der Küstenlinie landeinwärts“ durch die Wörter „in einem 20 Kilometer breiten Korridor, der längs der Küstenlinie landeinwärts verläuft,“ ersetzt. Für diesen 20-Kilometer-Korridor lautet die Antwort im Sinne Ihrer Frage Ja.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Sie haben noch eine Zusatzfrage.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. - Das heißt aber im Umkehrschluss, dass in weiten Teilen der Republik, wo ein Ausbau des 110-kV-Netzes notwendig ist, beispielsweise zur Anbindung von Onshore-Windparks, eine Kostenumlage nicht möglich sein wird.

Peter Hintze (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000907

Die Vorschriften im Einzelnen finden sich in der Anreizregulierungsverordnung, nämlich in § 11, in dem es um die beeinflussbaren und die nicht beeinflussbaren Kostenanteile geht. Als nicht beeinflussbare Kostenanteile gelten alle Kostenanteile, die nicht dauerhaft oder vorübergehend als nicht beeinflussbare Kostenteile gelten. Das klingt zunächst einmal selbstverständlich, bedeutet aber, dass die Vorschrift des § 11 - es würde zu lange dauern, wenn ich diese hier insgesamt vortragen würde - alle nicht beeinflussbaren Kostenanteile aufführt. Wenn ein Vorhaben nicht unter diese Vorschrift fällt, ist es so, wie Sie es sagen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Die Frage 2 der Kollegin Sabine Zimmermann wird schriftlich beantwortet. Wir sind deshalb am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für die Beantwortung der Fragen. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und VerbrauVizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner cherschutz. Die Fragen 3 und 4 der Kollegin Dr. Kirsten Tackmann werden ebenfalls schriftlich beantwortet. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Auch die Frage 5 des Kollegen Nouripour wird schriftlich beantwortet. Deshalb kommen wir nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Zur Beantwortung der Fragen steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Hermann Kues bereit. Ich rufe die Frage 6 der Kollegin Elke Reinke auf: Aus welchem Grund ist derzeit weder eine Anlauf- bzw. Beratungsstelle noch eine Hotline für ehemalige Heimkinder vorgesehen, und warum lehnt das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, BMFSFJ, einen nationalen Entschädigungsfonds bereits jetzt so strikt ab? Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Dr. Hermann Kues (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002709

Gerne. - In der Frage ist eine Aussage enthalten, die falsch ist. Es ist so, dass der Bundestagsbeschluss keinen kollektiven Entschädigungsfonds vorsieht, gleichzeitig aber der Konzeptentwurf einen Entschädigungsfonds nicht explizit ausschließt. Im Gegenteil, der runde Tisch soll Kriterien entwickeln, nach denen die Forderungen ehemaliger Heimkinder bewertet werden können. Insofern wäre die Frage schon beantwortet. Ich will aber gerne auch auf das Umfeld eingehen. Der Beschluss des Bundestages vom 4. Dezember 2008, nämlich die Annahme der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses zur Aufarbeitung der westdeutschen Heimerziehung zwischen 1949 und 1975, beinhaltet die Aufforderung an die Bundesregierung und die betroffenen Länder, einen runden Tisch einzurichten. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat unmittelbar nach Beschlussfassung im Bundestag, wenn Sie so wollen federführend für die Bundesregierung, der Jugend- und Familienministerkonferenz der Länder einen Vorschlag zur Einrichtung eines runden Tisches vorgelegt. Dieser Vorschlag beschreibt grob den organisatorischen Rahmen für einen runden Tisch und orientiert sich eng an den Empfehlungen des Petitionsausschusses. Er greift also ausdrücklich möglichen Arbeitsergebnissen nicht vor. Ein Entschädigungsfonds, eine Hotline oder eine Beratungsstelle werden im Beschluss des Bundestages nicht konkret genannt, solche Maßnahmen werden aber auch nicht ausgeschlossen. Nach dem Beschluss des Bundestages ist es eben Aufgabe der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des runden Tisches, zu entscheiden, wie mit dem Anliegen der Betroffenen umzugehen ist und wie Genugtuung erreicht werden kann. Den Ländern liegt der Vorschlag zur Beratung vor. Bei diesem Vorschlag handelt es sich um einen Entwurf und nicht um das endgültige Konzept des runden Tisches. Deswegen meine ich, dass Kritik zum jetzigen Zeitpunkt völlig fehl am Platze ist. Im Gegenteil, wir sollten die Chance nutzen, die sich jetzt auftut; denn erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik gibt es eine große Bereitschaft zur Aufarbeitung, und zwar nicht nur aufseiten der Betroffenen, sondern auch aufseiten der Träger. Deswegen sollten wir diesen Prozess, wie es über weite Strecken auch erfolgt ist, konstruktiv begleiten.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ihre Zusatzfrage, bitte.

Elke Reinke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003829, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Eine Frage vielleicht in eine andere Richtung: Wie sieht die derzeitige Zusammenarbeit der Bundesregierung mit dem Verein ehemaliger Heimkinder aus? Vielleicht könnten Sie dazu noch exaktere Ausführungen machen.

Dr. Hermann Kues (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002709

Es gibt bis jetzt keine spezielle Zusammenarbeit. Wir haben natürlich Kontakt, aber wir warten jetzt zunächst einmal darauf, wie sich die Jugend- und Familienministerkonferenz der Länder auf unseren Vorschlag einlässt. Dann wird zu entscheiden sein, wie die Zusammensetzung des Gremiums aussieht und wie man im Einzelnen vorgeht. Das ist bis jetzt nicht möglich gewesen. Wir haben einen Zeitpunkt genannt. Wir haben gesagt, die erste Sitzung des runden Tisches soll möglichst bis Ende Januar stattfinden. Wir haben auch gegenüber der Jugend- und Familienministerkonferenz der Länder deutlich gemacht - das Land Bremen hat dort derzeit den Vorsitz -, dass wir darauf drängen, dass uns zeitnah eine Antwort gegeben wird. Logischerweise sind wir ja auf die Mitwirkung der Länder angewiesen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Sie haben noch eine Zusatzfrage.

Elke Reinke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003829, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sie sagten, bis Ende Januar sollten Vorschläge vorliegen. Beabsichtigen Sie, noch bis Ende dieser Legislatur eine Klärung herbeizuführen, um dieses Unrecht wiedergutzumachen?

Dr. Hermann Kues (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002709

Wir haben ja den Vorschlag unterbreitet, dass es bereits im Sommer dieses Jahres einen ersten Zwischenbericht geben soll. Wir haben das auch mit der künftigen Vorsitzenden des runden Tisches in Aussicht genommen. Das ist also so weit abgestimmt. Wie schnell das jetzt vorangeht und was im Einzelnen bis dahin möglich sein wird, hängt vom Verlauf der Beratungen und vom Zusammenwirken der am runden Tisch Beteiligten ab. Wie gesagt: Es gibt bislang lediglich einen Vorschlag, wer beteiligt werden könnte. Darüber muss man sich jetzt im Einzelnen abstimmen. Das wird dann auch Gegenstand der ersten Sitzung sein.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Schiewerling.

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. - Herr Dr. Kues, als Mitglied des Petitionsausschusses hatte ich an dieser Beschlussempfehlung mitgearbeitet. Ich halte in der Tat die augenblickliche Diskussion um die Einrichtung eines Entschädigungsfonds für nicht zielführend. Wir haben ja damals auch beschlossen, dass zunächst Kriterien entwickelt werden müssen, aus denen klar hervorgeht, wer denn wo, wann und wie möglicherweise und auf welcher Grundlage Entschädigungen zahlen müsste. Die Frage, die im Augenblick sehr brennend ist und die mir auch von verschiedenen Seiten vorgetragen wird, lautet, wann denn dieser runde Tisch seine Tätigkeit aufnimmt, damit man auch sieht, dass die Regierung ihre koordinierende Aufgabe wahrnimmt.

Dr. Hermann Kues (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002709

Wie ich schon gesagt habe, haben wir unmittelbar nach dem Beschluss des Bundestages Kontakt mit der Jugend- und Familienministerkonferenz der Länder aufgenommen. Wir haben uns vorgenommen, dass der runde Tisch bis Ende Januar 2009 zum ersten Mal zusammentritt. Bis jetzt haben wir noch keine Rückmeldung der Jugend- und Familienministerkonferenz der Länder erhalten; ich habe es eben erwähnt. Wir sind in diesen Tagen aber noch einmal nachdrücklich aktiv geworden und haben dies angemahnt. Wenn wir in den nächsten Tagen keine Rückmeldung bekommen, werden wir von uns aus noch einmal aktiv werden; denn nach unserer Auffassung muss gewährleistet sein, dass wir bis Ende Januar dieses Jahres mit den Beratungen beginnen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Haßelmann, bitte.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär, bei meiner Frage geht es um die öffentliche Einlassung Ihrer Ministerin für die Bundesregierung. Sie haben ja gerade auf die Frage von Frau Reinke dargelegt, dass sowohl der runde Tisch als auch die weiteren Beratungen ergebnisoffen durchgeführt werden. Die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses kennen wir alle. Wir wissen auch, wie sie entstanden ist und wie lange man gebraucht hat, um einen interfraktionellen Beschluss mit den Stimmen des gesamten Parlaments zustande zu bringen. Vor diesem Hintergrund frage ich Sie: Halten Sie es für klug und sinnvoll, sich so dezidiert, wie die Ministerin das öffentlich getan hat, gegen einen Entschädigungsfonds einzulassen? Schließlich haben Sie uns gerade dargelegt, dass der runde Tisch ergebnisoffen tagt. Ich bin nicht die Einzige, die das so verstanden hat. Die zahlreichen Rückmeldungen sind ähnlich einzuschätzen. Ihre Ministerin hat in ihrer Aussage den Entschädigungsfonds kategorisch ausgeschlossen. Sie haben vorhin allerdings explizit auf die Ergebnisoffenheit abgestellt. Wie kann ich das verstehen?

Dr. Hermann Kues (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002709

Es stimmt nicht, dass die Ministerin dies dezidiert ausgeschlossen hat - schon gar nicht öffentlich. ({0}) Vielmehr gibt es ein Schreiben der Ministerin an den Vorsitzenden der Jugend- und Familienministerkonferenz der Länder, Herrn Senator Zöllner. Dieses Schreiben vom 15. Dezember 2008 ist auf irgendeine Art und Weise an die Öffentlichkeit gelangt. Das ist die Basis dafür gewesen. In diesem Schreiben steht auch nicht, dass die Ministerin einen Entschädigungsfonds ablehnt. Vielmehr ging es unter anderem darum, den Ländern deutlich zu machen, was auf sie zukommt. Weil Sie sich damit beschäftigt haben, wissen Sie selbst, dass viele Länder größte Bedenken haben. Als diese Problemstellungen seinerzeit aufgetaucht sind, war der Bund ja gar nicht in erster Linie betroffen. Betroffen waren hauptsächlich die Wohlfahrtsverbände und die Länder als bisherige Aufsichtsbehörden. Seinerzeit gab es große Bedenken, dass durch diese Beschlusslage des Bundestages eine riesige finanzielle Belastung auf die Länder zukommt. Deswegen steht in dem Schreiben, dass ein Entschädigungsfonds nicht automatisch vorgesehen ist. Das habe ich eben auch erwähnt. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass man hinterher zu einem solchen Ergebnis kommt. Das Reizwort war der Begriff „Entschädigungsfonds“. Für denjenigen, der herangezogen wird, ist dieser Begriff ein Reizwort. Für denjenigen, der sich davon finanzielle Leistungen erhofft, stellt er vielleicht etwas Positives dar. Ich sage ausdrücklich: Es ist nichts ausgeschlossen. Den Brief der Ministerin stelle ich Ihnen als Ausschussmitglied gerne zur Verfügung. Man kann ihn missverstehen. Normalerweise ist aber völlig klar, was damit gemeint ist. Das Ganze ist in der Öffentlichkeit falsch dargestellt worden, womit ein falscher Eindruck erweckt wurde; das will ich ausdrücklich sagen. Wer sich etwas mit der Entstehungsgeschichte beschäftigt hat und weiß, dass die Länder es nicht als selbstverständlich empfunden haben, dabei überhaupt mitzumachen, und dass der Bund gesagt hat, das sei nicht seine vorrangige Aufgabe, kann das sicherlich verstehen. Man hätte es vielleicht anders formulieren können; das mag sein. Dieser Brief war aber dazu gedacht, das Verfahren zwischen den Ländern und dem Bund abzustimmen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Binder, bitte.

Karin Binder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003738, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Herr Staatssekretär, dann wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn auch wir - meine Kollegin Elke Reinke als Mitglied des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und ich als stellvertretendes Mitglied des Petitionsausschusses - den Brief von Frau Ministerin von der Leyen zur Verfügung gestellt bekämen; denn auch bei uns ist dies sehr missverständlich angekommen. Habe ich Sie in Ihren Aussagen richtig verstanden: Der Entschädigungsfonds ist nicht erledigt, sondern ein ergebnisoffener runder Tisch kann zu dem Ergebnis kommen, dass ein solcher Fonds einzurichten ist? ({0}) Dann wären Sie auch bereit, sich damit zu befassen?

Dr. Hermann Kues (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002709

Der runde Tisch setzt sich ja auch aus Vertretern der ehemaligen Träger, beispielsweise der Wohlfahrtsverbände und der Länder, zusammen. Wenn diese insgesamt zu diesem Ergebnis kommen sollten, ist das ausdrücklich vorstellbar. Zunächst müssen wir - das wissen Sie aus dem Petitionsausschuss - allerdings überhaupt erkunden, um welche Gruppen es sich handelt und welche Kriterien angelegt werden könnten, weil es dort, wie Ihnen bekannt ist, ganz unterschiedliche Zusammensetzungen gibt. Es muss Bilanz gezogen werden. Das Ergebnis ist - ich sage das ganz ausdrücklich - offen. Ich habe kein Problem damit, auch Ihnen diesen Brief zur Verfügung zu stellen, zumal er ohnehin schon in der Öffentlichkeit zu sein scheint.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich rufe die Frage 7 der Kollegin Elke Reinke auf: Warum plant das BMFSFJ, sich über eine Empfehlung des Deutschen Bundestages hinwegzusetzen und mit der Organisation des runden Tisches nicht mehr zwei unabhängige Dachorganisationen der deutschen Jugendhilfe - AFET: Bundesverband für Erziehungshilfe e. V. und Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e. V., DIJuF - zu betrauen?

Dr. Hermann Kues (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002709

Ich antworte Ihnen wie folgt: Eine umfassende Aufarbeitung kann nur gelingen, wenn sie von einer breiten Basis mitgetragen wird. Hier braucht es einen Partner, der aufgrund seiner Mitgliederstruktur breit aufgestellt und fachlich geeignet ist und bei dem das Thema auf große Akzeptanz stößt. Aufgrund dieser Kriterien haben wir in Ergänzung zu den beiden anderen Trägern einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet. Verschiedene Überlegungen stehen jetzt im Raum; sie werden zurzeit mit den Ländern abgestimmt. Dazu gibt es aber noch keine endgültige Entscheidung. Es muss noch mit den Ländern geklärt werden. Eine Debatte über eine Geschäftsstelle - mehr ist es ja nicht; die inhaltliche Arbeit soll ja vom runden Tisch geleistet werden - darf nicht von dem ablenken, worauf es eigentlich ankommt, nämlich auf die inhaltliche Arbeit des runden Tisches. Die Rolle, die der Träger bei der Organisation des runden Tisches spielen soll, wird unseres Erachtens überschätzt; denn über die Arbeitsergebnisse entscheiden die Mitglieder des runden Tisches und nicht die Geschäftsstelle.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ihre Zusatzfragen.

Elke Reinke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003829, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Es liegt ein Aufarbeitungskonzept dieser unabhängigen Dachorganisationen vor. Mich würde interessieren, warum dieses Konzept nicht genutzt wird. Denn es ist eine wunderbare Vorlage, mit der man arbeiten kann. Diese Organisationen sind diejenigen, die auch ehemaligen Heimkinder vertreten. Daher wäre es sinnvoll, dieses Konzept zu nutzen.

Dr. Hermann Kues (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002709

Ich sage ausdrücklich: Es ist noch nichts entschieden. Es gibt zwei Organisationen. Wenn Sie den Deutschen Verein hinzunehmen, gibt es sogar drei. Dieser Verein war vom Petitionsausschuss anfangs auch vorgesehen. Aber er hat in der ersten Phase erklärt, dass er an einer Mitarbeit kein Interesse habe - weshalb auch immer. In einer späteren Phase hat dieser Verein geäußert, er könne sich eine Mitarbeit doch vorstellen. Deshalb haben wir gesagt, dass man über diese drei Organisationen reden könne. Es ist aber noch nichts entschieden; es muss noch besprochen werden. Meiner Meinung nach wäre es falsch, sich jetzt für einen bestimmten Träger auszusprechen. Der Deutsche Verein war eine Zeit lang als Wunschkandidat im Gespräch. Wer sich ein bisschen in der Sozial-, Jugend- und Familienpolitik auskennt, der weiß, dass es sich bei diesem Verein um ein Forum handelt. Neben den 16 Bundesländern gehören dem Deutschen Verein die kommunalen Spitzenverbände an, fast alle Landkreise, Großstädte und alle Wohlfahrtsverbände: vom Deutschen Roten Kreuz bis zur Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Bundestagsabgeordnete fast aller Fraktionen sind im Hauptausschuss vertreten. Unter diesem Gesichtspunkt und auch angesichts der Kompetenz aufgrund der breiten Mitgliederstruktur stellt dieser Verein zumindest eine Variante dar, über die man nachdenken muss. Lassen Sie mich noch eine Bemerkung machen. Alle Organisationen, die älter sind - der Deutsche Verein ist 125 Jahre alt -, haben auch in der Zeit des Nationalsozialismus bestanden. Speziell der Deutsche Verein hat sich sehr intensiv mit dieser Zeit beschäftigt. Anlässlich des 125-jährigen Jubiläums ist eine Festschrift herausge21482 kommen, in der diese Zeit im Einzelnen aufgearbeitet wird. Gleiches gilt im Prinzip für die Wohlfahrtsverbände, die unter ähnlichen Bedingungen gearbeitet haben. Das sollte man fairerweise dazusagen. Aus meiner Sicht ist in der Öffentlichkeit eine Diffamierung vorgenommen worden, für die es überhaupt keine Basis gibt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Da Sie keine weitere Zusatzfrage haben, sind wir damit am Ende dieses Geschäftsbereichs. Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für die Beantwortung der Fragen. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf. Die Frage 8 des Kollegen Rainder Steenblock wird schriftlich beantwortet. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Die Fragen beantwortet der Parlamentarische Staatssekretär Andreas Storm. Ich rufe die Frage 9 der Abgeordneten Cornelia Hirsch auf: Inwieweit teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass das mit der Föderalismusreform I verabschiedete Kooperationsverbot im Grundgesetz eine wirksame bildungspolitische Offensive im Rahmen des Konjunkturpaketes II verhindert hat? Bitte schön, Herr Storm.

Andreas Storm (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002811

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Abgeordnete Hirsch, gestatten Sie mir, die Fragen 9 und 10 gemeinsam zu beantworten?

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das ist der Fall. Dann rufe ich auch noch die Frage 10 auf: Wie verhält sich der jetzige Umfang des Konjunkturpaketes II im Bereich des Ausbaus der bildungspolitischen Infrastruktur zu den Versprechen der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Dr. Annette Schavan, im Dezember 2008?

Andreas Storm (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002811

Im Rahmen des von Bund und Ländern vorgesehenen zweiten Konjunkturprogramms ist ein Investitionsprogramm „Zukunftsinvestitionen der öffentlichen Hand“ vorgesehen. Die dort vorgesehenen Finanzhilfen des Bundes für Investitionen der Länder und Kommunen sollen schwerpunktmäßig den Kindergärten, der Schulinfrastruktur, den Hochschulen und der Forschung zugute kommen. Auf diesen Investitionsschwerpunkt sollen 65 Prozent der Finanzhilfen entfallen. Die mit der Föderalismusreform I erzielten Ergebnisse stellen somit die mit dem Investitionsprogramm verfolgte Zielsetzung, die Perspektiven für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands zu verbessern, nicht infrage. Damit werden die Vorschläge der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Frau Dr. Annette Schavan, weitgehend umgesetzt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Sie haben jetzt vier Zusatzfragen.

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Besten Dank. - Meine erste Frage ist: Sie haben sich beim Bildungsgipfel auf das Ziel geeinigt, dass zukünftig 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und Forschung aufgewandt werden. Wenn Sie dieses Ziel in Relation setzen zu den finanziellen Aufwendungen für die Bildungspolitik im Rahmen des Konjunkturpaketes, meinen Sie auch dann noch, dass der Aufwand, der jetzt mit dem Konjunkturpaket betrieben wird, ausreichend ist, oder meinen Sie, dass noch mehr gemacht werden müsste?

Andreas Storm (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002811

Frau Abgeordnete Hirsch, Bund und Länder haben in der Tat vereinbart, bis zum Jahr 2015 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und Forschung aufwenden zu wollen. Das geplante Investitionsprogramm von Bund und Ländern trägt mit dieser Schwerpunktsetzung - zu den 6,5 Milliarden Euro, die der Bund aufwenden will, kommen 2,167 Milliarden Euro der Länder hinzu - sehr stark zur Steigerung der Aufwendungen für Bildung und Forschung in den kommenden zwei Jahren bei. Das Investitionsprogramm steht also vollkommen in Einklang mit der angestrebten Erreichung des 10-Prozent-Ziels.

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Noch einmal zum Kooperationsverbot und der Frage, was überhaupt möglich ist. Sie haben es so formuliert, dass insbesondere eine energetische Sanierung der Kitas, Schulen und Hochschulen stattfinden soll. Was ist darüber hinaus noch möglich, zum Beispiel, was die Ausstattung von Schulen oder qualitative Fortschritte in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen betrifft?

Andreas Storm (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002811

Frau Abgeordnete Hirsch, die Bundesregierung bereitet zurzeit die Gesetzentwürfe und die übrigen erforderlichen Maßnahmen vor, die am kommenden Dienstag im Kabinett behandelt werden sollen. Ich kann dem nicht vorgreifen. Ich kann aber sagen, dass Art. 104 b des Grundgesetzes in Verbindung mit Art. 74 ein wesentliches Element sein wird. Alles Weitere wird sich nach Abschluss der Ressortabstimmungen aus den Gesetzentwürfen konkret ergeben.

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sie können sich das Grundgesetz schon jetzt ansehen. Wenn Sie sich auf Art. 104 b beziehen, ist zu fragen: Ist es, bezogen auf diese grundgesetzliche Regelung, überhaupt möglich, irgendetwas anderes als den Ausbau der Infrastruktur zu finanzieren?

Andreas Storm (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002811

Frau Abgeordnete Hirsch, bei dem vorgesehenen Investitionspaket geht es insbesondere um die VerbesseParl. Staatssekretär Andreas Storm rung der Infrastruktur. Art. 74 des Grundgesetzes enthält eine ganze Reihe von Elementen, die ein solches Engagement des Bundes ermöglichen, nicht zuletzt das Recht der Wirtschaft in Abs. 1 Nr. 11.

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Noch eine Frage: In den Kommunen, die häufig keine Gelder mehr haben, weil sie überschuldet sind, wird oft die Frage gestellt, wie es vor dem Hintergrund der Tatsache, dass eine Kofinanzierung als zwingend erforderlich angesehen wird, geregelt werden soll, dass die Gelder auch tatsächlich abgerufen werden können. Welche Überlegungen stellt die Bundesregierung diesbezüglich an? Wie könnte man das gegebenenfalls umgehen?

Andreas Storm (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002811

Frau Abgeordnete Hirsch, die Bundesregierung zielt bei ihren Überlegungen und bei den Gesprächen, die sie bereits jetzt mit den Ländern führt, vor allem auf zwei Dinge: Zum einen soll ein schneller Mittelabfluss ermöglicht werden, damit das Paket die beabsichtigte konjunkturelle Wirkung entfalten kann. Zum anderen sollen auch finanzschwache Kommunen von den vorgesehenen investiven Mitteln profitieren. Deshalb werden die Länder im Rahmen der vorgesehenen Ausgleichsmechanismen entsprechende Beiträge zur Berücksichtigung dieser finanzschwachen Kommunen leisten.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Die Fragen 11 und 12 der Kollegin Undine Kurth werden schriftlich beantwortet. Wir sind deswegen am Ende dieses Geschäftsbereichs. Vielen Dank, Herr Storm, für die Beantwortung der Fragen. Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Die Frage 13 des Kollegen Otto Schily wird schriftlich beantwortet. Die Frage 14 des Kollegen Omid Nouripour wird ebenfalls schriftlich beantwortet, genauso wie die Frage 15 des Kollegen Volker Beck. Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Inneren. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Peter Altmaier bereit. Die Frage 16 des Kollegen Volker Beck wird schriftlich beantwortet. Ich rufe die Frage 17 des Kollegen Dr. Hakki Keskin auf: Welche Anstrengungen gedenkt die Bundesregierung zu ergreifen, um die in vier Beschlüssen des Europarates vom Juni 2008 (Resolutionen 1617 ({0}) und 1618 ({1}) und Empfehlungen 1839 ({2}) und 1840 ({3})) geforderte Stärkung der Partizipationsrechte der Einwanderinnen und Einwanderer in den Mitgliedstaaten, darunter der Bundesrepublik Deutschland, umzusetzen? Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Keskin, ich darf darauf verweisen, dass Ihre Frage mit der Kleinen Anfrage „Umsetzung der Empfehlungen des Europarats zur Verbesserung der demokratischen Teilhabe von Migrantinnen und Migranten“, die Sie und Ihre Fraktion gestellt haben, inhaltlich identisch ist. Diese hat mein Kollege, Staatssekretär Hanning, mit Schreiben vom 7. Januar dieses Jahres beantwortet. Deshalb darf ich darauf verweisen. Ich möchte ergänzend sagen, dass die Bundesregierung die Entschließungen und Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats selbstverständlich zur Kenntnis nimmt. Das ist auch in diesem Fall geschehen. Aus Sicht der Bundesregierung gibt es allerdings keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf, jedenfalls nicht auf Bundesebene. Sie wissen, dass nach dem geltenden Bundesrecht sowohl die Versammlungsfreiheit als auch die Vereinigungsfreiheit und die Mitwirkung in politischen Parteien als zentrale Rechte auf Teilhabe an der politischen Willensbildung auch für Migrantinnen und Migranten gewährleistet sind. Hinsichtlich des Versammlungsrechtes wissen Sie wahrscheinlich auch, dass die bisher dafür bestehende Bundeszuständigkeit im Zuge der Föderalismusreform vom 28. August 2006 weggefallen und an die Länder übergegangen ist. Im Hinblick auf die Frage der Einführung eines kommunalen Wahlrechts für Nichtunionsbürger darf ich darauf hinweisen, dass diese Frage Gegenstand parlamentarischer Beratungen ist, und es entspricht dem Respekt, den die Bundesregierung vor dem Parlament hat, dass wir das Ergebnis dieser Beratungen zunächst einmal abwarten. Zum Schluss darf ich darauf hinweisen, dass wir in Deutschland in den letzten drei Jahren sehr daran gearbeitet haben, die Integrationskurse flächendeckend anzubieten und durchzuführen, um damit Grundlagen für die demokratische Partizipation von Zuwanderern zu schaffen. Das bezieht sich insbesondere auf die Vermittlung der deutschen Sprache, aber auch auf die 45-stündigen Orientierungskurse, in denen Kenntnisse zu Staat, Geschichte und Gesellschaftsordnung in Deutschland vermittelt werden. Diese Kurse erleichtern das Zurechtfinden in der neuen Gesellschaft. Sie schaffen Identifikation und Teilhabemöglichkeiten und sind aus unserer Sicht im Sinne der Empfehlungen des Europarates.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ihre Zusatzfragen, bitte, Herr Kollege.

Dr. Hakki Keskin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003785, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär Altmaier, vielen Dank für Ihre Ausführungen. Ich möchte unterstreichen, dass im Europarat in zwei Ausschüssen und im Plenum sehr ausgiebig über die Demokratiedefizite in den Mitgliedstaaten debattiert wurde. Es wurde festgestellt, dass in einigen der Mitgliedstaaten in der Tat erhebliche Demokratiedefizite bestehen. In der Bundesrepublik Deutschland leben, wie Sie wissen, immer noch 7 Millionen Menschen ohne einen deutschen Pass, das heißt als Ausländer. Das bedeutet, dass sie, wenn sie nicht aus einem EU-Staat kommen, nicht einmal das kommunale Wahlrecht ausüben können. Staatsbürgerliche Rechte haben sie also nicht. Daher wurde diesen Mitgliedstaaten vom Europarat nahegelegt, dass sie ebendiese Defizite beheben, indem sie die Einbürgerung erleichtern und es unter anderem tolerieren, dass diese Menschen unter Beibehaltung ihrer bisherigen Staatsbürgerschaft die Staatsbürgerschaft des jeweiligen Landes erwerben können. Was gedenken Sie in dieser Hinsicht zu tun?

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Herr Kollege Keskin, weil Sie sich intensiv mit Fragen der Integration und der Partizipation beschäftigen, wissen Sie selbst, dass das System des Staatsangehörigkeitsrechts der Bundesrepublik Deutschland eines der fortschrittlichsten und modernsten nicht nur der westlichen Welt, sondern überhaupt ist. Wir in Deutschland haben als eines der wenigen Länder weltweit einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung, wenn der betreffende Ausländer bzw. Mitbürger eine bestimmte Zeit lang in Deutschland gelebt hat. Wir haben vor einigen Jahren das Staatsangehörigkeitsrecht dahin gehend modifiziert, dass junge Menschen nicht deutscher Herkunft, die hier in Deutschland geboren werden, unter bestimmten Voraussetzungen mit der Geburt automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit bis zum Erwachsenenalter erwerben. Erst dann müssen sie sich für eine der beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden. Im Übrigen - das wird durch die Zahlen der Einbürgerungsbehörde deutlich - ist es aufgrund der Lage in den Herkunftsländern vieler Migrantinnen und Migranten so, dass wir in einer erheblichen Zahl von Fällen - das geht bisweilen bis an die 50 Prozent - bei der Einbürgerung die doppelte Staatsangehörigkeit hinnehmen. Das heißt, Deutschland ist ein Land mit starkem Rechtsanspruch auf Einbürgerung. Deutschland ist ein Land, bei dem die Angehörigen der dritten Generation jedenfalls überwiegend die Chance haben, in die deutsche Staatsangehörigkeit hineinzuwachsen. Wir erleichtern die Einbürgerung auch denjenigen Migrantinnen und Migranten, denen die Aufgabe ihrer bisherigen Staatsangehörigkeit nicht zumutbar ist. Dies alles zusammengenommen führt dazu, dass es in Deutschland vergleichsweise leicht ist, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben. Darüber hinaus ist es so, dass auch derjenige, der sich dafür entscheidet, nicht die deutsche Staatsangehörigkeit zu beantragen, gleichwohl wichtige Partizipationsmöglichkeiten hat. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die politischen Parteien in aller Regel auch nicht deutsche Staatsbürger als Mitglieder akzeptieren. Ich habe ferner darauf hingewiesen, dass Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit selbstverständlich auch für Nichtdeutsche gelten, die sich im Geltungsbereich des Grundgesetzes aufhalten.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Sie haben noch eine Zusatzfrage.

Dr. Hakki Keskin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003785, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Herr Staatssekretär, wenn die Aussage zutreffen würde, dass es in Deutschland leicht ist, sich einbürgern zu lassen, dann können Sie mir vielleicht erklären, wie es dazu kommt, dass gerade nach dem Inkrafttreten des neuen Staatsangehörigkeitsrechts die Einbürgerungszahlen ganz erheblich zurückgegangen sind und sich fast halbiert haben. Mit anderen Worten: Gerade das neue Staatsangehörigkeitsrecht hat in bestimmten Bereichen, insbesondere für die erste und möglicherweise auch für die zweite Generation, erhebliche Erschwernisse mit sich gebracht. Hinzu kommt noch etwas: Das kommunale Wahlrecht für Nicht-EU-Bürger existiert, wie Sie wissen, lieber Herr Altmaier, seit den 70er-Jahren in vielen Nachbarstaaten, etwa Schweden, Dänemark, Holland, Großbritannien und auch Frankreich. In Deutschland gilt das kommunale Wahlrecht nur für EU-Staatsbürger, nicht für Menschen aus Nicht-EU-Staaten. Auch da ist Handlungsbedarf gegeben.

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Herr Kollege Keskin, wenn Sie die Situation in den einzelnen europäischen Staaten vergleichen, dann werden Sie feststellen, dass in vielen Ländern, in denen es ein kommunales Wahlrecht für Nicht-EU-Bürger gibt, die Einbürgerung schwieriger als in der Bundesrepublik Deutschland ist, dass es dort jedenfalls nicht die Elemente des Jus Soli gibt, von denen ich vorhin gesprochen habe und die dazu führen, dass Zehntausende von jungen Menschen mit der deutschen Staatsangehörigkeit von Anfang an aufwachsen können. Die sinkende Zahl von Einbürgerungsanträgen und Einbürgerungszahlen erklärt sich dadurch, dass diese Zahlen naturgemäß im Laufe der Zeit schwanken. Ich will aber ausdrücklich darauf hinweisen: Viele Migrantinnen und Migranten haben die Möglichkeit und das Recht, die deutsche Staatsangehörigkeit zu beantragen. Allerdings gibt es keine Pflicht, die deutsche Staatsangehörigkeit zu beantragen. Es ist den Betroffenen freigestellt, ob sie dies tun. Gleichwohl freuen wir uns über jeden, der sagt: Ich möchte gerne dazugehören und mich einbürgern lassen. - Wir bemühen uns, den Betroffenen diese Entscheidung so einfach wie möglich zu machen. Vor einiger Zeit haben wir einen neuen Einbürgerungstest eingeführt, der bundesweit Gültigkeit hat. Im Vorfeld ist daran viel Kritik geübt worden. Es hieß, er sei zu schwer, und die Fragen seien abschreckend. Inzwischen liegen uns die ersten Testergebnisse vor. Weit über 90 Prozent aller Teilnehmer, fast 100 Prozent von ihnen, haben den Einbürgerungstest bestanden. Auch daran wird deutlich, dass die Hürden bei der Einbürgerung in Deutschland durchaus zu überwinden sind.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Dağdelen, bitte.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Lieber Herr Altmaier, bevor ich meine Frage stelle, möchte ich auf die Einbürgerungszahlen, die das Statistische Bundesamt veröffentlicht hat, zu sprechen kommen. Da es gerade darum ging, ob diese Zahlen heute niedriger oder etwas höher als in der Vergangenheit sind, möchte ich darauf hinweisen, dass die Zahl der jährlichen Einbürgerungen seit dem Jahre 2000 kontinuierlich gesunken ist, und zwar auf 127 153 im Jahre 2004. Im Jahre 2007 - das ist die letzte Zahl, die uns vorliegt - gab es in Deutschland 113 030 Einbürgerungen. Im Vergleich dazu fanden im Jahre 2000 186 688 Einbürgerungen statt. Das entspricht einem Rückgang zwischen dem Jahre 2000 und dem Jahre 2007 in Höhe von 40 Prozent. Es finden also nicht gerade viele Einbürgerungen statt, was natürlich auch mit den Voraussetzungen zu tun hat. Nun möchte ich zu meiner konkreten Frage kommen, lieber Herr Altmaier. Es geht um Ihre Aussage zum kommunalen Wahlrecht. Es ist schön, dass die Bundesregierung die parlamentarischen Beratungen respektiert und abwartet; das ist nämlich nicht immer der Fall. Trotzdem möchte ich Sie daran erinnern, dass Sie einen Prüfauftrag zum kommunalen Wahlrecht in Ihren Koalitionsvertrag aufgenommen haben. Im Hinblick auf die Aussage Ihres Koalitionsvertrages, dass Sie die Einführung des kommunalen Wahlrechts prüfen lassen, haben wir eine Anfrage an Sie gerichtet. Die Antwort der Bundesregierung lautete, dass sie diesen Prüfauftrag noch nicht erfüllt habe. Ich möchte Sie fragen, ob die Bundesregierung diesen Prüfauftrag mittlerweile endlich erfüllt hat bzw. dies bis zum Ende dieser Legislaturperiode tut - es ist nämlich bereits Anfang 2009, und diese Legislaturperiode ist nicht endlos lang - oder ob sie gedenkt, diesen Prüfauftrag in die nächste Legislaturperiode zu verschieben.

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Frau Kollegin Dağdelen, der Koalitionsvertrag, auf den Sie sich beziehen, ist zwischen den die Bundesregierung tragenden Koalitionsfraktionen geschlossen worden. Die Bundesregierung wird über die Umsetzung der darin enthaltenen Prüfaufträge vorrangig mit den Koalitionsfraktionen sprechen. Ich bitte Sie, dies zu respektieren. Auch Sie werden die Ergebnisse unserer Beratungen zu gegebener Zeit zur Kenntnis nehmen können. Weil Sie sich gerade auf die Einbürgerungszahlen bezogen haben, möchte ich ganz ernsthaft auf folgenden Punkt hinweisen: Es gibt durchaus Migrantinnen und Migranten, die sich, obwohl sie alle Voraussetzungen erfüllen, deshalb nicht einbürgern lassen, weil sie ihre bisherige Staatsangehörigkeit nicht aufgeben wollen. Das deutsche Recht besagt allerdings: Wenn es möglich ist, die bisherige Staatsangehörigkeit aufzugeben, dann wird auch erwartet, dass das getan wird. Darüber wird im politischen Bereich diskutiert. Da in diesem Zusammenhang auch die Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates eine Rolle spielen, will ich darauf aufmerksam machen, dass es ein Abkommen der Staaten des Europarates gibt, in dem das Ziel der Vermeidung von Mehrstaatigkeit formuliert ist; lange Zeit verfolgte der Europarat nämlich eine Politik, die darauf gerichtet war, das Entstehen von Mehrstaatigkeit nach Möglichkeit zu vermeiden. Dieses Übereinkommen gilt nach wie vor, und die Bundesrepublik Deutschland fühlt sich diesem Übereinkommen verpflichtet. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Enkelmann, bitte.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, das sei alles ganz leicht. Ich habe im Spiegel dieser Woche von einer jungen verheirateten Frau gelesen, die seit sieben Jahren in der Bundesrepublik lebt. Sie hat ein Jurastudium absolviert, und das mit hervorragenden Ergebnissen. Man kann also davon ausgehen, dass sie sowohl unsere Gesellschaft als auch unser Rechtssystem kennt. Halten Sie es für angemessen, dass diese Frau einen Einbürgerungstest machen soll? Halten Sie das für einen leichten Weg, jemanden einzubürgern, der seinen Lebensmittelpunkt hier hat?

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Frau Kollegin, wie Sie sich denken können, habe auch ich diesen Artikel gelesen. Wir beschäftigen uns mit dem Einbürgerungstest seit einiger Zeit. Ich möchte Sie zunächst darauf hinweisen, wie die derzeitige rechtliche Lage ist. Es ist vorgesehen, dass den Einbürgerungstest nicht ablegen muss, wer in Deutschland über einen Hauptschulabschluss oder über einen vergleichbaren Schulabschluss verfügt. Dies war bei der betreffenden Person nicht der Fall. Was zu geschehen hat, wenn jemand in Deutschland ein Studium abgeschlossen hat, ist weder in den Regelungen noch in den vorläufigen Verwaltungsvorschriften abschließend geregelt. Dies wird im Augenblick mit den Bundesländern - sie sind für die Durchführung zuständig - besprochen. Ich gehe davon aus, dass man am Ende der notwendigen Prüfungen zu einer flexiblen und pragmatischen Lösung kommen wird, die dem Einzelfall gerecht wird.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Wunderlich.

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Staatssekretär, auf die Frage meiner Kollegin Dağdelen zum Prüfauftrag im Hinblick auf kommunales Wahlrecht haben Sie geantwortet, was im Koalitionsvertrag stehe, besprächen die Koalitionsparteien miteinander; der Rest des Parlaments werde zu gegebener Zeit informiert. Sehe ich es richtig, wenn ich sage, dass das heißt, dass die Bundesregierung von Parteien Prüfaufträge annimmt, am Parlament vorbei, und sich damit der parlamentarischen Kontrolle solcher Prüfaufträge entzieht? Anders kann man das, was Sie geäußert haben, meiner Überzeugung nach nicht deuten.

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Ich möchte Sie herzlich bitten, mir nicht das Wort im Mund herumzudrehen. Ein vergleichbarer Prüfauftrag des Deutschen Bundestages an die Bundesregierung ist bislang nicht ergangen. Einen Prüfauftrag des Deutschen Bundestages werden wir selbstverständlich in der kürzesten denkbaren Frist beantworten. Sie haben sich auf den Koalitionsvertrag bezogen. Die Umsetzung des Koalitionsvertrages liegt zuvörderst in der Verantwortung der die Koalition tragenden Parteien und Fraktionen. Das werden Sie nicht bestreiten wollen; es gibt ja auch Regierungen, an denen Ihre Partei beteiligt ist. Zumindest eine solche Regierung gibt es noch; es werden ja immer weniger. Ich habe gesagt: Selbstverständlich werden wir im Zuge der Umsetzung des Prüfauftrages das Parlament über die Ergebnisse unterrichten, wie wir das im Übrigen immer tun. Es ist weit hergeholt, daraus in irgendeiner Form eine Missachtung oder Geringschätzung des Parlaments herleiten zu wollen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich rufe die Frage 18 des Kollegen Keskin auf: Wie bewertet die Bundesregierung den Umstand, dass eine eigens eingerichtete Monitoringkommission die Umsetzung der diesbezüglichen Europaratsbeschlüsse in Deutschland überprüft?

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Herr Kollege Keskin, ich muss Sie auf die Beantwortung der Kleinen Anfrage verweisen, in der wir dazu bereits Stellung genommen haben. Im Übrigen ist der Bundesregierung nicht bekannt, dass der Europarat eigens eine Monitoringkommission eingerichtet habe, die die Umsetzung der Empfehlungen 1839 und 1840 ({0}) der Parlamentarischen Versammlung des Europarates überprüfen solle. Die Bundesregierung nimmt die Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates auch im Hinblick auf die in Empfehlung 1840 ({1}) Nr. 4 angesprochenen Monitoringmissionen zur Kenntnis. Sie verweist insoweit auf die Einladung an die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz, ECRI, in Nr. 4.7 der Empfehlung 1840 ({2}) und auf die Ende 2008 in Deutschland durchgeführte ECRI-Monitoringmission. Den Dopplungen und inhaltlichen Überschneidungen, welche die empfohlenen zusätzlichen Monitoringmissionen mit sich brächten, steht die Bundesregierung skeptisch gegenüber. Ich kann Ihnen aber sagen, dass die Ende 2008 in Deutschland durchgeführte ECRI-Monitoringmission sehr erfolgreich verlaufen ist. Davon habe ich mich selbst überzeugen können.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ihre Zusatzfragen, bitte.

Dr. Hakki Keskin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003785, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Staatssekretär, die Bundesrepublik Deutschland ist ein sehr interessiertes, engagiertes und sogar einflussreiches Mitgliedsland des Europarates und achtet darauf, dass die in anderen Mitgliedstaaten vorhandenen Defizite im Bereich der Demokratie, der Menschenrechte und der Minderheitenrechte beseitigt werden. Diesbezüglich gibt es Monitoringkommissionen. Ich bin Mitglied einer solchen Kommission. In diesem Falle aber nicht für die Bundesrepublik Deutschland, sondern für die anderen Länder. Wenn die Forderungen des Europarates in Bezug auf die vorhandenen Demokratiedefizite, worüber wir gerade gesprochen haben, nicht erfüllt werden, dann muss man kontrollieren, beobachten und feststellen: Wir haben beobachtet, dass in Deutschland immer noch soundsoviele Millionen Menschen keinerlei politische Rechte haben. Sie nennen die Versammlungsfreiheit. Ich bitte Sie! Das ist ein Grundrecht, das jedem Menschen zusteht. Wir reden hier von staatsbürgerlichen, politischen Rechten, also vom aktiven und passiven Wahlrecht etc.

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Herr Kollege Keskin, das war mehr ein Statement als eine Frage, aber ich kann Ihnen noch einmal versichern, dass die Bundesrepublik Deutschland zu denjenigen Ländern gehört, in denen die politischen Partizipationsmöglichkeiten auch für Migrantinnen und Migranten besonders entwickelt und ausgeprägt sind. Sie nehmen eine, wie ich meine, unzulässige Verkürzung dieser Frage vor, indem Sie sich allein auf das kommunale Wahlrecht beziehen. Sie wissen genauso gut wie ich, dass bei diesem Punkt auch verfassungsrechtliche Fragestellungen zu berücksichtigen sind und dass die große Mehrheit der Mitgliedstaaten des Europarates dieses kommunale Wahlrecht nicht gewährt. Die Bundesrepublik Deutschland ist in dieser Frage also keinesfalls alleine. Deshalb sage ich abschließend noch einmal, dass man das Problem der partizipativen Mitwirkung von Migrantinnen und Migranten auf unterschiedlichem Wege lösen kann. Die Gewährung eines kommunalen Wahlrechts kann eine Möglichkeit sein. Es gibt Staaten, die sich dafür entschieden haben. Es kann aber auch eine sinnvolle Möglichkeit sein, die Einbürgerung und damit die Erlangung des vollen Status eines Staatsbürgers zu erleichtern. Das ist ein Weg, den wir in Deutschland in den letzten Jahren mit bemerkenswerten und auch international anerkannten Erfolgen zurückgelegt haben.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Sie haben noch eine Zusatzfrage, Herr Keskin.

Dr. Hakki Keskin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003785, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Frau Präsidentin. - Lieber Herr Altmaier, nehmen wir einmal an, dass bei der Überprüfung der Monitoringkommission festgestellt wird, dass es auch hier in Deutschland in der Tat, wie ich meine und wie das durch die Fakten auch belegt wird, Demokratiedefizite im Bereich der politischen Partizipation usw. gibt. Was würde die Bundesregierung dann tun? Würde die Bundesregierung diese Defizite dann tatsächlich wohlwollend überprüfen und die entsprechenden Maßnahmen ergreifen, um diese Defizite zu beheben?

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Herr Kollege Keskin, Sie stimmen doch wahrscheinlich mit mir überein, dass es sich auch aufgrund des Respekts, den wir dem Europarat und seinen Monitoringkommissionen schulden, verbietet, den Empfehlungen und Ergebnissen dieser Kommissionen vorzugreifen. Deshalb schlage ich vor, dass wir getrost und ruhig abwarten, was die Monitoringkommissionen letzten Endes empfehlen werden, und dass wir uns anschließend in der gebotenen seriösen und unaufgeregten Weise mit diesen Empfehlungen auseinandersetzen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums des Inneren. Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Altmaier, für die Beantwortung der Fragen. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen auf. Zur Beantwortung der Fragen steht Herr Staatssekretär Karl Diller bereit. Die Frage 19 des Kollegen Ilja Seifert wird schriftlich beantwortet. Ich rufe die Frage 20 des Abgeordneten Ulrich Adam auf: Welche Brief- und Sondermarken der Deutschen Bundespost/Deutschen Post AG seit ihrem Bestehen sowie welche DM- und Euro-Gedenkmünzen widmeten sich - bitte einzelne Ausgaben mit dem Herausgabejahr auflisten - den Verfolgten und Opfern der kommunistischen/stalinistischen Gewaltherrschaft und der SED-Diktatur?

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Herr Kollege Adam, zunächst zu den Briefmarken: Im Jahre 1953 gab es aus Anlass des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 in der DDR und in Ostberlin ein Sonderpostwertzeichen. Es gab im Jahre 1995 ein Sonderpostwertzeichen den Opfern von Teilung und Gewalt, für den Zeitraum von 1945 bis 1989, gewidmet; es wurde 1995 wegen des Beginns der Teilung vor 50 Jahren herausgegeben. Im Jahre 2003 gab es ein Sonderpostwertzeichen aus Anlass des 50. Jahrestages des Volksaufstandes am 17. Juni 1953. Nun zur Herausgabe von Münzen: Ebenfalls im Jahre 2003 gab es eine 10-Euro-Silbergedenkmünze zum 50. Jahrestag des Volksaufstandes, die sich den verfolgten Opfern der SED-Diktatur widmete.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ihre Zusatzfragen, bitte.

Ulrich Adam (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000005, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin; aber ich habe keine Zusatzfragen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Dann rufe ich die Frage 21 des Kollegen Ulrich Adam auf: Welche Pläne hat die Bundesregierung in diesem Jahr, den 20. Jahrestag der friedlichen Revolution durch entsprechende Sonderbriefmarken, Euro-Gedenkmünzen und Gedenkmedaillen - bitte Vorhaben einzeln auflisten - zu würdigen?

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Herr Kollege, es wird am 10. September 2009 ein Sonderpostwertzeichen „20 Jahre Grenzöffnung Ungarn/ Österreich“ erscheinen. Dabei handelt es sich um eine trilaterale Gemeinschaftsmarke von Ungarn, Österreich und der Bundesrepublik Deutschland. Das heißt, in jedem dieser Länder wird eine motivgleiche Marke herausgegeben werden. Außerdem wird es am 8. Oktober 2009 ein Sonderpostwertzeichen „20 Jahre friedliche Revolution“ geben. Die Bundesregierung wird im Jahre 2009 zum 20. Jahrestag der friedlichen Revolution keine Euro-Gedenkmünzen ausgeben. Medaillen wird sie schon deswegen nicht ausgeben, weil dies keine hoheitliche Aufgabe ist.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Haben Sie Zusatzfragen, Herr Kollege Adam?

Ulrich Adam (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000005, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, Frau Präsidentin.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Dann bitte schön.

Ulrich Adam (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000005, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, ich frage Sie, inwieweit Sie bzw. die Bundesregierung eine Anregung gegeben hat, dass zum 80. Geburtstag von Pfarrer Oskar Brüsewitz, der sich am 30. Mai 2009 jähren wird, eine Sondermarke oder eine Gedenkmünze herausgegeben wird. Ich erinnere daran, dass sich Pfarrer Brüsewitz am 18. August 1976 aus Protest gegen die SED-Diktatur verbrannte.

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Herr Kollege Adam, bezüglich der Herausgabe von Sonderpostwertzeichen bekommt das Bundesministerium der Finanzen als zuständiges Ministerium in jedem Jahr zwischen 600 und tausend Vorschläge. Mittlerweile sind es eher tausend, weil es möglich geworden und entsprechend beworben worden ist, solche Vorschläge im Internet zu machen. Auch erreichen uns Dutzende von Abgeordnetenbriefen mit Vorschlägen. Bei uns entscheidet darüber nicht irgendein Oberamtsrat - ich sage dies mit allem Respekt vor der Bedeutung und Arbeitskraft von Oberamtsräten -, sondern ein Programmbeirat, der den Versuch unternimmt, eine richtige Bewertung der eingereichten Vorschläge vorzunehmen. Dabei muss er folgendes Problem beachten: Mit den Philatelistenverbänden haben wir abgesprochen, dass in der Regel nur 50 Sonderpostwertzeichen pro Jahr herausgegeben werden sollen. Wären Sie Philatelist, wüssten Sie, dass Sie gehalten sind, alle Marken einschließlich der Marken mit Zuschlägen zu erwerben, wenn Sie eine komplette Deutschlandsammlung haben wollen. Früher gab es die Marken einzeln von der Rolle; heute gibt es sie im Zehnerbogen. Die Philatelisten hätten sie gerne auch noch gestempelt und ungestempelt, möglichst mit Ersttagsstempel. Das heißt, für die Philatelisten geht eine Sammlung in die Kosten. Deswegen ist die Zahl auf 50 begrenzt. Innerhalb dieser 50 Sonderpostwertzeichen gibt es dann auch noch Serien, beispielsweise Wohlfahrtsmarken oder die Weihnachtsserie, die Frau Nicolette Kressl und ich Ihnen vor Weihnachten zugestellt haben. Es gibt also einen Programmbeirat, in dem auch Mitglieder des Deutschen Bundestages vertreten sind, der die eingegangenen Vorschläge sichtet, versucht, sie zu würdigen und dem Bundesminister der Finanzen einen Vorschlag unterbreitet. In der Regel - in meiner Amtszeit ist mir keine Abweichung von diesen Vorschlägen bekannt - folgt der Bundesfinanzminister den Vorschlägen des Programmbeirats. Bezüglich der konkreten Person kann ich Ihnen gegenwärtig keine Auskunft geben, ob er in dem Vorschlagstableau aufgeführt war und, wenn ja, warum er nicht berücksichtigt worden ist. Das müsste ich recherchieren und Ihnen dann zukommen lassen.

Ulrich Adam (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000005, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Haben Sie noch eine Zusatzfrage? - Das ist nicht der Fall. Dann rufe ich die Frage 22 des Kollegen Arnold Vaatz auf: Zu welchem Zeitpunkt erhielt die Bundesregierung Informationen zur Kenntnis über die Medaillenausgabe der Deutschen Post AG mit den Inschriften „Neubeginn und ParteienEinheit - 22. April 1946“, „Verfassung und Staatsgründung 7. Oktober 1949“, „Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik“, die im Rahmen der Medaillensammlung „60 Deutsche Jahre“ herausgegeben wurde, und inwieweit sind der Bundesregierung die Personen/Abteilungen/Dienststellen bei der Deutschen Post AG bekannt, die für die Auswahl der Motive, die Entscheidung zur Prägung und die Entscheidung zur Emission dieser Medaille verantwortlich waren? Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Herr Kollege Vaatz, die Deutsche Post AG wird als Aktiengesellschaft nach deutschem Recht vom Vorstand geführt, der allein - ich unterstreiche dick: allein - das operative Geschäft der Gesellschaft verantwortet. Die Ausgabe von Sammler- oder Gedenkmedaillen durch die Deutsche Post AG erfolgt in alleiniger Verantwortung und Zuständigkeit des Vorstandes der Deutschen Post AG. Eine Einflussnahme von Eigentümern, Aktionären auf das operative Geschäft ist nicht möglich, wie Sie wissen. Die Bundesregierung hat von der Deutschen Post AG über die beabsichtigte Herausgabe der Gedenkmedaille „60 Deutsche Jahre“ vorab keine Information erhalten. Dies war auch nicht erforderlich. Der Bundesregierung liegen im Übrigen keine Informationen über beteiligte Personen, Abteilungen und Dienststellen der Deutschen Post AG vor.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ihre Zusatzfragen.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, an welcher Stelle sehen Sie die politische Verantwortung für die ausgegebenen Münzen bzw. die dort verwendeten Symbole, Bilder oder grafischen Gestaltungen?

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Herr Kollege Vaatz, ich teile mit Ihnen die Empörung über diese Medaillen, insbesondere über die Medaille zur Zwangsvereinigung der SPD mit der SED. ({0}) Denn ich weiß, wie viele Tausende von Sozialdemokraten unter dieser Zwangsvereinigung und der folgenden Verfolgung zu leiden hatten. Deswegen bin ich sehr zufrieden, dass sich die Post AG sozusagen postwendend dazu entschlossen hat, die Auslieferung dieser Medaillen einzustellen. ({1}) Gleichwohl bleibt die Verantwortung beim Vorstand.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Sie haben noch eine Zusatzfrage.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, wenn Sie die Verantwortung beim Vorstand der Deutschen Post sehen, aber einräumen, dass die Bundesregierung - obwohl sie als Mitaktionär Miteigentümer der Deutschen Post AG ist - keinen direkten politischen Einfluss nehmen kann, frage ich Sie: Wie beurteilen Sie dann die Möglichkeiten der Öffentlichkeit, auf solche wichtigen symbolträchtigen, die deutsche Öffentlichkeit berührenden Entscheidungen der Deutschen Post Einfluss zu nehmen?

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Herr Kollege, ich gehe davon aus, dass der Umstand der Herausgabe dieser total verunglückten Medaillen der Deutschen Post AG eine Lehre ist, die sie hochgradig für künftige Gedenkmedaillen aus historischen oder welchen Anlässen auch immer sensibilisieren wird.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Bellmann, bitte.

Veronika Bellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, wie viele Exemplare dieser Gedenkmedaille bereits in Umlauf gekommen sind und zu welchen Preisen diese gehandelt wurden?

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Dazu liegen mir im Moment keine Erkenntnisse vor. Wir werden bei der Deutschen Post AG Rückfrage halten und Sie dann informieren.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Adam, bitte.

Ulrich Adam (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000005, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, ob sich die Deutsche Post AG bei den Opfern des Kommunismus/ Stalinismus bzw. bei deren Verbänden und Vereinigungen für diese Gedenkmedaille entschuldigt hat?

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Auch darüber liegen mir keine Erkenntnisse vor; das muss ich gestehen. Ich weiß, dass einzelne Abgeordnete Beschwerden an den Vorstandsvorsitzenden gerichtet haben und der Vorstandsvorsitzende sein Bedauern in seiner Antwort zum Ausdruck gebracht hat.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Michalk, bitte.

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, Sie haben Ihrer Empörung über diesen Vorgang Ausdruck verliehen. Ich frage Sie, welche Empfehlung Sie dem Vorstand geben, was mit den noch nicht in Umlauf befindlichen Münzen geschehen soll. ({0})

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Einschmelzen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich rufe die Frage 23 des Kollegen Arnold Vaatz auf: Inwieweit ist der Bundesregierung bekannt, welche externe Expertise von Personen/Institutionen die Deutsche Post AG im Zusammenhang mit der geplanten Emission der SEDGedenkmedaille eingeholt hat und zu welchen ({0})Bedingungen dies geschah? Herr Staatssekretär, bitte.

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Herr Kollege Vaatz, ich bedauere, aber der Bundesregierung liegen hierzu keine Informationen vor.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ihre erste Zusatzfrage.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, sehen Sie es genauso wie ich, dass es hier offenbar überhaupt nicht möglich ist, die persönliche Verantwortung für den eingetretenen Umstand zu eruieren? Wozu raten Sie mir, wenn ich herausfinden will, auf welche persönliche Initiative die Dinge so zustande gekommen sind?

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Ihre zweite Frage möchte ich wie folgt beantworten: Wenden Sie sich doch an den Vorstandsvorsitzenden und bitten Sie ihn um ein persönliches Gespräch. Zu Ihrer ersten Frage. Ich habe mir heute Morgen Ihre Frage noch einmal angeschaut und darüber nachgedacht, wo der Fehler passiert ist. Liegt der Fehler bei den Historikern, die kontaktiert wurden? Hatten diese nicht massive Hinweise gegeben, wie man damit umgehen müsste? Oder war es die Freiheit der Künstler? Die spannende Frage lautet für mich: Hatten die Historiker noch einmal die Möglichkeit, einen Blick auf den Entwurf der Künstler zu werfen und gegebenenfalls zu sagen, dass man so mit dem Thema umgehen kann oder nicht? Ich habe heute Morgen versucht, das bei der Deutschen Post AG herauszufinden. Die Post AG war nicht zu einer Auskunft bereit.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ihre zweite Zusatzfrage.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, können Sie sich vorstellen, dass ich genau die gleichen Schritte wie Sie im Vorfeld dieser Fragestunde unternommen habe und dass ich haargenau dieselbe Antwort erhalten habe? Ich frage mich nun, welche Möglichkeiten uns als Parlamentarier noch offenstehen, um eine Antwort auf die einfache Frage, wer für diese Gedenkmünze verantwortlich ist, zu bekommen.

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Ich mache Ihnen folgenden Vorschlag: Wir beide wenden uns an Herrn Appel und bitten ihn um ein Gespräch.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ganz herzlichen Dank.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin Bellmann, bitte.

Veronika Bellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, von meiner Seite noch folgende Frage: Ist Ihnen bekannt, ob es für diese Gedenkmedaille eine öffentliche Ausschreibung oder einen Gestaltungswettbewerb gegeben hat? Wenn dem so gewesen wäre, dann hätte man die ganze Angelegenheit schon früher beeinflussen können. In diesem Zusammenhang frage ich Sie: Können Sie sich vorstellen, dass der Beirat, der an der Entscheidung, welche Postwertzeichen herausgegeben werden, beteiligt ist, sich auch mit Gedenkmünzen und Gedenkmedaillen befasst?

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Frau Kollegin, Sie müssen Folgendes bedenken: Die Herausgabe von Münzen und die Herausgabe von Sonderpostwertzeichen ist im Unterschied zur Prägung von Medaillen ein hoheitlicher Akt. Jeder Verein kann die Prägung von Medaillen in Auftrag geben. Diese Freiheit hat er. Wenn er eine Prägewerkstatt findet, kann er alle möglichen Medaillen prägen lassen. Zurzeit sind bei uns beispielweise Medaillen zum Karneval im Umlauf. Davon abzugrenzen ist der hoheitliche Bereich. Für diesen hoheitlichen Bereich haben wir einen Programmbeirat. Der erste Teil Ihrer Frage betrifft ausschließlich das Unternehmen. Ich hoffe mit Ihnen allen zusammen sehr, dass das Unternehmen jetzt sehr sensibilisiert ist und dreimal hinschaut, bevor es einen Prägeauftrag erteilt.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich rufe nun die Frage 24 des Kollegen Manfred Kolbe auf: Wie viele Fälle sind der Bundesregierung bekannt, die unter die Regelungen des Altforderungsregelungsgesetzes fallen ({0}), aufgeschlüsselt nach den einzelnen östlichen Bundesländern sowie den abgeschlossenen und noch laufenden Verfahren? Herr Staatssekretär, bitte.

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Herr Kollege Kolbe, bei den sogenannten Altforderungen handelt es sich um Forderungen, die vor dem 8. Mai 1945 - das ist also schon sehr lange her - entstanden sind, die aber am 2. Oktober 1990 dem Staatshaushalt der DDR zustanden oder die staatlich verwaltet wurden. Die KfW führt die Verwaltung dieser ehemals volkseigenen Forderungen im Auftrag des Bundes durch. Unter das Altforderungsregelungsgesetz fallen nach Auskunft der KfW insgesamt 1 280 Fälle. Noch nicht abgeschlossen sind derzeit 663. Die von Ihnen erbetenen Zahlen für die einzelnen Bundesländer lauten: Berlin, sowohl bei abgeschlossenen als auch offenen Fällen: 0; Brandenburg: 155 abgeschlossen, 248 offen; Mecklenburg-Vorpommern: 137 abgeschlossen, 41 offen; Sachsen-Anhalt: 104 abgeschlossen, 103 offen; Sachsen: 160 abgeschlossen, 252 offen; Thüringen: 60 abgeschlossen, 19 offen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine Zusatzfrage, Herr Kollege? - Keine Zusatzfrage. Dann kommen wir zur Frage 25 des Kollegen Kolbe: Wie hoch sind die eingeforderten bzw. eingenommenen Beträge, und wie hoch ist der Verwaltungsaufwand beim Vollzug des Altforderungsregelungsgesetzes, aufgeschlüsselt nach den einzelnen östlichen Bundesländern?

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Herr Kollege, die Einnahmen aus den bereits geltend gemachten Altforderungen belaufen sich auf insgesamt 1,235 Millionen Euro. Die noch offenen Fälle belaufen sich auf rund 2,921 Millionen Euro. Die Einnahmen bzw. das Forderungsvolumen verteilen sich auf die Länder wie folgt: Berlin: 0; Brandenburg: Einnahmen 218 981,16 Euro, Forderungen 652 037,37 Euro; Mecklenburg-Vorpommern: Einnahmen 299 248,03 Euro, Forderungen 135 255,04 Euro; Sachsen-Anhalt: Einnahmen 218 303,92 Euro, Forderungen 1 026 075,01 Euro; Sachsen: Einnahmen 352 882,63 Euro, Forderungen 904 620,38 Euro; Thüringen: Einnahmen 145 863,27 Euro, Forderungen 203 550,58 Euro. Über den mit der Einziehung der dem Altforderungsregelungsgesetz unterfallenden Forderungen verbundenen Verwaltungsaufwand bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau liegen leider keine gesonderten Statistiken vor. Ich weise zudem darauf hin, dass der Bund nach dem Einigungsvertrag gesetzlich verpflichtet ist, diese Forderungen geltend zu machen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie dazu Zusatzfragen? - Bitte sehr.

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, ich habe mit Interesse vernommen, dass über mehrere Jahre insgesamt Einnahmen in Höhe von rund 1,2 Millionen Euro erzielt worden sind. Dafür haben wir im Jahre 2005 extra ein Gesetz im Deutschen Bundestag verabschiedet. Den Verwaltungsaufwand beziffern Sie hier nicht. Aber wenn ich die Anzahl der Fälle sehe, dann gehe ich davon aus, dass dieser eigentlich höher sein müsste. Wie ist Ihre Einschätzung: Ist das ökonomisch sinnvoll gewesen, oder sollte die KfW ihre personellen Ressourcen nicht eher in andere Richtungen lenken? Ich will hier keine Fälle nennen.

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Herr Kollege, zur Motivforschung habe ich mich noch einmal mit der Debatte anlässlich der zweiten und dritten Lesung im Deutschen Bundestag am Donnerstag, dem 24. Februar 2005, befasst. Ich habe auch Ihren Redebeitrag gelesen. Sehr knapp und zutreffend war meiner Ansicht das, was Herr Dr. Hans-Ulrich Krüger von der SPD-Fraktion hierzu anmerkte - ich zitiere -: Die vorgeschlagene Regelung entspricht daher der seit jeher im Entschädigungsgesetz niedergelegten Konzeption. Dort ist eine Anrechnung der Verbindlichkeiten auf die Entschädigung vorgesehen. Diese Anrechnung schlägt aber wegen des übersteigenden Wertes der zurückgegebenen Grundstücke in vielen Fällen fehl. Die Berechtigten erhielten also einerseits … wertvolle Grundstücke zurück und andererseits zusätzlich eine Schuldenbefreiung. Diese Personen wären also im Vergleich zu denjenigen, die nur eine Entschädigung erhielten, bevorteilt. Das ist präzise auf den Punkt gebracht das Thema. Das heißt, es ist ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit. Im Übrigen haben auch die Länder dieses Verfahren gebilligt. Sie haben im Vermittlungsausschuss lediglich noch eine Änderung, die aber nicht diesen Punkt betrifft, durchgesetzt. Abschließend möchte ich noch einmal in Erinnerung rufen, dass alle diejenigen, die gemeint haben, gegen dieses Gesetz klagen zu müssen, vor den entsprechenden Gerichten verloren haben. Es ist also auch rechtlich richtig, was wir da machen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine weitere Zusatzfrage? - Bitte sehr.

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, nach der rechtlichen Seite habe ich nicht gefragt, sondern nach der verwaltungsökonomischen. Können Sie dazu noch eine Einschätzung abgeben?

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Solange die KfW mir nicht sagen kann, wie viel die Bearbeitung eines Verwaltungsvorgangs Pi mal Daumen kostet, sodass ich das dann mit 1 280 Fällen multiplizieren kann, sehe ich mich dazu nicht in der Lage. Die KfW führt darüber keine Statistiken.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Damit kommen wir zur Frage 26 des Kollegen CarlLudwig Thiele: Wie ist die Aussage der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung vom 14. Januar 2009 zu verstehen: „Wir haben im Übrigen beim Erblastentilgungsfonds bewiesen, dass wir das können. Er wurde 1995 eingerichtet und hatte damals einen Schuldenstand von umgerechnet 171 Milliarden Euro. Jetzt ist er getilgt.“? Herr Staatssekretär, bitte sehr.

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Frau Präsidentin, Herr Kollege Thiele, wenn Sie einverstanden sind, beantworte ich beide Fragen, weil sie den gleichen Sachverhalt betreffen und sich in der Wortwahl nur geringfügig unterscheiden, gemeinsam.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Dann rufe ich auch die Frage 27 des Kollegen CarlLudwig Thiele auf: Wie ist die Aussage des Bundesministers des Auswärtigen, Dr. Frank-Walter Steinmeier, in der Bundestagsdebatte am 14. Januar 2009 zu verstehen: „Wenn ich mich erinnere, hat das Abtragen der Schulden des Erblastentilgungsfonds 14 Jahre gedauert.“?

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Der Erblastentilgungsfonds wurde 1995 mit einer Anfangsschuld von umgerechnet 171 Milliarden Euro gebildet. Einzelne Bestandteile, wie zum Beispiel die Verbindlichkeiten des Kreditabwicklungsfonds, waren darauf ausgerichtet, innerhalb einer Generation, also innerhalb von circa 40 Jahren, getilgt zu werden. Durch hohe Zuflüsse an den Fonds aus Bundesbankgewinnen, aus den Einnahmen der Versteigerung der UMTS-Lizenzen sowie aus Beiträgen der neuen Bundesländer zur Tilgung von Krediten für den Bau gesellschaftlicher Einrichtungen in der ehemaligen DDR konnten die Verbindlichkeiten des Erblastentilgungsfonds schneller als geplant reduziert werden. Heute, nach 14 Jahren, stehen für den Erblastentilgungsfonds unter Berücksichtigung des Schuldenmitübernahmegesetzes von 1999 noch Verbindlichkeiten von 55 Millionen Euro zu Buche, denen Forderungen in zweistelliger Millionenhöhe gegenüberstehen. Seine Schulden sind somit faktisch abgebaut. Die letzte Tilgung ist entsprechend den vereinbarten Fälligkeiten für 2011 vorgesehen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ihre Nachfrage, Herr Kollege Thiele.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär, meine Nachfrage lautet: Was verstehen Sie unter „Tilgung“? „Tilgung“ ist ja wohl die Rückzahlung einer Schuld. Handelt es sich hier nicht in wesentlichen Teilen um eine Umschuldung, weil ein Großteil der Verbindlichkeiten inzwischen im Bundeshaushalt zu finden ist und nicht im Erblastentilgungsfonds getilgt wurde? Die Erlöse aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen, die entsprechenden Bundesbankgewinne und die Zuführungen der Länder erreichen nicht annähernd die Größenordnung, die hier zur Tilgung anstand.

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Herr Kollege Thiele, Sie wissen, dass ich von 1994 bis 1998 für die SPD Sprecher im Haushaltsausschuss war und mich damals mit der von Ihnen gestützten Regierung immer über Folgendes auseinandersetzte: Sie führte etliche Sondervermögen, die sich bei näherem Hinsehen als Schuldentöpfe herausstellten, unter anderem den Erblastentilgungsfonds. Deswegen habe ich nach der Regierungsübernahme 1998 sehr darauf gedrängt, dass man diese Schuldentöpfe möglichst schnell auflöst und nach Möglichkeit auf den Bund überträgt. Im Finanzbericht mit der Statistik für den betreffenden Zeitraum sehen Sie das Aufwachsen der Schulden. Bis dahin waren die Schulden in diesen Töpfen versteckt; danach sind sie offenkundig geworden. Das ist im Schuldenmitübernahmegesetz von 1999 geregelt worden. Das heißt, wir tilgen auch aus dem Haushalt heraus. Die Aussagen der Frau Bundeskanzlerin, dass die Schulden jetzt getilgt seien, und des Herrn Bundesaußenministers, dass das Abtragen der Schulden 14 Jahre gedauert habe, sind korrekt, weil nämlich genau bestimmt worden ist, wie das Tilgen vor sich geht.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Haben Sie eine weitere Nachfrage? - Bitte sehr.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, stimmen Sie mit mir darin überein, dass eine Tilgung dann erfolgt ist, wenn die Schuld tatsächlich nicht mehr vorhanden ist, und eine Umschuldung etwas anderes ist? Bei einer Umschuldung nämlich wird ein Teil einer Schuld nur übertragen; diese Schuld bleibt aber. Um die Zahlen noch einmal zu nennen: Zum 31. Dezember 1994 hatten wir mit den Extrahaushalten eine Verschuldung des Bundes von 513 Milliarden Euro. 2007 betrug sie 938 Milliarden Euro; sie ist also um 425 Milliarden Euro gestiegen. Das ist die Gesamtschuld des Bundes, also Extrahaushalte plus Schulden des Bundes - alles ausweislich des Finanzberichts -, sodass von daher überhaupt nicht nachvollziehbar ist, dass die Schulden getilgt sind. Sie haben selbst genannt die Erlöse aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen, die Bundesbankgewinne, die über 3,5 Milliarden Euro hinausgingen, und die Ländertilgung in Höhe von 138 bzw. 142 Millionen Euro. Sie kommen damit nicht annähernd an die Größenordnung des Erblastentilgungsfonds von rund 180 Milliarden Euro, sodass es aus meiner Sicht unzutreffend ist, diesen Vorgang als Tilgung zu bezeichnen. Es handelt sich im Wesentlichen, zum größeren Teil um eine Umschuldung.

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Herr Kollege Thiele, es bleibt dabei: Die getroffenen Aussagen sind korrekt; denn im Buchwerk des Erblastentilgungsfonds sind die Schulden nahezu getilgt. Die Verbindlichkeiten in Höhe von 55 Millionen Euro könnten wir sofort tilgen. Unser Problem ist, dass sie eine Laufzeit bis 2011 haben. Wir kennen nicht die Gläubiger dieser Titel; deswegen können wir sie nicht ansprechen. Im Übrigen hat dieser Fonds noch Forderungen gegenüber Wohnungsbauunternehmen in der Größenordnung von 40 Millionen Euro, also in vergleichbarer Höhe, sodass man wirklich sagen kann: Im Rechenwerk ist das getilgt. Übrigens, Herr Kollege Ausschussvorsitzender: ({0}) Wenn diese Forderungen bis 2011 nicht beglichen wor- den sind, werden wir ein Gesetz verabschieden müssen, damit wir weiter eine Rechtsgrundlage haben, um die Forderungen gegenüber den Wohnungsbauunternehmen geltend machen zu können. Noch einmal, Kollege Thiele: Im Buchwerk des Erb- lastentilgungsfonds ist sozusagen alles getilgt - mit Aus- nahme der 55 Millionen Euro, denen Forderungen in Höhe von 40 Millionen Euro gegenüberstehen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Wir haben damit den zeitlichen Rahmen der Frage- stunde leicht überschritten. Die Fragen, die noch nicht beantwortet sind, werden schriftlich beantwortet. Die Fragestunde ist damit beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, René Röspel, Katrin GöringEckardt und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verankerung der Patientenverfügung im Betreuungsrecht ({0}) - Drucksache 16/11360 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Zöller, Dr. Hans Georg Faust, Dr. Herta Däubler-Gmelin und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Klarstellung der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen ({2}) - Drucksache 16/11493 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({3}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Peter Weiß das Wort. ({4})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Krankheit und Sterben sind Teil unseres menschlichen Lebens. Zentrale Richtschnur allen Handelns, auch in Krankheit und Sterben, ist die unverfügbare Würde des betroffenen Menschen. Der Respekt vor der Einzigartigkeit des Lebens verbietet jede Instrumentalisierung des Schicksals eines Schwerkranken oder Sterbenden, jede Abwertung seiner Lebenslage, jede Fremdbestimmung seines Willens. Um eine solche Fremdbestimmung zu vermeiden und dem Selbstbestimmungsrecht eine Peter Weiß ({0}) starke Stellung zu geben, wollen wir Patientenverfügungen auf eine sichere rechtliche Grundlage stellen. Darum geht es. Viele Menschen verbinden ja mit der Aussicht darauf, dass sie vielleicht eines Tages entscheidungsunfähig sind und sich nicht mehr äußern können, große Befürchtungen, nämlich dass Dinge geschehen könnten, die sie nicht wollen, dass sie einer, wie sie sagen, kalten Apparatemedizin ausgeliefert sein könnten, dass Schmerz und Leid unnötig verlängert werden könnten. Deswegen wollen immer mehr Menschen Vorsorge treffen und sicherstellen, dass ihr Wille ge- und beachtet wird. Mit dem von mehreren Abgeordneten aus mehreren Fraktionen heute eingebrachten Gesetzentwurf zur Verankerung der Patientenverfügung im Betreuungsrecht soll die Achtung des Selbstbestimmungsrechtes des Einzelnen gestärkt werden. Zugleich wollen wir aber auch Lebensschutz, ärztliche Fürsorge und Patientenwohl gewahrt wissen. Sicher, der im Voraus für den Fall der Nichteinwilligungsfähigkeit verfügte Wille ist stets zu beachten. Allerdings ist es nach aller menschlichen Erfahrung ein gefährlicher, ja vielleicht sogar lebensgefährlicher Fehlschluss zu meinen, dass ein früher einmal geäußerter Wille in jedem Fall dem aktuellen Willen des Betroffenen entspricht. Er kann diesem Willen entsprechen, aber es muss nicht zwingend so sein. Würde der Betroffene jetzt, da er schwer krank ist, genauso handeln wie damals, als er noch gesund war und eine Patientenverfügung geschrieben hat? Ist angesichts des rasanten Fortschritts in der modernen Medizin jede vor 10 oder 20 Jahren niedergelegte Willensäußerung tatsächlich noch aktuell? Würde der Patient genauso bestimmen wie damals, als er noch nicht wusste, dass jetzt im Gegensatz zu früher für ihn Heilungschancen bestehen? Solche Fragen zu stellen heißt nicht, das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu relativieren, sondern zeugt davon, dass man den Patientenwillen tatsächlich ernst nehmen und ihm zu jeder Zeit Geltung verschaffen will. Um dafür einen klaren Rechtsrahmen zu schaffen, schlagen die Antragsteller ein, wie ich finde, einfaches Verfahren vor, auch wenn uns unterstellt wird, es sei sehr kompliziert. Wenn jemand möchte, dass tatsächlich das, was er niedergeschrieben hat, auch exakt so in jeder Situation durchgeführt wird, dann kann er das in einer nach ärztlicher Beratung ausgefüllten Patientenverfügung anordnen. Zugleich sieht unser Vorschlag vor, dass der Abfassung einer solchen Patientenverfügung eine ausführliche ärztliche und rechtliche Aufklärung vorausgegangen sein muss, sie von einem Notar beurkundet werden muss und sie nicht älter als fünf Jahre sein darf, also jeder im vollen Wissen des ärztlich und rechtlich Möglichen seine Patientenverfügung erstellt. Wenn jemand das nicht machen will, kann er selbstverständlich in jeder anderen Form schriftlich eine Patientenverfügung abfassen und den Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung anordnen. Der Arzt oder der Betreuer müssen sich auch daran halten, wenn eine unheilbare, tödlich verlaufende Krankheit oder eine Situation vorliegt, in der der Patient mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit trotz Ausschöpfung aller medizinischen Möglichkeiten das Bewusstsein niemals wiedererlangen wird. Man kann aber auch das machen, was viele andere tun, nämlich keine Patientenverfügung schreiben. Dann sind immerhin Willensäußerungen aus der Vergangenheit - die Einstellungen zum Leben, die religiösen Überzeugungen - Indizien dafür, wie er, wenn man ihn befragen könnte, vielleicht entscheiden würde. Bei allem Streit über Details einer gesetzlichen Regelung zu Patientenverfügungen sollten wir in einer solchen Debatte aber auch ein zentrales Anliegen deutlich machen: Es geht darum, den Bedürfnissen schwer kranker und sterbender Menschen möglichst umfassend gerecht zu werden. Dazu sind Patientenverfügungen ein Instrument. Sie sind ein wichtiger Beitrag, aber nicht der einzige. Menschenwürdiges Sterben bedarf zudem intensiver palliativmedizinischer Versorgung, fürsorgender Beratung und seelsorgerischer Betreuung. ({1}) Dass Menschen in Würde sterben können, das sollte Ziel unserer gemeinsamen politischen Bemühungen sein. Vielen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Michael Kauch. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bereits 2004 und 2006 haben die Liberalen Anträge für die Stärkung von Patientenverfügungen in den Deutschen Bundestag eingebracht. Es ist auch schon wieder mehr als ein halbes Jahr her, dass der Kollege Stünker gemeinsam mit mir und 200 anderen Abgeordneten hier einen Gesetzentwurf eingebracht hat, um Patientenverfügungen wirklich zu stärken. Fünf Jahre lang warten die Menschen inzwischen darauf, dass dieses Hohe Haus eine Entscheidung über alle diese widerstreitenden Vorschläge trifft. Jetzt ist genug der Blockade; jetzt muss entschieden werden. ({0}) Das Sterben ist Teil des Lebens. Wir reden heute über Patientenverfügungen. Sie sind ein wichtiger Baustein, um Würde am Lebensende zu ermöglichen, aber eben nur ein Baustein. Genauso gehört mehr menschliche Zuwendung für Sterbende dazu. Gerade für die Menschen, die zu Hause sterben wollen, brauchen wir endlich eine professionelle ambulante Palliativmedizin, und zwar nicht nur in den Großstädten, sondern auch in der Fläche. ({1}) All diese Maßnahmen sind kein Widerspruch zu einer Politik für mehr Patientenautonomie. Beides gehört zusammen. Fürsorge ohne Selbstbestimmung ist genauso schlimm wie Selbstbestimmung ohne Fürsorge. Die moderne Medizin hat Möglichkeiten geschaffen, von denen wir vor 50 Jahren nicht zu träumen gewagt hätten. Ob man das als Geschenk oder als Qual empfindet, kann nur jeder einzelne Mensch für sich selbst entscheiden. Niemand muss eine Patientenverfügung abfassen. Wer sich entscheidet, festzulegen, was ihm wichtig ist, hat aber auch den Anspruch, dass dieses Parlament seinen Willen achtet. ({2}) Meine Damen und Herren, um es klar zu sagen: Wir haben keine naive Vorstellung von Selbstbestimmung, wie Herr Weiß uns das unterstellt hat. Mit Patientenverfügungen verfüge ich natürlich etwas für die Zukunft. Das ist immer ein schwächerer Wille als das, was ich hier und jetzt äußere. Aber was ist denn die Alternative? Die Alternative zum vorausverfügten Willen unter Unsicherheit ist, dass ein Dritter entscheidet. Die Alternative ist die Fremdbestimmung des Menschen. Lassen Sie mich zu den heutigen Entwürfen kommen. Der Entwurf der Kollegen Zöller und Faust ist in den entscheidenden Fragen - in den Entscheidungsregeln, in der Reichweite - auf einer Linie mit dem Entwurf von Herrn Stünker und mir. Wir wollen gemeinsam keine Beschränkung der Reichweite. Wir wollen das Vormundschaftsgericht nur in Konfliktfällen einschalten. Wir wollen vor allem eine Bürokratisierung des Sterbens verhindern. Unsere Entwürfe unterscheiden sich in einigen Details. Aber ich bin ausgesprochen zuversichtlich, dass es uns nach einer sachlichen Anhörung gelingt, diese Entwürfe zusammenzuführen. Es macht keinen Sinn, an den eigenen Formulierungen zu kleben und auf ihnen zu beharren. Es geht darum, eine breite parlamentarische Mehrheit für mehr Selbstbestimmung von Patienten zu erreichen. ({3}) Lassen Sie mich hinzufügen: Weder der Entwurf von Herrn Zöller und Herrn Faust noch der Entwurf von Herrn Stünker und mir beinhaltet einen Automatismus für die Patientenverfügung. Ich habe gehört, Herr Bosbach habe heute einigen Journalisten gesagt: Eine junge Radfahrerin, die stürzt und aufgrund ihrer Verletzungen ins Koma fällt, würde nach unserem Gesetzentwurf nicht behandelt werden, wenn sie vorher in einer Patientenverfügung festgelegt hat, dass sie in diesem Falle nicht behandelt werden möchte. - Das ist natürlich Unsinn. ({4}) - Wenn Sie das nicht gesagt haben, Herr Bosbach, dann begrüße ich das natürlich. Aber so wurde es mir berichtet.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Kauch, Herr Bosbach möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass das weder wörtlich noch sinngemäß stimmt, sondern frei erfunden ist?

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das nehme ich zur Kenntnis. Es freut mich außerordentlich, dass mich meine Quelle offensichtlich falsch informiert hat. Dennoch möchte ich darauf hinweisen, dass die Behauptung - sie wird möglicherweise im weiteren Verlauf der Debatte noch aufgestellt - falsch ist, dass es einen Automatismus gebe und dass man im Falle einer falschen Formulierung nach dem Vorschlag von Zöller oder dem von Stünker oder von wem auch immer sterben müsse. Das ist nicht der Fall. Auch nach den anderen Entwürfen soll geprüft werden, ob die entsprechende Formulierung in der Patientenverfügung auf die Situation anzuwenden ist. Es wird vor allen Dingen hinterfragt, wie sie gemeint ist. Dieser Punkt ist in allen Entwürfen enthalten. ({0}) Ich möchte den Gesetzentwurf von Herrn Bosbach nicht selber kommentieren, sondern die Gelegenheit nutzen, ein Zitat aus einem Kommentar anzuführen, der von Herrn Professor Borasio, Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin an der Universität München, stammt. Er bezeichnet den Entwurf von Herrn Bosbach als Patientenverfügungsverhinderungsgesetz, das auf medizinisch fehlerhaften Annahmen basiert, unnötige Hürden aufbaut und ein groß angelegtes Beschäftigungsprogramm für Notare und Vormundschaftsgerichte darstellt. Weiter meint er: Die letzte Lebensphase wird massiv verrechtlicht und damit entmenschlicht. Dieses Gesetz würde sehr viele Menschen ihres Grundrechts auf einen friedlichen und natürlichen Tod berauben. Bevormundung statt Fürsorge. Der ethische Paternalismus lässt grüßen. - Das spricht für sich. Wenn ein Palliativmediziner eine solche Gesamteinschätzung Ihres Entwurfs trifft, dann muss man sich einmal anschauen, was Palliativmediziner zu einzelnen Bestimmungen Ihres Entwurfes sagen. Darin heißt es, dass Verfügungen, die Krankheiten betreffen, die keinen irreversiblen, tödlichen Verlauf nehmen, nur dann gelten, wenn sie notariell beurkundet werden und wenn es vorher eine ärztliche Beratung gegeben hat. Was sind denn diese irreversiblen, zum Tode führenden Erkrankungen? Herr Borasio schreibt, dass das medizinisch nicht klar festzulegen ist.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Kauch, lassen Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Bosbach zu? - Herr Bosbach, bitte sehr.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kauch, was Sie gerade angesprochen haben, ist ein ausgesprochen wichtiges Argument. Es geht nämlich um die Frage: Kann man dieses Tatbestandsmerkmal in der ärztlichen Praxis überhaupt feststellen? Ich zitiere aus der entsprechenden Empfehlung der Bayerischen Staatsministerin für Justiz und für Verbraucherschutz. Sie schlägt folgende Formulierung wortwörtlich vor: … wenn ich mich im Endstadium einer unheilbaren, tödlich verlaufenden Krankheit befinde, selbst wenn der Todeszeitpunkt noch nicht absehbar ist. Wie erklären Sie sich die von Ihnen angeführte Stellungnahme von Herrn Professor Borasio angesichts der Tatsache, dass diese Formulierung von dem Beiratsmitglied Professor Domenico Borasio empfohlen wird? ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Borasio schreibt in dem Papier, das mir vorliegt: Da wir alle sterben werden, kann die Definition einer tödlich verlaufenden Krankheit nur lauten, dass Patienten mit dieser Krankheit eine im Vergleich zu gleichaltrigen Gesunden signifikant verminderte Lebenserwartung aufweisen. Das gilt für die meisten Krebserkrankungen, aber genauso für Demenz-, für Wachkoma-, für Herzinsuffizienz-Patienten und für die multimorbiden, hochbetagten geriatrischen Patienten. Hier eine klare Grenze zu ziehen, ist medizinisch-wissenschaftlich unmöglich. Soll das politisch anders sein? - Ich glaube, wir werden im Rahmen der Anhörung Gelegenheit haben, über diese Kontroverse zu diskutieren. Diese Äußerung macht deutlich, dass offensichtlich auch Ärzte mit Ihrem Kriterium ein Problem haben. Abgesehen davon müssen wir uns die Frage stellen, was ist, wenn man Ihre Formvorschriften nicht einhält. Was passiert dann? Dann werden die Menschen zwangsbehandelt, ({0}) dann wird wiederbelebt, dann wird beatmet, dann werden Magensonden gelegt, wird Blut übertragen, werden Antibiotika verabreicht, und das alles gegen den ausdrücklichen Willen des Patienten. ({1}) Zudem ist Ihr Entwurf ein Beschäftigungsprogramm für die Vormundschaftsgerichte. Sie sagen: In all den Fällen, in denen es nicht um irreversibel zum Tode führende Krankheiten geht, muss das Vormundschaftsgericht selbst dann angerufen werden, wenn Arzt, Betreuer und alle Angehörigen sich darüber einig sind, dass dies der Wille des Patienten ist. Das bringt eine lange Verfahrensdauer mit sich, und wir wissen, was das bedeutet: Das bedeutet, dass man vielleicht zwar recht hat, aber doch nicht recht bekommt. In der Sterbephase geht es um Tage oder Wochen. Da kann man nicht darauf warten, dass sich ein Gericht bequemt, endlich eine Entscheidung zu treffen. ({2}) Die Verbindlichkeit und der Anwendungsbereich von Patientenverfügungen müssen klar geregelt werden. Wir sollten nicht nur von Selbstbestimmung sprechen; wir sollten die Selbstbestimmung in unseren Gesetzentwürfen auch absichern. Ich hoffe, dass die Argumente, die die Experten vorbringen werden, im Rechtsausschuss, aber auch im Plenum dieses Hauses, gut abgewogen werden, damit wir zu einer wirklich sachgerechten Lösung für die Menschen in diesem Land kommen. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Christoph Strässer.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich sagen, dass es gut, richtig und wichtig ist, dass wir nach einer sehr langen Debatte nunmehr in einer Phase sind, in der Entscheidungen getroffen werden können. Ich möchte an dieser Stelle nachdrücklich den hohen Ärztefunktionären widersprechen, die noch heute gesagt haben, dass es für die Regelung eines solchen Sachverhaltes einer gesetzlichen Regelung nicht bedarf. ({0}) Wer die Debatten der letzten Wochen, Monate und Jahre verfolgt hat und Veranstaltungen zu diesem Thema besucht hat - nach meiner Kenntnis waren es die bestbesuchten politischen Veranstaltungen in vielen Wahlkreisen -, der kann sich über eine solche Einschätzung nur wundern. Die Menschen in diesem Land, die davon betroffen sind, erwarten von den Parlamentarierinnen und Parlamentariern, dass sie Entscheidungen treffen. Ich bin sehr froh darüber, dass wir jetzt auf einem guten Weg sind, auch wenn es inhaltlich unterschiedliche Positionierungen gibt. ({1}) Wir haben meiner Ansicht nach darüber zu reden, dass wir - jedenfalls nach dem Entwurf des Kollegen Stünker, den auch ich vertrete - von zwei unterschiedlichen Lebenssachverhalten ausgehen. Der erste Lebenssachverhalt ist folgender: Ein Mensch, der sich in einer Situation befindet, in der er entscheidungsfähig ist, erklärt schriftlich, wie er in einer Situation, in der er aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht mehr selbst entscheiden kann, also in bestimmten Krankheitssituationen, behandelt oder eben auch nicht behandelt werden möchte. Ich glaube, dass es dem Selbstbestimmungsrecht und damit einer Grundentscheidung unseres Wertesys21496 tems geschuldet ist, diesem Willen eines entscheidungsunfähig gewordenen Menschen Geltung zu verschaffen; denn dies ist nach meiner Überzeugung Kernbestandteil unserer Rechtsordnung: Der erkennbare Wille eines erkrankten Menschen am Ende seines Lebens ist nicht weniger wert als der erklärte Wille eines Menschen, der sich selbst erklären kann. ({2}) Dabei geht es - das halte ich für besonders wichtig und erwähnenswert - um den Willen des Patienten. Es geht nicht, wie oft kolportiert wird, um den Willen eines Betreuers, eines Bevollmächtigten oder eines behandelnden Arztes. Niemand hat nach unserer Überzeugung das Recht, seinen Willen an die Stelle des Willens eines entscheidungsunfähig gewordenen Patienten zu setzen. ({3}) Das wollen wir mit unserem Gesetzentwurf zur Patientenverfügung regeln. Hierfür gilt es einen Rahmen zu schaffen. Ich möchte aber auf Folgendes hinweisen - vielleicht sehen viele das ähnlich -: Wir wollen und können keine konkreten Formulierungen vorgeben, die in den Patientenverfügungen stehen müssen. Wir möchten nur erreichen, dass, wenn eine Patientenverfügung vorliegt, die den Regeln, die der Gesetzgeber nach dieser sehr intensiven Beratung aufstellt, entspricht, dem Willen, der darin niedergelegt ist, gefolgt wird. Das ist die einzige Stoßrichtung unserer Arbeit an dieser Stelle. ({4}) Es geht nicht darum - das hat Kollege Kauch, wie ich finde, völlig zu Recht gesagt -, hier einen Automatismus in Gang zu setzen. Ich verweise, weil ich diese Diskussion teilweise nicht verstehe, sehr deutlich auf das, was in unserem Gesetzentwurf in § 1901 b Abs. 1 und Abs. 2, auf den ich noch zu sprechen komme, steht. Dieser bewirkt genau das Gegenteil von Automatismus. Dort steht ganz klar, dass in jeder Situation, in der mit einer schriftlichen Patientenverfügung gearbeitet werden muss, der Betreuer zu entscheiden hat, ob das, was darin niedergelegt ist, sowohl dem Willen des Patienten als auch seiner konkreten Lebens- und Behandlungssituation entspricht. Das ist kein Automatismus, sondern eine Überprüfung des Willens des Patienten. Ich denke, das ist eine Form des Selbstbestimmungsrechts, die wir zu akzeptieren haben. ({5}) In § 1901 b Abs. 2 ist der Fall geregelt - ich glaube, dieser Lebenssachverhalt ist noch wichtiger -, in dem keine schriftliche Patientenverfügung vorliegt. Auch dafür haben wir klare Regelungen vorgeschlagen, die genau das Gegenteil von Automatismus bewirken. Ich glaube, das ist die Brücke zu dem Entwurf des Kollegen Zöller; denn wir wollen das Gespräch des Betreuers, des Bevollmächtigten mit den Angehörigen, mit all denjenigen, die diesen Menschen sein Leben lang begleitet haben, um festzustellen, ob das, was als mutmaßlicher Wille des Patienten festgelegt worden ist, tatsächlich seinem Willen entspricht. Ich glaube, für die Menschen, die diese schwierige Entscheidung zu treffen haben, ist § 1901 b Abs. 2 eine Kernbestimmung, die mehr enthält als das, was in allen mir bekannten Verfügungen bisher festgelegt worden ist. Das ist das Gegenteil von Automatismus. Deshalb bin ich sehr froh darüber, dass wir jetzt Entwürfe haben, die aus meiner Sicht mehrheitsfähig gemacht worden sind. Ich möchte noch - aus Zeitgründen ganz kurz - auf den sogenannten Bosbach-Entwurf eingehen. Herr Kauch, Sie haben gesagt, das sei ein Beschäftigungsprogramm für Vormundschaftsgerichte. Ich persönlich halte es auch für ein Beschäftigungsprogramm für Notare. ({6}) An der Stelle muss man klar sagen, was man eigentlich will. Ich werte das aus meiner Sicht so, dass man hier das Selbstbestimmungsrecht nach Art. 2 des Grundgesetzes spaltet: Es gibt Patientenverfügungen erster Klasse und Patientenverfügungen zweiter Klasse. - Ich glaube, dass das dem Willen derjenigen, die Patientenverfügungen schreiben, definitiv nicht entspricht. ({7}) Deshalb werbe ich dafür, in den Verhandlungen, die jetzt anlaufen, eine breite Mehrheit in diesem Parlament herbeizuführen. Ich möchte zum Schluss das aufgreifen, was die beiden Vorredner schon gesagt haben: Die Patientenverfügung ist ein Bestandteil der Menschenwürde am Ende des Lebens. Hospizarbeit und Palliativmedizin haben auch in Deutschland einen neuen Stellenwert gewonnen. Ich fordere deshalb die gesetzlichen Krankenkassen auf, endlich die Blockade der Umsetzung der ambulanten palliativmedizinischen Versorgung aufzugeben ({8}) und es den Ärztinnen und Ärzten, die an dieser Stelle tätig sind, zu ermöglichen, auch materiell dafür zu sorgen, dass eine menschenwürdige Behandlung im Rahmen der Palliativmedizin auch in Deutschland möglich wird. Die Palliativmedizin im Rahmen der seit 2007 bestehenden gesetzlichen Grundlagen zu verbessern und die Grundlagen für eine vernünftige Patientenverfügung zur Selbstbestimmung zu schaffen - dies erwarten die Menschen in diesem Land von uns. Herzlichen Dank. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Knoche.

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Präsidentin! Werte Abgeordnetenkolleginnen und -kollegen! Ein würdiges Leben bis zuletzt leben zu können - diesen Wunsch eines jeden Menschen abzusichern ist das, was uns hier im Parlament eint. Dieser Wunsch ist für viele Menschen ein Grund, eine Patientenverfügung abzufassen. Schon durch das Grundgesetz ist es geboten, das Selbstbestimmungsrecht als Kernbereich der Menschenwürde zu garantieren. Im Zustand der Hilfsbedürftigkeit und Abhängigkeit am Ende des Lebens muss sich dieses Menschenrecht bewähren. Doch wir bewegen uns keinesfalls auf patientenrechtlichem Neuland. Es gibt Sterbebegleitrichtlinien der Bundesärztekammer. Darin wird den Umständen des hoch individuellen Sterbegeschehens Rechnung getragen. Sie beinhalten, dass ein Behandlungsziel geändert werden muss, wenn keine wirklich relevanten Angebote mehr gemacht werden können, sodass der natürliche Sterbeprozess seinen Lauf nehmen kann. So haben Menschen bereits heute die Möglichkeit, lebensverlängernde technische Maßnahmen abzulehnen. Ärzte müssen den erklärten Willen der Patientinnen und Patienten befolgen. Es gilt aber auch, denen Sicherheit zu geben, die aufgrund des Krankheitsverlaufes keine autonome Willenserklärung mehr abgeben können. Das wollen wir in unserem Entwurf durch folgende Regelungen sicherstellen: Erstens. Niemand ist oder wird genötigt, eine Patientenverfügung abzufassen. Zweitens. Eine Patientenverfügung ist für die Behandelnden verbindlich. Sie unterliegt keiner Reichweitenbegrenzung. Das stellt sie nämlich mit den Menschen gleich, die willensäußerungsfähig sind. Das heißt, sie ist unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung gültig und damit wachen Patienten gleichgestellt. Drittens. Es gelten klare Regeln zum Vorgehen in einer konflikthaften Situation. Bei Unklarheiten, was zu tun ist, muss die Patientenverfügung auf den vorliegenden Entscheidungsfall hin bewertet werden. In Situationen, in denen Ärzte gute oder gar heilende Behandlungsangebote machen können, die in der Vorabverfügung ausgeschlossen wurden, ist der vermeintliche Patientenwille genau zu eruieren. Die konkrete Situation ist also maßgeblich, damit nicht gegen die Lebensinteressen der Patienten entschieden wird. Für den ärztlichen Behandlungsauftrag, der hier gilt, ist Wohl und Würde der Patientinnen und Patienten ausschlaggebend. Viertens. Das Vormundschaftsgericht ist unserer Vorstellung nach dann einzuschalten, wenn keine Einvernehmlichkeit zwischen den behandelnden Ärzten und den Betreuungspersonen hergestellt werden kann. ({0}) Nur das Patientenwohl und der Wille, nicht aber die Ängste, Interpretationen und Sorgen der Angehörigen dürfen ausschlaggebend sein. Fünftens. Gegen die Gerichtsentscheidung kann ein Verfahrenspfleger binnen 14 Tagen Einspruch erheben. Sechstens. Grundsätzlich - so wollen wir es - muss der antizipierte und geäußerte Wille respektiert werden. Mehr wird nicht geregelt, weil mehr auch nicht erforderlich ist. Als Initiatorin des Gesetzentwurfes Zöller/Faust/ Däubler-Gmelin möchte ich sagen, dass alle Erleichterungen für den im Sterben liegenden Menschen wie das Stillen von Hunger und Durst, die Behandlung von Schmerzen, die Pflege und die Basisversorgung durch eine Patientenverfügung nicht ausgeschlossen werden können. Ich halte fest: Der Stünker-Entwurf ist in seiner vorgelegten Form - nicht in den heute gegebenen Interpretationen - aufgrund von drei entscheidenden Punkten für uns nicht akzeptabel. Erstens. Er wird dem Kernbestand individueller Lebensgestaltung insofern nicht gerecht, als er eben die Befürchtung, dass ein Automatismus eintreten kann, nicht entscheidend entkräften kann. ({1}) Zweitens. Er sichert nicht hinreichend, dass der tatsächliche Wille beachtet wird. Drittens. Ich bin der Meinung, dass Sie klären müssen, ob Sie den Betreuungspersonen nicht doch zu weitreichende Entscheidungsbefugnisse einräumen. Auch der Bosbach-Entwurf kann wegen seiner Reichweitenbegrenzung nicht überzeugen; denn eine Unterscheidung in der Lebenswertigkeit der individuellen Sterbeverläufe vorzunehmen und ihnen dann unterschiedlich gültige Verfügungen zuteilen zu wollen, ist meines Erachtens nicht akzeptabel. Unser Gesetzentwurf ist ein Kompromissvorschlag. Er nimmt keine Reichweitenbegrenzung vor und sichert doch, dass der höchstpersönliche Wille ausschlaggebend ist. Volle Humanität und Würde bis zum letzten Atemzug - das ist unser Credo. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat die Kollegin Katrin Göring-Eckardt das Wort.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Dem Gesetzentwurf, für den ich spreche, wird immer wieder vorgeworfen, er reguliere das Sterben und achte nicht die Selbstbestimmung am Lebensende. Darauf möchte ich gerne eingehen; denn ich finde, die Frage, was wir unter Selbstbestimmung verstehen, was wir damit in diesem Zusammenhang meinen und wie wir ihr Geltung verschaffen, ist in der Tat entscheidend. Es ist eben nicht das Gleiche, ob man eine Entscheidung bei vollem Bewusstsein, im Gespräch mit Verwandten, einer Krankenschwester, einem Pfleger und einer Ärztin bzw. einem Arzt trifft oder ob man eine Entscheidung getroffen hat, bevor man in eine Situation kam, in der man sich nicht mehr äußern kann. Die Umstände einer zukünftigen Situation, über die entschieden werden soll, kann man im Voraus weder erfühlen noch kennen. Genau darum geht es. Wir nehmen die Selbstbestimmung ernst, sehr ernst. Deswegen wollen wir das Recht auf ärztliche Beratung als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung verankern. Wir wollen vor allem die Möglichkeit der ärztlichen Beratung schaffen; darum geht es uns. Ärztliche Beratung ist keine Zumutung. In Deutschland existiert zum Beispiel für bestimmte Medikamente eine Verschreibungspflicht, weil nicht jeder Einzelne weiß, wie er mit ihnen umzugehen hat, und wir konsultieren, wenn wir eine schwere Grippe haben, einen Arzt. Was schreckt uns eigentlich, eine solche Beratung auch dann in Anspruch zu nehmen, wenn es um eine Entscheidung über Leben und Tod geht? Die Entscheidung, die letztlich getroffen wird - das gilt auch für die Entscheidung darüber, was in die Patientenverfügung geschrieben wird -, liegt beim Einzelnen, und zwar nur bei ihm. Wer entscheiden will, braucht aber Informationen, muss wissen, wofür oder wogegen er bzw. sie verfügt. Genau diese Informiertheit ist es, die eine Patientenverfügung erst lesbar und überhaupt umsetzbar macht. Aus der einfachen Aussage „Ich will nicht an Schläuchen hängen“ kann niemand einen tatsächlichen Willen ableiten, der in einer konkreten Situation gelten soll. Ärztliche Beratung ist Angebot und Unterstützung. Viele, die darüber nachdenken, eine Patientenverfügung zu verfassen, fragen sich: Wie soll ich das machen? Was kann am Lebensende passieren? Welche Möglichkeiten habe ich, welche nicht? - Das, was heute häufig passiert und was auch in Zukunft der Fall sein wird, wenn der Gesetzentwurf von Herrn Stünker und anderen beschlossen wird - das ist meine Sorge -, möchten wir vermeiden. Heute ist es so, dass der Notar eine fertige Patientenverfügung für 100 Euro oder mehr ausdruckt und sagt: Wenn du dir sicher sein willst, musst du das entscheiden. - Genau das möchte ich nicht. Ich möchte, dass eine ärztliche Beratung stattfindet. Außerdem möchte ich, dass man nur für einen ganz bestimmten Fall eine notarielle Beglaubigung braucht, nämlich dann, wenn jemand verfügen möchte, eine unverrückbare Entscheidung selbst für den Fall zu treffen, dass er schon kurze Zeit später wieder bei Bewusstsein sein könnte. Das wird allerdings nur für eine sehr kleine Gruppe von Menschen gelten. Ich möchte im Hinblick auf die Selbstbestimmung noch einen zweiten Punkt ansprechen. Selbstbestimmung am Lebensende gelingt nur in Verbindung mit Fürsorge. Nicht etwas kann jemandem am Lebensende zu Selbstbestimmung verhelfen, sondern immer nur jemand. Durch unseren Gesetzentwurf wird die Vertrauensperson gestärkt. Wir sind uns sicher, dass eine Vertrauensperson in einem konkreten Fall am ehesten entscheiden kann, ob zum Beispiel eine Magensonde gelegt werden sollte oder nicht. Hier darf es keinen Automatismus geben. Ich möchte betonen - darauf hat Frau Knoche bereits zu Recht hingewiesen -: An dieser Stelle stimmt das, was Sie, Herr Stünker, gesagt haben, nicht mit dem überein, was in Ihrem Gesetzentwurf steht. ({0}) Man sollte dem Instrument der Patientenverfügung auf keinen Fall etwas zuschreiben, was es nicht leisten kann. Ein Blatt Papier kann nie so viel leisten wie eine Person. Aus genau diesem Grund wollen wir die Rolle der Vertrauensperson stärken. Solche Entscheidungen kann ein Arzt, der einen Patienten vielleicht erst seit sehr kurzer Zeit kennt, gar nicht treffen. Einer der Hauptbeweggründe dafür, dass jemand heutzutage eine Patientenverfügung verfasst, ist, am Ende nicht unnötig lange leiden zu müssen oder therapiert zu werden, wenn man es nicht mehr will. Man will in Würde sterben; dem Sterben soll der natürliche Verlauf gelassen werden. Das ist richtig, und genau so soll es sein. Doch dazu bedarf es weit mehr als einer Patientenverfügung. Dazu braucht es mehr Pflege, dazu braucht es mehr Möglichkeiten der palliativmedizinischen Versorgung. Der größte Teil der Patientenverfügungen, die verfasst sind, zielt auf Situationen, in denen eine Krankheit unheilbar ist und zum Tode führen wird. Die bestehenden Patientenverfügungen behalten nach unserem Gesetzentwurf ihre Gültigkeit. Sie können ohne bürokratischen Aufwand erstellt werden. Eine ärztliche Beratung ist keine Voraussetzung für die Gültigkeit einer Patientenverfügung, schon gar nicht ein Gang zum Notar. Es ist absurd, Herr Kauch, von Zwangsbehandlungen zu reden. Damit hat dieser Entwurf nichts zu tun. ({1}) Mit diesem Entwurf wird versucht, Missbrauch am Lebensende Einhalt zu gebieten, Missbrauch insofern, als dass jemand, der das Gefühl hat, er könnte seinen Verwandten oder gar der Gesellschaft zur Last fallen, sich gedrängt fühlt, eine Patientenverfügung zu schreiben und zu unterzeichnen, die schnell ein Ende setzt, sobald es schwierig wird. Wir brauchen einen Gesetzentwurf, der dann und nur dann, wenn es Zweifel gibt, für das Leben entscheidet, für ein Leben in Würde auch in der Sterbephase. Allen, die sich für ein Leben in Würde auch in der Sterbephase einsetzen, den in Palliativstationen, in Hospizen, in häuslicher Pflege Tätigen, gebührt Dank und Anerkennung, wenn wir über ein solches Gesetz diskutieren. Vielen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Zöller.

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Grüß Gott, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele Menschen haben Angst, am Lebensende durch hochtechnisierte Apparatemedizin gegen ihren Willen künstlich am Leben erhalten zu werden und nicht in Würde sterben zu können. Deshalb haben wir einen Gesetzentwurf zur Klarstellung der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen erarbeitet. Wir sind dabei von folgenden Leitgedanken ausgegangen: Erstens. Wir wollen die in der Praxis bestehende Rechtsunsicherheit im Hinblick auf die Verbindlichkeit der Patientenverfügung beseitigen. Wir wollen dabei nur das unerlässlich Notwendige regeln, nicht mehr. Zweitens. Wir wollen, dass der Wille des Patienten respektiert wird. Die Patientenverfügung soll grundsätzlich verbindlich sein. Sowohl der ausdrücklich erklärte als auch der zu ermittelnde mutmaßliche Wille des Patienten sollen nach Verlust der Einwilligungsfähigkeit fortwirken. ({0}) Drittens. Die Patientenverfügung soll in der Regel in Schriftform erfolgen. Weil aber viele Patienten - aus unterschiedlichen Gründen, etwa wegen des plötzlichen Eintritts einer Krankheit - keine schriftliche Erklärung abgeben können, soll die Schriftform für die Wirksamkeit einer Patientenverfügung keine zwingende Voraussetzung sein. ({1}) Mündlich geäußerte Erklärungen sollen weiterhin wirksam sein. ({2}) Viertens. Auch bei Vorliegen einer Patientenverfügung muss eine individuelle Ermittlung des Patientenwillens in der aktuellen Situation erfolgen. ({3}) Diese Regelung trägt der Tatsache Rechnung, dass sich durch den medizinischen Fortschritt neue Behandlungsmöglichkeiten ergeben können, von denen der Patient zu dem Zeitpunkt, als er seine Patientenverfügung verfasst hat, noch nichts wissen konnte. Fünftens. Kein Automatismus, sondern individuelle Beratung und Betrachtung. Die Vielfalt der denkbaren Situationen am Lebensende entzieht sich einer pauschalen Betrachtung, und es lässt sich nicht alles bis ins Detail regeln. ({4}) Sterben ist nicht normierbar. Eine gesetzliche Regelung darf deshalb keinen Automatismus eines buchstabengetreuen Befolgens der Patientenverfügung in Gang setzen. Vielmehr muss Raum für die Beachtung der aktuellen konkreten Situation und die Betrachtung des Einzelfalls geboten werden. Sechstens. Dialog der Beteiligten statt Bürokratie. Die Umsetzung des Patientenwillens in der konkret eingetretenen Behandlungssituation soll daher nach einem dialogischen Prozess der gegenseitigen Überprüfung und Bewertung zwischen Arzt und rechtlichem Vertreter erfolgen. ({5}) In diesen dialogischen Prozess können bei Bedarf weitere dem Patienten nahestehende Personen wie zum Beispiel Pflegekräfte und Mitglieder des Behandlungsteams beratend einbezogen werden. Siebtens. Wir wollen ein hohes Maß an Patientensicherheit. Durch die drei folgenden Kriterien wird ein hohes Maß an Sicherheit für den Patienten erreicht: Erstens. Ärzte und rechtliche Vertreter müssen sich mit jeder einzelnen Patientenverfügung intensiv auseinandersetzen. Sie haben die Pflicht, den Patientenwillen bei einem entscheidungsunfähigen Patienten sorgfältig zu ermitteln. Zweitens. Der Betreuer ist bei der Ausübung seiner Tätigkeit stets verpflichtet, sich bei der Erfüllung seiner Aufgaben am Wohl des Betreuten zu orientierten. Drittens. Besteht in dieser Frage Uneinigkeit zwischen dem behandelnden Arzt und dem Betreuer - und nur in diesem Ausnahmefall, also nicht generell -, soll der Wille des Patienten durch ein Vormundschaftsgericht ermittelt werden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, durch diese Schutzmechanismen wird einerseits sichergestellt, dass Patientenverfügungen nicht gleichsam mechanisch nach deren Wortlaut umgesetzt werden müssen, und andererseits, dass das Selbstbestimmungsrecht nicht unverhältnismäßig eingeschränkt wird. Wir sind der Überzeugung, dass Patientensicherheit und Patientenautonomie in unserem Entwurf gleichermaßen berücksichtigt werden, indem den unterschiedlichsten Situationen am Lebensende ausreichend Raum gewährt wird. Wir sehen hier einen möglichen Kompromiss zwischen den Positionen, die zurzeit diskutiert werden. Wir sehen mit diesem Vorschlag auch die Möglichkeit für die Abgeordneten, die meinen, man bräuchte keine Regelung, dem beizutreten. Mehr Rechtssicherheit ist sehr notwendig. Vielen Dank. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat der Kollege Otto Fricke das Wort.

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Umgang mit dem Tod ist in unserer Gesellschaft schwierig. Egal wann wir auf dieses Problem treffen, ob beim Testament, bei der Organspende oder bei der Patientenverfügung: Wir tun uns damit schwer. Ich will direkt die erste Frage beantworten: Müssen wir als Gesetzgeber die Patientenverfügung regeln, ja oder nein? - Ich glaube, wir haben die Verpflichtung, dies zu regeln. Es gibt dabei nicht die richtige Antwort, aber wir müssen wenigstens eine richtige Antwort finden. Sonst täten wir das, was wir als Gesetzgeber nicht tun sollten, nämlich, es innerhalb der Gewaltenteilung anderen zu überlassen. Das wäre ein Fehler und würde die Bürger nur noch weiter verunsichern. ({0}) Darüber, welche Antwort wir geben wollen, gehen unsere Meinungen auseinander. Mir geht es um die Freiheit des Patienten. Mir geht es gemeinsam mit dem Kollegen Bosbach, der Kollegin Göring-Eckardt, dem Kollegen Röspel und anderen um die Selbstbestimmung. Eine freiheitliche Lösung bedeutet aber nicht, dass möglichst wenige Regeln gesetzt werden und Selbstbestimmung ermöglicht wird, indem einfach alles laufen gelassen wird. Laufen lassen ist keine Selbstbestimmung. Freiheit bedarf der Aufklärung. Um Freiheit zu erreichen, muss klargemacht werden, was die Grundlage des Handelns ist. Wer nicht weiß, was er tut, der handelt letztlich nicht frei, sondern in Dunkelheit. Selbst handeln ist nur dann selbst bestimmen, wenn man die Grundlagen seiner Entscheidung kennt. Kennt man sie nicht, dann hat man zwar schön gehandelt, aber man war nicht wirklich frei. ({1}) Diese Fragen sind niemals wichtiger als dann, wenn es um Leben und Tod geht. Freiheit bedarf aber auch der Verantwortung. Wer Verantwortung übernommen hat - nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere: für Partner, für Kinder, für seine Familie -, der verwirklicht seine Freiheit, der prägt sie aber auch. Diese Verantwortung besteht nun einmal, und diesen Teil der Verantwortung muss man berücksichtigen. Man muss immer sehen, welche Verantwortung man bei aller Freiheit für andere hat und unter welchen Bedingungen man dennoch das Recht hat, sich die Freiheit zu nehmen und so und nicht anders zu entscheiden. Hier liegt der Kern des Unterschieds - er liegt nicht bei den Fällen eines tödlichen Verlaufs -; das will ich gern zubilligen. Grundentscheidung aller ethischen Entscheidungen im Bundestag in den letzten Jahrzehnten war, dass wir in diesen Fragen dem Einzelnen nie vorschreiben können, was richtig und falsch, vernünftig und unvernünftig ist. Im Gegenteil: Wir geben dem Einzelnen sogar das Recht auf Unvernunft. Aber wenn wir dies tun, dann müssen wir gleichzeitig von dem Betroffenen erwarten, dass er im Rahmen seiner Möglichkeiten die Situation reflektiert und sich mit ihr auseinandersetzt. Warum dann der Notar? Wenn man ein Haus kauft, dann hat der Notar eine Warnfunktion. ({2}) - Herr Stünker, Sie können das juristisch alles viel besser; das ist schön und gut. Aber es ist eine Warnfunktion, und deswegen gehen wir zum Notar. Machen Sie es, wie Sie wollen. - Ähnlich verhält es sich bei elektronisch getätigten Geschäften mit Widerrufsverpflichtung. Wenn es um Fragen von Leben oder Tod geht, dann kann es nicht sein, dass wir den Bürger nicht zu einer Reflexion verpflichten. Herzlichen Dank. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege René Röspel.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ja, Herr Kauch, wir haben jetzt fünf Jahre diskutiert. Im Jahr 2004 hat die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ ihren Bericht vorgelegt und in ihm unter anderem eine Studie der Bundesarbeitsgemeinschaft Hospiz zitiert, in der es darum ging, welche Ängste und Sorgen die Menschen umtreiben, wenn sie an ihre letzte Stunde denken: Menschen wollen nicht einsam und alleingelassen sterben, sie wollen keinen schmerzhaften Tod, bis zuletzt an Apparaten hängend. Für die meisten dieser Fälle ist die Patientenverfügung übrigens nicht die passende Antwort. Wir haben fünf Jahre lang diskutiert. Das war für die Gesellschaft gut, weil dieses Thema breiter und intensiver erörtert worden ist. Im Bereich der Palliativ- und Hospizarbeit haben wir schon einiges, wenn auch noch keinen guten Zustand erreicht. Ich bekenne, dass auch ich in den letzten fünf Jahren viel dazugelernt und meine Position mehrfach verändert habe. Bis heute habe ich eine Reihe von Kompromissen akzeptiert. Ich weiß nun nicht, ob ich die richtige Lösung vorschlage; aber ich bin mir sicherer geworden. Die Zahl der Patientenverfügungen wird zunehmen, weil die Menschen hoffen, dass sie damit ihre letzte Stunde besser regeln können. Diese Hoffnungen sollten wir nicht enttäuschen. Die Menschen haben das Recht, ihre Entscheidung selbst zu treffen. ({0}) Wir sollten auch dazu beitragen, dass Ärzte und Pflegende mehr Klarheit und Rechtssicherheit in der Frage bekommen, wie sie mit den Menschen in der letzten Stunde ihres Lebens umgehen. Patientenverfügungen sind Vorausverfügungen für eine Situation, in der man sich noch nicht befindet. Ein Gesunder oder noch nicht Erkrankter hat darin festgelegt, wie andere ihn behandeln oder was sie unterlassen sollen, wenn er nicht mehr selbst entscheiden kann. Er urteilt über eine Situation, in der er sich noch nicht befunden hat, die er noch nicht am eigenen Leibe erfahren, sondern allenfalls bei Verwandten erlebt oder durchlitten hat, oder die er vielleicht nur in seiner Phantasie durchgespielt hat. Dass sich die Patientenverfügung auf einen Vorgang in der Zukunft bezieht, ist ihre große Schwachstelle. Es kann sein, dass der Kranke dann, wenn die Situation eingetroffen sein wird, genauso entscheiden würde, wie er es als Gesunder aufgeschrieben hat; aber es kann eben auch sein, dass er sich ganz anders entschiede. Es gehört zur Lebenserfahrung, dass man in Gesprächen oder auch im unmittelbaren Erleben mitbekommt, dass sich Menschen im Verlauf einer Krankheit verändern, andere Entscheidungen treffen und andere Gewichtungen vornehmen oder eine andere Lebensperspektive entwickeln. Meine Zielsetzung ist, mit dem Antrag, den wir heute einbringen, nach Möglichkeit sicherzustellen, dass der Patient in der Krankheitssituation so behandelt oder eben nicht behandelt wird, wie er es selbst entscheiden würde. Dafür sind aus meiner Sicht zwei Voraussetzungen erforderlich: Erstens muss der Patient mögliche Krankheitsverläufe und ihre Konsequenzen intensiv mit seinem Arzt diskutieren und sich überlegen, welche Entscheidung er in welchem Fall treffen würde. Die zweite Voraussetzung ist - das ist wichtig für die, die als Dritte entscheiden müssen -, dass eine lesbare Patientenverfügung bzw. eine klare Handlungsanweisung verfasst werden muss, die später von Dritten verstanden und befolgt werden kann. ({1}) Nur so kann der Wille wirklich umgesetzt werden. Jetzt gehe ich einen Beispielfall durch - ich weiß, dass das zu Widerspruch führen wird -: Jemand schreibt in seiner Patientenverfügung: „Wenn ich mal dement bin, möchte ich keine medizinische Behandlung mehr.“ Es gibt zwei Möglichkeiten, wie diese Patientenverfügung zustande gekommen ist. Die erste ist der Idealfall: Der Verfasser hat sich - möglicherweise wegen des Schicksals eines nahen Verwandten - intensiv mit der Situation befasst, sich medizinisch beraten lassen und mit Demenz auseinandergesetzt und betrachtet das, was er aufgeschrieben hat, als seine Entscheidung. Er ist fest entschlossen, dass sie so gelten soll, wie er es aufgeschrieben hat. Die zweite Möglichkeit ist nicht der Idealfall. Der Verfasser - man denke an Terry Schiavo - hat aufgrund einer spontanen Begebenheit - möglicherweise durch eine Sendung im Fernsehen oder von einem Besuch im Altenheim beeindruckt - ohne Information die Entscheidung getroffen, dass er so nicht leben möchte, und verfasst eine entsprechende Patientenverfügung. Wie soll sich ein Arzt oder eine Ärztin verhalten, der oder die mit dem Patienten in einer Krankheitssituation konfrontiert wird und diese Patientenverfügung vorfindet, und zwar ohne die Hintergründe ihres Zustandekommens zu kennen, und nicht weiß, welche der Möglichkeiten zutrifft: Ist die Patientenverfügung aufgrund der notwendigen Informationen zustande gekommen und entspricht sie wirklich dem, was er als seine feste Entscheidung aufgeschrieben hat? Der im letzten Jahr eingebrachte Stünker-Entwurf wird aus meiner Sicht die Unsicherheit noch vergrößern. Unserem Entwurf wurde vorgeworfen, dass er ein Beschaffungsprogramm für Vormundschaftsgerichte wäre. Ich glaube vielmehr, dass der Entwurf von Stünker, Kauch und Kollegen ein Beschaffungsprogramm für Vormundschaftsgerichte sein wird, weil der Arzt nämlich nicht die Entscheidung treffen wird, wie eine Patientenverfügung, die nicht hinreichend belegt ist, auszulegen ist. Er wird darauf verweisen, dass das nicht seine Entscheidung ist, und letztlich werden die Vormundschaftsgerichte darüber entscheiden müssen. Wenn die Patientenverfügung nach dem Stünker-Entwurf umgesetzt werden muss, wie ich es vorhin beschrieben habe, dann wird wie im zweiten Fall die Möglichkeit des Irrtums und der Leichtfertigkeit in Kauf genommen. Muss sie nicht umgesetzt werden - ich bin gespannt, wie diese Frage in der Anhörung und durch die möglicherweise noch folgenden Redner beantwortet wird -

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kauch?

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir genau diesen Problemfall noch über die von Ihnen beschriebene Problematik hinaus aufgegriffen haben, indem wir im Gesetzentwurf des Abgeordneten Stünker und anderer vorgesehen haben, dass stets der aktuelle Wille Berücksichtigung finden muss, und dass in der Begründung zu diesem Gesetzentwurf der aktuelle Wille in Verbindung mit dem Demenzfall ausdrücklich näher beschrieben worden ist? ({0}) Darin steht nämlich, dass wir an dieser Stelle - es geht um die Auslegung, Herr Weiß; Sie wissen selbst, dass die Begründung dabei eine Rolle spielt - im Demenzfall die aktuellen, auch nonverbalen Äußerungen des Patienten beachten müssen. Der Demenzfall ist der schwierigste Fall, vor dem wir stehen, weil es dabei zu Persönlichkeitsveränderungen kommt. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass genau dieser Fall in unserem Gesetzentwurf sehr ausführlich - möglicherweise ausführlicher als in Ihrem Entwurf - behandelt worden ist?

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Er ist nicht ausführlicher als in unserem Gesetzentwurf behandelt worden, jedenfalls was die Konsequenzen anbelangt. Ich habe das sehr wohl interessiert und nachdenklich gelesen. Aber im Prinzip ist genau dieser Punkt bei Ihrer Auslegung das Problem. Wie kann der Patient, der sich sehr wohl entschieden hat - das ist der Idealfall, den ich zuerst beschrieben habe -, dass er im Demenzfall auf keinen Fall behandelt werden will, ({0}) sein Selbstbestimmungsrecht durchgesetzt bekommen, wenn Sie - wie jetzt und wie es in den Diskussionen häufiger zu hören ist - anfangen, es zu relativieren? Sie sagen nämlich, der aktuelle Behandlungswille solle sehr wohl eine Rolle spielen. Wie soll aber der Arzt, der den Patienten vorher nicht gesehen hat und auch nicht die Hintergründe kennt, die zu dessen Entscheidung geführt haben, zwischen dem aktuellen Willen und der selbstbestimmten Entscheidung abwägen, die der Patient einmal getroffen hat und zu der er fest entschlossen ist? ({1}) Wenn Sie so argumentieren, passt das Etikett Selbstbestimmungsrecht und Kenntnisnahme nicht auf den Gesetzentwurf; denn die Erfahrung ist, dass die Menschen sagen: Der Stünker/Kauch-Gesetzentwurf bietet uns die Sicherheit, dass das, was ich aufgeschrieben habe, umgesetzt wird. - Gerade haben Sie genau das relativiert. Deswegen ist der Gesetzentwurf, den Sie unterstützen, nicht geeignet, das Selbstbestimmungsrecht und dessen Umsetzung zu gewährleisten. ({2}) Wir werden in der Anhörung noch darüber diskutieren. Aber ich bin froh über Ihre Zwischenfrage, weil sie deutlich macht, dass man sich Ihren Gesetzentwurf genauer anschauen muss. Eine bessere Lösung - auch im Sinne des Selbstbestimmungsrechtes - bietet aus meiner Sicht der von den Kollegen Bosbach, Göring-Eckardt, Fricke und mir erarbeitete Gesetzentwurf. Wer fest entschlossen ist, unabhängig von Art und Stadium der Krankheit und hoffentlich nicht gegen alle Vernunft ({3}) - das kann ich nicht beurteilen; gegen meine Vernunft jedenfalls -, bestimmte Handlungsanweisungen zu verfügen, sich ärztlich beraten und seinen Beschluss notariell beurkunden lässt, der bekommt eine deutlich höhere Sicherheit, dass seine Patientenverfügung auch umgesetzt wird; denn der Arzt bekommt deutlich mehr Hinweise auf die Genese der Patientenverfügung. Gleichzeitig bietet unser Gesetzentwurf - das ist mir mindestens genauso wichtig - einen besseren Schutz vor Fehlinterpretation. Die meisten Patientenverfügungen beziehen sich auf tödliche Erkrankungen oder auf dauerhaften Bewusstseinsverlust. Diese Formulierung lässt sich auch im Entwurf bzw. in der Broschüre des BMJ finden. Die meisten Patientenverfügungen bleiben nach unserem Gesetzentwurf - entgegen allen Behauptungen verbindlich. Wer das Selbstbestimmungsrecht klarer umgesetzt wissen sowie Fehlinterpretationen und Irrtümer, die Konsequenzen für das Leben haben, verhindern will, muss den Gesetzentwurf von Herrn Bosbach und Kollegen unterstützen. Vielen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Ilja Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin weder katholisch noch eine Frau. Aber eine der vielen Zuschriften, die wir zum Beispiel von einer katholischen Frauenorganisation bekommen haben, enthält den bemerkenswerten Satz, dass es den Damen lieber sei, wir fällten keine Entscheidung als eine, die noch mehr verwirrte. Ich spreche hier als jemand, der keinen der vorliegenden Gesetzentwürfe unterstützt; denn ich kenne viele Menschen, die keine Patientenverfügung verfassen wollen. ({0}) Es wurde bereits mehrfach gesagt, dass dieses Recht selbstverständlich weiterexistiert. Ich möchte in dieser Debatte extra dafür sprechen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass jede Patientenverfügung, wie auch immer sie verfasst sein mag, eher zur Verwirrung beiträgt, weil sie den Glauben vermittelt, man hätte Sicherheit - von fast allen Seiten wurde bereits gesagt, dass der Wille anderer in der Regel mehr Verwirrung stiftet als der eigene - und wäre in einer rechtlich klaren Situation. Das stimmt aber in Wirklichkeit nicht. Was brauchen wir denn wirklich, wenn wir nicht mehr fähig sind, unseren Willen zu bekunden, wenn es an das Sterben geht? Ich denke, das Wichtigste ist das Vertrauen zu den Personen, die um uns herum sind. Deshalb plädiere ich sehr dafür, zum Beispiel eine Vorsorgevollmacht auszustellen, also zu sagen, welche Person meines Vertrauens dann, wenn ich selber nicht mehr reden, mich nicht mehr äußern kann, in der Lage ist, für mich zu sprechen. Mit dieser Person muss ich natürlich vorher geredet haben; das ist doch klar. Das sind in der Regel sehr nahe Angehörige. Das muss aber nicht sein. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns deshalb nicht den Eindruck vermitteln, dass wir mit einer notariell beglaubigten Patientenverfügung wirklich Sicherheit haben, dass am Ende des Lebens unser SelbstDr. Ilja Seifert bestimmungsrecht und unsere Würde so gewahrt bleiben, wie wir es uns wünschen und erwarten dürfen. Wir müssen in unserem ganzen Leben immer auf bestimmte Menschen vertrauen, gerade in der Situation der Krankheit. Ich muss darauf vertrauen, dass die Ärzte ihr Handwerk verstehen und mich richtig beraten, dass sie mich nicht so beraten, dass sie möglichst viel verdienen, sondern so, dass es mir möglichst gut geht. Das hat etwas mit dem Vertrauen zu tun, das ich zu meinem Hausarzt oder zu wem auch immer habe. Das Gleiche trifft in jeder anderen Situation zu, erst recht in der Situation des Sterbens. Deshalb: Lassen Sie uns die Palliativmedizin ausbauen, lassen Sie uns die ambulanten und stationären Hospize stärken, lassen Sie uns die Pflege verbessern usw. Damit helfen wir den Menschen wirklich. Und: Lassen Sie uns das altbewährte Prinzip des Vertrauens von Menschen, die sich lieben - vielleicht darf man so etwas in diesem Zusammenhang einmal sagen -, stärken. Wir sollten nicht so tun, als ob wir mit einem Arbeitsbeschaffungsprogramm für Juristen aller Art wirklich etwas in der Situation, über die wir hier gerade reden, erreichen würden. Noch einmal: Man muss weder katholisch noch eine Frau sein, um diesem Satz zuzustimmen. Bevor wir dadurch mehr Verwirrung schaffen, dass wir so tun, als ob wir etwas getan hätten, lassen Sie uns lieber bewusst die Entscheidung fällen, keine Patientenverfügung vorzuschreiben. ({1}) Das wäre eine bewusste Entscheidung zur Stärkung des Vertrauens untereinander. Betonen Sie bitte überall, wenn Sie draußen mit den Leuten reden, dass es keine Pflicht zum Verfassen von Patientenverfügungen gibt. Wer es doch tut, nimmt sein gutes Recht wahr, aber man sollte nicht denken, es ginge nicht ohne. Herzlichen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat der Kollege Jerzy Montag das Wort.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Katrin, ich habe an dem Gesetzentwurf von Herrn Stünker und Kollegen über viele Monate sehr intensiv mitgearbeitet. Deswegen kann ich - damit will ich anfangen - es nicht stehenlassen, wenn du in der Debatte sagst, bezüglich des Problems des angeblichen Automatismus würden wir in unseren Texten etwas anderes schreiben, als wir erzählen würden. ({0}) Ich will, um den Irrtum auch von dieser Stelle aus in aller Klarheit und Ruhe auszuräumen, sagen: In unserem Gesetzentwurf steht, dass dann - ich kürze ab -, wenn eine Patientenverfügung vorliegt, der Betreuer prüft, ob die Festlegungen der Patientenverfügung auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Diese Prüfung beinhaltet eine Einzelfallprüfung mit all den Elementen, die der Kollege Zöller ausführlich aufgeführt hat. Erst wenn diese Prüfung beendet ist und der Betreuer die Entscheidung getroffen hat, dass zwischen dem Text der Patientenverfügung und der konkreten Lebenssituation eine Einheit besteht, dann hat der Betreuer der Patientenverfügung Geltung zu verschaffen. Das ist das Gegenteil von einem Automatismus, und so steht es in unserem Gesetzentwurf. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Montag, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Wodarg?

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, Sie haben eben ganz deutlich ausgesprochen, dass hier nur der Betreuer prüft. ({0}) So jedenfalls steht es in Ihrem Text. Dadurch unterscheiden Sie sich von dem Entwurf, den Herr Zöller vorgestellt hat, weil hier von Anfang an ein dialogischer Prozess gefordert wird. Ich halte es für wichtig, wenn wir ins Gespräch kommen wollen, dass das als Basis anerkannt wird und dass wir dann weiter diskutieren. Wenn es hier allerdings nur der Betreuer ist, dann gibt es dort einen Dissens. ({1})

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Kollege, ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie diesen Punkt aufgreifen, weil er mir Gelegenheit gibt, das aufzuklären. Der Gesetzentwurf, den wir vorlegen, aber auch die anderen Gesetzentwürfe behandeln das Betreuungsrecht und die Einschaltung des Vormundschaftsgerichts. Sie sagen weder negativ noch positiv ausdrücklich etwas über die Rechte und Pflichten des behandelnden Arztes. Aber es ist selbstverständlich, dass der Arzt zuallererst eine Diagnose zu stellen und einen Behandlungsvorschlag zu machen hat; denn nur dann kann der Betreuer überhaupt mit seiner Prüfung beginnen. ({0}) Außerdem steht in unserem Gesetzentwurf ausdrücklich, dass eine Einigung zwischen Betreuer und Arzt ({1}) über die Auslegung zustande kommen muss. Nur dann, wenn eine solche Einigung zustande kommt, bedarf es keiner vormundschaftlichen Entscheidung. ({2}) - Tut mir leid, das kann ich jetzt nicht mehr machen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Patientenverfügungen - das ist vielleicht auch die Antwort auf Ihre Bemerkungen, Herr Kollege Seifert - sind nach dem geltenden deutschen Recht nicht verboten, ganz im Gegenteil. Es gibt viele Patientenverfügungen. Die Entwicklung der Bevölkerung und der medizinischen Möglichkeiten wird dazu führen, dass es in Zukunft noch mehr geben wird. Die Frage, die wir beantworten müssen, ist, ob die gesetzlichen Regelungen dieses Problem umfassend erkennen und behandeln. Das tun sie nicht. Der Bundesgerichtshof hat in einer Entscheidung vom 17. März 2003 gesagt: Einen Teil der Lücken im Vormundschaftsrecht und im Betreuungsrecht kann man mit Rechtsfortbildung klären. Aber er hat schon im Jahre 2003 dem Parlament zugerufen: Mit dieser Lückenfüllung kann es nicht so weitergehen. Der Gesetzgeber ist aufgefordert zu entscheiden. ({3}) Deswegen ist es einfach notwendig, dass wir uns endlich auf eine Regelung dieses Komplexes einigen. So wie ich es sehe, ist eine der entscheidenden Fragen, ob wir - in welcher Form auch immer - eine Begrenzung der Geltung, also eine Reichweitenbegrenzung, einführen sollten oder nicht. ({4}) Das geltende Recht sieht eine solche Begrenzung nicht vor. Ich bin dem Kollegen Bosbach dankbar dafür, dass er aus einem bayerischen Dokument zitiert hat. Ich will mich dem gleich anschließen. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz - es handelt sich wahrscheinlich um die gleiche Broschüre - hat zu der Frage der Patientenverfügung einen Text veröffentlicht - diese Passagen sind mit denen des Bundesjustizministeriums textgleich -, in dem über die Patientenverfügung und ihre Geltung nach geltendem Recht steht: Es gibt keine Reichweitenbegrenzung. Deswegen stelle ich fest: Derjenige, der jetzt eine neue gesetzliche Regelung vorschlägt, in der eine solche Begrenzung vorgesehen ist, geht hinter das geltende Recht zurück und verschlechtert die Situation für die Patienten, für die Betreuten. ({5}) Deswegen muss ich, wenn wir uns intensiv mit den Entwürfen auseinandersetzen, aus meiner Sicht sagen: Der Entwurf Bosbach jedenfalls führte zu einer Verschlechterung der jetzigen Lage. Da wäre es besser, er käme nicht. ({6}) Wir werden über die weiteren Einzelheiten in den Beratungen sprechen. Ich kann wegen der begrenzten Redezeit darauf nicht mehr eingehen. Ich will nur noch zu einem Punkt etwas sagen. Wer sagt - das klang auch an -, nur eine informierte Entscheidung sei eine selbstbestimmte, der begeht aus meiner Sicht einen Fehler. Eine informierte Entscheidung ist eine bessere. Eine informierte Entscheidung ist eine, die eher befolgt werden kann. Eine informierte Entscheidung ist eine, die denjenigen, die dann zu entscheiden haben, die Aufgabe erleichtert und vielleicht auch eher zu einem Ergebnis führt. Aber sie ist keine Voraussetzung für die Selbstbestimmung. Letztendlich: Lebensschutz, so heißt es, stünde gegen die Selbstbestimmung. Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, Lebensschutz gibt es nur innerhalb der Selbstbestimmung und nicht gegen die Selbstbestimmung. Danke schön. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Julia Klöckner.

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele Menschen, die uns bei dieser Debatte zuhören, die die vorausgegangenen Debatten verfolgt oder sich mit Materialien und Kommentaren beschäftigt haben, werden jetzt sicherlich nicht einfacher entscheiden können. Es wird vieles nicht klarer, sondern immer komplexer, und es geht durcheinander. Diese Rückmeldung bekomme zumindest ich von vielen Bürgerinnen und Bürgern, die sich mit dieser Thematik ernsthaft beschäftigen. Das hat wenig damit zu tun, dass es an Intelligenz mangelt; Grund ist die Komplexität, aber auch die Ernsthaftigkeit des Themas. Wer sich mit Patientenverfügungen befasst, der beschäftigt sich mit dem Tod. Natürlich kann man in einer Patientenverfügung auch festhalten, dass alles Mögliche getan werden soll, wenn man nicht mehr ansprechbar ist; aber wir konzentrieren uns auf die Fälle, in denen es zum Beispiel darum geht, frühzeitig oder früher, als es im sonstigen Verlauf geschähe, Leben zu beenden bzw. das, was an Medikamenten oder an medizinischer Versorgung zur Verfügung steht, nicht mehr in Anspruch zu nehmen. Wir müssen viele Menschen enttäuschen, indem wir sagen: Es wird kein einfaches Formular mit drei Punkten geben, das man unterschreiben kann. Es wird genauso wenig Einheitsformulare geben, wie es Einheitsgrößen oder Einheitsautos gibt. Deshalb können wir die Menschen nicht daraus entlassen, sich selbst damit zu beschäftigen. Wir als Politiker können die Rahmenbedingungen setzen; aber wenn es darum geht, darüber nachzudenken, was einem das Leben in welchen Situationen wert ist und welche Sichtweisen man hat, ist weiterhin jeder selbst gefordert. Deshalb bin ich der Meinung, dass wir ein sorgfältiges Vorgehen brauchen. Diese Debatte, wie wir sie auch schon in den vergangenen Jahren geführt haben, ist ein sehr gutes Beispiel dafür. Sehr verehrter Herr Kollege Kauch, ich teile nicht Ihre Art der Argumentation, nämlich zu sagen: Wir haben genug diskutiert, so viele Jahre schon. Die Menschen warten bereits so lange. Wir müssen jetzt endlich ein Gesetz machen. - Wir beide saßen in der vergangenen Legislaturperiode zusammen in der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“. Sie wissen, wie wir gerungen haben, wie viele verschiedene Sichtweisen es gab, auch unter den Menschen außerhalb des Parlaments. Nun stellen wir fest, dass just diejenigen, die uns immer aufgefordert haben, endlich ein Gesetz zu machen, jetzt zu denen gehören, die uns sagen: Eigentlich brauchen wir kein Gesetz. Auch beim Gegenüber, bei denjenigen, für die wir die Gesetze machen, bemerkt man also einen Wandel. Hier geht es nicht um 10 Euro Praxisgebühr, die man irgendwann wieder revidieren könnte, wenn man eine Fehlentscheidung getroffen hat; hier geht es um Leben und Tod, um eine Thematik von einer Tiefe und Ernsthaftigkeit, wo Sorgfalt absolut vor Schnelligkeit geht. Das zeigt sich auch bei der Debatte über das Thema Selbstbestimmung. Alle setzen auf Selbstbestimmung. Wir alle nutzen in dieser Debatte das Wort „Selbstbestimmung“; ich auch. Ich bin für Selbstbestimmung. Jetzt ist natürlich die Frage: Was verstehen wir unter „Selbstbestimmung“? Selbstbestimmt ist meiner Meinung nach nur derjenige, der nicht von Angst bestimmt ist, der nicht von Unkenntnis bestimmt ist, ({0}) sondern selbstbestimmt ist derjenige, der aufgeklärt ist, der informiert ist, der um die Konsequenzen seiner Entscheidung weiß. Deshalb sichert man nur dann die Selbstbestimmung von Menschen, wenn man ernsthaft, verbindlich über das aufklärt, was jemand selbst bestimmt und von dem er dann zu Recht verlangt, dass es Geltung hat. Ein Beispiel, auch wenn es banal ist: Wenn jemand sagt: „Ich möchte nie an Schläuchen oder an einer Gerätschaft liegen“, weil er zum Beispiel gesehen hat, wie die eigene Großmutter über Jahre dahinvegetiert ist, oder wenn jemand sagt: „Ich möchte niemals eine PEGSonde gelegt bekommen“, weil er weiß, dass man damit über Jahre am Leben erhalten werden kann, dann kann ich verstehen, was er im Sinn hat. Es gibt aber auch den Fall, dass jemand nicht weiß oder nicht vor Augen hat, dass man auch bei einer Blinddarmoperation an Schläuchen liegt oder dass man eine PEG-Sonde vorübergehend nutzt, weil man so Medikamente besser abgeben kann. Das kann hier fatale Folgen haben, wenn die Verfügung eins zu eins Geltung haben müsste. Deshalb unterstütze ich aus voller Überzeugung den Entwurf von Herrn Bosbach und anderen Kollegen. Dieser Entwurf wird genau dieser Konstellation im Leben gerecht. Es geht auch darum, lebenserhaltende Behandlung bei nicht tödlichem Verlauf der Krankheit verbindlich zu untersagen, aber nur dann, wenn rechtlich und ärztlich aufgeklärt wurde. Das gilt für wenige Konstellationen. Ich finde, die Beurkundung einer Verfügung für den Fall, dass lebensrettende Maßnahmen nicht vorgenommen werden sollen, ist nicht zu viel verlangt, gerade mit Blick darauf, dass man für jeden einzelnen Quadratmeter eines Kartoffelackers, den man verkaufen will, zum Notar gehen muss. Darüber hinaus sollte man bedenken, dass es sogar Widerrufsfristen für Verbraucher gibt, ({1}) weil sie sich zum Beispiel beim Kauf einer Kaffeemaschine geirrt haben könnten, und man sie innerhalb dieser Fristen zurückgeben kann. Aber das Leben kann man sich nicht zurückholen. ({2}) - Ich höre jetzt: „Doch, das kann man tun!“. Das kann man eben nicht tun, wenn man nicht mehr ansprechbar ist. Das gilt doch alles für den Fall, dass man nicht mehr ansprechbar ist. In einer Situation, in der Sie ansprechbar sind, brauchen Sie ja gar keine Patientenverfügung. Bei der Debatte, wie wir für mehr Verbraucherschutz sorgen können, sind wir zum Beispiel bei Geldanlagen an dem Punkt, dass wir von beiden Seiten unterschriebene Beratungsprotokolle ausfertigen lassen wollen, damit Fehlberatungen und Fehlentscheidungen vorgebeugt wird. Wenn es um das Sterben geht, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten wir genauso viel Sorgfalt an den Tag legen. Ich danke wirklich allen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen, aber Menschen begleiten und vielleicht in der eigenen Familie selbst schwere Schicksale zu tragen haben. Ihr Dienst leistet wie der Hospizdienst und der Dienst beider Kirchen in diesem Bereich sehr viel für ein humanes Antlitz unserer Gesellschaft. Ich finde, dass wir mit Leid so umgehen sollten, wie es die Menschen verlangen, nämlich mit Linderung und nicht mit kompletter Ausschaltung und Ignorierung. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Dr. Wolfgang Wodarg.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden hier, wie ich finde, über einen sehr traurigen Anlass. Wir sprechen darüber, dass die Menschen Angst vor der modernen Medizin haben. Wir sind verantwortlich für die Ausgestaltung der medizinischen Versorgung. Was haben wir falsch gemacht? Weshalb haben die Menschen Angst vor der modernen Medizin? Was läuft da? Ich war sehr beeindruckt von dem, was Herr Seifert gesagt hat. Er hat ja hervorgehoben, dass es nur dann etwas bringt, zum Arzt oder ins Krankenhaus zu gehen, wenn man Vertrauen hat. Die FDP fordert genau aus dem Grunde die freie Arztwahl. Man soll sich jemanden aussuchen können, bei dem man sich gut aufgehoben fühlt, bei dem man keine Angst haben muss, dass er behandelt, um Geld zu verdienen, sondern bei dem man sicher sein kann, dass er alles tut, um zu helfen, um das zu erreichen, was man selber möchte, nämlich Gesundheit. Das scheinen wir nicht ganz hinzubekommen. Deshalb gibt es Konflikte, und Juristen treten auf den Plan und wollen helfen. Ich kann hierzu eine Geschichte erzählen: Professor Hoppe, der Präsident der Bundesärztekammer, hat im vorigen Jahr auf einem Seminar zum Thema Patientenverfügung, das er für Journalisten durchgeführt hat, voller Entrüstung ein Beispiel vorgetragen. Er war wegen einer Grundstücksangelegenheit bei einem Notar. Als diese geregelt war, sagte der Notar: Wollen Sie, wo Sie schon hier sind, nicht gleich auch eine Patientenverfügung bei mir ausfertigen? ({0}) Das wurde ihm angeboten. Als er es mir erzählte, erwiderte ich ihm: Herr Professor Hoppe, Ihnen müsste das eigentlich überhaupt nicht komisch vorkommen. Wenn Kassenpatienten zum Arzt gehen und sich untersuchen lassen, dann fragt der Arzt hinterher oft: Wollen wir nicht noch eine Ultraschalluntersuchung als IGeL-Leistung machen? Das zahlt zwar die Kasse nicht, aber ich würde es Ihnen doch empfehlen. - Genau das Gleiche passiert hier auch. In beiden Fällen soll etwas verkauft werden. In beiden Fällen geht es nicht um das Wohl des Patienten. ({1}) Das sind Dinge, die die Menschen misstrauisch machen. Was wollen wir erreichen? Auf Basis der Gesetzentwürfe, die vorliegen, werden wir in den Anhörungen und weiteren Verhandlungen in diesem Hause zu etwas kommen, was wir den Menschen auch wirklich anbieten können. Ich bin da sehr zuversichtlich und habe überhaupt keine Angst, dass es sich nicht gelohnt hätte, darüber fünf Jahre - vielleicht war es sogar noch etwas länger zu diskutieren. Uns sind die Probleme klarer geworden. Das Bewusstsein dafür, was wirklich nötig ist, ist geschärft worden. Aber da fehlt auch noch einiges. Ich habe zu Beginn etwas von dem anzusprechen versucht, was wir uns vor Augen zu halten haben. Nach meiner Einschätzung besteht aber überall im Hause Klarheit über unser Ziel, dass der Wille des Patienten respektiert wird und nichts gegen den Willen von Patienten geschieht. Das heißt nicht, dass der Patient sich alles wünschen darf und die Ärzte alles machen müssen. So geht es auch wieder nicht. Die Einhaltung des Nihil nocere - des Verbots, zu schaden - muss aber bis zum Schluss gewährleistet sein. Die Möglichkeit, zu prüfen, welche medizinischen Möglichkeiten es gibt, und die Lage erneut zu diskutieren, können Patienten in den Fällen, über die wir reden, nicht mehr selbst wahrnehmen. Dies muss aber geschehen. Der mutmaßliche oder irgendwann einmal festgelegte Wille muss dem gegenübergestellt werden, was andere empfinden, die Verantwortung für den Patienten tragen und die sich fragen: Wie konnte der so etwas schreiben? Wenn er das schon gewusst hätte, hätte er etwas ganz anderes festlegen können. Dieser Abwägungsprozess wird umso besser gelingen, je mehr Menschen in Verantwortung und im Wissen um den Willen des Patienten sowie über das, was medizinisch möglich ist, beteiligt werden. Deshalb ist es gut, entsprechend dem Antrag, den Herr Zöller ausführlich vorgestellt hat - dafür danke ich -, auch ins Gesetz zu schreiben, dass dieser Dialog stattzufinden hat, dass der Betreuer sich daran zu beteiligen hat und dass andere ebenfalls zu beteiligen sind. Dies halte ich für den richtigen Weg. Mit Herrn Seifert bin ich aber auch der Meinung, dass es nicht reicht, irgendein Formular vorzulegen. Wir sind nicht sicher, wenn wir die Patientenverfügung ausgefüllt haben. Es ist viel sicherer, wenn wir mit möglichst vielen Menschen darüber gesprochen haben, was wir empfinden, wie wir leben und wie wir sterben wollen. Dann können andere auch für uns handeln, wenn wir es selbst nicht mehr können. Deshalb ist die Vorsorgevollmacht ein wichtiges Instrument, für das ich hier noch einmal werben möchte und das ich auch all denen empfehle, die mich fragen: Was soll ich machen, damit mit mir nichts passiert, was ich nicht will? Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans Georg Faust.

Dr. Hans Georg Faust (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003114, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Arzt und Intensivmediziner musste ich lernen, dass der Wille des Patienten das höchste Gebot ist. Was für den wachen Patienten gilt, muss auch für den hier und jetzt kommunikations- und entscheidungsunfähigen Patienten, den dementen oder bewusstlosen Patienten gelten. Wir ringen in diesem Gesetzgebungsverfahren also um die Antwort auf die Frage: Welche Voraussetzungen und welche Abläufe fordert der Gesetzgeber, damit der Wille einer entscheidungsunfähigen Person über das weitere medizinische Vorgehen, manchmal über Leben und Tod, entscheidet? Es kann also nicht die Patientenverfügung allein entscheidend sein. Vielmehr muss sie in ein prozesshaftes Geschehen eingebettet sein. Eigentlich ist das alles nichts Neues. Der in einer Patientenverfügung geäußerte Wille des Patienten war auch schon bisher grundsätzlich verbindlich. Ärzte dürfen sich nicht über die Willensäußerungen hinwegsetzen. Dass das in der Vergangenheit trotzdem geschah und dass dies vielleicht auch der Anlass für die Diskussion in der Öffentlichkeit ist, zeigt, wie wichtig es ist, nochmals die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen klarzustellen und eine breite Diskussion darüber sowohl in Patienten- als auch - das sage ich sehr bewusst - in Ärztekreisen zu führen. Es geht also weniger um die Einführung einer Vielzahl neuer Paragrafen, sondern um eine Veränderung in den Köpfen, ({0}) auch in den Köpfen von Ärzten, die in einer falsch verstandenen paternalistischen Haltung Therapien dort fortführen, wo der kranke Mensch es nicht mehr will. Zwei der drei vorliegenden Gesetzentwürfe sind von einem gewissen Misstrauen gegenüber Ärzten geprägt. In einem der Entwürfe wird der Patient sogar vor sich selber geschützt. Seine Entscheidung soll nur in gewissen Fällen gelten; für die Bescheinigung, ob dieser Fall eingetreten ist, ist dann doch wiederum der Arzt zuständig. Meine Damen und Herren, die Ermittlung und Umsetzung des Patientenwillens ist ein Prozess - kein Suchen in verschiedenen Schubladen eines Gesetzesschrankes, in die man die Patientenverfügungen je nach Form, Ausgestaltung oder Krankheit gelegt hat.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Montag?

Dr. Hans Georg Faust (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003114, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gern.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin, herzlichen Dank, und vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie diese Frage zulassen. - Herr Kollege, Sie haben zuletzt in Ihren letzten Ausführungen gesagt, dass in zweien der drei Gesetzentwürfe ein gewisses Misstrauen gegenüber Ärzten dokumentiert sei. Ein Entwurf davon müsste dann derjenige sein, an dem ich mitgearbeitet habe. Aber ich persönlich habe kein generelles Misstrauen gegenüber Ärzten. Im Gegenteil: Ich habe ein generelles Vertrauen den Ärzten gegenüber. Ich möchte Sie gerne konkret fragen: An welcher Stelle erkennen Sie in dem Gesetzentwurf von Stünker und anderen eine Misstrauensäußerung gegenüber Ärzten?

Dr. Hans Georg Faust (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003114, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Montag, wir werden noch Gelegenheit haben, die einzelnen Verfahrensschritte in den verschiedenen Gesetzentwürfen, was den Willensermittlungsprozess auf Grundlage des Dialogs mit den einzelnen Patienten betrifft, zu beleuchten. Ich sehe in Ihrem Entwurf aber die Tendenz, bei der Willensermittlung den Betreuer in der federführenden Rolle zu sehen und den Arzt mehr in der Rolle des Ausführenden, der sich den getroffenen Festlegungen beugen muss. Wegen der Nuancierung werden wir sicherlich im Gespräch bleiben. Ich glaube, das ist der Ernsthaftigkeit des Themas angemessen. ({0}) Es ist also Aufgabe der den Kranken begleitenden Personen, der Angehörigen, des Betreuers, des Arztes und in Konfliktfällen auch des Vormundschaftsgerichts, die Patientenverfügung entsprechend ihrer Ausgestaltung als Grundlage zu nehmen und mit allen sonst zur Verfügung stehenden Möglichkeiten den Patientenwillen sorgfältig zu ermitteln und danach zu handeln. Je genauer die Patientenverfügung die Situation beschreibt, für die sie gelten soll, je aktueller sie ist, je detaillierter sie ist - womöglich ist es sehr wichtig, dass der Betreffende ein Beratungsgespräch geführt hat und beim Notar war; das konkretisiert die Patientenverfügung weiter, das ist gar keine Frage -, je mehr sie im Gleichklang mit weiteren Erkenntnissen aus der Welt dieses bestimmten Patienten ist, desto mehr verdichtet sich in diesem Prozess die Gewissheit, was zu tun ist. Wie ich schon sagte: Dies ist eigentlich nichts Neues. Das haben wir in den Krankenhäusern schon immer gemacht. Mit unserem Gesetzentwurf zeichnen wir - das ist ein Signal an diejenigen, die sagen, dass es vielleicht besser wäre, gar nichts zu tun - bestehende Abläufe nach. Allerdings betonen wir die Konturen und stellen in einzelnen Bereichen, wie beispielsweise bei der Frage nach der Rolle des Vormundschaftsgerichts, Dinge klar, die bisher an Deutlichkeit zu wünschen übrig ließen. Klopft der Tod als später Gast an die Tür des Kranken, dann ist es seine Entscheidung, ob er ihn einlassen will oder nicht. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, per Gesetz einen Riegel vorzuschieben. Entsprechend dem Willen des Patienten aber müssen wir ihm zur Seite stehen. Das ist keine Aufgabe für den Gesetzgeber, sondern eine Aufgabe für Verwandte, Betreuer, Bevollmächtigte und auch für Ärzte. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Rolf Stöckel.

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst meiner Freude Ausdruck verleihen, dass wir in der ersten Sitzungswoche des Jahres die drei vorliegenden Gesetzentwürfe in erster Lesung beraten. Meine Hoffnung wächst, dass wir in dieser Wahlperiode - also noch vor der Sommerpause oder sogar vor der Osterpause - zu einem Beschluss kommen können. Es ist deutlich geworden, dass diese öffentliche Debatte - ich erwähne in diesem Zusammenhang auch die Beratungen der Ethikkommission und die Stellungnahmen von Fachleuten - aufgrund von Gerichtsentscheidungen und von medizinischen Entwicklungen, aber auch aufgrund des Drucks von Menschen, die von uns als Gesetzgeber erwarten, dass wir hier Klarheit schaffen, in Gang gesetzt worden ist. Ich glaube, dass die Gemeinsamkeiten das Trennende überwiegen. Denn es hat niemand infrage gestellt, dass es zwei wesentliche verfassungsrechtliche Grundlagen für die Behandlung eines Patienten gibt, nämlich die Zustimmung des Patienten und die medizinische Indikation. Es hat auch niemand bestritten, dass es sich um eine prozesshafte Entscheidung am Lebensende mit Blick auf Situationen handelt, für die es eine Patientenverfügung gibt. Es handelt sich immer um eine Interpretation einer Patientenverfügung oder eines wie immer geäußerten Willens durch Dritte, zum Beispiel durch einen Gesundheitsbevollmächtigten. Zwar hat das Letztere einen höheren Rang, aber nicht jeder vertraut sich einer Person an und möchte deshalb eine schriftliche Patientenverfügung verfassen, um sicherzugehen, dass sein Wille wirksam in den Prozess Eingang findet. Wir sind uns einig, dass die Auseinandersetzung über dieses Thema vor allen Dingen dazu geführt hat, dass der Hospizarbeit, der Palliativmedizin und der Schmerztherapie in Gesellschaft und Praxis eine größere Bedeutung beigemessen wird. Die Menschen denken in der Tat häufiger darüber nach, ob sie eine Patientenverfügung verfassen. Sie setzen sich mit dem Thema häufiger auseinander. Bevor wir festschreiben, dass sich jeder beraten lassen muss, sollten wir Folgendes bedenken: Ich würde mich von meinem Hausarzt, dem ich vertraue, bezüglich bestimmter Behandlungen am Lebensende nicht unbedingt beraten lassen, weil ich weiß, dass er dafür nicht ausgebildet ist. Ich wäre froh, wenn die Enttabuisierung dieses Themas dazu führen würde, dass in den Familien darüber gesprochen wird oder man sich an eine Vertrauensperson wendet, um mit ihr eine Vollmacht oder eine Patientenverfügung zu besprechen. ({0}) Die Fachleute sagen, dass zurzeit circa 9 Millionen Patientenverfügungen existieren. Bei Verabschiedung des Entwurfs der Gruppe Bosbach würden etliche davon ihre Gültigkeit verlieren, weil sie die Voraussetzungen - ärztliche Beratung und notarielle Beurkundung - nicht erfüllen. Ich möchte mich, solange meine Redezeit reicht, mit den praktischen Auswirkungen beschäftigen, die dieser Entwurf hätte - denn über den Stünker-Entwurf haben wir im Juni des letzten Jahres beraten, und wir werden später dazu kommen, alle drei Anträge zu würdigen -: Im Gesetzentwurf der Gruppe Bosbach ist vorgesehen, dass lebenserhaltende Maßnahmen auch dann beendet werden können, wenn es sich nicht um eine unheilbare Krankheit, wenn es sich nicht um eine tödlich verlaufende Krankheit oder ein Wachkoma handelt. Unserer Meinung nach werden aber Hürden aufgebaut, die die Wirkung der Patientenverfügung verunmöglichen. So wird eine ärztliche Beratung speziell zu dem zum Zeitpunkt des Behandlungsabbruchs vorliegenden Krankheitsbild gefordert. Die daraufhin erstellte Patientenverfügung soll notariell beurkundet werden. All das muss nach spätestens fünf Jahren wiederholt werden. ({1}) - Wie soll man sich das vor dem Hintergrund der Situation in den Arztpraxen dieses Landes konkret vorstellen? Wir haben zwar die Hoffnung, dass die „sprechende Medizin“, also die Zuwendung von Medizinern gegenüber den Menschen, allgemein einen größeren Raum einnimmt und auch bei der Frage der Finanzierung besser gewürdigt wird, aber das würde zurzeit bedeuten: Trotz eines vollen Wartezimmers nimmt sich der Hausarzt eine Stunde Zeit, um mit seinem Patienten darüber zu sprechen, welchen Verlauf seine Erkrankung möglicherweise nehmen könnte, obwohl er - das sagte ich schon einmal nicht unbedingt ein Spezialist für die neuesten Behandlungsmethoden ist. Er spricht mit seinem Patienten auch über das Sterben. - Das möchte ich ohne Zeitdruck und mit Personen meines Vertrauens tun, mit Personen, denen ich das auch zutraue. Was soll nach diesem Gespräch passieren? Wer erstellt die Patientenverfügung? Der Arzt oder der Patient? Wozu braucht man einen Notar? Nur um die Unterschrift zu bestätigen? Das alles scheint mir in der Praxis nicht umsetzbar zu sein. Es scheint so zu sein, dass hier eine Hürde aufgebaut werden soll. Ich glaube, dass die Menschen, die eine Patientenverfügung verfassen - das kann man nicht für jeden garantieren -, sich doch intensiver mit dem Thema beschäftigen als diejenigen, die keine Patientenverfügung haben wollen. Auch die regelmäßige Aktualisierung der Patientenverfügung ist sinnvoll. Ich verneine auch nicht den Sinn einer ärztlichen Beratung. Man sollte sich so gut informieren wie möglich, um selbstbestimmte Entscheidungen treffen zu können. Das ist ein Anspruch, den wir haben und auch an alle stellen sollten. Wir können ihn aber nicht gesetzlich verordnen oder erzwingen. Man muss sich vor Augen führen, dass mit einer Aktualisierung nicht nur der Entwicklung im Bereich der Medizin, sondern auch der Veränderung meiner Vorstellung von Würde und vielleicht auch der Veränderung bei meinen Ängsten Ausdruck verliehen werden soll. Dafür wäre ein Zeitraum von fünf Jahren aber zu lang. Zwei Jahre wären vielleicht viel besser. In der Praxis sehen viele Berater und Anbieter von Patientenverfügungen das vor. Durch notarielle Beurkundungen und ärztliche Pflichtberatungen bauen Sie jedoch Kosten auf. Angesichts desRolf Stöckel sen wäre eine Aktualisierung alle zwei Jahre unrealistisch. ({2}) - Ja. Ich muss leider zum Schluss kommen. Ich glaube, dass wir uns in der Anhörung neben all dem, was wir sicherlich an Gemeinsamkeiten feststellen, vor allen Dingen mit dem Zöller/Faust-Entwurf, mit den konkreten Fragen der Praxis, die hier teilweise von Dr. Faust beschrieben worden ist, und dem, was tatsächlich gesetzlich zu regeln ist, beschäftigen werden. Vor diesem Hintergrund erhoffe ich mir, dass es uns gelingt, das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben vielleicht sogar in einem gemeinsamen Antrag zu formulieren. Die Selbstbestimmung auch schwerkranker Menschen ist ein zu hohes Gut, um das Risiko einzugehen, dass letztendlich der Bosbach-Entwurf die meisten Stimmen hier im Haus auf sich vereinigt oder gar kein Entwurf beschlossen wird. Danke schön. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Wolfgang Bosbach.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Seifert, was Sie vorhin gesagt haben, war mir sympathisch. Ich finde es klug, dass Sie auf die Bedeutung der Vorsorgevollmacht hingewiesen haben. Ich selber habe auch keine Patientenverfügung. Woher soll ich zum jetzigen Zeitpunkt wissen, was ich irgendwann einmal in einer Krankheitssituation für mich entscheiden möchte, die ich weder kenne noch kennen kann? Aber das ist nicht der Problemkreis, über den wir hier streiten. Wir müssen respektieren, dass es Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger gibt, die aus unterschiedlichen Gründen eine Patientenverfügung verfasst haben. Denen schulden wir Rechtssicherheit. Es kann nicht vom freien Spiel der Kräfte an einem Krankenbett abhängen, ob ein Patient weiterlebt oder ob lebenserhaltende Maßnahmen beendet werden. Deswegen kann sich der Deutsche Bundestag vor der Entscheidung nicht drücken. ({0}) Herr Kollege Montag, Sie haben gesagt, dass der Gesetzentwurf, der auch von mir mitgetragen wird, hinter die geltende Rechtslage zurückgehe, weil nach geltender Rechtslage jedwede Patientenverfügung unabhängig vom Inhalt verbindlich sei. Ich zitiere aus dem Standardwerk Medizinrecht von Professor Deutsch, neueste Auflage: Der BGH hat - allerdings beschränkt auf die Situation des „Grundleidens“, das einen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen hat - in der allseits kritisierten Entscheidung eine weitere medizinische Maßnahmen ausschließende Patientenverfügung als bindend angesehen. Dies gilt mit Reichweitenbegrenzung. Ich zitiere aus der Zeitschrift für Rechtspolitik. Das ist deswegen interessant, weil ich jetzt Herrn Kutzer als Zeugen heranziehe. Herr Kutzer war der Vorsitzende der Kutzer-Kommission von Frau Zypries. Frage der Zeitschrift für Rechtspolitik: Der Beschluss vom 12. Zivilsenat des BGH wurde oft so verstanden, dass lebenserhaltende Maßnahmen nur dann beendet werden dürfen, wenn das Grundleiden eines Patienten einen irreversiblen tödlichen Verlauf genommen hat? Antwort Kutzer: Ja, so muss man trotz mancher Interpretationsversuche diese Entscheidung im Grundsatz wohl verstehen, aber unsere Arbeitsgruppe ist anderer Auffassung.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen?

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sofort. Ich möchte erst den Gedanken zu Ende führen. - Es gibt die Gesetzesinitiative, weil man diese Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in Zivil- und Strafsachen kritisiert und eine andere Rechtslage schaffen möchte. ({0}) Wir hingegen möchten uns an dieser Rechtsprechung orientieren und darüber hinaus eine zusätzliche Möglichkeit für eine verbindliche Patientenverfügung in das Gesetz einfügen. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Gestatten Sie nun eine Zwischenfrage des Kollegen Montag?

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Bosbach, nachdem Sie mich persönlich angesprochen haben: Ich bezweifle nicht, dass es über die Entscheidung des 12. Senats eine rege Diskussion mit unterschiedlichsten Meinungen gegeben hat. Ich wollte Sie fragen, ob Sie auch zur Hand haben - wenn nicht, können Sie vielleicht aus dem Kopf zitieren -, was die Vorsitzende des 12. Senats selbst relativ autoritativ über ihre Entscheidung in der FAZ gesagt hat. Sie hat ausgeführt, dass sich diejenigen, die eine Reichweiten21510 begrenzung in dieser Entscheidung erkennen wollen, täuschen, dass der 12. Senat eine solche Reichweitenbeschränkung in dieser Entscheidung nicht zum Ausdruck bringen wollte.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe das Zitat nicht vor mir liegen, aber es liegt auf meinem Tisch. Dies ist so nicht richtig. ({0}) - Nein. Sie hat an einer anderen Stelle - ich kann jetzt nicht zum Tisch gehen; aber wenn Sie es möchten, lese ich es Ihnen gleich noch vor ({1}) gesagt: Die Differenzierung bezieht sich auf Todesnähe und irreversiblen tödlichen Verlauf. Diese Rechtsprechung ist geändert worden. Aber es gibt keine Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes in Straf- und Zivilsachen, dass eine Patientenverfügung unter allen Umständen und vor allen Dingen - das sind die sieben Wörter, die uns trennen - unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung Verbindlichkeit hat. ({2}) Das schönste Argument für unseren Gesetzentwurf habe ich in einem Schreiben von Professor Jäger, einem Strafrechtler, gefunden, der geschrieben hat: Es gibt Vorbehalte gegen eine strikte Bindungswirkung von Patientenverfügungen. Fälle, mit denen ich im Rahmen meiner Arbeit in der Ethikkommission eines Krankenhauses konfrontiert wurde, lassen mich vor einer absoluten Verbindlichkeit zurückschrecken. Das ist die Konfrontation der rechtlichen Überlegungen eines Juristen mit der Lebenswirklichkeit, und wir müssen uns mehr an der Lebenswirklichkeit orientieren. ({3}) Zu dieser Lebenswirklichkeit, Herr Kollege Kauch, gehört ein Argument, das Sie vorhin vorgetragen haben. Ich habe bereits erwähnt, dass ich das Argument für beachtlich halte. Wir gehen von einem Differenzierungskriterium aus, von dem Sie sagen, dass es in der medizinischen Praxis untauglich sei. Ich darf Ihnen Folgendes sagen: Wenn dieses Argument stimmt, dann müssen wir 90 Prozent aller Vorschläge zu Patientenverfügungen aus dem Verkehr ziehen; denn exakt das, von dem Sie behaupten, dass es das nicht gebe, befindet sich in fast allen Mustertexten. Auf meinem Pult liegen fast alle Patientenverfügungen, die man aus dem Netz herunterladen kann. Alle haben das Abgrenzungskriterium, von dem Sie - unter Berufung auf Professor Borasio - behaupten, dass es das nicht gibt. Der aussagekräftigste Vorschlag - das ist ein ganz starkes Argument für den von uns vertretenen Entwurf ist der von der Bundesministerin der Justiz. Dort heißt es: „Wenn ich mich aller Wahrscheinlichkeit nach unabwendbar im unmittelbaren Sterbeprozess befinde …“ Gibt es darüber unter uns Streit? Nein, es ist keine ärztliche Beratung und keine juristische Beratung vorgesehen, sondern es gilt volle Verbindlichkeit. „Wenn ich mich im Endstadium einer unheilbaren, tödlich verlaufenden Krankheit befinde, selbst wenn der Todeszeitpunkt noch nicht absehbar ist …“, also eine infauste Prognose vorliegt. Gibt es diesbezüglich unter uns Streit? Nein, es gilt die volle Verbindlichkeit ohne ärztliche, ohne rechtliche Beratung. „Wenn ich infolge einer Gehirnschädigung …“ einen irreversiblen Bewusstseinsverlust erleide. Gibt es unter uns Streit? Nein, die Patientenverfügung ist ohne ärztliche, ohne rechtliche Beratung voll verbindlich. Immer orientiert an dem, was die Bundesministerin der Justiz ins Netz stellt, kommt nun der Punkt, der uns unterscheidet. Wenn sie mit ihrer Argumentation recht hätte, müsste man sofort den Stecker ziehen und diesen Vorschlag für eine Patientenverfügung aus dem Verkehr ziehen. ({4}) Nun kommt ein Formulierungsvorschlag, der im wahrsten Sinne des Wortes lebensgefährlich ist. Es wird folgende Formulierung vorgeschlagen: Nicht nur in den oben beschriebenen Situationen, - die ich gerade dargestellt habe sondern in allen Fällen eines Kreislaufstillstandes oder Atemversagens lehne ich Wiederbelebungsmaßnahmen ab. Gemäß diesem Vorschlag kommt es überhaupt nicht darauf an, ob ich unheilbar krank bin, ob ich in Todesnähe bin oder ob ich ein junger Mann bin, der einen Autounfall erleidet. Der Patient lehnt kategorisch jede Maßnahme zur Wiederbelebung ab. Nun gibt es Fälle, in denen Kreislaufstillstand oder Herzversagen vorliegen und die Reanimation notwendig ist. Nehmen Sie nur einmal das Beispiel Herzstillstand/ Reanimation. Sie fordern, dann einen Beratungsprozess in Gang zu setzen. Es gibt aber Situationen, in denen Sie spontan entscheiden müssen: Reanimiere ich - Ja oder Nein? In einer solchen Situation nützt Ihnen kein Betreuer und kein Vormundschaftsgericht etwas, sondern Sie müssen spontan handeln. Wenn Sie nun feststellen - und diese Antwort ist mir sehr sympathisch -: Selbstverständlich gibt es Fallkonstellationen, wo wiederbelebt bzw. künstlich beatmet werden muss und in denen dieser Satz keine Gültigkeit haben kann, dann differenzieren Sie doch nach Art und Stadium der Erkrankung. Genau das Gegenteil steht in Ihrem Gesetzentwurf drin. ({5}) Es ist ein rhetorischer Kniff, mit dem Sie in der Öffentlichkeit punkten. Wenn das nicht nur in der gründlichen Begründung Ihres Gesetzentwurfs, die ich in der feinen Abwägung zwischen Lebensschutz und Selbstbestimmungsrecht in weiten Teilen unterstreichen kann, stehen würde, sondern auch im Gesetzestext, hätten wir nicht die Debatten, die wir seit Jahren führen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Kollegen Dr. Wodarg.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, klar.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Bosbach, ich finde, Sie haben das etwas schief dargestellt. Als jemand, der jahrelang Notarztwagen gefahren ist und auf der Intensivstation gearbeitet hat, der also immer in der Situation war, dass er zu Notfällen gerufen wurde und dann handeln musste, weil jede Sekunde kostbar war, sage ich Ihnen: Es geht nicht so sehr um die Schwere der Erkrankung, ({0}) wie Sie es gerade dargestellt haben, sondern vielmehr um die Zeit, die man hat, um zu überprüfen, was der Wille des Patienten ist. Das ist etwas ganz anderes. In dieser Situation hat man nicht die Möglichkeit, den Willen des Patienten zu eruieren, sondern man muss erst einmal handeln. Das hat mit der Schwere der Erkrankung nichts zu tun.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Wodarg, Entschuldigung!

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ein Patient kann nur ohnmächtig sein, er kann aber auch schon fast tot sein.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Wodarg, das ist ein ganz anderer Fall. Sie unterstellen Rettungswillen; auch das ist ein interessanter Fall, aber nicht der, von dem ich gesprochen habe. ({0}) Von dem Fall, über den ich berichtet habe, habe ich von einem Arzt erfahren, der uns dringend davor warnt, die absolute Verbindlichkeit von Patientenverfügungen zu beschließen. In meinem Fall geht es um eine Patientin, die 50 Jahre alt war. Sie hatte aufgrund eines orthopädischen Problems eine Operation. Diese Operation verlief völlig problemlos. Die Patientin ist für eine Nacht auf die Intensivstation gekommen. Am nächsten Morgen war sie ansprechbar und sollte auf die Normalstation verlegt werden. In diesem Moment erlitt sie eine Lungenembolie und eine Asystolie; sie hatte keinen Herzschlag mehr. Dem Krankenhaus lag eine Patientenverfügung mit absolutem Reanimationsverbot vor. Selbstverständlich hat der Arzt die Frau aber reanimiert. Das war auch richtig so, weil er nach Art und Stadium der Erkrankung differenziert hat. In diesem Fall muss nichts ausgelegt werden. Sie sagen immer: Wir wollen, dass ausgelegt wird. Das finde ich sympathisch. Wenn die Situation aber glasklar ist, was wollen Sie dann auslegen? Wenn jemand schreibt, dass er Joachim Stünker als Alleinerben einsetzt, kommen Sie dann etwa zu der Auslegung, er könnte möglicherweise auch Herrn Wodarg gemeint haben? ({1}) Man muss nur dann etwas auslegen, wenn man die Lebenssituation mit dem geschriebenen Text abgleichen muss. Wenn die Lebenssituation klar ist, muss man das nicht tun. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Bosbach.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin sofort fertig, großes Indianerehrenwort. - Herr Wodarg, wer Maßnahmen der Wiederbelebung kategorisch ablehnt, und zwar unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung, für den sollte eine ärztliche und eine rechtliche Beratung verbindlich sein. Denn dies ist die weitreichendste Erklärung, die ein Mensch in seinem Leben abgeben kann, die Entscheidung über Leben und Tod. ({0}) Sie sagen, das sei eine bürokratische Hürde. Mit diesem Vorwurf kann ich leben. Mit dem Vorwurf, einem Gesetz zugestimmt zu haben, durch dessen Anwendung möglicherweise Menschen sterben, die weder sterben müssten noch in Kenntnis der Situation sterben wollten, könnte ich allerdings nicht leben. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/11360 und 16/11493 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Karl Addicks, Ernst Burgbacher, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung ({0}) - Drucksache 16/11170 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. ({2}) - Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die der weiteren Debatte nicht folgen wollen oder können, ihre Gespräche vor dem Plenarsaal fortzuführen. Alle anderen Kolleginnen und Kollegen bitte ich, den Rednern ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Als erste Rednerin hat die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger für die FDP-Fraktion das Wort. ({3})

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor ungefähr einem Jahr hat der Deutsche Bundestag die Reform der Telekommunikationsüberwachung beschlossen. Mit dieser Reform wurde erstmals eine allgemeine Vorschrift zum Schutz von Berufsgeheimnisträgern vor staatlichen Überwachungsmaßnahmen in Strafverfahren geschaffen. Das war ein systematisch neuer Ansatz. Es sollte für alle Überwachungsmaßnahmen eine Grundlage geschaffen werden. Die Absicht, eine allgemeine Regelung zu treffen, die es in dieser Form zuvor nicht gegeben hat, ist zu Recht begrüßt worden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf geht es uns um die Ausgestaltung dieser Bestimmung. Man kann sie nämlich nach Auffassung der FDP-Bundestagsfraktion und auch nach Auffassung vieler Teile der Gesellschaft nicht als gelungen bezeichnen. § 160 a StPO schafft einen Unterschied zwischen den verschiedenen Berufsgeheimnisträgern. Wir wollen das korrigieren. Berufsgeheimnisträger genießen nach unserer Rechtsordnung, wie man an § 53 StPO sieht, einen hohen Schutz, und das zu Recht. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Entscheidungen immer wieder den hohen Rang herausgestellt, den der Schutz des Vertrauens zwischen Anwalt und Mandant, zwischen Arzt und Patient, zwischen Journalist und Informant, zwischen Geistlichem und demjenigen, der die Beichte ablegen möchte - um nur einige wenige zu nennen -, hat. Man kann darüber streiten, wie weit dieser Vertrauensschutz verfassungsrechtlich legitimiert ist. Gerade die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 3. März 2004 zum sogenannten Großen Lauschangriff enthält in Randnummer 148 Ausführungen, in denen eine verfassungsrechtliche Begründetheit für die besondere Herausstellung des Vertrauensschutzes für einige Gruppen - insbesondere für Geistliche, für Strafverteidiger und, etwas zurückgenommen, für Ärzte - ausdrücklich festgestellt wird. Bei Presseangehörigen und Abgeordneten wird interessanterweise nicht aus dem Menschenwürdecharakter heraus eine zwingende verfassungsrechtliche Verpflichtung zum Schutz des Vertrauensverhältnisses abgeleitet. Egal wie weit man den verfassungsrechtlichen Schutz unter Heranziehung anderer Bestimmungen interpretiert, man sollte - dieser Auffassung ist die FDP-Fraktion die Differenzierung zwischen den Berufsgruppen, die in § 160 a StPO vorgenommen wird, nicht aufrechterhalten. Für die Strafverfahren, für die Repression - darauf bezieht sich unser Gesetzentwurf - sollte eine Korrektur vorgenommen werden. ({0}) Beim Umfang des Schutzes sollte nicht mehr zwischen Strafverteidigern und Rechtsanwälten unterschieden werden. Dass der Anwalt als Organ der Rechtspflege in unserer Rechtsordnung eine wichtige Stellung einnimmt, ist unbestritten. Das macht der Rechtsanwalt, das macht aber auch der Strafverteidiger. Im Zweifel wird der Anwalt, sobald ein strafrechtlicher Aspekt zu berücksichtigen ist, zum Strafverteidiger. Wenn man einmal davon absieht, dass jemand ausschließlich als Strafverteidiger tätig ist, ist es in der Praxis doch so, dass es schwer ist, hier zu differenzieren. Wir sind der Meinung, dass die Anwaltschaft mit § 160 a StPO einen einheitlichen Schutz bekommen sollte. So etwas ist der StPO nicht fremd. Nehmen Sie § 100 c Abs. 6 StPO, die Ausgestaltung des Abhörens in Wohnungen. In diesem Paragrafen ist gerade nicht differenziert worden; es geht allgemein um die Berufsgeheimnisträger Ärzte, Geistliche, Journalisten, Rechtsanwälte, Strafverteidiger, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer. Ich sage bewusst, dass auch wir nicht für alle in § 53 StPO aufgezählten Berufsgruppen ein und dieselbe Regelung vorsehen, dass auch wir differenzieren. So sehen wir in unserem § 160 a Abs. 2 StPO für die Fälle des § 53 Abs. 1 Nr. 3 a und b StPO ein Verwertungsverbot vor. Wir wollen eine mit Augenmaß getroffene Regelung, die der Bedeutung des Schutzes dessen, was in diesen Beziehungen gesprochen wird, gerecht wird. Wir wollen, dass der Mandant, der zum Anwalt geht, dass der Patient, der zum Arzt geht, sicher sein kann, dass das, was er mit seiner Vertrauensperson bespricht, diesen Kreis nicht verlässt, dass es nicht zu anderen Zwecken verwandt wird. Von daher tragen wir eine sehr ausgewogene Regelung vor. Ich glaube, es ist eine Regelung, die wirklich zu Recht auch von denjenigen begründet wird, die in der Praxis damit zu tun haben. Aus diesem Grunde hoffe ich, dass wir am Ende der Beratungen des Bundestages - heute ist die erste Lesung - vielleicht doch eine Mehrheit in diesem Hohen Hause finden können. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Kauder, CDU/CSU-Fraktion.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Hilger hat das Problem im Jahre 2003 auf Seite 482 ff. in Goltdammer’s Archiv für Strafrecht sehr präzise umrissen: Es geht um den flankierenden Schutz von Zeugnisverweigerungsrechten. Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, das haben wir am 9. November 2007 hier im Deutschen Bundestag schon ausdiskutiert. ({0}) Wir haben einen Gesetzentwurf zur Neuordnung der Telekommunikationsüberwachung und weiterer verdeckter Ermittlungen beraten, und wir haben ein gutes, differenziertes, harmonisch abgewogenes Ergebnis zustande gebracht. ({1}) Es gibt seither nichts Neues, keine Gesetzeslücke, keinen Korrekturbedarf. Meine Damen und Herren, es geht in erster Linie um die Aufklärung von Straftaten. Im Jahre 1975 hat ein Deutscher mit sechs weiteren Tatgenossen die OPECKonferenz in Wien überfallen. Drei Menschen wurden ermordet, 70 Geiseln wurden genommen. Der Deutsche ging flüchtig. Etwa 20 Jahre später konnte man seinen Aufenthaltsort ermitteln, weil man Telekommunikationsverbindungsdaten einer Journalistin erhoben hatte, mit der er mehrfach telefoniert hatte. Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, damals gab es den § 100 h der Strafprozessordnung. Es gab keinerlei Differenzierungen. Bei jedem Journalisten konnten die Telekommunikationsverbindungsdaten ohne Einschränkung erhoben werden. Das war auch richtig so. Man konnte den Täter festnehmen. Obwohl er die Kronzeugenregelung in Anspruch genommen hat, bekam er neun Jahre Freiheitsstrafe. Das ist gesühntes Unrecht. Folgte man Ihrem Gesetzentwurf, dann würde dieser Straftäter noch heute frei und ohne Sühne und Strafe durch die Welt laufen. Das wollen wir nicht. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Kauder, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Montag?

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Kauder, nur, damit kein Missverständnis auftritt: Ich finde es richtig, dass ein Straftäter wie Herr Klein seiner Strafe zugeführt wird, wenn die Polizei und die Staatsanwaltschaft ihn mit verfassungsgemäßen Mitteln finden. Das ist überhaupt keine Frage. Stimmen Sie mir aber zu, dass Ihre letzten Ausführungen in der Konsequenz dazu führen, dass wir eigentlich alle verfahrensmäßigen Schutzrechte innerhalb der Strafprozessordnung fallen lassen könnten, weil sie dem Strafanspruch und der Strafverfolgung tendenziell immer in den Rücken fallen und dadurch eine vollständige und umfassende Strafverfolgung aller Straftäter unmöglich machen? Das ist Ausdruck des Rechtsstaats. Wollen Sie ihn wirklich abschaffen?

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kollege Montag, ich bin mit meinen Ausführungen ja noch nicht am Ende. ({0}) Es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen der Aufklärungspflicht des Staates und dem teilweise verfassungsrechtlich geschützten Recht von Berufsgeheimnisträgern auf Wahrung des ihnen anvertrauten Geheimnisses. Nach der Verfassung steht ein Journalist einem Abgeordneten eben nicht gleich. Der Abgeordnete genießt den Schutz nach Art. 47 des Grundgesetzes, der Journalist nur den nach Art. 5 des Grundgesetzes, der nicht so weit reicht wie Art. 47 des Grundgesetzes. Also müssen wir dieses Spannungsverhältnis entsprechend lösen. Das von mir erwähnte Gesetz tut dies angemessen in einem abgestuften System. Dazu werde ich noch Stellung nehmen. An erster Stelle steht also die Aufklärungspflicht des Staates, weswegen - dies sagt die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung; es ist in der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung im 33. Band auf Seite 367 nachzulesen - der Kreis der geschützten Berufsgeheimnisträger eng zu fassen ist. Wenn schon der Kreis der Berufsgeheimnisträger eng zu fassen ist, ist erst recht der Kreis derjenigen, die vor Ermittlungsmaßnahmen zu schützen sind, eingeschränkt zu formulieren. Genau so machen wir es nach dem derzeit geltenden Recht. Journalisten stehen nicht Abgeordneten gleich, Ärzte stehen nicht Geistlichen gleich, und zivilrechtlich tätige Anwälte stehen nicht dem Strafverteidiger gleich. Es gibt privilegierte Berufsgeheimnisträger. Dazu gehören der Abgeordnete aufgrund Art. 47 des Grundgesetzes, der Strafverteidiger wegen des grundrechtlich geschützten Anspruchs der Menschenwürde und der Geistliche wegen Art. 4 des Grundgesetzes. Diese Ausnahmeregelungen hatte der Gesetzgeber zu beachten. Wir kommen zu dem Ergebnis, dass mehr als diese Ausnahmen nicht gemacht werden sollten, weil sonst die Aufklärungspflicht viel zu stark eingegrenzt würde. ({1}) Siegfried Kauder ({2}) Aber, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Sie vermitteln hier den Eindruck, als schützten wir nur das Berufsgeheimnis der privilegierten Berufsgeheimnisträger. Das stimmt nicht. Es ist ein sehr differenziert ausgeklügeltes System. Schauen Sie in § 160 a Abs. 5 der Strafprozessordnung, dann werden Sie feststellen, dass die Lex specialis trotz der Einschränkungen in den §§ 97 und 100 c der Strafprozessordnung weiterhin gilt. Deswegen - Frau Kollegin, das wissen Sie - ist auch bei einem Journalisten eine Wohnraumüberwachung nicht zulässig; ({3}) dies ist grundrechtlich nicht möglich. Wir wollen nicht, dass Berufsgeheimnisträger völlig den Ermittlungsmaßnahmen entzogen sind, weil auch sie wie jeder Drittbetroffene dem Staat als Beweismittel bei Durchsuchungsmaßnahmen zur Verfügung stehen müssen; auch dies ist differenziert ausgestaltet. Wir kamen zu dem Ergebnis, dass wir es bei den nichtprivilegierten Berufsgeheimnisträgern auf eine sogenannte Abwägungslehre ankommen lassen, dass also im Einzelfall bei einem Journalisten zu prüfen ist, ob das Grundrecht auf Pressefreiheit nach Art. 5 dem Anspruch auf Ermittlung einer Straftat vorgeht. Was die Telekommunikationsüberwachung und die Verbindungsdaten angeht, ist dies eine Verbesserung des alten Rechtszustandes. Es gilt nicht mehr die Vorschrift des § 100 h der Strafprozessordnung, sondern die der §§ 97 Abs. 5 und 160 a der Strafprozessordnung, wonach der Journalist privilegiert ist. ({4}) Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, sogar dann, wenn der Journalist bei Geheimnisverrat in die Straftat verstrickt ist, ist der Aufklärungsanspruch gegen den grundrechtlichen Schutz des Art. 5 abzugrenzen. Der Journalist, der einen Dritten anstiftet, Geheimnisverrat zu begehen, steht nach dem neuen Recht besser da als nach dem alten Recht. Sie sehen also, es ist sehr ausgewogen ausgelegt. Was Sie wünschen, ist rechtlich möglich, verfassungsrechtlich aber nicht geboten, und es stünde in einem eklatanten Widerspruch zur Aufklärungspflicht des Staates. ({5}) Wir wollen, dass möglichst viele Möglichkeiten bestehen, um Straftaten ermitteln und Straftäter überführen und einer Strafe zuführen zu können. Der von mir eben erwähnte Fall des Terroristen zeigt deutlich, dass dies auch geboten ist. Wer diese Aufklärung nicht möchte, könnte dem Antrag der FDP zustimmen. Wer möchte, dass der Rechtsstaat auf beiden Beinen und nicht auf tönernen Füßen steht, kann diesen Gesetzentwurf nur ablehnen. Das werden wir hiermit tun. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Wolfgang Nešković ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

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, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Fraktion und ich werden - das wird Sie nicht erstaunen, Herr Kauder - dem Gesetzentwurf der FDP zustimmen. Denn ebenso wie die Fraktion der FDP sind auch wir der Auffassung, dass grundsätzlich für alle Berufsgeheimnisträger ein einheitlicher und umfassender Schutz vor strafrechtlichen Ermittlungsmaßnahmen sichergestellt werden muss. Die Differenzierung, die das Bundesverfassungsgericht aus verfassungsrechtlichen Gründen zugunsten von Geistlichen und Strafverteidigern vorgenommen hat - Sie haben das selbst angesprochen, Herr Kauder -, hindert den Gesetzgeber nicht daran, auch die anderen Berufsgeheimnisträger unter denselben Schutz zu stellen. Damit würde auch und gerade die aus unserer Sicht unerträgliche Selbstprivilegierung von Abgeordneten gegenüber den Journalisten, den Vertretern der vierten Gewalt, beendet. Für die Abgeordneten gilt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genauso wenig wie für die Journalisten, soweit sie sich auf Art. 1 des Grundgesetzes stützt. Dennoch gibt es gute Gründe, Journalisten nicht schlechter zu behandeln als uns selbst. Auch für sie streiten zumindest verfassungspolitische Überlegungen. Denn es gibt einen gefährlichen Ursachenzusammenhang zwischen einem unzureichenden Schutz von Journalisten vor Ausforschung, schweigenden Informanten, einer stillen Presse und einer mundtoten Demokratie. Ich will diesen Zusammenhang noch einmal darstellen: Journalisten sind keine Hellseher. Sie schreiben auch nur selten über Vorfälle, die sie selbst und persönlich erlebt haben. Wer nicht hellsehen kann und nicht aus eigenem Erleben berichtet, ist auf Informanten angewiesen. Ein Informant, der schweigt, weil er Strafverfolgung fürchtet, ist kein geeigneter Informant. Den Mut des Informanten befördert der Grundsatz, dass der Journalist für die Öffentlichkeit spricht, doch vor dem Strafrichter schweigen darf. Wenn aber der Staat dieses Zeugnisverweigerungsrecht des Journalisten einfach umgehen kann, entmutigt das den Informanten ganz entscheidend. Der Staat umgeht das Zeugnisverweigerungsrecht, indem er dem Journalisten heimlich ablauscht, worüber der nicht offen sprechen muss. Die jetzige Gesetzeslage legitimiert genau diese Umgehung im Wege einer abstrakten Abwägung zwischen Pressefreiheit und Strafverfolgungsinteresse. Wenn der Informant nicht wissen kann, wie diese abstrakte Abwägung ausgeht, so wird er es konkret vorziehen, zu schweigen. Er wird auch deshalb schweigen, weil er die immensen technischen Möglichkeiten bedenkt, mit denen sich der Staat rechtlich gerüstet hat. Kameras, Wanzen, staatliche Spähprogramme und Richtmikrofone, die selbst durch dicke Mauern jedes vertrauliche Wort erlauschen können, ({0}) werden für immer mehr schweigende Informanten sorgen. Was die Informanten nicht erzählen wollen, kann der Journalist nicht berichten. Das erfährt dann auch die demokratische Öffentlichkeit nicht. Dann diskutiert sie nicht; dann schweigt sie. Das Schweigen wird sogar noch stiller - auch wenn sein Bruch unverzichtbar wäre -, wenn es um die Aufklärung eines politischen oder rechtlichen Versagens staatlicher Verantwortungsträger geht.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kauder zu?

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, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein, zu diesem Punkt nicht. - Die nämlich schweigen in solchen Fällen gerne mit. Es ist dieses gemeinsame Schweigen, das alle mundtot macht. Die Demokratie verträgt keine Stille. Sie braucht den öffentlichen Diskurs. ({0}) - Dazu bleibt noch genügend Zeit. Ich habe vier Minuten Redezeit, wie Sie wissen. Ich bin nicht so üppig ausgestattet. ({1}) - Meine Herren, das habe ich doch verstanden. Aber der Redefluss bzw. der Gedankenfluss geht verloren. Da also die Demokratie den öffentlichen Diskurs braucht, benötigt sie einen absoluten Überwachungsschutz für Journalisten. ({2}) Machen Sie sich bitte klar, dass es hier nicht um eine individuelle Wohltat für Medienvertreter geht. Vielmehr befassen wir uns mit nichts anderem als dem öffentlichen Interesse, Herr Kauder. Genau das ist in meiner Abwägung stärker zu berücksichtigen als das konkrete Strafverfolgungsinteresse, weil es um wichtige Belange der Demokratie geht. Hier geht es nämlich um eine kritische, mutige und aufklärerische Berichterstattung für eine lebendige Demokratie und eine freie Gesellschaft. In einem solchen Abwägungsprozess heiligt der Zweck nicht die Mittel. Vielen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Kauder das Wort.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Nešković, Sie haben versucht, den Eindruck zu erwecken, als ob ein Lauschangriff gegen Journalisten zulässig wäre. Dies ist nicht richtig. Wie sich aus § 100 c Abs. 6 der Strafprozessordnung ergibt, ist der Lauschangriff - weil es sich um einen sehr intensiven Eingriff in Persönlichkeitsrechte handelt - gegen alle Berufsgeheimnisträger, egal ob privilegiert oder nichtprivilegiert, nicht zulässig. ({0}) Daran sehen Sie, Kollege Nešković, dass es sehr gut ist, wenn man differenzierte Systeme erst einmal durchleuchtet, bevor man pauschal meint, Journalisten hätten keinen Schutz. Ich habe schon erwähnt, dass die Schutzrechte der Journalisten im Vergleich zum früheren Recht verbessert worden sind. § 100 h der Strafprozessordnung, in dem eine Abwägung zwischen dem Grundrecht auf Pressefreiheit und dem Interesse an der Aufdeckung von Straftaten nicht vorgesehen war, gibt es nicht mehr. Stattdessen gibt es jetzt § 160 a Abs. 2 der Strafprozessordnung. Diese Vorschrift bedingt eine Abwägung zwischen den Interessen des Journalisten und dem Interesse an der Aufdeckung von Straftaten. Ich bitte außerdem, zur Kenntnis zu nehmen, dass selbst im Verstrickungsfall, wenn also ein Journalist einen Dritten anstiftet oder Beihilfe leistet, Geheimnisverrat zu begehen, diese Abwägungslehre einschlägig ist. Damit haben wir ein differenziertes System. Ihre Ausführungen werden dem nicht gerecht. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön, zur Erwiderung.

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, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kauder, dadurch, dass ein Gesetz, das vorher schlecht war, ein wenig besser gemacht wird, wird es noch nicht gut. Uns geht es darum, in diesem Bereich einen umfassenden Schutz sicherzustellen. Wenn es so wäre, wie Sie es eben gesagt haben - wir werden in den Ausschüssen Gelegenheit haben, darüber genau und differenziert zu diskutieren -, dann müssten Sie, zumindest was die Journalisten betrifft, dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen. Wozu brauchen Sie denn eine Differenzierung, wenn Sie der Meinung sind, dass bereits absoluter Schutz besteht? ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Joachim Stünker für die SPD-Fraktion. Wolfgang NeškoviæWolfgang Nešković

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir sollten die Beratungen im Ausschuss durchführen. Dort können wir die Argumente noch einmal austauschen. Herr Kollege Kauder hat vollkommen recht: Wir haben, was den Lauschangriff, also den schwerwiegendsten Eingriff angeht, die 1998 gefundene Regelung geändert und für den absoluten Schutz aller Berufsgeheimnisträger gesorgt. ({0}) Lassen Sie mich zu dem vorliegenden Gesetzentwurf kommen. Frau Leutheusser-Schnarrenberger, es tut mir leid, aber der Gesetzentwurf ist überflüssig. Er ist deshalb überflüssig, weil wir - darauf hat der Kollege Kauder bereits hingewiesen - alle Fragen, die Sie wieder aufgeworfen haben, nach einem jahrelangen Erörterungsprozess im Jahr 2007 beantwortet haben und schließlich zu einem ausgewogenen System gekommen sind. Daher können Sie nicht erwarten - denn neuere rechtstatsächliche Erkenntnisse hat es seitdem nicht gegeben -, dass wir Ihrem Gesetzentwurf nach den Beratungen zustimmen werden. Der Gesetzentwurf ist weiterhin überflüssig, weil die Gesamtregelung, die wir getroffen haben - das gilt insbesondere im Hinblick auf § 160 a StPO -, gegenwärtig beim Bundesverfassungsgericht beklagt wird. Das heißt, wir sind in einem schwebenden Verfahren, in dem das Bundesverfassungsgericht diese Vorschrift überprüfen soll. Genau in diesem Moment kommen Sie und sagen: Erlasst doch eben eine neue Vorschrift und macht das, was ihr damals abgelehnt habt! - Frau LeutheusserSchnarrenberger, wie Sie wissen, schätze ich Sie sehr; aber mir erschließt sich nicht ganz, warum Sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen solchen Gesetzentwurf vorlegen. Denn das Bundesverfassungsgericht hat in der beantragten einstweiligen Anordnung hierzu ausdrücklich Stellung genommen - daher lassen wir das so, wie es ist, und warten die Entscheidung in der Hauptsache ab -: … würde für sämtliche in § 53 StPO genannten Zeugnisverweigerungsberechtigte ein absolutes Beweiserhebungs- und -verwertungsverbot bestehen, könnte dies dazu führen, dass zahlreiche Ermittlungsmaßnahmen nicht durchgeführt werden dürften. Dies könnte zur Folge haben, dass die Aufklärung gewichtiger Straftaten nicht möglich wäre, weil einzelne Ermittlungsmaßnahmen von vornherein nicht ergriffen oder erlangte Erkenntnisse nicht verwertet werden dürften. Genau so ist es. Daher kann ich nur sagen: Warten wir die Entscheidung ab, die uns das Verfassungsgericht in Karlsruhe sicherlich in diesem Jahr servieren wird. Das war die formelle Seite. Wir können Ihnen, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, aber auch inhaltlich nicht folgen; denn das, was Sie in den Gesetzentwurf geschrieben haben, ist mehr als das, was Sie hier vorgetragen haben. Das geht weit über das hinaus, was mit einer wirksamen Kriminalitätsbekämpfung überhaupt noch vereinbar ist; denn Sie verlangen ein absolutes Beweiserhebungs- und Verwertungsverbot für alle Berufsgeheimnisträger in § 53 Abs. 1 Nr. 3 Strafprozessordnung. Nun lese ich Ihnen einmal vor, wer dort alles aufgeführt ist: Das sind Rechtsanwälte, Patentanwälte, Notare, Wirtschaftsprüfer, vereidigte Buchprüfer, Steuerberater, Steuerbevollmächtigte, Ärzte, Zahnärzte, psychologische Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, Apotheker, Hebammen und Journalisten. All diesen Berufsgruppen wollen Sie das Privileg eines absoluten Verbots zukommen lassen. Das kann doch eigentlich auch rechtspolitisch nicht Ihr Ernst sein. Ich kann, da Sie die gelb-schwarze Ehe wieder an die Wand malen, dazu nur sagen: Viel Spaß, falls Sie, Herr Kollege Gehb, demnächst mit der FDP Rechtspolitik machen sollten! Wie das im Ergebnis zusammengehen soll, weiß ich nicht. ({1}) - Das genau ist der Punkt. Da wünsche ich Ihnen in der Tat viel Spaß. Worum geht es denn eigentlich? Es geht darum, dass diese Personen nicht Beschuldigte sind, sondern aufgrund einer bestimmten beruflichen Tätigkeit Erkenntnisse bekommen und diese Erkenntnisse wichtig sind, um schwerste Straftaten aufzuklären. Da haben wir - das hat auch Herr Kauder gesagt - eine Abwägung vorgenommen und gesagt, dass nur bei erheblichen Straftaten Ermittlungen vorgenommen werden dürfen. Sie wollen doch nicht im Ernst sagen, dass der Staat schwerste Straftaten dann nicht aufklären darf, wenn es sich um Erkenntnisse von Apothekern und Hebammen handelt, weil diese wegen des ausgeübten Berufes einen besonderen Vertrauensschutz hätten. Es tut mir leid, das ist mit meinem Verständnis von Rechtsstaat nicht in Übereinstimmung zu bringen. Das kriege ich nicht auf die Reihe. ({2}) Daher werden wir Ihnen nicht folgen können. Dann machen Sie etwas, was nicht ganz redlich ist. Bei der ganzen Diskussion werden die weiteren Bestimmungen der Strafprozessordnung - Herr Kauder hat es abstrakt-generell gemacht - gar nicht mehr genannt, zum Beispiel § 97 der Strafprozessordnung, in dem ein umfassendes und umfangreiches Beschlagnahmeverbot geregelt ist. So dürfen genau bei diesen Berufsgeheimnisträgern bestimmte Papiere, die das Vertrauensverhältnis, um das es hier geht, betreffen, gar nicht beschlagnahmt werden. Der Staat darf also in dieses Vertrauensverhältnis gar nicht eingreifen. Wenn Sie sich nicht das Gesamtsystem der Strafprozessordnung anschauen, sondern nur eine Vorschrift herausnehmen, dann kommen Sie in eine mächtige Schieflage. Ich will über Ihren Vorschlag nicht länger als notwendig reden. Es kommt mir so vor, als ob Sie Klientelpolitik betreiben würden. Es kommt mir so vor, als ob Sie auf einen Zug aufspringen wollten, wie wir es im vorigen Jahr erlebt haben. Damals gab es eine gewisse Hysterie und die Befürchtung, wir wollten alle Menschen in diesem Land abhören und ausforschen. ({3}) In diesen Kontext passte der Entwurf gut hinein. Ich kann Ihnen nur sagen: In der Praxis und bei all denen, die in der Strafrechtspflege tätig sind - angefangen bei der Polizei über die Staatsanwaltschaften bis hin zu den Gerichten -, werden Sie mit diesem Vorschlag nicht reüssieren können. Darum werden wir ihn nicht übernehmen. Schönen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Montag, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wird Sie nicht verwundern, aber ich sage es trotzdem: Wir Grüne teilen die Stoßrichtung des Gesetzentwurfs der FDP. Ich will zu der Debatte einiges sagen und mich zuerst an Sie, Herr Kollege Kauder, wenden. Sie haben davon gesprochen, dass es sich der Sache nach - nach Goltdammer’s Archiv, aber auch sonst ist es richtig - um einen flankierenden Schutz von Zeugnisverweigerungsberechtigten handelt. Das ist richtig. Das führt mich zu einem Gedanken, der hier noch nicht angesprochen worden ist, den ich aber für einen zentralen halte. Stellen Sie sich vor, es gibt ein Verfahren gegen einen Beschuldigten, und in der Hauptverhandlung wird von der Staatsanwaltschaft oder auch von der Verteidigung - egal - ein Zeuge in den Zeugenstand berufen, der zu den zeugnisverweigerungsberechtigten Personen gehört, und zwar ohne Unterscheidung. Dann fragt das Gericht: Was wissen Sie? - Im Rahmen des Zeugnisverweigerungsrechts - die Einschränkung ist wichtig; sie gilt für alle - braucht er nichts zu sagen. Die Hebamme braucht nichts zu sagen und auch nicht der Apotheker. Da sind der Apotheker und die Hebamme genauso geschützt wie der Geistliche und der Abgeordnete Kauder. ({0}) - Nicht dazwischenschreien! - Da muss also - das ist doch klar - das Strafverfolgungsinteresse des Staates zurückstecken. Die volle Ermittlung des Sachverhalts ist nicht möglich, weil im Gesetz gesagt wird: Alle Zeugnisverweigerungsberechtigten haben im Rahmen ihres Zeugnisverweigerungsrechts ein volles Aussageverweigerungsrecht. Sie regeln in § 160 a StPO im Rahmen des flankierenden Schutzes von Zeugnisverweigerungsberechtigten die Ermittlungsmaßnahmen, die gegen genau diese zeugnisverweigerungsberechtigten Personen ergriffen werden, um Erkenntnisse zu gewinnen, die dazu führen, dass die Zeugen bei Gericht nicht mehr gebraucht werden, weil die Erkenntnisse im Ermittlungsverfahren über Abhören und ähnliche Maßnahmen der Polizei gewonnen worden sind. Wenn der flankierende Schutz geringer ausgestaltet wird als der Schutz in der Hauptverhandlung, dann ist das faktisch eine Umgehung des vollen Schutzes in der Hauptverhandlung. ({1}) Aus diesem systematischen Grund sage ich Ihnen: Beim Zeugnisverweigerungsrecht geht es - auch bei der Hebamme - nicht um irgendwelche Dinge, sondern im Kern um das Vertrauensverhältnis der Gesprächsbeteiligten, sei es ein Gespräch beim Steuerberater oder beim Apotheker. Die Betreffenden sollten unserer Meinung nach so weit, wie das Zeugnisverweigerungsrecht reicht, auch bei Strafverfolgungsmaßnahmen, bei denen sie ja nur Betroffene und keine Beschuldigten sind, geschützt werden. Aus diesen Gründen, die sehr wohl eine verfassungsrechtliche Grundlage haben, plädieren wir für einen vollen, gleichmäßigen und umfassenden Schutz auch im Rahmen des § 160 a StPO. ({2}) - Herr Kollege Kauder, da meine Redezeit fast abgelaufen ist, will ich Ihre Zwischenfrage, auch wenn sie gestattet würde, jetzt nicht mehr zulassen. ({3}) - Die verfassungsrechtliche Grundlage ist der Schutz des Vertrauens des Mandanten, Klienten oder Patienten in bestimmten Berufen, ({4}) von denen wir im Rahmen der §§ 52 und 53 StPO gesagt haben, dass wir bereit sind - ({5}) - Hören Sie mir doch zu! Ich sage Ihnen: Der Deutsche Bundestag hat entschieden, dass die Zeugnisverweigerungsberechtigten in der Hauptverhandlung keine Aussage machen müssen. Damit wird die Strafverfolgung gestört. Das ist ein Hindernis bei der vollen Ermittlung der Wahrheit. Das nehmen wir hin, das befürworten wir sogar, ({6}) weil das materieller Rechtsstaat ist. Dieser materielle Rechtsstaat muss sich auch im Rahmen des § 160 a StPO bewahrheiten. Deswegen stehen wir in der Tendenz hinter dem Gesetzentwurf der FDP. Aber leider muss ich sagen, Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger: Ich befürchte, es wird in dieser Legislaturperiode weder zu einer sachlichen Beratung Ihres Gesetzentwurfs noch zu einer positiven Entscheidung kommen. Aber vielleicht gelingt uns das nach dem September 2009. Danke. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die erkennbaren Interessen für ergänzende Wortmeldungen können unter den Beteiligten ganz offenkundig auch während der Ausschusssitzungen ausgetauscht werden, ({0}) sodass ich mit diesem freundlichen Einvernehmen die Aussprache heute schließe. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/11170 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Darüber gibt es wohl zumindest schon jetzt Einvernehmen. - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 5 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zum Abbau bürokratischer Hemmnisse insbesondere in der mittelständischen Wirtschaft ({1}) - Drucksache 16/10490 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) - Drucksache 16/11622 Berichterstattung: Abgeordneter Ernst Burgbacher - Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/11623 Berichterstattung: Abgeordnete Kurt J. Rossmanith Lothar Mark Ulrike Flach Roland Claus Alexander Bonde Auch hierzu soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung eine halbstündige Aussprache stattfinden. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Dr. Michael Fuchs für die CDU/ CSU-Fraktion. ({4})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Bürokratie kostet Zeit und Geld. Beides sind entscheidende Faktoren für die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes. Deswegen haben sich die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen vorgenommen, die Bürokratie so weit wie möglich abzubauen. Damit helfen wir den Firmen direkt, Arbeitsabläufe effizienter zu gestalten und kostensparender zu arbeiten. Gerade in der jetzigen Phase, in dieser Krisenphase, ist Bürokratieabbau besonders wichtig, weil das den Staat kein Geld kostet; wir haben schon genügend staatliche Programme aufgelegt. Deswegen sollten wir noch mehr Wert auf einen beschleunigten Bürokratieabbau legen. ({0}) Es geht heute um das Dritte Mittelstandsentlastungsgesetz. Es gehört zu den Maßnahmen des Regierungsprogramms für Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung, das wir im Frühjahr 2006 gestartet haben. Mit der Umsetzung dieses Programms wurde erstmals eine standardisierte Methode für Bürokratieabbau eingeführt. Das ist genau das Richtige. Wir haben den Normenkontrollrat gegründet, und dieser hat Wirkung gezeigt, in vielerlei Hinsicht: Er hat sämtliche Gesetzentwürfe geprüft und die Bürokratiekosten einiger Entwürfe deutlich gesenkt. Ich erinnere an die Diskussion, die wir bei der Unternehmensteuerreform geführt haben. Dabei hat uns der Normenkontrollrat mit Sicherheit geholfen. Wir haben darüber hinaus ein Bündel von über 300 Informations- und Dokumentationspflichten abgeschafft und damit eine Verwaltungsvereinfachung erreicht. Das alles sind richtige und wichtige Maßnahmen. Die Vereinfachungen zeigen spürbar Wirkung. Wir sind mittlerweile bei einem Entlastungsvolumen von circa 3,5 Milliarden Euro angekommen. Auf das einzelne Unternehmen bezogen ist das immer noch nicht das, was wir uns vorstellen, ({1}) aber wir sind auf dem richtigen Weg. ({2}) Wir haben uns vorgenommen, dass wir bis zum Ende dieser Legislaturperiode ein Volumen von 7 Milliarden Euro erreichen. Das ist schon was. Aber auch das ist noch nicht das, was wir uns vorgestellt haben. Einiges wird noch kommen. Mit dem Dritten Mittelstandsentlastungsgesetz gehen wir eine Reihe von Maßnahmen an, die vor allen Dingen die kleineren Betriebe betreffen. Die Handwerkszählung wird vereinfacht; das kann online gemacht werden. 460 000 Betriebe werden entlastet. Wir erzielen Kostenersparnis auch im Gewerberecht. Circa 70 Millionen Euro werden eingespart. Das sind beträchtliche Summen, aber es könnte noch mehr sein. Mir liegt eine Menge daran, dass wir noch weiter vorankommen. Wir wissen, wie schwierig das ist. Wolfgang Clement - ich kann ihn völlig unbefangen zitieren - hat einmal davon gesprochen, dass Bürokratieabbau so etwas Ähnliches wie ein Häuserkampf sei, und er hat recht. Wir merken, wie schwierig das ist. Deswegen bin ich dem Bundeswirtschaftsminister und besonders dem Kollegen Schauerte sehr dankbar, dass sie diesen Kampf Haus für Haus permanent auf sich nehmen und die einzelnen Ressorts immer wieder anspornen, noch mehr tätig zu werden. ({3}) Wichtig ist, dass wir noch intensiver über sämtliche Statistik- und Dokumentationspflichten nachdenken. Vieles ist heute in irgendeiner Form digital vorhanden. Ob es richtig genutzt wird, ist bis jetzt aber nicht deutlich geworden. Gerade hier liegt eine Menge Potenzial, das wir noch überprüfen müssen. Das gilt für alle Ministerien. Das gilt natürlich besonders für das BMF. Dort ist die Bereitschaft zum Bürokratieabbau bis jetzt nicht so toll gewesen. 60 Prozent der Weltsteuerliteratur kommt immerhin aus Deutschland. Das ist ein Rekord, auf den wir nicht stolz sein sollten. Das müssen wir angehen. Da müssen Vereinfachungen her. Das ist machbar und leistbar. Das werden wir in dieser Legislaturperiode vielleicht nicht mehr schaffen, aber spätestens in der nächsten intensiv angehen müssen. Das führt dann auch dazu, hoffe ich, dass wir weitere technische Möglichkeiten schaffen. Wir sind ja sowieso auf dem digitalen Sektor unterwegs. Morgen wird über „Elena“ diskutiert; das ist sicherlich ebenso richtig wie die Gesundheitskarte. Die Bundesgesundheitsministerin ist dabei, eine vernünftige Gesundheitskarte zu schaffen. Wir werden den elektronischen Bürgerausweis bzw. die elektronische Bürgerkarte weiterentwickeln: Es geht um die elektronische Signatur etc. Das alles sind Maßnahmen, die am Ende des Tages viel Bürokratie auch für die Bürgerinnen und Bürger beseitigen. Das wollen wir, und das sollten wir auch angehen. ({4}) Wir haben uns am Anfang dieser Legislaturperiode ein ehrgeiziges Ziel gesetzt, nämlich eine Senkung der Bürokratielasten um 25 Prozent bis 2012 zu erreichen. Ich bin eigentlich ganz optimistisch, dass uns dies gelingen kann. Wenn wir gemeinsam - da ist jede Fraktion in diesem Deutschen Bundestag gefordert - auf diesem Gebiet weitermachen und auch lieb gewonnene Dinge aufgeben, dann haben wir, wie ich glaube, eine gute Chance, dieses Ziel zu erreichen. Ich will ein weiteres Beispiel nennen. Hier sehe ich gerade in der jetzigen Krise Potenziale. Es ist richtig, dass diese Bundesregierung in der jetzigen Krise ein großes Investitionsprogramm plant. Dieses Investitionsprogramm muss aber so schnell wie möglich sprichwörtlich auf die Straße gebracht werden. Wenn es uns nicht gelingt, Verfahren zu finden, damit die Mittel, die jetzt freigesetzt werden, auch investiert werden können, dann greift das Programm zu spät. ({5}) Das ist dann auch unsere Schuld. Deshalb sind wir hier gemeinsam gefordert, Lösungen zu finden. Ich glaube, dass es deswegen notwendig sein wird, uns noch einmal mit dem Vergaberecht zu beschäftigen. Viele Verfahren dauern aufgrund des Vergaberechts schlicht viel zu lange. ({6}) Es nützt uns gar nichts, wenn die Mittel von den Kommunen dann im Jahre 2010 oder 2011 abgerufen werden. Sie müssen jetzt eingesetzt werden; denn jetzt ist die Krise da, und nur jetzt helfen solche Maßnahmen. Lassen Sie uns deswegen bitte gemeinsam daran arbeiten, das Vergaberecht zu entschlacken und zu verschlanken. Ich glaube, dass wir gerade auf diesem Sektor Erfolge haben, dass wir auf diesem Sektor gut zusammengearbeitet haben. Ich bin allen, die dabei mitgemacht haben, dankbar. Ich wäre froh - ich bin ja Berichterstatter für diesen Bereich, seitdem ich im Deutschen Bundestag bin -, wenn wir gemeinsam weitere Maßnahmen auf den Weg bringen würden. Lassen Sie uns dafür kämpfen. Wir können so Unternehmen entlasten. Wir können so die Bürgerinnen und Bürger entlasten. Wir setzen damit Kräfte frei, die dieses Land gerade in dieser Situation braucht. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Ernst Burgbacher, FDP-Fraktion. ({0})

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Dr. Fuchs, Sie sind sicher auf einem richtigen Weg. Es lässt sich nicht leugnen, dass die Richtung stimmt. Allerdings wird das Ziel, den Mittelstand wirklich zu entlasten, durch den vorliegenden Gesetzentwurf nur in sehr begrenztem Maße erreicht. Wir werden diesem Gesetzentwurf zustimmen, auch wenn wir uns deutlichere Entlastungen versprochen hätten. ({0}) - Ja, wir stimmen natürlich zu; denn die Richtung stimmt, wie ich gesagt habe; aber Sie hätten viel mutiger sein müssen, wenn Sie den Unternehmen tatsächlich spürbar und nachhaltig helfen wollen. Eigentlich legen Sie einen Placebogesetzentwurf vor. Was darin steht, ist eigentlich keine so große Debatte wert. Gerade jetzt, Dr. Fuchs, wäre doch eine deutliche Entlastung des Mittelstandes unabdingbar notwendig. Diese erreichen Sie mit diesem Gesetzentwurf aber ganz sicherlich nicht. ({1}) Statt sich gegenseitig mit konjunkturellen Strohfeuern zu überbieten - das erleben wir gerade im Augenblick -, müssten Sie Maßnahmen ergreifen, die den Staat nichts kosten, aber ganz erhebliche Erleichterungen für die Unternehmen mit sich bringen. Wenn Sie wirklich Bürokratie abbauen würden, wenn Sie die Unternehmen wirklich über die ganze Palette der politischen Felder entlasten würden, dann hätte das zwei Konsequenzen: zum einen, dass die Unternehmen Kosten sparen, zum anderen, dass Unternehmen in unserem Land schneller investieren, wie Sie es ja angesprochen haben, und ausländische Unternehmen - auch das ist nicht zu unterschätzen - nicht mehr so oft an Doppel- oder Mehrfachzuständigkeiten scheitern, wie es heute leider der Fall ist. Sie sprechen in Ihrem Gesetzentwurf von einer Entlastung in Höhe von 97 Millionen Euro. Diese Zahl scheint mir, wenn ich alles nachrechne, viel zu hoch gegriffen. Ich will diesen Betrag auf der einen Seite aber überhaupt nicht kleinreden. Auf der anderen Seite sollten Sie das jedoch einmal mit den Bürokratiekosten vergleichen, die bei der Berechnung und Abführung von Steuern und Sozialabgaben entstehen. Allein dort kommen wir auf einen Betrag von jährlich circa 6 Milliarden Euro. Schon diese Diskrepanz zeigt, dass Sie beim Bürokratieabbau viel zu mutlos sind. Wie Sie wissen, liegt das natürlich auch an Schwierigkeiten innerhalb der Koalition - was uns aber keinesfalls tröstet. ({2}) Sie haben Vorschläge von verschiedenen Seiten auf dem Tisch. Der Industrie- und Handelskammertag hat eine Liste von 32 Maßnahmen vorgelegt, die vom Arbeits- und Sozialrecht über das Handels- und Gewerberecht bis zum Umwelt- und Vergaberecht reichen. Von der mittelständischen Wirtschaft werden Regulierungsmaßnahmen bei der Sozialversicherung, der Ausbau elektronischer Meldeverfahren sowie der Abbau von Meldepflichten allein zu statistischen Zwecken vorgeschlagen. Leider herrscht in Ihrem Gesetzentwurf auf allen diesen Gebieten weitgehend Fehlanzeige. Herr Dr. Fuchs, ich will auf das von Ihnen angesprochene Vergaberecht eingehen. Dort müssen wir tatsächlich einiges tun. Wir müssen aber aufpassen, dass wir das Vergaberecht nicht völlig schleifen; denn es ist notwendig. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Beispiel nennen, das wir bereits im Ausschuss für Wirtschaft und Technologie angesprochen haben. Die verbindliche Einführung von Präqualifizierungssystemen würde gerade dem Handwerk und dem Mittelstand ganz wesentliche Erleichterungen bringen. Deswegen werden wir auf diesem Punkt beharren. Wir müssen solche Systeme einführen, um den kleinen Unternehmen in Bezug auf ihre Kosten zu helfen. Hier bitte ich Sie um Unterstützung. Wir haben das auch im Rahmen der Beratungen beantragt. Leider haben Sie es dort abgelehnt. ({3}) Mit Ihren Mittelstandsgesetzen haben Sie zwar einiges auf den Weg gebracht. Sie meinen, das seien große Erfolge. Im Gegensatz dazu haben Sie aber Gesetze geschaffen, die einen viel größeren Bürokratieaufwand mit sich bringen. Ich nenne zum Beispiel das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das zu erheblichen Mehrkosten führt, ohne die beabsichtigten Ziele auch nur annähernd zu erreichen. Ich nenne den Gesundheitsfonds, der die Qualität des deutschen Gesundheitswesens erheblich schwächt, gleichzeitig aber zu deutlich höheren Beiträgen führt. Dass Sie diese höheren Beiträge kurz nach Inkrafttreten unter Einsatz von Steuermitteln wieder reduzieren müssen, ist ein politischer Skandal. Das werden wir immer wieder anmahnen. ({4}) Ich nenne die Erbschaftsteuerreform, die viele Unternehmen dazu zwingt, mit erheblichen Kosten Unternehmensformen und Nachfolgeregelungen zu ändern, um den Bestand des Unternehmens zu gewährleisten. Dieses Geld würde gerade jetzt an anderer Stelle dringend gebraucht. Mit all diesen Gesetzen haben Sie erheblich mehr Bürokratie eingeführt. Sie sollten endlich mutiger an die Sache herangehen. Sie schaffen jetzt einige Maßnahmen. Diesen werden wir zustimmen. Das ist aber keinesfalls die Zustimmung zu einem großen Kurs. Da brauchen wir etwas ganz anderes. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Reinhard Schultz ist der nächste Redner für die SPDFraktion.

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bürokratieabbau ist immer ein sperriges Thema; denn lieb gewordene Regeln werden natürlich von denjenigen, die sie erfunden haben, und vor allen Dingen von denjenigen, die sie verwalten, mit Zähnen und Klauen verteidigt, sodass andere sich schwertun, sie begründet abzuschaffen. Deshalb ist Bürokratieabbau auch immer ein Bohren dicker Bretter und nicht auf einen Schlag zu erledigen. Die Gesetzgebungsgeschichte allein dieser Wahlperiode zeigt - heute behandeln wir den Entwurf eines Dritten Mittelstandsentlastungsgesetzes -, dass man imReinhard Schultz ({0}) mer wieder neue Anläufe braucht, um etwas zu erreichen. Man kann immer nur das erledigen, worüber man im Augenblick Konsens erzielt hat. Anschließend geht man den nächsten Schritt. Herr Burgbacher, es ist richtig, dass vom DIHK 32 Maßnahmen vorgeschlagen wurden. Sie sind von der Qualität her natürlich sehr unterschiedlich. Mit dem jetzt zu verabschiedenden Gesetzentwurf werden wir allerdings 65 Maßnahmen für die Wirtschaft schaffen - und damit mehr, als der DIHK gefordert hat. Eine rein quantitative Betrachtung zeigt also, dass wir deutlich auf der Gewinnerseite sind. ({1}) Ich gebe natürlich zu, dass es weitere Möglichkeiten gibt. Der Normenkontrollrat benennt in seinem Bürokratieabbaubericht 338 mögliche Maßnahmen, die zu einer Entlastung bei den Bürokratiekosten in Höhe von 7,1 Milliarden Euro führen. Diese Koalition hat bereits Bürokratielasten in einem Umfang von 6,4 Milliarden Euro abgebaut. Das ist angesichts der relativ kurzen Zeit eine gute Ausbeute. Wir brauchen an dieser Stelle also nicht allzu sehr bescheiden zu sein. Im Vergleich zum Ersten Mittelstandsentlastungsgesetz werden mit diesem Mittelstandsentlastungsgesetz etwas größere und sperrigere Oschis - um es einmal westfälisch auszudrücken - gehoben. Ich nenne beispielsweise den Bereich der Handwerkszählung, wo ganz erheblich Kosten eingespart werden. Es werden auch Belastungen, die sich im Alltag von Unternehmen ergeben, abgebaut. Wir haben zahllose Verordnungen, die ausschließlich irgendwelchen Erhebungs- und Anmeldungszwecken dienen, schlicht und einfach ersatzlos gestrichen. Wir haben Aufbewahrungsfristen beispielsweise für Makler und Bauträger deutlich verkürzt. Durch Anhebung der Körperschaftsteuerfreibeträge haben wir auch im materiellen Bereich etwas für die Unternehmen getan. Ich nenne in diesem Zusammenhang auch die Pauschalierung der Erstattung des Mutterschaftsgeldes an die Krankenkassen. Es handelt sich um ein breites Feld von Maßnahmen, mit denen Bürger und Wirtschaft entlastet werden. Das sollte man nicht ohne Not kleinreden. Natürlich bleibt noch eine Menge zu tun. Laut Bürokratieabbaubericht haben wir in Deutschland eine bürokratische Belastung in Höhe von insgesamt 47,6 Milliarden Euro. Das ist eine erschreckend hohe Zahl. Davon entfallen 22,5 Milliarden Euro auf Vorschriften, die auf nationaler Ebene vom Gesetz- oder Verordnungsgeber erlassen wurden. 25,1 Milliarden Euro entfallen auf EU-Vorschriften. Auf der nationalen Ebene des Bürokratieabbaus haben wir erhebliche Fortschritte gemacht; ich habe gerade darüber berichtet. Ich bin zuversichtlich, dass wir bis 2009 einen Abbau der Bürokratiebelastung in Höhe von 12,5 Prozent und bis 2011 in Höhe von 25 Prozent locker erreichen. Schwierig ist der Bürokratieabbau auf europäischer Ebene, sozusagen ein Fall für Stoiber. Man muss einmal schauen, wie er das Problem löst. Man kann noch nicht viel erkennen. Seitdem man dort mit dem Bürokratieabbau angefangen hat, sind mit Blick auf Deutschland Bürokratiekosten in Höhe von 0,5 Milliarden Euro vermieden worden. Das ist eine ganz andere Größenordnung im Vergleich zu dem, was wir auf nationaler Ebene erreicht haben. Wir sollten also einen größeren Schwerpunkt auf Europa legen; denn die europäische Gesetzgebung nimmt immer mehr zu, was wiederum mehr Bürokratiekosten verursacht. Dagegen kommen wir mit unserem Bürokratieabbau nicht an. Deswegen muss das deutsche Parlament zukünftig stärker einen Blick auf Europa werfen. Auch ich bin der Meinung, dass unnötiges Bremsen im Wirtschaftskreislauf das wirtschaftliche Wachstum hemmen und sich in einer konjunkturell schwierigen Lage erschwerend auswirken. Deswegen ist ständiger Bürokratieabbau immer auch ein Konjunkturprogramm; das ist gar keine Frage. Mit Blick auf unser neues Konjunkturprogramm bin ich als der SPD-Sachwalter des Vergaberechts damit einverstanden, bestimmte Schwellen anzuheben, um schneller Aufträge im Baubereich und in anderen Bereichen herauszugeben. Allerdings habe ich durchaus ein schlechtes Gewissen dabei. Denn das Abschaffen von Wettbewerb in bestimmten Bereichen führt nicht automatisch dazu, dass kleine und mittelständische Unternehmen die Hauptnutznießer dieser Vergaben sind. ({2}) Wenn die freihändige Vergabe direkt über den Tisch durch einen tiefen Blick ins Auge geregelt wird, dann gucken die meisten beteiligten Wirtschaftskreise in die Röhre. Deswegen muss man sich genau anschauen, wie man mit dieser Regelung im Rahmen der Umsetzung des Konjunkturprogramms umgeht. Überhaupt ist es so, dass wir nicht sagen können, die ideale Gesellschaft würde mit null Bürokratie auskommen. Wir verfolgen nämlich bestimmte politische Ziele. Wir wollen selbstverständlich Umweltschutz. Diesen erreichen wir aber nicht dadurch, dass wir Unternehmen freistellen, von Zeit zu Zeit zu melden, ob sie etwas in den Rhein oder in die Spree eingeleitet haben. Das wird man schon mit ordentlichen Nachweisen kontrollieren müssen. Man kann zwar darüber streiten, wie viele Steuereinnahmen der Staat braucht. Aber dass das Entrichten von Steuern über eine formal ordentliche Art und Weise in Form einer Steuererklärung oder in Form einer Steuerbilanz abzuwickeln ist, wird keiner - auch nicht Herr Fuchs - bestreiten. Die FDP sagt, das einfachste Steuerrecht, ein Steuerrecht ohne jeden Ausnahmetatbestand wäre das Ideale, weil dadurch Bürokratiekosten gespart würden, obwohl sie genau weiß, dass der größte Teil der Gesellschaft dann sofort auf die Barrikaden gehen und sagen würde: Das ist zutiefst ungerecht, weil unsere besondere Lebenssituation, weil die Situation meiner speziellen Branche usw. nicht hinreichend berücksichtigt worden ist und wir bei einer reinen Pauschalierung abgebügelt werden. Deswegen tun wir uns mit der Abwägung zwischen Vereinfachung und Steuergerechtigkeit ja so schwer. Das wird man nie auf einen Nenner bringen können. Auch bei der Diskussion über die Erbschaftsteuer ist die FDP nicht besonders ehrlich: Sie kritisiert die Erb21522 Reinhard Schultz ({3}) schaftsteuer, weil sie zu bürokratisch ist, obwohl sie sie eigentlich abschaffen will - das ist die eigentliche Linie der FDP. Wenn man es für einen gerechten Ansatz hält, dass der Staat bei hohen leistungslos erworbenen Vermögen zugreifen darf, zum Beispiel für Bildungszwecke, man aber Ausnahmen für den Unternehmensübergang schaffen will, ist das nicht ganz stimmig. Letzteres ist natürlich nicht ganz einfach. Dafür braucht man Nachweise, und das ist nun einmal bürokratisch; das ist doch gar keine Frage. Wir hätten auf die Ausnahmen auch verzichten können. Das wäre zwar völlig unbürokratisch, wirtschaftspolitisch aber Blödsinn gewesen. Das Gute ist eben manchmal mit Bürokratieaufwand verbunden. Das wird man nicht verhindern können. Es wäre wunderbar, wenn wir von den 47,6 Milliarden Euro, die in Deutschland für Bürokratie aufgewendet werden, 25 Prozent einsparen könnten. Dann blieben aber immer noch 75 Prozent, von denen der größte Teil wahrscheinlich völlig gerechtfertigt ist, da er zum Funktionieren des Gemeinwesens beiträgt. Eine Gesellschaft ohne jede Bürokratie ist nämlich eine anarchische Gesellschaft. Herzlichen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Sabine Zimmermann hat nun das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Bundesrepublik steht vor der tiefsten Wirtschaftskrise ihrer Geschichte. Wir hören täglich neue Hiobsbotschaften. Diese Wirtschaftskrise wird Hunderttausende kleine und mittlere Unternehmen treffen. Bereits im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Unternehmenspleiten auf fast 30 000. In der Mehrzahl handelte es sich um mittelständische Unternehmen. Für dieses Jahr wird ein Anstieg auf 35 000 vorhergesagt. Betroffen von den Unternehmenspleiten wäre auch eine halbe Million Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Meine Damen und Herren von der Großen Koalition, diese Zahlen sind eine Bankrotterklärung für die Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung. ({0}) Sie haben in der Vergangenheit nur auf den Export und die Kostensenkung bei den Unternehmen gesetzt und die Binnennachfrage sträflich vernachlässigt. Diesen Geist der gescheiterten Politik atmet auch dieses Dritte Mittelstandsentlastungsgesetz. Keiner hat etwas dagegen, wenn doppelte Meldepflichten abgeschafft werden sollen, wie dieser Gesetzentwurf es vorsieht. Wichtiger ist aber eine ausreichende Anzahl von Aufträgen für die Unternehmen. Gerade auf diesem Gebiet hat die Regierung ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Was soll das Dritte Mittelstandsentlastungsgesetz bewirken? Um durchschnittlich 30 Euro pro Jahr soll ein einzelnes Unternehmen in Deutschland entlastet werden. Ich frage Sie: Glauben Sie ernsthaft, dass die Unternehmen mit 30 Euro in die Lage versetzt werden, neue Arbeitsplätze zu schaffen bzw. vorhandene Arbeitsplätze zu sichern? Ich glaube das nicht. Nein, diese Regierung macht keine Politik, die der Mehrzahl der mittelständischen Unternehmen wirklich hilft. Das gilt auch für die aktuellen Maßnahmen. Stichwort: Kreditversorgung des Mittelstandes. 480 Milliarden Euro stellt die Bundesregierung dem Bankensektor mit dem Argument zur Verfügung, dass die Kreditversorgung der Wirtschaft dadurch am Laufen gehalten würde. Fakt ist: Die Zahl der Unternehmen, die Probleme haben, Kredite zu bekommen oder laufende Kredite zu verlängern, steigt. Am Montag beklagte ein Manager der staatlichen KfW-Bankengruppe, die Bundeskanzlerin kündige lautstark eine 15-Milliarden-Hilfe für den Mittelstand an, tatsächlich bleibe dieses Kreditprogramm wegen Konstruktionsfehlern aber weitgehend wirkungslos. Die Regierung hat es versäumt, die Binnennachfrage zu stärken. Die Krise trifft Deutschland deswegen stärker als die anderen EU-Staaten. Das ist in allen Blättern zu lesen und in allen Medienberichten zu hören. Um kleinen und mittleren Unternehmen zu helfen, muss die volkswirtschaftliche Nachfrage jetzt deutlich gestärkt werden. ({1}) Gemessen daran sind die Maßnahmen der Bundesregierung völlig unzulänglich und gehen in die falsche Richtung. Die Linke fordert ein Investitionsprogramm von mindestens 50 Milliarden Euro für Schulen, für einen ökologischen Wandel und die Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs. Dies würde zahlreiche neue Aufträge für kleine und mittlere Unternehmen bedeuten, und bis zu 1 Million Arbeitsplätze könnten so geschaffen werden. ({2}) Denn denken Sie daran: Der Mittelstand ist das Rückgrat unserer Wirtschaft. Das sagen auch Sie immer, Herr Schultz. In diesem Sinne: Überdenken Sie Ihre gesamte Mittelstandspolitik im Interesse der kleinen und kleinsten Unternehmen bei uns in Deutschland. Danke. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Kerstin Andreae ist die letzte Rednerin, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In diesem Gesetzentwurf steht im Prinzip nichts Falsches. ({0}) Wer hat etwas dagegen, wenn Sie Schausteller von der Verpflichtung, ein Umsatzsteuerheft zu führen, befreien oder die Anzeigenpflicht bei der Aufstellung von Automaten abgeschafft wird? ({1}) - Ja, das ist was. Wir freuen uns auch, dass Sie das machen. Aber ich sage Ihnen ganz ehrlich: Wer derartig kurz springt, bekommt die Zustimmung der Grünen nicht. Wir enthalten uns bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf. Sie springen beim Dritten Mittelstandsentlastungsgesetz absolut zu kurz. ({2}) Woran krankt das Maßnahmenpaket der Bundesregierung insgesamt? Wir beschließen jetzt das Dritte Mittelstandsentlastungsgesetz. Immer wieder fällt das Stichwort Normenkontrollrat, und immer wieder wird die Notwendigkeit genannt - wir alle sehen sie mehr oder weniger deutlich -, die Bürokratiekosten abzubauen. Aber das Problem ist doch, dass Sie hinsichtlich der Grundstruktur, der Architektur des Normenkontrollrates von Anfang an derartig vehemente Fehler im Hinblick auf Befugnisse und Zuständigkeiten, im Hinblick darauf, was der Normenkontrollrat wirklich prüft, gemacht haben. Er prüft ja nicht die Gesetzentwürfe, die von den Koalitionsfraktionen kommen, sondern nur die, die von der Regierungsbank kommen. ({3}) Er prüft keine Gesetze von vor 2007. Zu manchen Gesetzen bekommen wir gar nicht die Stellungnahme des Normenkontrollrates; das Stichwort Gesundheitsfonds ist gefallen. Die Erbschaftsteuerreform wurde dem Normenkontrollrat jetzt nur vorgelegt, weil wir es im Ausschuss beantragt und dafür Ihre Zustimmung bekommen haben. Die Grundarchitektur des Normenkontrollrates ist falsch. Das haben wir immer kritisiert; das kritisieren wir auch an dieser Stelle. ({4}) Sie sagen zu Recht, dass Bürokratieabbau ein sinnvolles Konjunkturpaket ist. Ja, das finde ich auch. Wenn wir uns anschauen, was andere Länder durch Bürokratieabbau für die Unternehmen tatsächlich gemacht haben, dann sieht man, dass sie deutlich mehr als wir machen. Schauen Sie sich einmal an, was die Niederlande und Österreich machen. Dort gibt es ganz andere Zielmarken und ganz andere Werte, die definitiv in einer Legislaturperiode erreicht werden. Sie haben fünf statt vier Jahre angesetzt, damit man nicht mehr selber dafür zuständig ist. Das macht kein anderes Land in der EU, nur Deutschland hat gesagt: Wir brauchen eine Legislatur plus ein Jahr, um den Bürokratieabbau um 25 Prozent zu erreichen. Das ist zu wenig; das ist zu kurz gesprungen. Ich rate Ihnen dringend, sich das einmal anzusehen. Ein Redner aus der Koalition - ich glaube, es war Herr Fuchs - hat auf das Verhalten der einzelnen Ressorts und die damit verbundenen Schwierigkeiten hingewiesen. In den Niederlanden gibt es das Prinzip, dass erstens die Bürokratieabbauziele in den Haushaltsplan integriert werden und dass zweitens die Minister einmal im Jahr im Plenum zu der Erreichung ihrer Ziele Stellung nehmen müssen. Dann wird Bürokratieabbau konkret. Dann kann man auch entscheiden, dass eine bürokratische Maßnahme sinnvoll ist. Ich stimme dem Kollegen Schultz zu, dass es zum Beispiel im Umwelt- oder Sozialbereich bürokratische Maßnahmen gibt, die notwendig sind. Aber hier Stellung zu beziehen und dies zu begründen, wäre sinnvoll. Das scheint mir eine sehr kluge Maßnahme zu sein, die die Niederlande gewählt haben. Ich empfehle Ihnen dringend, dies zu übernehmen. ({5}) Jetzt haben wir den Normenkontrollrat. Er hat im Sommer 2008 seinen ersten Jahresbericht geschrieben. Dort steht Folgendes: Die Bundesregierung muss so schnell wie möglich die Messung der bestehenden Bürokratiekosten abschließen und spätestens bis zum Herbst ein Gesamtkonzept zum Bürokratieabbau auf den Tisch legen. Damit war der Herbst 2008 gemeint und nicht der Herbst 2009. Ich frage mich: Wo ist denn dieses Gesamtkonzept? Wenn Sie dem Bürokratieabbau derartig die Fahne halten, wie Sie es tun, und es als konjunkturpolitische Maßnahme deklariert befürworten, dann legen Sie doch ein Gesamtkonzept vor, wie Sie sich das vorstellen, und zwar nicht in Form kleiner Trippelschritte wie in den Mittelstandsentlastungsgesetzen, sondern als ein großes, umfassendes Konzept, aus dem hervorgeht, wohin es mit dem Bürokratieabbau gehen soll. Dann wären wir auch dabei. Aber bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf können wir uns maximal enthalten. Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Mittel- standsentlastungsgesetzes. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 16/11622, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf der Drucksache 16/10490 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zwei- ter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen Kollegen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ih- ren Plätzen zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist der Gesetzentwurf angenommen. Präsident Dr. Norbert Lammert Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 d so- wie den Zusatzpunkt 1 auf: 6 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Lebenslagen in Deutschland - Dritter Armutsund Reichtumsbericht - Drucksache 16/9915 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Nationaler Strategiebericht - Sozialschutz und soziale Eingliederung 2008 bis 2010 - Drucksache 16/10138 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Nationaler Aktionsplan zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung 2003 bis 2005 Implementierungsbericht 2005 - Drucksache 15/5569 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Sozialbericht 2005 - Drucksache 15/5955 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard ScheweGerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Programm für ein selbstbestimmtes Leben ohne Armut - Eine Neuformulierung des Dritten Armuts- und Reichtumsberichtes - Drucksache 16/10654 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Haushaltsausschuss Zum Dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Aussprache eine halbe Stunde dauern. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Klaus Brandner, der für die Bundesregierung in dieses Thema einführt. ({5})

Klaus Brandner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003053

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Es trifft sich gut, dass diese Debatte über den Dritten Armuts- und Reichtumsbericht gerade in dieser Woche auf der Tagesordnung steht. Denn die Beschlüsse, die im Konjunkturpaket II für Familien mit niedrigen Einkommen gefasst wurden, stehen in der Tat in einem engen Zusammenhang mit den Ergebnissen dieses Berichts. Reden wir also zunächst über die Fakten. Fakt ist: Kinder sind in Deutschland vor allem dann einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, wenn sie in Haushalten von Arbeitslosen, Alleinerziehenden oder Zugewanderten groß werden. Zwar senken Sozialtransfers wie das Arbeitslosengeld II, das Kinder- und das Erziehungsgeld die Armutsrisikoquote von Haushalten mit Kindern erheblich, im Jahre 2005 um fast zwei Drittel, von 34 auf 12 Prozent - im europäischen Vergleich stehen wir deshalb recht gut da -, dennoch ist der Anteil zu hoch und zu Recht Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Im vergangenen Jahr wurde dazu vor allem über die Höhe der Kinderregelsätze für Grundsicherungs- und Sozialhilfeempfänger diskutiert. Sie wissen: Bisher wird der Regelsatz für Kinder vom Verbrauch eines Alleinstehenden abgeleitet. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat dazu eine Sonderauswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe - EVS - aus dem Jahre 2003 zum Konsum von Paaren mit einem Kind durchgeführt. Diese hat gezeigt, dass die Leistungen für Kinder im derzeitigen System mit zwei Altersstufen den statistisch ermittelten Verbrauchsausgaben entsprechen und zum Teil sogar darüber liegen. Differenziert man jedoch stärker nach dem Alter der Kinder, dann lässt sich erkennen, dass für Kinder zwischen 6 und 13 Jahren mehr verbraucht wird, als der bisherige Regelsatz von 60 Prozent des Eckregelsatzes abdeckt. Dieser Befund war für die Bundesregierung Anlass, unverzüglich zu handeln. Wir haben beschlossen, durch die Einführung einer dritten Altersstufe übergangsweise eine Anpassung bis zur nächsten turnusmäßigen Überprüfung der Regelsätze im Jahr 2010/2011 vorzunehmen. Die zusätzliche Altersstufe kann nun zusammen mit der Anpassung der Regelsätze entsprechend der Entwicklung des aktuellen Rentenwertes zum 1. Juli 2009 wirksam werden. Dabei gehen wir gegenüber den Vorjahren von einer deutlich höheren Anpassung bei den Renten aus. Haushalte im Hilfebezug nach SGB II, also der Bereich der Arbeitslosengeld-II-Bezieher, und Haushalte im Hilfebezug nach SGB XII, also Bezieher der Sozialhilfe, erhalten damit in der gegenwärtigen konjunkturell kritischen Phase zusätzliches Einkommen. Konkret geht es neben der Anhebung entsprechend der Erhöhung des allgemeinen Rentenwertes um 35 Euro mehr pro Monat für etwa 820 000 Kinder. Das ist für die betroffenen Haushalte, wie ich meine, eine spürbare Verbesserung. Darüber freuen wir uns. Darüber hinaus haben wir bereits zum 1. Januar dieses Jahres im Rahmen des Familienleistungsgesetzes das Schulbedarfspaket auf den Weg gebracht. Wir sagen: Kinder von Eltern mit geringem Einkommen dürfen gerade beim Bildungserwerb nicht benachteiligt werden. ({0}) Deshalb, meine Damen und Herren, erhalten bedürftige Schulkinder bis zum zehnten Schuljahr ab sofort jeweils zu Schuljahresbeginn 100 Euro. ({1}) - Darüber können wir noch reden. ({2}) Schließlich ist an einem Ergebnis des vorliegenden Berichts nicht vorbeizukommen: Die Chance, aus eigener Arbeit ein existenzsicherndes Einkommen zu erzielen, ist und bleibt der Königsweg zur Bekämpfung von Armut. Vor Armut schützen kann Erwerbstätigkeit aber nur dann, wenn auch existenzsichernde Löhne gezahlt werden und wenn aufgrund der Erwerbsarbeit kein Bedarf mehr an zusätzlichen sozialen Leistungen entsteht. Deshalb wollen wir Mindestlöhne einführen. Die Vereinbarungen der letzten Wochen haben uns, wie ich finde, ein gutes Stück vorangebracht. Durch die Aufnahme von sechs weiteren Branchen in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz und dadurch, dass für Leiharbeiter im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz eine Lohnuntergrenze eingezogen wird, werden über 1,7 Millionen Beschäftigte mehr als bisher vor Dumpinglöhnen geschützt. ({3}) Meine Damen und Herren, für die Bekämpfung von Armut gilt das Gleiche wie für den Weg durch die gegenwärtige Krise: Es bedarf einer Richtung, klarer Ziele und der Mobilisierung aller Kräfte. Die Bundesregierung leistet dazu ihren Beitrag - einen guten Beitrag, wie ich finde. Davon bin ich überzeugt. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dr. Heinrich Kolb, FDP-Fraktion, ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär Brandner, ich finde, der Dritte Armuts- und Reichtumsbericht und die im Zusammenhang damit stehenden Aktions- und Strategieberichte werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Das Kernproblem besteht meiner Meinung nach darin, dass entscheidende Begrifflichkeiten nicht geklärt sind. Das führt im Ergebnis dazu, dass die Armutsdebatte nicht objektiv, sondern sehr politisiert geführt wird. Den Betroffenen hilft das aber nicht. Letztlich - das muss man ganz deutlich sagen - ist der Dritte Armuts- und Reichtumsbericht ein Dokument des Scheiterns von zehn Jahren sozialdemokratischer Sozialpolitik. ({0}) Der Reihe nach: Es ist der Bundesregierung bis heute nicht gelungen, ein stimmiges Konzept zur Definition des Armutsbegriffes vorzulegen. Damit fehlt die Basis für eine präzise Auseinandersetzung mit diesem Thema. Durch unterschiedliche Definitionen von Armut - es gibt eine regelrechte Armutsskala - wird eine sachliche Armutsdebatte erschwert. Im Folgenden nenne ich Ihnen beispielhaft Nettowerte für eine alleinstehende Person: Das soziokulturelle Existenzminimum 2008 lag bei 7 140 Euro. Der Steuerfreibetrag 2008 betrug, analog zum Existenzminimum, 7 664 Euro. Der durchschnittliche ALG-II-Zahlbetrag lag bei 8 172 Euro. Die Armutsrisikogrenze betrug nach dem Dritten Armutsbericht 9 372 Euro, nach dem Zweiten Armutsbericht lag die Armutsrisikogrenze bei 11 256 Euro. Daran sieht man: Die Armutsrisikoschwelle ist relativ beliebig. Im Dritten Armutsbericht wurde sie für eine Einzelperson bei einem Nettomonatseinkommen von 781 Euro festgelegt, im Zweiten Armutsbericht bei einem Nettomonatseinkommen von 938 Euro. Dieser Unterschied zwischen den Armutsrisikoschwellen beruht im Wesentlichen darauf, dass selbstgenutztes Eigentum im Zweiten Armutsbericht noch als Einkommenskompo21526 nente berücksichtigt wurde. Herr Staatssekretär, ich will es einmal auf den Punkt bringen: Man hat den Eindruck, dass es der Regierung eher darum geht, die Entwicklung, die zwischen den Berichten stattgefunden hat, zu verschleiern, als darum, sie transparent und erkennbar zu machen. ({1}) Es darf daher nicht verwundern, dass auch die Zahl der vom Armutsrisiko Betroffenen beliebig ermittelt wird: Für 2005 wurde im Dritten Armutsbericht nach einer neuen Methode ermittelt, dass 13 Prozent der Bevölkerung vom Armutsrisiko betroffen sind. Das DIW hingegen ermittelte für 2005 nach der bisherigen Methode ein Armutsrisiko von 18 Prozent. Für uns ist festzuhalten: Im Dritten Armuts- und Reichtumsbericht wird sehr deutlich, dass die Mittelschicht in unserem Lande der wahre Verlierer von zehn Jahren sozialdemokratischer Sozialpolitik ist. ({2}) Die Mittelschicht schrumpft. Die von Armut neu Betroffenen rekrutieren sich aus ebendieser Mittelschicht. ({3}) Der Anteil der Langzeitarbeitslosen ist von 1998 bis 2006 von 37,4 Prozent auf 41,7 Prozent gestiegen. Das ist deswegen schlecht, weil Arbeitslosigkeit das größte Armutsrisiko darstellt. ({4}) Insgesamt muss man sagen: Armut weitet sich aus, und das, obwohl seit 1998 die gesamten staatlichen Sozialausgaben von 605 Milliarden Euro auf mehr als 700 Milliarden Euro jährlich gestiegen sind. Allein im Bundeshaushalt sind die Sozialausgaben von 93 Milliarden Euro im Jahr 1998 auf 140,8 Milliarden Euro im Jahr 2008 gestiegen. Das, Herr Staatssekretär Brandner, führt zwingend zu dem Schluss, dass die bisherige sozialdemokratische Konzeption von Sozialpolitik nicht erfolgreich gewesen ist. ({5}) Erwähnenswert ist, dass der Dritte Armuts- und Reichtumsbericht Hinweise enthält, wie man sinnvolle Sozialpolitik betreiben kann. Sie haben es ja gesagt: Der beste Schutz vor Armut ist ein Arbeitsplatz, ({6}) am allerbesten ist natürlich eine sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung. Ich halte es jedoch für falsch, Herr Brandner, wenn in diesem Zusammenhang immer wieder die Zahl der sogenannten Aufstocker beklagt wird, derjenigen, die trotz Vollzeitarbeit nicht genügend verdienen, um aus dem ALG-II-Bezug herauszukommen. Wir wissen, dass in Vollzeit - ich betone: in Vollzeit - Beschäftigte oft nur für einen Übergangszeitraum ergänzenden Transfer benötigen - jedenfalls wenn nicht niedrige Qualifikation und hohe Zahl von Kindern zusammentreffen. Mir erscheint es wichtig, dass möglichst viele Menschen einen Anreiz haben, sich eine Vollzeitbeschäftigung zu suchen. Hier versagt die Bundesregierung. Sie sorgt nicht dafür, dass die Anrechnungsmechanismen beim ALG II in einem Sinne geändert werden, dass sich hier etwas verbessert. Dabei wissen wir aus wissenschaftlichen Untersuchungen, dass für Menschen mit niedrigem Einkommen ein Anreiz besteht, eine Teilzeitbeschäftigung zu suchen und mit ALG II aufzustocken. So kann es nicht verwundern, dass die Zahl der Aufstocker nicht sinkt. ({7}) Im Dritten Armuts- und Reichtumsbericht ist explizit festgehalten - das will ich hervorheben -, dass die Arbeitnehmerüberlassung eine positive Wirkung auf die Beschäftigung hat, dass es keinen weitverbreiteten Trend gibt, vollzeitbeschäftigte Stammarbeitnehmer durch Leiharbeitnehmer zu ersetzen. Zum Schluss will ich sagen: Die Erfahrung mit der Erstellung und mit den Inhalten des Armuts- und Reichtumsberichtes zeigt, dass die Politisierung nicht sachdienlich ist. Das Zustandekommen dieses Berichtes spricht Bände: Der Bundesarbeitsminister ist in einer Bundespressekonferenz vorgeprescht, ohne zuvor die Abstimmung im Kabinett gesucht zu haben. Für mich besonders interessant ist, dass die Passage mit den Mindestlöhnen, die Sie, Herr Brandner, noch einmal hochgehalten haben, bei der abgestimmten Version auf Druck des Wirtschaftsministeriums gestrichen wurde. ({8}) Offensichtlich gibt es in der Bundesregierung große Meinungsunterschiede, wie zu verfahren ist. Ich bin der Meinung, wir sollten den Armutsbericht von einem neutralen, externen Gremium, vergleichbar dem Sachverständigenrat, erstellen lassen. Das würde die Diskussion vom Kopf auf die Füße stellen und uns in die Lage versetzen, statt zu politisieren objektiv über Lösungen des Problems nachzudenken. Danke schön. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Maria Michalk ist die nächste Rednerin für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute über den von der Bundesregierung vorgelegten Bericht „Lebenslagen in Deutschland“ und über zur Bekämpfung der Armut erforderliche Strategien debattieren, dann tun wir das in einer Zeit, in der es der drohenden Verschlechterung auf dem Arbeitsmarkt entgegenzuwirken gilt. Wirtschafts- und Sozialpolitik bilMaria Michalk den eine Einheit; deswegen ist die Anbindung unserer vielfältigen Überlegungen an die vorangegangene Debatte nicht verkehrt. ({0}) Wir sind uns doch einig, dass der Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen von fundamentaler Bedeutung dafür sind, dass die Zahl der Menschen, die zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, weiter sinkt. Der jeweilige Armutsbericht ist eine der vielen Grundlagen für unsere laufenden und künftigen Entscheidungen. Der Dritte Armutsbericht beruht - das möchte ich betonen - auf der Datenbasis der Jahre 2004 und 2005. Das muss man wissen, wenn man sich die Zahlen genau anschaut. Außerdem ist er nicht mit den zwei vorhergehenden Berichten vergleichbar, die wir kennen; denn es wurden andere Statistiken zugrunde gelegt. Auch das gehört zum Verstehen dieses Zahlenwerkes. Die wachstumsstarken Jahre 2006 und 2007, in denen die Arbeitslosigkeit bekanntermaßen maßgeblich gesunken ist, sind hier also überhaupt nicht berücksichtigt. Die Arbeitslosigkeit ist dabei in allen Regionen gesunken. Das muss man an dieser Stelle auch noch einmal betonen. Es ist trotzdem wertvoll, diesen Bericht, die Grafiken und die Kombinationen bzw. Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden, vorliegen zu haben und mit dem aktuellen Stand zu vergleichen. Ausgangspunkte der nationalen Strategien für den Sozialschutz und für die soziale Eingliederung sind also der Bericht, die Folgen der eingeleiteten Maßnahmen und letztlich auch der Vergleich auf europäischer Ebene. Es ist mir wichtig, auch das noch einmal zu betonen. Nach den einheitlichen europäischen statistischen Vorgaben ist nämlich arm - so definiert es die EU -, wer als Alleinlebender weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verdient. Das sind in Deutschland 781 Euro netto. Im Vergleich dazu: Reich ist in Deutschland ein Alleinlebender, der im Monat netto mehr als 3 418 Euro zur Verfügung hat. Für Familien mit und ohne Kinder gilt die adäquate Relation. Uns in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist wichtig, die Menschen, die mit ihrem Arbeitslohn zwischen diesen beiden Eckdaten liegen, die sogenannte Mittelschicht, nicht zu vergessen. Hierin bin ich mir mit meinem Kollegen Herrn Kolb einig. ({1}) Vor allem sie gehören zu den Leistungsträgern, die sicherstellen, dass unser Sozialstaat als Ganzes möglich ist und funktioniert. In dem Bericht wird gesagt, dass nach dieser Definition 13 Prozent der Deutschen arm sind. Weitere 13 Prozent bewahrt der Staat durch seine Sozialleistungen davor, in diese Gruppe zu fallen. Deshalb verfolgen wir zwei Strategien: Erstens. Vermeidung der Armut durch Arbeit, besonders durch Qualifizierung und durch gezielte Vermittlungsbemühungen, die nun im Rahmen des kürzlich beschlossenen persönlichen Budgets sehr genau auf die individuellen und sehr spezifischen einzelnen Erfordernisse ausgerichtet werden können. Zweitens. Der nachsorgende Staat organisiert, wenn das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe nicht fruchtet und keine Wirkung zeigt, dass den Betroffenen in ihrer konkreten Situation - wenn es sein muss, auch auf Dauer durch eine enge Zusammenarbeit zwischen den Ländern und Kommunen geholfen wird. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, angesichts der Tatsache, dass wir nach der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe im Jahre 2005, einem der beiden Basisjahre für diesen Dritten Armuts- und Reichtumsbericht, insgesamt rund 5 Milliarden Euro mehr für die Menschen ausgegeben haben und die Ausgaben trotz der in den Folgejahren sinkenden Arbeitslosigkeit weiter gestiegen sind, und zwar nicht aufgrund irgendwelcher Verwaltungskosten, sondern durch Maßnahmen direkt für die Menschen, ist belegt, dass die Bundesrepublik die Armutsvermeidung sehr ernst nimmt, dass sich unsere Gesellschaft als Ganze nach wie vor sehr verantwortlich mit dieser Frage auseinandersetzt und dass sie hilft. Deshalb finde ich manche Debatte sehr polemisch. Ich füge allerdings persönlich hinzu: Die Debatte muss geführt werden; sie darf auch nicht bagatellisiert werden. Es gibt Not in unserem Land. Das ist unstrittig. Ein menschenwürdiges Dasein für alle zu schaffen, ist ein hoher Anspruch, durch den der Staat berechtigterweise gefordert wird. Das gilt aber auch für das Mittun des Einzelnen. Dafür, in welcher Form sich jeder Einzelne sein Leben organisieren kann, um auch persönliches Glück und Freude zu spüren und zu erfahren, gibt es bekanntlich kein generelles Rezept, sondern nur Erfahrungen aus vielen Generationen vor uns, die allerdings, so finde ich, auch heute noch ihre Gültigkeit haben, wenn sich die Rahmenbedingungen rundherum auch verändert haben. Die alte Volksweisheit „Jeder ist seines Glückes Schmied“ gilt meines Erachtens auch in der modernen Welt und in einem Sozialstaat. Es ist nachvollziehbar, wenn in dem aktuellen Sozialreport 2008, den jüngst die Volkssolidarität vorgestellt hat, festgestellt wird, dass Ostdeutsche nicht mehr Sozialleistungen, sondern mehr Chancengleichheit fordern. Das ist ein qualitativer Unterschied. Sie wollen, dass das solidarische Sozialsystem erhalten wird und gesichert bleibt, nicht aber ausgeraubt und dadurch unbezahlbar wird. Genau dies wohnt den Beschlüssen der letzten Jahre inne, von den arbeitsmarktpolitischen Entscheidungen bis hin zu den anderen Reformen in unserem sozialen Sicherungssystem. Wenn ein Mensch zufrieden ist, findet er auch inneren Frieden. Ist er unzufrieden, hat er ein riesiges Problem, seinen inneren Frieden zu finden. Dies strahlt auf das Umfeld aus, was der Stimmung in unserem Land nicht zuträglich ist. Deshalb sind Aussagen darüber, wie zufrieden der Einzelne mit der eigenen wirtschaftlichen Lage ist, sehr wertvoll. Hier nenne ich noch einmal die Daten: Im Jahr 2008 bewerteten 2 Prozent ihre wirtschaftliche Lage mit sehr gut, 24 Prozent mit gut, 34 Prozent mit teils gut, teils schlecht, 22 Prozent mit schlecht und 7 Prozent mit sehr schlecht. 29 Prozent also meinen, ihre wirtschaftliche Lage sei schlecht. Das ist für die Politik in der Tat eine Herausforderung. Fragt man aber, wie es den Leuten in unserem Land insgesamt gehe, meint mehr als die Hälfte, es gehe ihnen schlecht. Die eigene Situation wird also positiver als die gesamtgesellschaftliche bewertet. Dies ist ein Problem für unsere nach dem System der sozialen Marktwirtschaft organisierte Gesellschaft, in der der psychologische Faktor ein ausgesprochen wichtiges Moment darstellt. Die negative Bewertung treffen vor allem die mittleren Altersgruppen der 25- bis 60-Jährigen, die mit einer Verschlechterung ihrer Zukunftschancen rechnen. Dieses psychologische Moment müssen wir in unserer Armutsdebatte berücksichtigen. Deshalb gilt es einerseits, die mittleren Altersgruppen nicht zu überfordern - wir sagen: wer arbeitet, muss netto mehr in der Tasche haben und gleichzeitig selbst für später Vorsorge treffen -, andererseits sind unsere sozialen Sicherungssysteme auch mit Blick auf die demografische Entwicklung weiter zu stabilisieren. Nach der amtlichen Erhebung lag das Risiko der Gesamtbevölkerung, einkommensarm zu sein, im Jahre 2005 bei 26 Prozent vor den Sozialtransfers. Nach den Sozialtransfers verringerte sich dieses Risiko auf einen Anteil von 13 Prozent. Hier schließt sich wieder der Kreis. Daher ist wichtig: Wir müssen jedem Bundesbürger die Möglichkeit bieten, in Arbeit zu kommen, weil es auch um die gefühlsbezogene Dimension geht, er sei Teil dieser Gesellschaft, könne sich einbringen und mit seiner Hände Arbeit seinen Lebensunterhalt bestreiten; wenn es nicht reiche, gebe es wegen der Möglichkeit der Aufstockung kein Armutsrisiko. Dies muss ausgebaut und strategisch verfolgt werden. Arbeitsplätze zu schaffen ist wichtig; das ist unsere Aufgabe für die Zukunft. Ich danke Ihnen. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält die Kollegin Katja Kipping, Fraktion Die Linke. ({0})

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem nun vorliegenden Armutsbericht haben wir es schwarz auf weiß: Im Zeitraum von 1998 bis 2005 ist die Armutsrisikoquote von 12 Prozent auf 18 Prozent gestiegen, bei den Kindern sogar von 16 Prozent auf 26 Prozent. ({0}) Im Klartext heißt dies, dass jedes vierte Kind in diesem Land vom Armutsrisiko betroffen ist. Insofern ist dieser Armutsbericht natürlich ein Armutszeugnis für die rot-grüne Politik. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von Grünen und SPD, mir wäre es auch lieber, ich könnte die Schuld an dieser Stelle eher der CDU/CSU und FDP zuschieben. ({2}) Aber Fakt ist natürlich, dass dieser Bericht Analysen aus den Jahren zusammenfasst, in denen Ihre Regierungspolitik zum Tragen kam. Dieser Bericht ist ein eindeutiges Zeichen dafür, dass es in der Sozialpolitik nicht einfach ein „Weiter so“ geben darf; vielmehr braucht es einen klaren Kurswechsel. ({3}) Doch was hat das zuständige Sozialministerium gemacht? Statt aus dem Armutsbericht Lehren zu ziehen, hat das zuständige Sozialministerium bei der Veröffentlichung vor allen Dingen eines versucht: statistische Trickserei. Sie haben einfach eine andere statistische Berechnungsmethode zugrunde gelegt, um die Armutsrisikozahl herunterzurechnen, nach dem Motto „Simsalabim - Die Armut verschwind!“ Kindern, die bei der Schulspeisung leer ausgehen oder die sich im Schuloder Sportunterricht schämen, weil sie sich keine neuen Turnschuhe leisten können, helfen Ihre statistischen Tricksereien aber kein bisschen weiter. ({4}) Konkret hat das Sozialministerium unter Olaf Scholz Folgendes gemacht: Statt wie bisher auf die allseits anerkannte Methode des Sozio-oekonomischen Panels zurückzugreifen, haben Sie auf einmal die Datenerhebung nach EU-SILC zugrunde gelegt. In der Fachwelt ist aber längst bekannt, dass EU-SILC nicht sehr repräsentativ ist. Dabei erfolgt die Datenerhebung nur auf Grundlage eines schriftlichen Fragebogens, der ausschließlich in deutscher Sprache vorliegt. Es wird nur derjenige statistisch erfasst, der sich zurückmeldet. Das Ergebnis ist kein Wunder. Dreimal darf geraten werden, wer sich überproportional zurückmeldet: nämlich die Besserqualifizierten. Menschen mit niedrigerer Qualifikation oder Migrationshintergrund sind nach dieser Methode deutlich unterrepräsentiert. Damit wird die Armut auf eine unseriöse Art und Weise heruntergespielt. Herr Brandner, Sie werden jetzt sicherlich einwenden, dass die endgültige Ausgabe des Berichts beide Zahlen - sowohl nach EU-SILC als auch nach dem Sozio-oekonomischen Panel - nennt. Fakt ist aber: In den Pressematerialien und in allen Veröffentlichungen führen Sie immer nur die Armutsrisikozahl auf, die Ihnen persönlich lieber ist. Ich finde, diese Trickserei ist nicht mehr seriös. Ich würde sogar sagen: Das sind Taschenspielertricks, die die Tricks der Hütchenspieler bei Weitem übertreffen. ({5}) Der aktuelle Armuts- und Reichtumsbericht zeigt noch etwas: Armut und Reichtum sind immer zwei Seiten derselben Medaille. Denn in demselben Zeitraum, in dem die Armut gestiegen ist, hat auch der private Reichtum zugenommen. Auch das ist nicht vom Himmel gefallen, sondern Ergebnis von staatlicher Reichtumspflege. Uns Linken wird immer schnell unterstellt, wir würden eine Neiddiskussion anzetteln. Wir haben kein Problem damit, dass es Reichtum gibt, aber wir sehen tatsächlich ein politisches Problem, wenn sich der extreme Reichtum Weniger aus der wachsenden Armut Vieler speist. ({6}) Wir haben auch etwas gegen eine Steuerpolitik, die die Reichsten entlastet und dafür die Mitte zur Kasse bittet. Steuergeschenke an die Reichsten entziehen der öffentlichen Hand Geld. Dieses Geld fehlt den Rentnerinnen und Rentnern, Erwerbslosen und Kindern. Diese Form von staatlicher Reichtumspflege ist mit der Linken nicht zu machen. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen. ({0}) Ich bitte um eine schnelle Einigung, weil es sonst auf Kosten der Redezeit geht. ({1})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Stöckel hat vielleicht gleich noch die Gelegenheit, etwas wettzumachen. Denn bislang waren die Beiträge der Vertreterin und des Vertreters der Regierungskoalition sehr kleinteilig angelegt, ohne Blick für die großen Trends und die generelle Entwicklung. ({0}) - Auch unter Rot-Grün. Das stelle ich gar nicht in Abrede. Auch Ihnen muss es doch Sorgen machen, dass es in den letzten Jahren einen Trend zur Polarisierung gegeben hat, und zwar in Form einer Ausweitung der Zahl derjenigen, die unter der Armutsrisikoquote liegen, und der Zahl derjenigen, die zu den oberen Einkommensbeziehern gehören. Das heißt, es gibt einen Zuwachs an Reichtum und Armut und eine schrumpfende Mittelschicht. Das ist der generelle Befund, der sich auch in den Jahren der Großen Koalition relativ ungebrochen fortgesetzt hat und sich wahrscheinlich, so fürchte ich, in diesem Jahr vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise weiter fortsetzen wird. Insgesamt sind die Reallöhne kaum gestiegen. Allerdings verzeichnet das oberste Viertel der Erwerbsabhängigen einen Lohnzuwachs von 10 Prozent. Das untere Viertel hat weit über 10 Prozent Einkommensverluste erlitten. Das sind die Trends und Fakten, die Sie beleuchten müssen. Natürlich muss man dann auch auf bestimmte Entscheidungen aus der rot-grünen Regierungsperiode schauen und gegebenenfalls nachsteuern. In keinem anderen Land gab und gibt es ein solch starkes Wachstum des Niedriglohnsektors wie in Deutschland. Die steigende Zahl der Aufstocker ist dafür ein Indiz und erfordert eine Korrektur. ({1}) Die von mir beschriebene gegensätzliche Entwicklung wird noch dramatischer und deutlicher, wenn man sich die Zahlen bei den Markteinkommen ansieht, also ohne Transfereinkommen, Kindergeld, Rente usw. Allein das oberste Zehntel derjenigen, die Einkommen auf dem Markt, also Zinsen, Kapitaleinkünfte, Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit und Einkünfte aus lohnabhängiger Arbeit, erzielen, erzielt 40 Prozent sämtlicher Markteinkünfte. Im Kontrast dazu - mehr Zahlen will ich dann nicht nennen -: Die untere Hälfte derjenigen, die Markteinkommen erzielen, erzielt nur 3 Prozent aller Markteinkommen. Das macht eines deutlich: Ihre These lautet, der beste Schutz vor Armut sei ein Arbeitsplatz. Wenn man allerdings mit dem Arbeitsplatz nichts verdienen kann, dann stellt er natürlich keinen Schutz vor Armut dar. Das ist das Problem, vor dem wir heute stehen und auf das Sie keine politische Antwort gegeben haben. ({2}) Noch ein anderer Aspekt, den ich wegen der Kürze der Zeit nur anreißen kann. Wir konzentrieren uns in dieser Debatte sehr stark auf Einkommensgrößen und Einkommen. Ein Vorteil des nun vorgelegten Dritten Armuts- und Reichtumsberichts, aber auch der vorangegangenen Berichte ist, dass Lebenslagen mit in den Blick genommen wurden. Diese sollten wir in der Debatte berücksichtigen. Einkommensarmut, Migrationshintergrund, Kinderreichtum, Bildungsarmut, Gesundheitsprobleme und schlechte Wohnsituation überlagern sich. Wir haben es mit einem komplexen und vielschichtigen Problem zu tun, das es nicht erlaubt, sich nur auf die Einkommensgrößen zu konzentrieren. Deswegen darf die Diskussion nicht nur über Bildung gehen. Vielmehr müssen wir uns alle Facetten, die gesamte Breite der Lebenslagen, anschauen. Dazu habe ich von Ihnen noch nichts gehört. Sie müssen dorthin gehen, wo es wehtut, und versuchen, alle Lebenslagen in den Blick zu nehmen. Wir fordern einen Mindestlohn zur Bekämpfung der Einkommensarmut und einen Zuschuss für die Sozialversicherungsbeiträge im unteren Einkommensbereich. Wir wollen neue, öffentlich geförderte Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen. Wir wollen eine wirkungsvolle und keine so zahnlose Erbschaftsteuerreform, wie Sie sie durchführen. Wir wollen ein vernünftiges Programm für Menschen mit Migrationshintergrund, um bei bestimmten Gruppen, die ein enormes Armutsrisiko haben, handeln zu können. Ich sage Ihnen: Handeln Sie! Armut ist teuer. Ein Land wie dieses kann sich allein schon aus ökonomischen Gründen nicht so viel Armut leisten. Armut ist eine Wachstumsbremse. Deswegen wäre ein Programm gegen Armut eines der wirksamsten Konjunkturprogramme. Vielen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat der Kollege Stöckel das Wort für die SPDFraktion. ({0})

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit dem Dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wird die seit dem Regierungsantritt der SPD im Jahre 1998 begonnene Bestandsaufnahme der sozialen Lagen in Deutschland fortgesetzt. Markus Kurth, es geht in der Tat um die gemeinsam beschlossenen Berichte, aber auch um die gemeinsame Politik, zumindest bis 2005. Die Berichte machen deutlich, dass wir hinsichtlich der Armut und Ausgrenzung in Deutschland mit einer umfassenden Politik für einen aktivierenden und vorsorgenden Sozialstaat - diese haben wir 1998 mit Bundeskanzler Schröder begonnen - auf einem richtigen Weg sind. Dieser muss weitergegangen werden, bis alle Ziele erreicht sind. Wenn wir die Armut und Ausgrenzung in Deutschland erfolgreich bekämpfen wollen, brauchen wir das Verantwortungsbewusstsein und das Engagement nicht nur der Politik, sondern der ganzen Gesellschaft, von den Betroffenen bis hin zu den Eliten, von den Akteuren der Zivilgesellschaft, den sozialen Dienstleistern, den Bildungspraktikern, den Gewerkschaften bis hin zu den Chefetagen der Unternehmen. Nicht nur der Bund, der viele Lasten übernommen hat, nein, auch die Bundesländer müssen ihre Zuständigkeit für Kinderbetreuung, Schulen und Jugendhilfe verantwortlich wahrnehmen und vor allem dafür sorgen, dass strukturschwache Kommunen, die überdurchschnittlich mit sozialen Problemen konfrontiert sind, eine ausreichende Infrastruktur gerade für sozial Schwächere zur Verfügung stellen können. Da sind wir in einer gesamtstaatlichen Verantwortung. Wir erwarten auch mehr konzertierte Aktionen der föderalen Ebenen zur Armutsbekämpfung, neue Wege und neue Förderansätze; denn der Bildungsgipfel reicht unserer Meinung nach nicht aus. Angesichts der nach wie vor hohen sozialen Selektion in unseren Schulen, der mangelnden Förderung, Ausstattung und der oftmals mangelnden Motivation ist es ein Hohn, wenn Sozialverbände fordern, dass wir in der Grundsicherung die Kosten für privaten Nachhilfeunterricht übernehmen sollen. Wenn etwa einer alleinerziehenden, arbeitslosen Mutter von einem Gericht ein Unterhaltsanspruch zugesprochen wird, weil ihr mangels eines ausreichenden Grundschulganztagsangebots nicht zuzumuten ist, zu arbeiten, dann spricht das Bände und zeigt die eigentlichen Herausforderungen. Das Problem der Verfestigung von Armuts- und Benachteiligungslagen, der mangelnden Teilhabe und der Vererbung von Armut wird nicht dadurch gelöst, dass wir uns allein auf Forderungen nach höheren sozialen Leistungen beschränken. Ich befürchte sogar, dass die Benachteiligungslagen dadurch eher verfestigt werden. Wir müssen weiterhin den Anspruch aufrechterhalten und daran arbeiten, dass die ursächlichen Strukturen, vor allem auch die Mentalitäten und die leider immer noch weit verbreitete Kultur der bloßen Verwaltung von Armut und sozialer Ausgrenzung verändert werden. Wenn uns die Fachleute bestätigen - das geht aus dem Dritten Armuts- und Reichtumsbericht hervor -, dass sich gut verdienende und qualifizierte Eliten immer mehr gegen sozial schwächere Gruppen abschotten, wenn wir trotz eines nachweislich funktionierenden Sozialstaats - wir haben das vorhin gehört -, trotz stetig steigender Sozialausgaben und besserer Rechtsansprüche immer mehr gefühlte soziale Ungerechtigkeit und Demokratieverdrossenheit feststellen, dann sind wir alle aufgefordert, nicht nur darüber nachzudenken, sondern auch konsequent zu lernen und zu handeln. Wir haben deshalb in den vergangenen Jahren in der Regierungsverantwortung viele neue Ansätze und gesetzliche Rahmenbedingungen entwickelt, angefangen bei der Frühförderung über die Familienleistungen und Ganztagsschulprogramme, eine anerkennende Einwanderungs- und Integrationspolitik, eine auf Qualifizierung und Teilhabe orientierte aktivierende Arbeitsmarktpolitik, die Programme für soziale Städte bis hin zur Neuorientierung in der Gesundheits-, Pflege- und Behindertenpolitik auf mehr Prävention, Barrierefreiheit, Inklusion und Selbstbestimmung. Wenn man allein die Inhaltsangabe des Sozialberichts 2005 liest, bekommt man einen umfassenden Überblick über die Vielzahl der Maßnahmen und ganzheitlichen Konzepte, die wir in den zurückliegenden Jahren getroffen bzw. gestaltet haben und die ihre Wirkung auch zunehmend entfalten. Wir bekennen uns selbstbewusst zu den bereits erreichten Erfolgen, ohne die Defizite zu beschönigen oder zu bestreiten, dass wir vieles noch nicht erreicht haben. Wir leugnen auch nicht die Risiken der zukünftigen Entwicklung. Wenn wir feststellen, dass in dem Berichtszeitraum die Schere bei Einkommen und Qualifizierung, bei gut bezahlter und prekärer Arbeit weiter auseinandergeganRolf Stöckel gen ist, wenn trotz steigender Einkommen aus Privatvermögen und Produktivkapital das Armutsrisiko gewachsen ist, wenn wir feststellen, dass die Benachteiligung gerade von Frauen bei Beschäftigung und Einkommen nicht überwunden ist, dann bekommt doch die sozialdemokratische Forderung nach guter Arbeit, die Forderung nach staatlichen Mindestlöhnen, fairen Bedingungen bei der Leiharbeit und gleichen Löhnen für gleiche Arbeit erst recht ihre Bedeutung und Begründung. Wir werden auch im Rahmen der harten Verhandlungen in der Großen Koalition in Zukunft deutlich machen, dass wir noch nicht alles erreicht haben, was wir uns vorstellen. Aus heutiger Sicht ist festzustellen, dass die Datenbasis bis 2005 die konjunkturelle Entwicklung und ihre Auswirkung auf die Lebenslagen bis heute, insbesondere den eklatanten Abbau der Arbeitslosigkeit in den Jahren 2006 bis 2008, noch nicht berücksichtigen konnte. Andererseits ergeben sich aus der weltweiten Finanzkrise und ihren Auswirkungen auf die Realwirtschaft neue Risiken, insbesondere für die Schwächsten in unserer Gesellschaft. All das können wir noch gar nicht absehen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, denken Sie an die Zeit.

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich versuche, zum Schluss zu kommen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Sie dürfen es nicht nur versuchen, sondern Sie müssen ihn tatsächlich erreichen.

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In dem Bericht der Bundesregierung und dem Vortrag von Staatssekretär Brandner ist deutlich geworden, dass die Maßnahmen des beschlossenen Konjunkturpakets in das Politikkonzept passen. Wir begrüßen diese Maßnahmen. Wir haben den Anspruch, dass die Qualität der Daten für die Sozialberichterstattung verbessert wird. Es sind dazu einige Vorschläge gemacht worden. Weiterhin wollen wir die Vergleichbarkeit der Daten verbessern. Wir wollen vor allem, dass auf Länderebene und auf der kommunalen Ebene - hier findet der Alltag der Menschen statt - nicht nur Berichte zu den sozialen Lagen und zur Armut erstellt werden, sondern dass diese auch mit den Bundesberichten vergleichbar werden. Wir dürfen auch nicht vergessen: Noch wichtiger, als eine gute Diagnose zu haben, ist es, die richtige Therapie, das heißt eine wirksame Politik, zu haben, um die Praxis der Armutsbekämpfung zu verbessern. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/9915, 16/10138, 15/5569, 15/5955 und 16/10654 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag auf Drucksache 16/11637 soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 16/9915 überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 7 a und 7 b: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Wolfgang Nešković, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Rehabilitierung für die Verfolgung und Unterdrückung einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Handlungen in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik und Entschädigung der Verurteilten - Drucksache 16/10944 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({1}), Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rehabilitierung und Entschädigung der nach 1945 in Deutschland wegen homosexueller Handlungen Verurteilten - Drucksache 16/11440 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll hierzu eine halbstündige Aussprache stattfinden, wobei die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Das ist offenkundig einvernehmlich. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Dr. Höll für die Fraktion Die Linke das Wort. ({3})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist höchste Zeit, dass wir uns um das Schicksal von Frauen und Männern kümmern, denen unglaubliches Unrecht geschehen ist und deren Menschenwürde zutiefst verletzt wurde. 1956 wurde der Medizinstudent Hans Z. in Hamburg wegen Vergehens gegen den § 175 StGB in 15 Fällen zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Das Gericht betonte, dass Z. die Männer, mit denen er Sex hatte - ich zitiere -, „noch tiefer in ihr Laster hineingetrieben“ habe. Strafverschärfend war damals, dass Z. seine Schuld nicht einsah. Nach 16 Monaten Haft wurde Z. auf Bewährung entlassen. Er verlor seinen Studienplatz und arbeitete fortan als Hafenarbeiter. 1960 wurde er an der Hochschule für Bildende Künste angenommen. Aber 1964, kurz vor Abschluss seines Studiums, wurde er erneut nach § 175 verurteilt, diesmal zu einer fünfmonatigen Bewährungsstrafe. Sein Stipendium wurde gestrichen, und er musste wieder im Hafen arbeiten. Der Versuch, als Taxifahrer sein Geld zu verdienen, scheiterte schließlich daran, dass sich das Verkehrsamt weigerte, einem zweimal wegen des § 175 Vorbestraften die Lizenz zum Taxifahren auszustellen. Beim Verlassen des Verkehrsamtes wurde Z. von einem Lkw erfasst; er verstarb. Das geschah im Deutschland der frühen Nachkriegszeit. Die Liebe von Mann zu Mann wurde strafrechtlich verfolgt, und die Liebe zwischen Frauen war nicht lebbar. Das war in beiden deutschen Staaten so. Wie mussten sich da wohl überlebende schwule Männer, die während des Nationalsozialismus wegen ihrer Liebe ins KZ geworfen und mit dem Rosa Winkel stigmatisiert wurden, fühlen? Erinnern wir uns: In beiden deutschen Staaten galt nach dem Krieg der von den Nazis verschärfte § 175 - in der Bundesrepublik bis 1969, in der DDR bis 1950. Bestrafungen waren menschenverachtende Realität: Etwa 50 000 Männer wurden im Westen und etwa 3 000 im Osten Deutschlands verurteilt. Wer nach dem § 175 verfolgt wurde, verlor oft seine berufliche und infolgedessen seine bürgerliche Existenz. Das christliche Familienideal im Westen hieß für die Frau: Kinder, Küche, Kirche. Der treusorgende Ehemann war der Ernährer. Besonders zwischen 1955 und 1965 wurden Zehntausende Männer im Westen dafür bestraft, dass sie Männer liebten. Frauen, die Frauen liebten, wurden zwar nicht strafrechtlich verfolgt, aber diskriminiert. Auch sie hatten keinen Platz in der Gesellschaft. Sie gingen zum Schein Ehen ein, maskierten sich. Aber: In beiden deutschen Staaten galt die Würde homosexueller Männer und lesbischer Frauen bis weit in die 60er-Jahre nichts. Erst 1968 bzw. 1969 wurde der § 175 in beiden deutschen Staaten stark liberalisiert. Zwar unterschied sich die Homosexuellenpolitik - im Westen galt das christliche Familienbild, im Osten das staatssozialistische Familienideal -, doch in beiden Staaten hatte die Liebe von Hans Z. wie auch die lesbische Liebe keinen Raum. Es war überfällig, dass der Bundestag im Jahr 2002 die im Nationalsozialismus ergangenen Urteile nach den § § 175 und 175 a mit dem Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege aufgehoben hat und die Verurteilten damit rehabilitierte. Meine Fraktion, die Linke, und ich sagen: Begangenes Unrecht wird nie ungeschehen gemacht werden können. Aber wir können und müssen uns bei den lesbischen und schwulen Opfern dieser Verfolgung und Diskriminierung entschuldigen und ihnen sagen, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. ({0}) Ich fordere gleichermaßen, die schwulen Männer, die strafrechtlich verurteilt wurden, zu entschädigen. Das gebietet auch unser Rechtsverständnis. Deshalb fordere ich Sie auf, unserem Antrag zu folgen. ({1}) Der Bundestag hat im Jahr 2000 fast einstimmig die Strafandrohung gegen homosexuelle Bürger als „Verletzung der Menschenwürde“ gebrandmarkt. Es gab damals nur vier Gegenstimmen aus der CDU/CSU. Ich denke, wir müssen heute, nach acht Jahren, den zweiten Schritt wagen und diesen Worten, diesem wichtigen Bekenntnis, Taten folgen lassen. Ich bedanke mich. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dr. Jürgen Gehb ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema, das wir jetzt hier debattieren, ist schon x-mal Gegenstand der Verhandlungen in diesem Hause gewesen. Ich selber habe im Jahr 2000, im März und im Dezember, sowie im Jahr 2002 dazu geredet. Es ist raufund runtersubsumiert worden. Es darf nicht der Eindruck entstehen, als würden wir uns heute auf Anträge der beiden Oppositionsparteien hin, der Linken und der Grünen, zum ersten Mal damit beschäftigen. Das wäre reine Geschichtsklitterung. ({0}) Bevor ich auf den Inhalt dieser Anträge eingehe, will ich feststellen, auch das zum x-ten Mal, dass die Homosexuellen viele Jahre kriminalisiert, stigmatisiert und in ihrer persönlichen Entfaltung aufs Gröbste behindert worden sind. Frau Höll, Sie haben eben gerade noch die Kurve gekriegt, indem Sie gesagt haben, im Jahr 2000 habe der Bundestag diese Verhaltensweisen fast einstimmig bedauert. Das kann ich heute wiederholen, das kann ich morgen wiederholen, das können wir noch x-mal wiederholen; es wird dadurch nicht besser. Jetzt komme ich zu Ihrem Antrag. Was macht eigentlich der Deutsche Bundestag? Ich erwähne das Prinzip der Gewaltenteilung. Vor wenigen Tagen war die FestDr. Jürgen Gehb veranstaltung „100 Jahre Deutscher Richterbund“. Da saß auch der rechtskundige Herr Montag von Ihnen - Sie sind ebenfalls da, Herr Wieland ({1}) und klatschte eifrig in die Hände, als Frau Limbach in ihrer Festrede darlegte, was die Unabhängigkeit der einzelnen Gewalten voneinander bedeutet. Der Deutsche Bundestag hat grundsätzlich Gesetze zu verabschieden, ({2}) sie vielleicht zu verändern und auch aufzuheben. Seine Aufgabe ist nicht, rechtskräftige Urteile aufzuheben. Mit Blick auf Sie, Herr Beck, tue ich jetzt einmal etwas, was ich ganz selten tue. Herr Präsident, ich bitte Sie, mich von der Geschäftsordnungspflicht, in freier Rede zu sprechen - das ist gängig in diesem Haus -, zu entbinden und mir zu erlauben, etwas abzulesen und zu zitieren.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Damit, dass gelegentlich auch Hilfsmittel für die eigene Rede verwendet werden, sind Präsidenten immer schon großzügig gewesen.

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr schön. Der Antrag, der heute vorliegt, ist übrigens in ähnlicher Form im Jahr 2000 von der PDS - oder wie hieß sie damals? Sie wechseln ja so oft -, jedenfalls von den Linken schon einmal eingebracht worden, ({0}) damals allerdings mit einem Petitum, das deutlich hinter dem jetzigen zurückbleibt. Damals wollten Sie nur aus dem Bundeszentralregister die Vorstrafen getilgt haben, aber nicht, wie jetzt, die Urteile aufgehoben haben. Die Entschädigung wollten Sie schon damals. Da hat die Bundesregierung, der die Grünen angehört haben - in dem Zusammenhang habe ich auch den Namen Beck ({1}) gelesen -, Folgendes als Begründung angeführt: Allerdings würde eine Aufhebung von nachkonstitutionellen Urteilen nach § § 175 … gravierenden verfassungsrechtlichen Einwänden begegnen: ({2}) Aus dem in Artikel 21 Abs. 2 Satz 2 GG normierten Gewaltenteilungsprinzip folgt, dass jede der drei Staatsgewalten grundsätzlich verpflichtet ist, die von den beiden anderen Staatsgewalten erlassenen Staatsakte anzuerkennen und als rechtsgültig zu behandeln. … [Das Rechtsstaatsprinzip] enthält als wesentlichen Bestandteil die Gewährleistung von Rechtssicherheit; diese verlangt nicht nur einen geregelten Verlauf des Rechtsfindungsverfahrens, sondern auch einen Abschluss, dessen Rechtsbeständigkeit gesichert ist … Hier folgt ein Verweis auf eine Bundesverfassungsgerichtsentscheidung. Stünden rechtskräftige Urteile zur Disposition des Gesetzgebers, so wäre die Sicherheit des Rechts nicht mehr gewährleistet. ({3}) Nun könnte man an dieser Stelle eigentlich aufhören und sagen: Dem ist nichts hinzuzufügen. Ich erlaube mir aber die Frage: Warum ändern Sie Ihre Meinung? Waren Sie damals der Meinung, oder waren Sie es nicht? ({4}) Was hat sich eigentlich seitdem rechtstatsächlich geändert? Wenn Sie nun auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte aus dem Jahre 1981 rekurrieren, kann ich nur entgegnen: Der Beschluss der rot-grünen Regierung ist zu einem Zeitpunkt ergangen, als die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs schon 20 Jahre in der Welt war. Ich weiß von daher, was Sie wollen. Ihre Diskussion ist weniger dem Völkerrecht geschuldet - das ist so ein bisschen Taschenspielerei, mehr nicht - als vielmehr natürlich dem heraufziehenden Wahlkampf und der Konkurrenz zwischen zwei Oppositionsparteien. Nichts anderem! ({5}) Übrigens müsste man dann ja nach Ihrer Auffassung folgerichtig auch alle anderen Gerichtsurteile, die auf materiellem Recht beruhen, das inzwischen aufgehoben worden ist, aufheben können. Was für ein Tohuwabohu würde das ergeben! ({6}) Im Übrigen muss man sagen - auch wir haben das 1981 gesagt -: Im heutigen Lichte sieht das ganz anders aus. - Aber 1957 hat das Bundesverfassungsgericht, das Sie ja sonst immer so in den Himmel heben, die Verfassungsmäßigkeit des § 175 noch bestätigt. Das Recht unterliegt natürlich ständigem Wandel. Deswegen haben wir unser Bedauern ausgesprochen, und das ganze Haus hat gesagt, wie es ist. Nur: Die Aufhebung von Urteilen geht nicht. Anstatt sich also auf solchen Nebenkriegsschauplätzen zu verheddern, Herr Beck, hätten Sie viel eher die UN-Initiative unterstützen sollen, die unter der französischen Ratspräsidentschaft ergriffen worden ist, nämlich eine weltweite Entkriminalisierung der Homosexuellen, ({7}) oder sich um kollektive Wiedergutmachung bemühen sollen. Ich nenne nur das Stichwort Magnus-HirschfeldStiftung, für die ich mich ja hier eingesetzt habe. Das Ganze ist an einer Person gescheitert, die ihren Platz bei den Grünen hat. Damit müssen Sie fertig werden. Das wäre ein lohnenswerter Ansatz gewesen. Den können wir ja vielleicht wieder aufnehmen, anstatt hier die Aufhebung von Gerichtsurteilen durch die erste Gewalt zu fordern. Meine Damen und Herren, damit soll es sein Bewenden haben. Vielen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Jörg van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Gehb hat viele der Gedanken angesprochen, die ich in meinem Beitrag hier auch vortragen wollte. Anfang der 90er-Jahre war ich Berichterstatter des Deutschen Bundestages, als wir den § 175 viel zu spät aufgehoben haben. Ich war auch Berichterstatter im Jahre 2000, als wir uns einvernehmlich darauf geeinigt haben, hinsichtlich des nachkonstitutionellen Rechts der Bundesrepublik Deutschland eine andere Vorgehensweise als bei den Terrorurteilen des Naziregimes zu wählen. Uns war es nämlich wichtig, beides unterschiedlich zu behandeln. Ich lege weiterhin Wert darauf, dass wir das auch tun. Ein zweiter Punkt, der mir bei der Betrachtung des Sachverhaltes ganz außerordentlich wichtig ist: In meinem Beruf als Oberstaatsanwalt habe ich sehr viele Urteile aus den 50er-Jahren gesehen. Ich muss gestehen, dass mir die Haare nicht nur bei den Urteilen nach § 175 zu Berge gestanden haben, sondern ich feststellen musste, dass auch in vielen anderen Bereichen Urteile gefällt worden sind, für die wir uns heute ehrlich schämen müssen. Ich will nicht nur die homosexuellen Menschen ansprechen, sondern in diesem Zusammenhang beispielsweise auch den Straftatbestand der Kuppelei. Schaut man sich einmal an, welche Urteile in diesem Zusammenhang ergangen sind und welche gesellschaftliche Ächtung aufgrund dieses Paragrafen stattgefunden hat, kommt man nicht umhin, zu sagen: Auch dafür müssen wir uns schämen. ({0}) Wer in diesem Zusammenhang eine Entscheidung trifft, muss sich fragen lassen - gerade weil homosexuelle Menschen zu Recht sehr viel Wert darauf legen, dass sie gleich behandelt werden -, warum wir hier gegebenenfalls eine Ungleichbehandlung gegenüber denjenigen herbeiführen, die beispielsweise wegen Verstoßes gegen den Kuppeleiparagrafen verurteilt worden sind. Das müssen sich heute auch alle Antragsteller fragen lassen. Von daher rate ich uns, die Fragen - es stellen sich viele Fragen; einige haben Sie angesprochen - in einem Berichterstattergespräch sehr sorgfältig zu erörtern. Mir liegt aber sehr daran - auch Sie haben es getan, Herr Gehb -, bei der heutigen Debatte noch einmal das zu wiederholen, was wir im Jahre 2000 Gott sei Dank einvernehmlich im Bundestag erklärt haben. Die damalige Botschaft war außerordentlich wichtig. Es gab nur sehr wenige Gegenstimmen. Der Bundestag hat mit ganz großer Mehrheit festgestellt: Die Menschenwürde der homosexuellen Menschen ist in der Bundesrepublik verletzt worden - nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in gleicher Weise auch in der DDR; Sie haben ja entsprechende Beispiele angeführt, Frau Höll. Auf der einen Seite muss es die Grundlage unserer Beratungen sein, dass wir uns der Verantwortung gegenüber diesen Menschen bewusst sind. Auf der anderen Seite haben wir uns gerade auch im Interesse der homosexuellen Menschen, die Wert auf Gleichbehandlung legen, immer wieder zu vergewissern, dass wir die Rechtsprinzipien unseres Staates nicht einseitig zugunsten einer Gruppe verändern. Für meine Fraktion will ich den Menschen, die viel erlitten haben, noch einmal unseren großen Respekt aussprechen. Deshalb werden wir die Diskussion über diese Fragen verantwortungsbewusst führen. Ich bleibe aber dabei: Wir haben das auch im Jahr 2000 getan. So, wie wir es im Jahr 2000 entschieden haben - das ist meine heutige Bewertung -, haben wir sehr richtig gelegen. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. CarlChristian Dressel das Wort.

Dr. Carl Christian Dressel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003750, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, mich in weiten Teilen meinen geschätzten Vorrednern Herrn Kollegen van Essen und Herrn Kollegen Gehb anschließen zu können. Herr Kollege Gehb hat den richtigen Schwerpunkt gesetzt. Was wir jetzt tun können, ist, über Entschädigungen zu reden. Ich würde mich freuen, wenn gerade Sie von den Grünen mit uns im Rechtsausschuss noch einmal intensiver über dieses Thema sprächen. Wir wissen, dass es infolge der Verurteilungen aufgrund der Rechtssituation, wie wir sie bis 1969 in der Bundesrepublik Deutschland hatten, immer noch sehr viele traumatisierte Menschen gibt. Diesen Menschen zu helfen und ihnen auch klarzumachen, dass sie unsere Unterstützung haben, muss unser gemeinsames Ziel sein. Wir wissen: Niemand ist unfehlbar, auch der Rechtsstaat nicht. Der Rechtsstaat maßt sich auch nicht selbst an, unfehlbar zu sein. Auch das Bundesverfassungsgericht ist kein unfehlbares Verfassungsorgan, sondern ein Organ, das dem Werteverständnis der Gesellschaft ebenso unterworfen ist wie alle anderen Verfassungsorgane. Daher ist es vor 50 Jahren leider zu Entscheidungen gekommen, die in den 60er-Jahren durch gesetzgeberisches Handeln korrigiert und in den 90er-Jahren endlich auf eine vernünftige Position gestellt wurden. Die Zielrichtung, die Diskriminierung homosexueller Menschen in Deutschland zu beenden, verfolgte bereits im Jahre 1922 der Radbruch’sche Entwurf für ein neues Strafgesetzbuch. Dieser scheiterte an den Feinden der Weimarer Republik. 1969 hatten wir endlich die Zielrichtung einer Reform. Mit der eingetragenen Lebensgemeinschaft und dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz haben wir zu guter Letzt Gleichberechtigung im Partnerschaftsbereich erreicht - seit 1. Januar dieses Jahres mit der Neuerung, dass Lebenspartnerschaften genauso wie Ehen in allen Ländern vor einem Standesbeamten geschlossen werden können. Ihnen von den Grünen unterstelle ich durchaus, dass Sie etwas für die betroffenen Menschen tun möchten. Daher rufe ich Sie nochmals auf: Unterhalten Sie sich mit uns über das Thema Entschädigung! Allerdings möchte ich Ihnen gern noch einen Hinweis auf das Prinzip der Gewaltenteilung geben. Da Sie in Ihrem Antrag formulieren, dass der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auffordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen und die entsprechenden Urteile aufzuheben, muss ich Ihnen sagen: Es ist weder Aufgabe des Deutschen Bundestages noch Aufgabe der Bundesregierung, Urteile aufzuheben. Und das ist gut so. ({0}) Wir sind keine Superrevisionsinstanz. Zum Glück haben wir unabhängige Gerichte. ({1}) Die Bundesregierung ist nicht berufen, Urteile von unabhängigen Gerichten zu beurteilen. ({2}) - Herr Kollege, angesichts der Tatsache, dass Sie diese Forderung in Ihren Antrag hineinschreiben, muss ich sagen, dass Sie das, was an dieser Stelle in den Jahren 2000 und 2002 wiederholt ausgeführt worden ist, nicht begriffen haben. Als es in der laufenden Wahlperiode um die Aufhebung von nachkonstitutionellen Urteilen ging, haben wir wiederholt hier ausgeführt, dass es der Grundsatz der Gewaltenteilung auch in der Fassung, in der ihn das Bundesverfassungsgericht formuliert, grundsätzlich verbietet, dass eine Staatsgewalt die Handlungen einer anderen Staatsgewalt, insbesondere die der Justiz, beeinflusst. Man kann nicht oft genug auf die Erklärung hinweisen, die der Deutsche Bundestag im Jahr 2000 abgegeben hat. Ich zitiere wörtlich: Der Deutsche Bundestag bekräftigt seine Überzeugung, dass die Ehre der homosexuellen Opfer des NS-Regimes wiederhergestellt werden muss. Der Deutsche Bundestag bedauert, dass die in der NSZeit verschärfte Fassung des § 175 im Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland bis 1969 unverändert in Kraft blieb. In beiden Teilen Deutschlands wurde eine Auseinandersetzung mit dem Verfolgungsschicksal der Homosexuellen verweigert. Ich füge hinzu: Wichtig war, dass wir die Liberalisierung des Sexualstrafrechts bis 1994 - leider viel zu spät; da stimme ich Ihnen, Herr van Essen, zu - umsetzen konnten. Wichtig war auch, dass sich der Deutsche Bundestag dahin gehend geäußert hat, dass die frühere Rechtssituation falsch war. Ich sage weiterhin: Wichtig ist es, darüber zu sprechen, wie wir den betroffenen und teilweise noch heute traumatisierten Menschen helfen können. Wir sollten aber nicht ein halbes Jahr vor dem nächsten Wahltag Schaukämpfe aufführen. Ich fordere Sie zu einer ernsthaften Auseinandersetzung auf. Mit Blick in Richtung PDS sage ich: Wenn ich höre, dass man in der DDR etwas liberalisiert hätte, dann stellen sich auch mir die Nackenhaare auf. Denn in Bezug auf diesen Staat kann ich nicht von Liberalisierung sprechen. ({3}) Meine Damen und Herren von den Grünen, diskutieren Sie ernsthaft mit uns! Es geht uns um die Menschen und um die Sache. Ich hoffe, bei Ihnen ist es ebenso. Danke sehr. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun der Kollege Volker Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Geschätzter Kollege Dressel, Sie wissen: Für ernsthafte Gespräche stehen wir, auch wenn es nur um kleine Fortschritte in der Sache geht, immer zur Verfügung. Den von Ihnen angesprochenen Punkt Entschädigung finden Sie in unserem Antrag wieder. Wir fordern darin, all den Menschen, die in der Bundesrepublik oder in der DDR wegen ihrer Homosexualität verfolgt und auf menschenrechtswidrige Art und Weise von diesen Staaten gepeinigt wurden, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und ihnen diesen Schaden mit Entschädigungszahlungen auszugleichen. ({0}) Volker Beck ({1}) - Nein: individuelle Entschädigung! Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Ich unterstütze Sie darin, an dieser Stelle voranzukommen. Wir können sicherlich ein gutes Ergebnis erreichen. ({2}) - Das ist unwahr! Und um individuelle Entschädigung ging es bei dieser Stiftung damals gar nicht. Man muss doch zuallererst den Betroffenen helfen! ({3}) - Wir unterstützen kleine Fortschritte. Deshalb bin ich dafür, dass wir weitermachen. ({4}) - Frau Präsidentin, ich glaube, ich habe überwiegend das Wort. Ich denke, dass Ihre Begründung für die Ablehnung einer Rehabilitierung nicht greift. Es geht ja nicht darum, die Urteile mit der Begründung aufzuheben, dass die Gerichte Fehlurteile aufgrund einer belastbaren gesetzlichen Grundlage gefällt haben, sondern es geht darum, dass die Gerichte auf Basis eines durch den Gesetzgeber geschaffenen bzw. vom Bundestag belassenen Gesetzes geurteilt haben, das in seiner Substanz menschenrechtswidrig war. ({5}) Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dreimal gesagt, und auch der UN-Menschenrechtsausschuss in Genf hat sich im Fall Toonen gegen Australien zum Zivilpakt entsprechend geäußert. ({6}) Deshalb sollten wir das als Bundestag auch endlich sagen. ({7}) Wir hatten übrigens mit den gleichen Argumenten zu tun - Sie waren noch nicht dabei -, als wir die NSUrteile nach § 175 aufgehoben haben. Damals hat uns das Justizministerium zunächst gesagt, das gehe nicht, weil das Bundesverfassungsgericht 1957 gesagt habe, dieser Paragraf sei kein spezifisches NS-Unrecht. ({8}) Wenn man sich anschaut, was das Verfassungsgericht in seiner Begründung seinerzeit formuliert hat - das ist herzallerliebst -, dann sieht man, dass das keinen Bestand haben kann. Mit Erlaubnis der Präsidentin will ich zitieren. ({9}) In dem Urteil heißt es so schön: Schon die körperliche Bildung der Geschlechtsorgane weist für den Mann auf eine mehr drängende und fordernde, für die Frau auf eine mehr hinnehmende und zur Hingabe bereite Funktion hin … Zieht man dazu die größere geschlechtliche Aggressivität des Mannes in Betracht, so macht schon das evident, daß die Gefahr der Verbreitung der Homosexualität beim Manne weit größer ist als bei der Frau. Anders als der Mann wird die Frau unwillkürlich schon durch ihren Körper daran erinnert, daß das Sexualleben mit Lasten verbunden ist … So gelingt der lesbisch veranlagten Frau das Durchhalten sexueller Abstinenz leichter, während der homosexuelle Mann dazu neigt, einem hemmungslosen Sexualbedürfnis zu verfallen. ({10}) So das Bundesverfassungsgericht. Mit dieser Begründung hat man damals geurteilt. Ich bin froh, dass die Verfassungsrichter heute genauso klar wie der Bundestag sagen: Da hat sich dieses Organ geirrt. - Deshalb ist es auch kein Affront gegen das Prinzip der Gewaltenteilung, wenn wir sagen: Die Rechtslage von damals war Unrecht. Daher können die Urteile keinen Bestand haben. Den Menschen muss konkret und individuell geholfen werden. ({11}) Die Bilanz war einfach schrecklich. Ich will nur eine Aktion nennen. In Frankfurt hat in den 50er-Jahren eine Verfolgung Homosexueller stattgefunden, die man wie folgt zusammengefasst hat: Ein Neunzehnjähriger springt vom Goetheturm, nachdem er eine gerichtliche Vorladung erhalten hat, ein anderer flieht nach Südamerika, ein weiterer in die Schweiz, ein Zahntechniker und sein Freund vergiften sich mit Leuchtgas. Insgesamt werden sechs Selbstmorde bekannt. Viele der Beschuldigten verlieren ihre Stellung. Ich finde, diesen dramatischen Ausschnitt aus der Realität unserer frühen Republik sollten wir zum Anlass nehmen, um den Betroffenen endlich Recht widerfahren zu lassen. Ich hoffe, wir kommen im Berichterstattergespräch weiter. Vielen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/10944 und 16/11440 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes - Drucksache 16/11609 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister Sigmar Gabriel.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Ihnen vorliegende Entwurf eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes hat zwei Schwerpunkte. Zum Ersten soll der Schutz kerntechnischer Anlagen und der Schutz von Transporten radioaktiver Stoffe gegen unbefugte Handlungen verstärkt werden. Zum Zweiten - das hat die Öffentlichkeit in den letzten Tagen insbesondere in der betroffenen Region sehr beschäftigt - soll das Bundesamt für Strahlenschutz auch per Gesetz mit der Aufgabe betraut werden, die Schachtanlage Asse stillzulegen. Deshalb liegt Ihnen der neue § 57 b des Atomgesetzes vor, der ausdrücklich festlegt, dass für die Stilllegung der Schachtanlage Asse - nur darum geht es in der Zukunft - die atomrechtlichen Vorschriften für Anlagen des Bundes zur Endlagerung radioaktiver Abfälle anzuwenden sind. Das heißt, dass es für den notwendigen Weiterbetrieb bis zur Stilllegung der Asse keines Planfeststellungsverfahrens nach § 9 b des Atomgesetzes einschließlich der dort vorgesehenen Öffentlichkeitsbeteiligung bedarf. Weiter ist mit der Novelle klargestellt, dass das Bundesamt für Strahlenschutz, das auch die übrigen Endlagerprojekte des Bundes betreut und über die entsprechende Fachkompetenz verfügt, auch für die Stilllegung der Asse zuständig ist. In den letzten Tagen ist - auch durch Bemerkungen beispielsweise der von mir ansonsten sehr geschätzten Kollegin der Grünen aus dem Europäischen Parlament, Frau Rebecca Harms - der Eindruck erweckt worden, der jetzt vorgelegte Gesetzentwurf würde mit dem Begriff „Stilllegung der Asse“ nicht die Option der Rückholung der dort eingelagerten rund 126 000 Fässer Atommüll beinhalten. Ich muss das hier ausdrücklich zurückweisen. Selbstverständlich lässt die Stilllegung der Asse, so, wie wir sie jetzt im Atomgesetz festlegen, alle Optionen offen. Ich kann nur davor warnen, das, was in der Vergangenheit getan wurde, nämlich politische Vorgaben für das zu machen, was in der Asse zu geschehen hat, jetzt fortzusetzen und bloß die Vorzeichen zu ändern. Es geht darum, zu klären, welche Maßnahmen zur Stilllegung der Asse für Mensch und Umwelt langfristig die größtmögliche Sicherheit gewährleisten. ({0}) Wenn es uns möglich ist und wenn es langfristig die beste Sicherheit für Mensch und Natur bedeutet, werden wir den Atommüll aus der Asse selbstverständlich herausholen. ({1}) Aber es ist nicht fair, jetzt den Eindruck zu erwecken, als könnte man dies bereits heute tun. Deswegen bitte ich herzlich, dass wir gegenüber der Bevölkerung redlich bleiben. Wir versuchen das; alle Institutionen arbeiten an dieser Frage. Aber diese Frage ist schlicht und ergreifend zum heutigen Tag nicht zu beantworten. Allerdings lege ich Wert auf die Feststellung, dass das jetzige Atomgesetz für den Fall, dass es uns gelingt und es die sicherste Methode ist, selbstverständlich die vollständige Rückholung des Atommülls aus der Asse möglich macht. Lassen Sie mich ganz kurz zu zwei derzeit in der Öffentlichkeit diskutierten Kritikpunkten an der Sicherheit der Asse Stellung nehmen. Das Erste betrifft die Frage eines weiteren Einsturzes in einer Einlagerungskammer. Ich sage hier deutlich, dass das Bundesumweltministerium das Bundesamt für Strahlenschutz in seiner Auffassung unterstützt, dass wir nicht zu einer schnellen Verfüllung dieser Kammer kommen sollten, sondern dass wir andere Maßnahmen ergreifen müssen. Bei einem Einsturz kann es passieren, dass die Druckwelle so groß wird, dass der bisherige Pfropfen, der verhindert, dass radioaktive Aerosole austreten, zerstört wird. Wir müssen Maßnahmen ergreifen, um ein solches Austreten zu verhindern. Aber wir dürfen jetzt keine Maßnahmen ergreifen, die eine spätere Rückholung unmöglich machen. Das ist unsere Position. Wir halten das für absolut richtig. ({2}) Zweitens. Dass es dort offensichtlich Einlagerungsbehälter gibt, bei denen immer noch nicht klar ist, welche Stoffe dort im Jahr 1971 eingelagert worden sind - die Behälter, die dort gefunden worden sind, enthalten Zinkkästen, andere sind bleiummantelt -, zeigt nochmals, dass zum damaligen Zeitpunkt relativ fahrlässig mit diesem Thema umgegangen wurde. Mich wundert, dass diese Behälter im Statusbericht des Niedersächsischen Umweltministeriums nicht erwähnt worden sind. Das zeigt, wie sorgfältig wir mit dem Thema umgehen müssen. Ich halte allerdings auch nichts davon, dass wir jetzt in die Öffentlichkeit alle möglichen Spekulationen tragen. Das Bundesamt für Strahlenschutz ist sich nicht sicher, woher diese Stoffe kommen. Es gibt durch die Befragung ehemaliger Mitarbeiter Hinweise, die das klären können. Aber eine absolute Sicherheit haben wir noch nicht. Wir gehen dem weiterhin nach. Ich finde, wir müssen beim Umgang mit der Asse ein Höchstmaß an Transparenz gewährleisten, aber auch immer klar sagen, dass wir mit Vermutungen nicht viel weiterkommen. Vielmehr brauchen wir qualifizierte Arbeit; daran, dass sie dort geleistet wird, habe ich keinen Zweifel. Von daher bitte ich herzlich darum, dass wir die Novelle zum Atomgesetz schnell beraten mögen. Wir haben uns damit keinerlei Optionen verbaut, aber wir haben absolute Rechtssicherheit geschaffen. Ich glaube, das ist im Interesse aller. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Nun hat der Kollege Horst Meierhofer für die FDPFraktion das Wort. ({0})

Horst Meierhofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003806, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir Liberale sind davon überzeugt, dass die Sicherheit der Bevölkerung in jeglichem Zusammenhang, was kerntechnische Anlagen und deren friedliche Nutzung betrifft, an oberster Stelle steht. Das gilt selbstverständlich auch für die Asse. Wir sind daher der Meinung, dass man mit dem Gesetzentwurf etwas Vernünftiges auf den Weg bringt. Wir werden das konstruktiv begleiten. Wir sind auch damit einverstanden, dass sich das BfS und das Umweltministerium mit Ihnen an der Spitze, Herr Minister Gabriel, dafür einsetzen werden, dass die nötige Transparenz geschaffen wird. Das hat mich an Ihren Ausführungen am meisten gefreut. Es ist zum einen deshalb wichtig, damit das Vertrauen, das an der einen oder anderen Stelle verloren ging, wieder zurückgewonnen werden kann. Es ist zum anderen wichtig, damit nicht durch irgendwelche Vermutungen und Anmerkungen von interessierten Kreisen - Sie haben es angesprochen - Halb- oder Unwahrheiten verbreitet werden, die etwas gefährden, was gar nicht gefährdet zu werden braucht. ({0}) 2008 hat es verstärkt seismische Ereignisse gegeben. Das muss in der Tat untersucht werden. Es wird daraus geschlossen, dass die Sohle auf 750 Meter akut einsturzgefährdet ist. Da dort etwa 6 000 Fässer mit radioaktivem Abfall lagern, ist es wichtig, dass genau untersucht wird, was dort passiert. Das ist selbstverständlich, und es wirft viele Fragen auf, die beantwortet werden müssen. Ich glaube allerdings nicht - das werden wir vermutlich später noch von der Kollegin Kotting-Uhl von den Grünen hören -, dass diese Fragen im Rahmen einer Anhörung geklärt werden können. Vielmehr müssen sie vom BfS geklärt werden, weil das BfS dafür zuständig ist. Nun ist es das Wichtigste, dass man nicht nur konkret, korrekt und richtig handelt, sondern dass man auch schnell handelt, weil die Gefahren zum Teil als ernst eingeschätzt werden. Es geht nicht darum, ein Politikum daraus zu machen; vielmehr müssen wir die Fragen, die sich ergeben, denjenigen stellen, die dafür zuständig sind. ({1}) Ich nenne ein paar Fragen, die wir stellen wollen bzw. stellen müssen. Wie sieht es mit der Standfestigkeit des Grubengebäudes aus? Ist sie bis 2014 und darüber hinaus gegeben, oder müssen die Einschätzungen, die man bisher vorgenommen hat, aufgrund der seismischen Ereignisse revidiert werden? Wie akut ist die Gefahr eines Anstiegs der Salzlösungszuflüsse? Muss man sich überlegen, ob man noch schneller handeln sollte? Was könnte die Antwort sein? Gibt es Möglichkeiten, um die Standfestigkeit des Grubengebäudes zu verbessern? Was prüft das Bundesumweltministerium in diesem Zusammenhang? Auch das halte ich für entscheidend. Oder sind all diese Ereignisse aus der Vergangenheit in Anbetracht der neuen seismischen Erkenntnisse hinfällig? Es stellt sich die Frage - Sie haben es angesprochen -, wie man mit den angeblich bleiummantelten Behältern - ich habe in einer anderen Pressemitteilung gelesen, dass es sich um Zink oder Ähnliches handelt - umgeht. All diese Fragen beweisen, dass es egal ist, wer aus jetziger oder früherer Sicht landespolitisch verantwortlich ist. Diese Fragen müssen deswegen geklärt werden, weil wir im anderen Fall nichts anderes als Verunsicherung und Angst in der Bevölkerung bewirken. Darum muss gerade die Klärung unser eigentliches Ziel sein. ({2}) Diese Fragen müssen beantwortet werden. Bisher wissen wir leider relativ wenig. Ich glaube, dass wir in der Pflicht stehen, diese Maßnahmen möglichst schnell zu ergreifen. Ich glaube auch, dass wir mit diesem Gesetzentwurf einen Schritt nach vorne gehen können. Wir als FDP stehen dieser Sache grundsätzlich sehr positiv gegenüber. Im Übrigen stehen wir einem weiteren Aspekt positiv gegenüber: Es geht um den § 12 b, der vorsieht, dass Personen, die in kerntechnischen Anlagen tätig sind, überprüft werden, damit deren Zuverlässigkeit nicht anHorst Meierhofer gezweifelt werden kann. Denn es ist klar, dass auch in diesem Zusammenhang absolute Integrität geboten ist. Wenn uns das gelingt, sind wir auf dem richtigen Weg. Ich freue mich auf vernünftige Beratungen. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die Unionsfraktion. ({0})

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es gab heute im Umweltausschuss eine Diskussion über die Frage, ob wir zu diesem Thema noch einmal eine Anhörung durchführen sollten. ({0}) Die Koalition hat diesen Vorschlag gemeinsam mit der FDP abgelehnt. Ich möchte coram publico begründen, warum wir das getan haben: Wir haben schon zwei Anhörungen zum Thema Asse hinter uns. Außerdem sind wir der festen Überzeugung, dass es sich hierbei nicht um eine Diskussion darüber handelt, wie wir mit den Problemen, die im Zusammenhang mit der Asse zweifellos vorhanden sind, technisch umgehen, sondern dass es sich hierbei um eine formale Gesetzesänderung handelt. Diese formale Gesetzesänderung hat zwei Zielrichtungen. Zum einen muss der personelle Sabotageschutz geregelt werden, also die Überprüfung von Personen, die zum Beispiel in Kernkraftwerken mit radioaktiven Stoffen zu tun haben. Es geht um die Frage: Wie kann man die Überprüfung dieser Personen gewährleisten? Das ist eine formale Angelegenheit, die in Reaktion auf die Terroranschläge notwendig geworden ist. Zum anderen geht es um die Frage: Ist Bergrecht oder Atomrecht anzuwenden? Auch dies ist im Zusammenhang mit der Asse eine formale Angelegenheit. Bisher bestand Einigkeit, dass die Asse nach Bergrecht behandelt wird, wobei übrigens auch das Bergrecht - das füge ich vorsichtshalber hinzu - nicht frei von atomrechtlichen Erwägungen ist. Das war auch die Einschätzung des ehemaligen Bundesumweltministers Jürgen Trittin, und so ist auch er damals mit diesem Thema umgegangen. Wir haben dem Vorschlag, zu diesem Thema noch eine Anhörung durchzuführen, auch deshalb nicht zugestimmt, weil wir allenthalben erleben, dass interessierte Kreise versuchen, die Diskussionen über solche Gesetzesänderungen als Kampagne gegen die Kernenergie zu instrumentalisieren. Das ist an dieser Stelle nicht geboten. ({1}) Es gibt in dieser Debatte durchaus die Chance, das eine oder andere klarzustellen. Es hat uns sehr gefreut, dass Sie, Herr Bundesumweltminister, diese Chance genutzt haben. An dieser Stelle nehme ich insbesondere auf den Artikel, der in der letzten Woche auf Spiegel Online erschienen ist, Bezug. Darin hieß es, die Asse drohe einzustürzen und der notwendige Informationsfluss finde nicht statt. Das haben Sie in diversen Pressemeldungen richtiggestellt. Auch heute haben Sie zu diesem Thema wichtige Ausführungen gemacht. Der Union ist daran gelegen, die Menschen über diese Problematik so detailliert und so offen wie möglich zu informieren, aber auch mögliche Lösungsansätze zu entwickeln. ({2}) Wie alle Kollegen, die mit diesem Thema befasst sind, erhalte auch ich viele Briefe, in denen Forderungen erhoben werden, was noch in dieses Gesetz aufzunehmen ist, weil es angeblich noch nicht berücksichtigt sei. Eine dieser Forderungen lautet, die Option der Rückholbarkeit radioaktiver Abfälle aus der Asse im Gesetzestext ausdrücklich zu erwähnen. Auch dazu hat der Bundesumweltminister alles Wichtige gesagt und deutlich gemacht, dass diese Option nicht ausgeschlossen ist. ({3}) - Weil bei den Grünen schon wieder Unruhe aufkommt, sage ich ganz deutlich: Diese Option ist politisch und juristisch nicht ausgeschlossen. Ob sie technisch möglich ist, das kann, wie ich glaube, niemand von uns hier im Saal beurteilen. Hierzu fand übrigens schon mancher Schriftwechsel statt. So hat zum Beispiel Staatssekretär Machnig der Kollegin Pothmer von den Grünen bereits versichert, dass die Rückholung als Option berücksichtigt ist. An dieser Stelle erübrigen sich also Ihre Fragen. Ich denke, dass der Gesetzestext in der vorliegenden Form das auch hergibt. Man kann das, wenn man gutwillig ist, aus dem Gesetzestext herauslesen, und zwar konkret aus § 9 b Abs. 4 in Verbindung mit § 7 Abs. 2 des Atomgesetzes. Ich wiederhole: wenn man gutwillig ist. ({4}) Eine andere Forderung, die häufig erhoben wird, lautet, die Annahme radioaktiver Abfälle und ihre Einlagerung in die Schachtanlage Asse II nicht nur bis zum Erlass des Planfeststellungsbeschlusses zur Stilllegung der Schachtanlage Asse, sondern generell für unzulässig zu erklären. Was soll das, wenn man den Schacht im Anschluss stilllegen will? Natürlich wird man in diesem Fall keine Einlagerungen vornehmen. Ich gehe davon aus, dass ein entsprechendes Verbot der Landesregierung von Niedersachsen greift. Insofern glaube ich, dass man sich darüber keine Sorgen machen muss. Anders ist das, sollten einige versuchen, dieses Thema dazu zu nutzen, die Diskussion über die Nutzung der Kernenergie anzufachen. Unter dem Eindruck des Gasstreites bekommt das Ganze nämlich eine andere Akzentuierung. Wir marschieren momentan energiepolitisch in die Richtung, dass wir die Nutzung von Gas ausbauen, zum einen wegen des Emissionshandels, zum anderen weil wir einen Ausgleich dafür brauchen, dass der Anteil der Windenergie steigt. Wir alle sind für die Förderung der erneuerbaren Energien; aber Windenergie steht nun einmal nicht permanent zur Verfügung. Wir werden deshalb den Ausbau der Nutzung von Gas fördern. Auch im Bereich KWK, den wir ebenfalls ausbauen, wird ein großer Teil der Anlagen mit Gas betrieben. ({5}) Die entscheidende Frage ist, wie wir die Versorgungssicherheit in diesem Land gewährleisten. Diese Frage wird sich uns immer wieder stellen, wenn wir bis 2020 - darauf haben wir uns im Rahmen der Novellierung des EEGs geeinigt - den Anteil der erneuerbaren Energien auf 30 Prozent ausbauen: Wie sollen wir die übrigen 70 Prozent der Versorgung sicherstellen, und wie sollen wir diese Energie umweltfreundlich erzeugen? ({6}) Diese Frage kann nicht nur wirtschaftlich, sondern auch unter Klimaschutz- und Umweltgesichtspunkten derzeit nur die Union richtig beantworten. Natürlich ist das Interesse einiger groß, einen Aufhänger zu suchen, und sei er noch so klein, gegen die Nutzung der Kernenergie in Deutschland zu polemisieren. Doch was bringt es, wenn wir für teures Geld Gas aus Russland beziehen und die Russen statt auf ihr Gas auf Kohlekraftwerke und Kernkraftwerke setzen? Das ist eine Energiepolitik, die nicht nur ökonomisch keinen Sinn macht. Anstatt Angriffsflächen zu suchen, Frau Kotting-Uhl - wir werden es ja sehen bei den folgenden Rednern -, ({7}) sollten wir ergebnisoffen darüber nachdenken, wie wir dieser Republik einen Dienst tun, wie wir sie sinnvoll mit Energie versorgen können. Wir wollen das. Deswegen werden wir diese Thematik immer wieder ansprechen. Vielen herzlichen Dank. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Lutz Heilmann das Wort. ({0})

Lutz Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003766, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Asse bröselt, eine Hiobsbotschaft jagt die andere. Kollege Meierhofer, für mich ist das sehr wohl ein Politikum. Was sonst ist es, wenn wir in diesem Hause über einen Gesetzentwurf sprechen, mit dem die Missstände, die in dieser wohlgemerkt staatlichen Einrichtung bestehen, neu geregelt werden sollen? ({0}) Genauso ist es ein Politikum, dass sich die Große Koalition immer noch nicht auf ein Umweltgesetzbuch einigen konnte. Das ist einfach ein Skandal. ({1}) Ich weiß, dass selbst Umweltverbände und die Grünen die vorliegende Novelle zum Atomgesetz im Grundsatz begrüßen. Schließlich wird die Asse II damit unter das Dach des BfS gestellt und fällt endlich unter das Atomgesetz. Doch ist das wirklich so? Schaffen Sie nicht vielmehr eine Lex Asse, mit der Sie das Unheil irgendwie verwalten wollen? Setzen Sie damit die Schutzaufgabe des Atomgesetzes nicht gar außer Kraft? ({2}) Schauen wir uns doch den fraglichen Paragrafen § 57 an. Zuerst gab es § 57 a, in dem das Morsleben-Desaster geregelt wurde. Fragwürdiges DDR-Recht wurde übernommen, um preiswert bundesdeutschen Atommüll loszuwerden. In einem § 57 b wollen Sie nun Asse II regeln. Weil Sie nicht wissen, was aus den Abfällen wird, wie lange die Decken halten und wann die Grube abgesoffen sein wird, ({3}) wollen Sie die Asse II, außer im Falle der Stilllegung, von einem Planfeststellungsverfahren, wie es nach § 9 b des Atomgesetzes erforderlich wäre, freistellen. Sie tun dies nicht ohne Grund; denn ein richtiges Planfeststellungsverfahren würde die Asse niemals überstehen. Mit dem Schrottbergwerk werden die Anforderungen an ein Endlager schließlich nicht im Entferntesten erfüllt. Ein Langzeitsicherheitsnachweis würde nie erbracht werden können. ({4}) Es wäre schnell klar, dass der Atommüll wieder heraus muss. Vor diesem Hintergrund befürchten gerade die Bürgerinitiativen, dass Sie hier jetzt schnell Fakten schaffen wollen, indem etwa die Abfälle durch eine eigentlich nicht notwendige Notverfüllung de facto von einer Rückholbarkeit ausgeschlossen werden. Herr Minister, ich möchte Ihnen ganz einfach ausdrücklich widersprechen. Sie sagen, dass sich die Rückholbarkeit ergibt. Warum schreiben Sie das dann nicht ganz einfach in den Gesetzentwurf? Das wäre doch die sicherste Variante. ({5}) Insgesamt stellen Sie mit dem Gesetzentwurf die Logik auf den Kopf. Anstatt die vorhandenen Atomanlagen daraufhin zu prüfen, ob sie den Regeln des Atomgesetzes entsprechen, biegen Sie sich den Gesetzentwurf ganz im Berlusconi’schen Sinne so zurecht, wie Sie ihn brauchen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf - damit weiche ich prinzipiell von der Meinung des Ministers ab - wird keine Rechtssicherheit geschaffen. Im Gegenteil: Die Bürgerinnen und Bürger werden dadurch schlechter gestellt. Schließlich fällt durch den Wegfall des Planfeststellungsverfahrens auch die Pflicht der Betreiber unter den Tisch, nachweisen zu müssen, wie sicher ihr Atommülllager letztendlich ist. Wird das Gesetz beschlossen, dann kehrt sich die Beweislast um. Dann müssen die Bürgerinnen und Bürger nachweisen, dass von der Asse eine Gefahr ausgeht. Ich sage Ihnen: Diese Beweislastumkehr ist unverantwortlich. Die Verrenkungen, die Sie mit Ihren Notstandsgesetzen machen, haben übrigens auch ein Gutes. ({6}) Der Bevölkerung wird immer deutlicher, dass die Atomtechnik ein Tanz auf dem Vulkan ist. ({7}) Kollege Nüßlein, wären Sie einmal nach Gorleben gekommen, ({8}) dann hätten Sie gesehen, wie die öffentliche Meinung ist, wie die Bevölkerung darüber denkt. ({9}) Nur eines hilft, nämlich der schnellstmögliche Ausstieg aus der Atomwirtschaft. Ich muss klipp und klar sagen: Der rot-grüne Atomkonsens ist keine Gewähr dafür. Er ist nicht mehr und nicht weniger als eine Bestandsgarantie für die Schrottmeiler von Brunsbüttel bis Krümmel. Die Hinterlassenschaften vergraben und verbuddeln das ist Ihr Motto. Das, was dabei herauskommt, erleben wir gerade bei der Asse II. ({10}) Es ist ein Skandal, dass CDU und CSU angesichts dieser Tatsache weiter für Atomkraft werben. Kollegin Dött, ich habe hier manche schöne Rede von Ihnen zum Thema Nachhaltigkeit gehört. Dieser Gesetzentwurf hat damit gar nichts, aber auch wirklich gar nichts zu tun.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Heilmann, achten Sie bitte auf die Zeit.

Lutz Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003766, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Mehrheit der Bevölkerung durchschaut Ihre Politik. Ich kann Ihnen versichern, dass Sie damit nicht durchkommen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl das Wort.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister! Ich werde mich in den üblichen kurzen vier Minuten auf die Änderungen des Atomgesetzes beschränken, die die Asse betreffen, und mich zur Datenproblematik dann im Umweltausschuss äußern. Die Bundesregierung hat uns eine AtG-Novelle vorgelegt, deren Zielsetzung wir von den Grünen teilen. Wir fordern seit zwei Jahren, die Asse unter das Atomrecht zu stellen. Dafür ist dann auch das entsprechende Regelwerk erforderlich. Der Gesetzentwurf kommt aber, gemessen an der Brisanz des Tatbestands, schon etwas schlampig daher. Es ist doch nicht verwunderlich, Herr Minister, dass die Anwohner der Asse, die in den vergangenen Jahren so oft beschwichtigt - um nicht zu sagen: belogen - wurden, ein gut begründetes Misstrauen gegenüber allen Behörden entwickelt haben, die mit der Asse befasst sind, und sich von Formulierungen wie „ist unverzüglich stillzulegen“ oder „für den Weiterbetrieb bedarf es keiner Planfeststellung“ verunsichert fühlen. ({0}) Bei normalen Verhältnissen wäre eine solche Formulierung kein Problem; deswegen unterstelle ich auch nichts. An der Asse ist aber nun einmal nichts mehr normal. Das ist doch ein Skandal; das wissen wir alle. Dieser Skandal setzt sich aus Unbedarftheit, Verantwortungslosigkeit, Nicht- und Desinformation, Vertuschung und Verleugnung, eventuell bis hin zu krimineller Energie zusammen. Für seine Behandlung ist nur noch Dreierlei zulässig: absolute Korrektheit, Transparenz und Vermeidung jeglicher Zweideutigkeit. ({1}) Sie wussten genauso wie ich und viele andere, dass die Abwicklung der Asse kein Spaßjob wird, weswegen sich auch niemand darum gerissen hat. Der Job ist jetzt in den richtigen Händen; aber er muss jetzt auch so erledigt werden, dass die Betroffenen vor Ort endlich wieder Vertrauen fassen können. ({2}) Deshalb müssen missverständliche Formulierungen bereinigt werden. Es muss klargemacht werden, dass „Stilllegung“ den Optionenvergleich umfasst. Es reicht nicht, Herr Nüßlein, dass man mit gutem Willen herauslesen könne, dass es so gemeint sei; es ist nicht Aufgabe eines Gesetzes, Gutwilligkeit vorauszusetzen. Es muss klar sein, dass die Akzeptanz oder das Eingeständnis, dass wir es hier mit einem Endlager ohne durchgeführtes Planfeststellungsverfahren zu tun haben, keinen Präzedenzfall schafft. Schließlich müssen die Berichtspflicht gegenüber dem Parlament, die Finanzierung und die Zusammensetzung der Arbeitsgruppe „Optionenvergleich“ festgeschrieben werden. Die Hiobsbotschaften aus der Asse reißen nicht ab: im Sommer letzten Jahres die kontaminierten Laugen, vor wenigen Tagen die einsturzgefährdete Kammer 4 und die Nässe bei Kammer 9 und gestern die Nachricht von zehn bleiummantelten Fässern in Kammer 4, was durchaus zu Sorge hinsichtlich des Inhalts dieser Fässer veranlassen kann. Der heutige Versuch einer Entwarnung durch das Niedersächsische Umweltministerium kann da nicht wirklich beruhigen, da sie auf Angaben der damaligen Absender basiert, die nie kontrolliert wurden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie eindringlich, unseren Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu unterschreiben. ({3}) Wollen wir weiterhin monatlich oder wöchentlich über die Presse erfahren, was gerade wieder mehr oder weniger zufällig an weiterer Brisanz in der Asse entdeckt wird, oder wollen wir das Heft des Handelns endlich selbst in die Hand nehmen und entscheiden, dass wir alles wissen wollen: warum was wann getan oder unterlassen wurde und was tatsächlich in die Asse eingelagert wurde? Befürchtungen, dass bei einem Untersuchungsausschuss Funktionsträgerinnen und Funktionsträger der eigenen Partei in den Fokus geraten, sollten wir alle hintanstellen. Ich sage Ihnen: Ja, auch der Bundesumweltminister von 1998 bis 2005, der ein Grüner war, wird scharf angeschaut werden. So what! Geht es uns um Schutzzäune für unsere Parteimitglieder oder darum, einen Umgang mit der Asse zu entwickeln, der die Menschen vor Ort endlich wieder Vertrauen in die damit befassten Institutionen fassen lässt? Herr Nüßlein, wir haben im Umweltausschuss keine Anhörung zur Asse durchgeführt, sondern wir haben eine gemeinsame Sitzung mit dem Forschungsausschuss gehabt, in der Vertreter der Helmholtz-Gemeinschaft kein Rederecht gehabt haben. ({4}) Das hat mit einer Anhörung nichts zu tun gehabt. Deswegen war unsere Forderung völlig richtig. Lassen Sie uns jetzt Klarheit und Eindeutigkeit in die Lex Asse des Atomgesetzes bringen, und fordern Sie mit uns gemeinsam den Untersuchungsausschuss! Die Menschen vor Ort werden es Ihnen danken. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Christoph Pries für die SPD-Fraktion. ({0})

Christoph Pries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003874, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über die 10. Novelle zum Atomgesetz. Die Bedeutung der heutigen Debatte ergibt sich aus dem zweiten Teil des Gesetzes, dem Betreiberwechsel für die Schachtanlage Asse II. Das Thema Asse brennt den Menschen im Landkreis Wolfenbüttel unter den Nägeln. Vertreter der Asse-Begleitgruppe sind heute extra nach Berlin gekommen, um unsere Debatte zu verfolgen. Im Namen der SPD-Bundestagsfraktion begrüße ich sie ganz herzlich im Deutschen Bundestag. ({0}) Mit der vorliegenden Novelle zum Atomgesetz zieht die Bundesregierung einen Schlussstrich unter eine 30 Jahre währende Hängepartie. Am 31. Dezember 1978 endete die Einlagerung von radioaktiven Abfällen in das sogenannte Versuchsendlager Asse II. Insgesamt wurden 46 930 Kubikmeter schwach- und mittelradioaktiver Abfall im ehemaligen Salzbergwerk bei Remlingen eingelagert. Damals verkündeten alle Experten, das Grubengebäude sei trocken und standsicher. Die Schachtanlage wurde sogar als Pilotprojekt für Gorleben gehandelt. ({1}) 30 Jahre später haben sich alle wissenschaftlichen Voraussagen als falsch erwiesen. ({2}) Seit 1988 fließen täglich 12 000 Liter Salzlauge in die Schachtanlage. Die Standsicherheit des Grubengebäudes ist gefährdet. Das Bundesamt für Strahlenschutz hat erst am letzten Freitag beantragt, den Verschluss einer Einlagerungskammer wegen Einsturzgefahr zu verstärken. Seit 2005 existiert ein radioaktiv kontaminierter Laugensumpf vor Einlagerungskammer 12. Die Schachtanlage Asse ist ein Menetekel für die Unsicherheiten und Gefahren, die mit der Endlagerung radioaktiver Abfälle verbunden sind. ({3}) Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich, dass Bundesumweltminister Sigmar Gabriel im vorliegenden Gesetzentwurf für die Asse klare Verhältnisse schafft: Erstens. Seit 1. Januar 2009 ist das Bundesamt für Strahlenschutz Betreiberin der Schachtanlage Asse. Die Verantwortung in der Bundesregierung wechselt vom Forschungs- auf das Umweltministerium. Damit wird die politische Verantwortung dorthin übertragen, wo sich auch die fachliche Kompetenz befindet. Zweitens. Die Schachtanlage Asse wird in Zukunft wie ein Endlager behandelt. Drittens. Für die Stilllegung wird ein Planfeststellungsverfahren nach Atomrecht durchgeführt. Um Gefahren für Menschen und Umwelt abzuwehren, wollen wir die Schachtanlage Asse II schnellstmöglich stilllegen. Bei der Schachtanlage Asse II gilt für die SPD-Bundestagsfraktion derselbe Grundsatz, den wir in der Endlagerfrage insgesamt vertreten: Sorgfalt und Langzeitsicherheit gehen vor Schnelligkeit. ({4}) Das bedeutet: Im Rahmen des atomrechtlichen Planfeststellungsverfahrens wird der geplante ergebnisoffene Optionenvergleich durchgeführt. Dieser umfasst auch die Möglichkeit einer teilweisen oder vollständigen Rückholung der eingelagerten Abfälle. - Es trifft nicht zu, dass im Gesetzentwurf etwas Gegenteiliges festgeschrieben wird, wie Sie glauben machen wollten, Herr Heilmann. - Es sind alle notwendigen Sicherungs- und Stabilisierungsmaßnahmen zu ergreifen, um die Durchführung eines ordnungsgemäßen atomrechtlichen Planfeststellungsverfahrens zu gewährleisten. Die umfassende Beteiligung der Öffentlichkeit wird zu jedem Zeitpunkt der Entwicklung und Realisierung des Stilllegungskonzeptes gewährleistet. - Diese Ziele werden mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erreicht. Panikmache, wie sie derzeit vom Niedersächsischen Umweltministerium betrieben wird, ({5}) hilft in dieser Situation überhaupt nicht. Sie vermittelt eher den Eindruck einer politischen Retourkutsche, die von eigenem Versagen ablenken soll. ({6}) Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, das Problem Asse II im Interesse von uns allen zu lösen! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/11609 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta Haßelmann, Grietje Staffelt, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Medienkompetenz Älterer stärken - Die digitale Kluft schließen - Drucksache 16/11365 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Ausschuss für Kultur und Medien Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, dass Sie auch mit diesem Vorschlag einverstan- den sind. Es handelt sich um die Reden folgender Kolle- ginnen und Kollegen: Philipp Mißfelder und Markus Grübel für die Unionsfraktion, Angelika Graf und Jürgen Kucharczyk für die SPD-Fraktion, Sibylle Laurischk für die FDP-Fraktion, Dr. Lothar Bisky für die Fraktion Die Linke und Britta Haßelmann für die Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/11365 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der aufsichtsrechtlichen Vorschriften der Zahlungsdiensterichtlinie ({1}) - Drucksachen 16/11613, 16/11640 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Albert Rupprecht für die Unionsfraktion, Martin Gerster für die SPD-Fraktion, Frank Schäffler für die FDP-Fraktion, Dr. Axel Troost für die Fraktion Die Linke und Dr. Gerhard Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Anlass für das Zahlungsdiensteumsetzungsgesetz ist die Umsetzung der europäischen Zahlungsdiensterichtli- nie in nationales Recht. Die Union begrüßt die grundsätz- liche Idee hinter der Richtlinie und dem Gesetz: die Schaffung eines modernen, einheitlichen Zahlungsver- kehrsraums für unbare Zahlungen im europäischen Binnenmarkt. Das ist die konsequente Ausweitung der Wettbewerbsidee des Binnenmarktes auf den Zahlungs- verkehr. 1) Anlage 23 Albert Rupprecht ({0}) Wir sind zuversichtlich, dass sich daraus positive Folgen für Verbraucher und Wirtschaft ergeben. Das Ziel ist, dass die Nutzung von Zahlungsdiensten einfacher, sicherer und billiger wird. In welchem Umfang, wird sich in der Praxis zeigen. Den Binnenmarkt ausweiten und daraus Nutzen ziehen ist die Grundidee des Vorhabens. Wir müssen Wert darauf legen, dass dies auch erreicht wird. Das gilt für die Zahlungsdiensterichtlinie und für den Entwurf des Zahlungsdiensteumsetzungsgesetzes ({1}). Wir als deutscher Gesetzgeber müssen insbesondere den Gesetzentwurf darauf prüfen: Was ist gut umgesetzt? Und was muss noch weiter besprochen werden? Wichtig ist: Das ZAG setzt nur einen Teil der Richtlinie in deutsches Recht um. Es geht dabei um den aufsichtsrechtlichen Teil der Zahlungsdiensterichtlinie. Diese regelt das Verhältnis zwischen Zahlungsdienstleistern und Staat. Deshalb soll hier Hauptaugenmerk auf diesen Teil gerichtet werden. Der zivilrechtliche Teil der EU-Richtlinie wird gesondert in einem anderen Gesetzgebungsverfahren umgesetzt. Dort wird es um das Verhältnis zwischen Zahlungsdienstleistern und Kunden gehen. Wie bringt uns die Zahlungsdiensterichtlinie dem Ziel - mehr Wettbewerb - näher? Derzeit gibt es verschiedenste Dienstleister, die den Zahlungsverkehr in der EU abwickeln. Wenn diese aber national fragmentiert agieren, herrscht wenig Wettbewerb. Deshalb ist es sinnvoll, dass wir den Zahlungverkehrsraum einheitlich machen. Die Richtlinie beinhaltet daher einige wesentlichen Elemente, um dies zu erreichen: So gilt die Richtlinie für alle unbaren Zahlungsdienstleistungen innerhalb der EU. Erfasst werden Kreditinstitute ({2}) und Postscheckämter, im Internet sogenannte E-Geld-Institute, die Staaten selber und ihre Zentralbanken. Für alle anderen, beispielsweise Kreditkartenunternehmen, wird die neue Kategorie des Zahlungsinstituts geschaffen. Die Richtlinie ermöglicht den gleichen Marktzugang für alle zugelassenen Zahlungsdienstleister überall in der EU. Es gelten künftig klare und gleiche Regeln für die Zulassung der Unternehmen in der EU. Darüber hinaus werden eindeutige Zuständigkeiten und klare Kompetenzen für die mit der Aufsicht betrauten Behörden festgelegt. Und schlussendlich enthält die Richtlinie weitgehende Regelungen zum Schutz der Kunden und ihrer Gelder. Grundsätzlich sind diese Elemente der RL geeignet, den Zahlungsverkehrsraum zu vereinheitlichen und Wettbewerb zu schaffen Zentrale Elemente des deutschen ZAG sind entsprechend die Einführung der neuen Kategorie Zahlungsinstitute in Deutschland, die Einführung von Regeln für die Aufsicht über diese Institute und die Einführung von Regeln zum Schutz der Kundengelder. Welche Punkte des Vorhabens sind besonders hervorzuheben? Zum einen werden nun alle Anbieter von Zahlungsdienstleistungen erfasst. Das ermöglicht gleichen Marktzugang für alle, verstärkt den Wettbewerb und erhöht die Auswahl für die Verbraucher. Außerdem ermöglicht das einen hohen Verbraucherschutz bei allen Instituten gleichermaßen. Dazu gehört insbesondere die insolvenzrechtliche Absicherung bei Zahlungsinstituten. Denn bei diesen gibt es keine Einlagensicherung wie bei Banken. Kundengelder werden dort strikt von anderen Geldern getrennt. Dies gilt in Deutschland auch unterhalb von Summen von 600 Euro. Deutschland hat hier ein Wahlrecht der EU-Richtlinie zugunsten der Kunden ausgelegt. Klare Befugnisse für die Aufsichtsbehörden in diesem Bereich sind ein weiterer Fortschritt durch das Gesetz. Aber es bestehen auch noch offene Fragen, die diskutiert werden müssen. Das ZAG muss an das Jahressteuergesetz 2009 angepasst werden. Zusammen mit der Einführung des Bankenprivilegs bei der Gewerbesteuer für Factoringunternehmen wurden diese auch einer Aufsicht nach dem KWG unterstellt. Dies war zum Zeitpunkt des Regierungsentwurfs des ZAG jedoch noch nicht bekannt. Allerdings erbringen einige Zahlungsinstitute auch Factoringleistungen. Deshalb ist zu klären, ob hier unnötige Doppelaufsicht vorliegt. Die Frage nach einer unnötigen Doppelaufsicht stellt sich auch an anderen Stellen, zum Beispiel bei Kreditinstituten, die keine Einlageinstitute sind. Dem sollten wir nachgehen. Gibt es darüber hinaus Bereiche, in denen das ZAG über die zugrunde liegende Richtlinie hinausgeht? Auch dies muss noch im Detail untersucht werden. Wem gegenüber muss beispielsweise ein Zahlungsdienstleister seine Fähigkeit zur Teilnahme an einem Zahlungsdienstesystem darlegen? Nur gegenüber dem Systembetreiber oder auch gegenüber jedem anderen Teilnehmer? Ist sichergestellt, dass reine Interbankenzahlungen nicht vom Gesetz erfasst werden? Es wird auch noch zu hinterfragen sein, ob die neuen Zahlungsinstitute auf einigen Gebieten ungerechtfertigte Vorteile genießen, zum Beispiel im Bereich der Kreditgewährung. Der Bundesrat hat darüber hinaus bereits Bedarf zur Klarstellung angemeldet, dass Zahlungen innerhalb von Konzernen oder Verbundgruppen nicht von ZAG und Richtlinie betroffen sein sollen. Die Bundesregierung scheint dies auch aufzunehmen. Die Prüfung ist auf jeden Fall notwendig. Ein weiterer Punkt ist noch anzusprechen: die SEPALastschrift. Sie ist zwar nicht Bestandteil des ZAG, aber Teil der EU-Richtlinie und wird in Deutschland im zivilrechtlichen Teil umgesetzt. Die SEPA-Lastschrift ist jedoch ein wichtiges Thema für Banken, Verbraucher und Unternehmen. Deswegen sollte es hier kurz erwähnt werden. Bei deren Umsetzung stehen wir in Deutschland vor der Frage, wie es mit unserem gut funktionierenden und kostengünstigen Lastschriftverfahren weitergehen soll. Soll sich die SEPA-Lastschrift im Wettbewerb der Systeme im Markt beweisen? Oder soll der Gesetzgeber bei der Einführung nachhelfen? Ich denke, wir sollten mit dem Thema sensibel umgehen und auch die Umsetzung des zivilrechtlichen Teils der Richtlinie genau prüfen. Die Umsetzung der Zahlungsdiensterichtlinie ist in Deutschland auf einem guten Weg. Wenn wir die letzten Detailpunkte in den kommenden Wochen sinnvoll lösen können, wird der europäische Binnenmarkt um ein gutes Stück erweitert und verbessert. Zu Protokoll gegebene Reden

Martin Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Sprichwort sagt: Vorsicht ist besser als Nachsicht. In Anwendung auf die Rolle der Banken im Zuge der Finanzmarktkrise müsste es heißen: Eine gute Aufsicht ist besser als eine gute Absicht. Im Bereich der Bankenaufsicht wurden mit Basel II wichtige Schritte gemacht, weitere müssen folgen, wenn wir die Finanzmärkte weltweit wieder in den Griff bekommen wollen. Dabei müssen wir über den europäischen Rahmen hinaus denken - zum Beispiel wenn es um die zukünftige Rolle des Internationalen Währungsfonds geht oder die Weiterentwicklung des Financial Stability Forums. Auch auf europäischer Ebene gibt es in Aufsichtsfragen genug zu tun. Darum befassen wir uns heute mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, der sich mit der aufsichtsrechtlichen Umsetzung der Zahlungsdiensterichtlinie befasst. Worum geht es? Zunächst einmal um nicht mehr - aber auch nicht weniger - als die Schaffung eines neuen, europaweit einheitlichen Zulassungs- und Aufsichtsrahmens für alle Finanzdienstleistungen, die bargeldlosen Geldtransfer beinhalten. Regelungsbedarf besteht vor allem im Bereich der so genannten Zahlungsinstitute, die - anders als Kreditinstitute - keine Einlagen annehmen und - anders als E-Geld-Institute - kein elektronisches Geld ausgeben dürfen. Gerade hier soll die Umsetzung der Richtlinie dazu beitragen, Markteintrittsbarrieren abzubauen und gleiche Wettbewerbsbedingungen im europäischen Binnenmarkt zu schaffen. Es geht aber auch um Sicherheit aller Kunden, die auf diese Dienste zurückgreifen. Anders als bei Kreditinstituten sind die von Zahlungsdiensten verwalteten Gelder nämlich nicht durch eine Einlagensicherung geschützt. Bei Geschäften mit Kreditkarten können sich Geldbeträge jedoch bis zu mehreren Wochen im Besitz der Kreditkarteninstitute befinden. Geht der Zahlungsdienstleister in die Insolvenz, wartet der Kunde möglicherweise vergeblich auf sein Geld. Auch in diesem Bereich gilt es deshalb, entsprechende Risiken rechtzeitig zu minimieren. Hier setzt der vorliegende Gesetzentwurf an. Mit ihm werden Zahlungsinstitute, ähnlich wie Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute, bestimmten solvenzrechtlichen Vorschriften und aufsichtsrechtlichen Pflichten unterworfen. Diese sollen zukünftig der Kontrolle durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ({0}) unterliegen. Um in Deutschland zugelassen zu werden, müssen die Zahlungsinstitute angemessene Eigenmittel vorhalten und besondere Sicherungsanforderungen für den Fall einer Insolvenz erfüllen. Wir können es jeden Tag in der Zeitung lesen: Vertrauen und Sicherheit sind im Umgang mit dem hochsensiblen Thema Finanzen derzeit Mangelware. Deshalb ist mir umso wichtiger, dass der Gesetzentwurf ganz im Sinne eines konsequenten Gläubigerschutzes steht: Er garantiert, dass Gelder, die von Zahlungsinstituten zur Weiterleitung entgegengenommen wurden, in vollem Umfang und unabhängig von ihrer Höhe abgesichert sein müssen. Das ist ein notwendiger Fortschritt, dem wir uns nicht verweigern dürfen. Je früher wir zu einer solchen Regelung kommen, desto besser. Dies umso mehr, da die Umsetzung der Zahlungsdienstleistungsrichtlinie einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Verwirklichung der SEPA darstellt. Durch diesen einheitlichen europäischen Raum für Zahlungsverkehr werden Überweisungen, Lastschriften und Kartenzahlungen innerhalb der Europäischen Union einfacher, sicherer und effizienter. Auch dies kann nur in unser aller Interesse sein. Bei aller Freude über den vorliegenden Entwurf aus dem Haus von Peer Steinbrück habe ich mich über die Stellungsnahme des Bundesrates zu diesem Gesetzesvorhaben doch sehr gewundert: Dort findet sich der Vorschlag, im Zuge der Richtlinienumsetzung auch das Informationsfreiheitsgesetz zu ändern, um die Auskunftspflichten der BaFin einzuschränken, angeblich, um Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse zu schützen. Zur Erinnerung: Dieses Gesetz haben seinerzeit wir unter Gerhard Schröder 2005 auf den Weg gebracht. Es spricht jedem Bürger grundsätzlich Anspruch auf Informationen aus der öffentlichen Verwaltung zu. Und dies gilt ausdrücklich auch für Auskünfte aus dem Bereich Finanz-, Wertpapier- und Versicherungsaufsicht. Schon heute stellt das Gesetz jedoch sicher, dass Informationen nicht erteilt werden müssen, wenn diese nachteilige Auswirkungen auf die Kontrollaufgabe der Behörde haben können. Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sind umfassend geschützt. Für mich steht glasklar fest: Die Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht auf Einblick in das Handeln der staatlichen Verwaltung. Ich sehe deshalb keinen Grund, warum wir ausgerechnet hier die Uhr zurückdrehen sollten. Dass entsprechende Vorschläge gerade jetzt und gerade aus Bayern kommen, lässt mich aufhorchen. Schließlich regiert doch hier seit kurzem die Bürgerrechtspartei FDP mit. Ich zitiere den Kollegen Max Stadler, der sich in seiner Rede vom 3. Juni 2005 folgendermaßen zum Informationsfreiheitsgesetz äußerte: Sie gehen einen Schritt in die richtige Richtung. Was Sie machen, ist aber nicht liberal und bürgerfreundlich genug. Wir wollen den Gesetzentwurf nicht ablehnen, weil das Grundanliegen von uns geteilt wird; aber wir können auch nicht zustimmen, weil es wirklich nur eine Minimalregelung ist. Damals wünschte sich der Kollege aus Passau für seine Fraktion „ein großzügigeres und bürgerfreundlicheres Gesetz“. Offenbar ist die liberale Großzügigkeit in Bayern mittlerweile versiegt.

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der vorliegende Gesetzentwurf unterstellt die neue Kategorie der Zahlungsinstitute dem Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz ({0}) und setzt damit den aufsichtsrechtlichen Teil der Zahlungsdiensterichtlinie um. Ziel der Zahlungsdiensterichtlinie ist die Schaffung des Einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrsraums SEPA ({1}). Dieses Projekt ist politisch gewollt und bürdet der Kreditwirtschaft enorme Kosten und Umstellungsaufwand auf. Die öffentliche Hand zeigt sich bisher zögerlich bei Zu Protokoll gegebene Reden der Nutzung der SEPA-Produkte. Die Bundesregierung hat in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDPFraktion ausgeführt, es sei nun im Rahmen eines marktgetriebenen Prozesses Aufgabe der Kreditwirtschaft, die Endnutzer von den Vorteilen von SEPA zu überzeugen. Die öffentliche Verwaltung sei nicht anders als andere Endnutzer einzustufen. Bezüglich der Nutzung durch die öffentliche Hand ist jedoch festzuhalten, dass sie mit über 50 Prozent des Zahlungsverkehrs maßgeblich verantwortlich für einen Erfolg des Projekts Einheitlicher EuroZahlungsverkehrsraum ist. Sie ist kein gewöhnlicher Nutzer, sondern muss bei der Umstellung auf SEPA vorangehen. Dann hätten die Banken auch Nutzer, auf die sie verweisen könnten, wenn sie andere Kunden von den Vorteilen von SEPA überzeugen wollen. Dass die Bundesregierung es mit SEPA wirklich ernst meint, kann sie nur zeigen, wenn sie ihre eigene Blockadehaltung überdenkt. Bei der Schaffung der gesetzlichen Rahmenbedingungen muss das Grundprinzip sein, SEPA möglichst unbürokratisch einzuführen. Der vorliegende Gesetzentwurf wird diesem Anspruch noch nicht gerecht. Er verursacht Bürokratiekosten für die Wirtschaft in Höhe von 1,5 Millionen Euro durch insgesamt 34 neue Informationspflichten. So sollen Nichteinlagenkreditinstitute, die Zahlungsdienste erbringen, nun doppelt beaufsichtigt werden. Ihnen drohen damit doppelte Eigenmittelberechnungen und doppelte Kosten für die Beaufsichtigung durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Wir müssen im Laufe der Gesetzesberatungen insgesamt prüfen, wo der Anwendungsbereich des ZAG konkretisiert werden muss. Darüber hinaus haben die Sachverständigen bereits auf einige Detailfragen hingewiesen, die noch nicht gelöst sind.

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Bisher gilt in Deutschland und den meisten europäischen Ländern: Der Zahlungsverkehr ist ein Bankgeschäft. Nun will die Bundesregierung auch Institute ohne Bankerlaubnis zum Zahlungs- und Kreditgeschäft zulassen. Kreditkartenunternehmen, Mobilfunkbetreiber und Einzelhandelsunternehmen sollen in den Zahlungsverkehr einsteigen dürfen, ohne mit einer Bank zusammenzuarbeiten. Ob Geld überweisen, Kredite vergeben oder Kreditkarten verkaufen: Alles soll möglich sein ohne Bankerlaubnis, ohne Bankkonto, ohne Bankaufsicht. Was heißt das für Verbraucherinnen und Verbraucher? Um diese Frage zu beantworten, greife ich drei zentrale Probleme auf: die Kosten, die „Finanzaufsicht light“ und die Haftung. Zu den Kosten: Verbraucherschutzorganisationen kritisieren zu Recht die überhöhten Gebühren, die Kreditkartenunternehmen von Not leidenden Kundinnen und Kunden erheben. Statt Armen und Migrantinnen und Migranten ein Bankkonto zu garantieren, will die Bundesregierung sie in die Schattenwirtschaft abschieben. In manchen Stadtvierteln Englands sind bereits 30 Prozent der Bevölkerung mangels Bankkonto auf überteuerte Finanzshops angewiesen. Geißel der Überschuldung sind dabei Kreditkarten. 70 Prozent der Überschuldung in den USA gehen allein darauf zurück. Davon unberührt öffnet das vorliegende Gesetz Tor und Pforte für Wucherzinsen und Umschuldungskarussells in Deutschland und Europa. Einer verantwortlichen Kreditvergabe spricht die Regierung Hohn, obwohl gerade das eine Lehre aus der Finanzkrise sein sollte. Damit bin ich beim Problem der „Finanzaufsicht light“. Das Gesetz sieht für Finanzshops deutlich niedrigere Standards vor als für zugelassene Banken. Zum Beispiel müssen Finanzshops viel geringere Eigenmittel vorhalten. Und obwohl sie Geldbeträge annehmen, um Überweisungen auszuführen - bei Kreditkarten kann das mehrere Wochen dauern -, fallen sie nicht einmal in die Einlagensicherung. Zwar dürfen Mobilfunkbetreiber und Einzelhandelsunternehmen nur als Nebentätigkeit Kredite vergeben, doch die Auflage bleibt eine unbestimmte Grauzone. Statt Finanzshops eine Kreditvergabe mit zwölfmonatiger Laufzeit einzuräumen, fordern Verbraucherschützer eine Höchstgrenze von vier Monaten. Denn nur eine wirklich kurze Frist kann den möglichen Einstieg in die Verschuldungsspirale abwenden. Für Verbraucherinnen und Verbraucher, die auf Finanzshops angewiesen sind, bedeutet das Gesetz höhere Kosten und höhere Risiken. Umso frappierender ist - ich komme zur Haftung -, Verbraucherinnen und Verbrauchern die Beweislast aufzubürden. Wer seine Karte nicht genutzt oder keinen Auftrag gegeben hat, steht bei Instituten ohne Bankerlaubnis selbst in der Beweispflicht. Festlegen soll das ein weiteres Gesetz. Das Stornierungsrecht - bei Banken derzeit bis sechs Wochen nach Buchung garantiert - soll bei den Finanzshops komplett entfallen. Wohin man auch schaut: Das vorliegende Gesetz dient nicht den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Es dient denen, die ohne Bankerlaubnis auf Kundenfang gehen. Die Regierung will die Schattenwirtschaft hoffähig machen - und das auf Kosten der Allgemeinheit. Das Gesetz ist rückwärtsgewandt, weil es wider besseres Wissen dereguliert statt reguliert. Besonders dreist dabei: Die Bundesregierung preist es als modern an. Doch lassen wir uns nicht für dumm verkaufen! Für meine Fraktion kann ich in aller Klarheit sagen: Dieses Gesetz lehnen wir ab. Es gehört auf den Müllhaufen der Geschichte.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nun haben wir die Richtlinie über Zahlungsdienste im Binnenmarkt ({0}) nach langem Vorlauf in der parlamentarischen Beratung. Sie soll als Teil der Lissabonstrategie dazu beitragen, Europa zum dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Die Richtlinie ist auch Teil der Bestrebungen der EU-Kommission - im Auftrag der EU-Mitgliedstaaten -, den einheitlichen Binnenmarkt im Bereich der Finanzdienstleistungen weiter zu vervollständigen. Diesem Ziel stimmen wir grundsätzlich zu, auch wenn wir Ungleichgewichte sehen. Diese beziehen sich auf die unterschiedliche Berücksichtigung der Interessen der FinanzwirtZu Protokoll gegebene Reden schaft und der Verbraucherinnen und Verbraucher. Bezeichnend ist, dass bei der Erstellung des Entwurfs der Richtlinie Verbraucherschutzverbände nicht involviert waren. Das zeigt einmal mehr, dass Verbraucherschutz auf EU-Ebene immer noch nur eine untergeordnete Rolle spielt. Der grenzüberschreitende Zahlungsverkehr ist tragende Säule des Binnenmarktes; wichtig ist er auch in der täglichen Realität vieler Menschen, die grenzüberschreitend reisen oder zeitweise in einem anderen EU-Land leben. Für sie ist beispielsweise die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Lastschrift ein echter Fortschritt. Auch deshalb befürworten wir grundsätzlich eine Harmonisierung im Zahlungsverkehr. Die Richtlinie wurde auch deshalb in Angriff genommen, um schlummernde Effizienzgewinne im Bankensektor zu realisieren. Sie werden von der EU-Kommission auf rund 10 Milliarden Euro geschätzt. Uns ist wichtig, dass diese Effizienzgewinne auch den Verbraucherinnen und Verbrauchern zugutekommen. Wir werden im parlamentarischen Verfahren besonderen Wert darauf legen, dass die Bürgerinnen und Bürger einen fairen Anteil an diesen Gewinnen erhalten. An einer besonders heiklen Stelle ist erkennbar, dass die Bundesregierung bei ihrem nun vorliegenden Umsetzungsvorschlag den Spielraum der Richtlinie nicht zugunsten der Verbraucherinnen und Verbraucher genutzt hat. Es geht um die Haftungsfragen bei EC- oder Kreditkarten. Bisher war der Selbstbehalt auf 150 Euro unbesehen weiterer Umstände beschränkt. Wenn also jemand nach dem Diebstahl seiner Zahlungskarte nicht in der Lage war, diese sofort sperren zu lassen, war der Selbstbehalt auf 150 Euro gedeckelt. Das ist nun aufgehoben. Der Verbraucher muss nachweisen, dass er nicht in der Lage war, die Zahlungskarte sperren zu lassen. Das ist unter Umständen nur schwer zu leisten, umständlich und offenbart wenig Zutrauen in die Redlichkeit der Kundinnen und Kunden. Wir werden im weiteren parlamentarischen Verfahren darauf drängen, diese und andere Vorschriften zugunsten der Verbraucherinnen und Verbraucher zu ändern. Zu diskutieren wird auch sein, wie die Umstellung auf SEPA erfolgt. Erfolgt das rein marktgetrieben? Oder sieht man das als rein politisches Projekt, wo die Politik die Verantwortung hat, den Systemwechsel durch ihre eigenen Möglichkeiten aktiv voranzutreiben? Fest steht jedenfalls, dass man sich nicht nur mit der Ausgestaltung des neuen Zustands des Zahlungsverkehrs und der Aufsicht beschäftigen kann, sondern in unseren Beratungen auch die Umstellungsfrage und faktische Hindernisse bei der Umstellung berücksichtigt werden müssen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 16/11613 und 16/11640 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 22. Januar 2009, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.