Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/26/2008

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich. Vor Eintritt in unsere Tagesordnung möchte ich - sicherlich im Namen des ganzen Hauses - der deutschen Fußballnationalmannschaft herzlich zum Einzug ins Finale der Europameisterschaft gratulieren. ({0}) - Ich sehe stehende Ovationen bei einzelnen Mitgliedern des Hauses. Ich beziehe in diese Gratulation ausdrücklich die türkische Mannschaft ein, die mit bewundernswertem Einsatz, großem Kampfgeist und stetiger Fairness dieses Spiel ganz wesentlich mitbestimmt hat. ({1}) Sowohl Kampfgeist als auch Fairness hat auch die überwiegende Mehrheit der deutschen wie der türkischen Fans gezeigt, die sich im Stadion sowie auf den Straßen und Plätzen dementsprechend bewegt und dargestellt haben. Ich glaube, der gestrige Abend hat zur Gemeinschaft der Türken und Deutschen in Deutschland erheblich beigetragen. ({2}) Nun müssen wir nach den außerordentlichen Ereignissen zu den normalen Geschäften zurückkehren, was nicht ganz leicht fällt. Wir beginnen mit der Wahl eines Mitglieds des Beirats bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt erneut Professor Manfred Wilke vor. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Damit ist Professor Wilke für eine weitere Amtszeit gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Haltung der Bundesregierung zu dem Bericht der US-Luftwaffe über Sicherheitslücken bei den US-Atomwaffenlagern in Deutschland und Europa ({3}) ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy, Marieluise Beck ({5}), Volker Beck ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Entwicklung in Afghanistan - Strategien für eine wirkungsvolle Aufbauarbeit kohärent umsetzen - Drucksachen 16/8887, 16/9685 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Christian Ruck Christel Riemann-Hanewinckel Hüseyin-Kenan Aydin ({7}) ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Trittin, Ute Koczy, Kerstin Müller ({9}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Staatsaufbau in Afghanistan - Pariser Konferenz zur kritischen Überprüfung und Kurskorrektur des Afghanistan Compacts nutzen - Drucksachen 16/9428, 16/9711 Berichterstattung: Abgeordnete Eckart von Klaeden Detlef Dzembritzki Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert Dr. Norman Paech Kerstin Müller ({10}) ({11}) ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hellmut Königshaus, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Die Regierungsverhandlungen mit China zur Neuorientierung der Entwicklungszusammenarbeit und zur Förderung der chinesischen Zivilgesellschaft nutzen - Drucksache 16/9745 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({12}) Finanzausschuss ZP 5 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({13}) a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({14}) zu der Verordnung der Bundesregierung Einhundertsiebte Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste - Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung - - Drucksachen 16/9211, 16/9391 Nr. 2.1, 16/9698 - Berichterstattung: Abgeordnete Ulla Lötzer b) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({15}) Übersicht 11 über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- gericht - Drucksache 16/9782 - c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({16}) zu den Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 2/08 und 2 BvR 1010/08 - Drucksache 16/9783 Berichterstattung: Abgeordneter Andreas Schmidt ({17}) d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 442 zu Petitionen - Drucksache 16/9767 - e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 443 zu Petitionen - Drucksache 16/9768 - f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 444 zu Petitionen - Drucksache 16/9769 - g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 445 zu Petitionen - Drucksache 16/9770 - h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 446 zu Petitionen - Drucksache 16/9771 - i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 447 zu Petitionen - Drucksache 16/9772 - j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24}) Sammelübersicht 448 zu Petitionen - Drucksache 16/9773 - k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 449 zu Petitionen - Drucksache 16/9774 - l) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26}) Sammelübersicht 450 zu Petitionen - Drucksache 16/9775 - m) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27}) Sammelübersicht 451 zu Petitionen - Drucksache 16/9776 ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung zur unrechtmäßigen Einleitung radioaktiver Lauge in das ehemalige Salzbergwerk Asse II ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Müller ({28}), Dr. Uschi Eid, Ute Koczy, weitePräsident Dr. Norbert Lammert rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Angebot an die namibische Nationalversammlung für einen Parlamentarierdialog zur Versöhnungsfrage - Drucksache 16/9708 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({29}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Toncar, Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr ({30}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Menschenrechtslage in Tibet verbessern - Drucksache 16/9747 ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({31}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Festnahme des chinesischen Dissidenten Hu Jia Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. Januar 2008 zur Inhaftierung des chinesischen Bürgerrechtlers Hu Jia EuB-EP 1652; P6_TA-PROV ({32}) 0021 - Drucksachen 16/8609 A.9, 16/9822 Berichterstattung: Abgeordnete Erika Steinbach Dr. Herta Däubler-Gmelin Michael Leutert Volker Beck ({33}) ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, Hellmut Königshaus, Dr. Christel Happach-Kasan, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Glaubwürdigkeit von G8 nicht verspielen Maßnahmen zur Bekämpfung der Nahrungsmittelkrise auf dem Gipfeltreffen in Hokkaido beschließen - Drucksache 16/9750 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({34}) Finanzausschuss ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uschi Eid, Kerstin Müller ({35}), Marieluise Beck ({36}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ursachen der Piraterie vor der somalischen Küste bearbeiten - Politische Konfliktlösungsschritte für Somalia vorantreiben - Drucksache 16/9761 ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel Bahr ({37}), Martin Zeil, Heinz Lanfermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Auswüchse des Versandhandels mit Arzneimitteln unterbinden - Drucksache 16/9752 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({38}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- weit erforderlich, abgewichen werden. Die Tagesordnungspunkte 21 und 46 e werden abge- setzt. Sind Sie auch mit diesen Vereinbarungen einverstan- den? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so be- schlossen. Ich rufe unsere Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen ({39}) - Drucksache 16/6140 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({40}) - Drucksache 16/9737 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb Mechthild Dyckmans Ulrich Maurer b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({41}) zu dem Antrag der Abgeordneten Mechthild Dyckmans, Birgit Homburger, Hartfrid Wolff ({42}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP GmbH-Gründungen beschleunigen und entbürokratisieren - Drucksachen 16/671, 16/9737 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb Mechthild Dyckmans Ulrich Maurer Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt je ein Entschließungsantrag der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen. Präsident Dr. Norbert Lammert Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries. ({43})

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Die Reform des GmbH-Rechts, die wir heute verabschieden, ist, wie Herr Gehb - ich glaube, gegenüber der FAZ schon gesagt hat, eine historische Reform. ({0}) Es ist in der Tat eine Überarbeitung des GmbHRechts, wie wir sie seit 1892 noch nicht gehabt haben. Es ist eine ganz massive Entrümpelung und eine Anpassung dieses Rechts an die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse. Insofern bedanke ich mich dafür, dass wir so weit gekommen sind. Ich glaube, mit mir danken ganz viele Bürgerinnen und Bürger, auch junge Menschen, die Unternehmen gründen wollen. Unser Haus verzeichnet zwar zu vielen Themen Eingänge, aber es war auffällig, dass gerade zur Reform des GmbH-Rechts viele Briefe und E-Mails kamen. Die Menschen haben uns gefragt: Wann seid ihr denn endlich so weit? - Die Reform ist schließlich sehr umfangreich beraten worden. Die meisten wollen keine Limited, sondern eine vereinfachte GmbH, und dass sie keine Limited wollen, ist eine richtige und gute Entscheidung. Dankenswerterweise ist im Zusammenhang mit der Reform unseres GmbH-Rechts in den Zeitungen häufig verbreitet worden, welche Nachteile es bringt, wenn man zwar zunächst die Limited wählt, dann aber nach einem Jahr feststellt, dass man seine Geschäftsabschlüsse leider in Englisch und in London vorlegen muss. Das ist dann für viele Menschen eine Überraschung. Insofern ist es richtig und gut, dass wir mit diesem Gesetzentwurf eine konkurrenzfähige Gesellschaftsform zur Verfügung stellen. Meine Damen und Herren, wir haben hinsichtlich der Gründung einer GmbH einen Aspekt sehr lange und sehr sorgfältig diskutiert, und dieser betrifft die Änderungen beim Mindeststammkapital. Wie Sie wissen, hat es eine vollständige Änderung gegenüber dem Regierungsentwurf gegeben. Wir haben seinerzeit eine Absenkung des Mindeststammkapitals auf 10 000 Euro vorgeschlagen, weil man ein gewisses Kapital braucht, um eine Gesellschaft zu gründen. Denn ohne Kapital kann man nicht einmal ein Telefon anmelden oder einen Schreibtisch kaufen. Hierzu gab es andere Auffassungen, und wir haben gute Diskussionen geführt. Darüber hinaus fand eine sehr gute Sachverständigenanhörung statt, die uns geholfen hat, den richtigen Weg zu finden. Deswegen gibt es jetzt neben der Form der alten GmbH - so will ich es einmal sagen - mit 25 000 Euro Mindeststammkapital die neue Variante der GmbH, die sogenannte Unternehmergesellschaft ({1}), die insbesondere durch den Einsatz eines einzelnen Abgeordneten dieses Hauses in das Gesetz aufgenommen wurde. Vielen Dank, Herr Dr. Gehb, für diese weitreichenden Vorschläge, die wir aufgegriffen haben! ({2}) - Na gut, so nickelich sind wir nicht. ({3}) Wir schaffen damit für die Existenzgründer in diesem Lande genau das, was sie erwarten, nämlich eine Kapitalgesellschaft ohne festes Mindeststammkapital. Das wird Unternehmungsgründungen erheblich erleichtern und damit auch die Innovationskraft in Deutschland stärken. Wichtig ist doch, dass neue Ideen auch schnell in die Tat umgesetzt werden können. Das ist es, was wir wollen, um den Wissensstandort Deutschland voranzubringen. Es ist nicht so, als ob wir nur die Unternehmensgründung erleichtern würden, indem wir das Kapital absenken und kleinere Änderungen vornehmen. Vielmehr - ich habe es schon am Anfang gesagt - reformieren wir das GmbH-Recht umfassend, und zwar zum ersten Mal. Eine Vielzahl von Reformen kennen wir aus dem Aktienrecht. Man spricht beim Aktienrecht bereits von der „Aktienrechtsreform in Permanenz“. Beim GmbH-Recht ist genau das Gegenteil der Fall: Es ist eher eine Geschichte gescheiterter Reformvorhaben. Der erste Anlauf erfolgte bereits 1937, im Anschluss an die Aktienrechtsreform, und blieb im Zweiten Weltkrieg stecken. Der zweite Reformanlauf Anfang der 70er-Jahre schaffte es nicht bis in den Rechtsausschuss. Rückblickend muss man wohl sagen: Das war eine ganz gute Entscheidung. Denn man wollte damals das GmbHRecht mit rund 300 Paragrafen im Grunde dem Aktienrecht anpassen und der Aktiengesellschaft, die damals erste Siegeszüge antrat, eine vergleichbare Rechtsform an die Seite stellen. Ich meine, es war gut, dass man es so nicht gemacht hat. Denn wir brauchen keine zweite Aktiengesellschaft. Vielmehr brauchen wir die GmbH als eine Rechtsform für den Mittelstand, also für die vielen Hunderttausenden von kleinen Unternehmungen, die das Rückgrat der deutschen Wirtschaft bilden sollen. Diese Gesellschaftsform muss flexibel sein. Sie muss anpassungsfähig sein, und sie muss vor allen Dingen einfach zu verstehen und zu handhaben sein. ({4}) Genau dieses stellen wir jetzt mit dem überarbeiteten GmbH-Recht sicher. Wir verfolgen ein Konzept der starken Deregulierung. Das heißt, wir wollen die Gründung der GmbH sehr viel einfacher und vor allen Dingen sehr viel schneller machen. Das ist unser Ziel. Vieles, was vor 100 Jahren im Verwaltungsablauf noch selbstverständlich war, ist heute nicht mehr notwendig. Ich nenne als Beispiel die nachgeschalteten Verwaltungsgenehmigungen. Es ist heute beispielsweise noch üblich, dass man, wenn man eine Gaststätte aufmachen will, zunächst ein Gesundheitszeugnis braucht und sich erst danach die GmbH eintragen lassen kann. Künftig kann dies parallel laufen, was zu einer Beschleunigung führt. Das mag zwar nur ein kleines Beispiel sein, aber es ist eines von vielen Beispielen, die zeigen, dass wir die Geschwindigkeit bei der GmbH-Eintragung deutlich erhöhen. Gleichzeitig bekämpfen wir quasi als Gegengewicht die Missbräuche am „Lebensende“ einer GmbH sehr nachdrücklich. Insbesondere die sogenannten Bestattungsfälle von GmbHs, denen sich schon ein eigener Gewerbezweig widmet, sollen härter verfolgt werden. Gescheiterte Unternehmer werden sich in Zukunft also nicht mehr ihrer Verantwortung entziehen können. Das MoMiG verlagert die Gewichte weg von einer vorbeugenden Formstrenge hin zu einer nachsorgenden Kontrolle, die erst im Krisenfall eingreift, dann aber mit größerer Schärfe als in der Vergangenheit. Die Reform knüpft also an das an, was wir gemeinhin mit dem mündigen Verbraucher oder mit dem aufgeklärten Bürger und der aufgeklärten Bürgerin meinen. Die Idee ist, dass sie sich informieren und möglichst vernünftige Entscheidungen treffen sollen. Nur im Versagensfall soll eingegriffen werden. Ein weiteres grundlegendes Ziel des Entwurfs ist die Rückkehr zum bilanziellen Denken im Haftungskapitalsystem der GmbH. Das betrifft sowohl die Kapitalaufbringung als auch die Kapitalerhaltung. Das Stichwort ist hier Cash-Pooling, ein Begriff, den insbesondere die Töchter von größeren Unternehmen kennen und der deshalb für die Großkonzerne unserer Wirtschaft von Bedeutung ist. Auch wenn viele Bürgerinnen und Bürger gewollt hätten, dass die Reform etwas eher in Kraft tritt, meine ich: Es war gut, dass wir diese große Reform nicht übers Knie gebrochen haben. Dass sie jetzt ein Jahr später als ursprünglich geplant vollendet wird, ist meines Erachtens kein Schaden. Denn wir können heute sagen: Wir werden ein Gesetz verabschieden, das im Hause intensiv unter Zuhilfenahme des Sachverstandes der Abgeordneten beraten worden ist und in das die Meinung vieler Sachverständiger eingeflossen ist. Ich möchte mich bei Ihnen allen recht herzlich dafür bedanken, dass am Ende eine Reform dabei herausgekommen ist, von der wir sagen können: Sie wird uns helfen, die Rechtsform für den Mittelstand zukunftsfest für die nächsten Jahre zu gestalten. Das ist ein wichtiges Signal für den Wirtschaftsstandort Deutschland. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Mechthild Dyckmans, FDP-Fraktion. ({0})

Mechthild Dyckmans (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003752, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Um es gleich vorweg zu sagen, lieber Kollege Gehb: Der ganz große Wurf ist diese Reform nach Meinung der FDP nicht. ({0}) Frau Ministerin, die Ziele, die Sie sich mit dieser Reform gesetzt haben, begrüßen wir. Die Umsetzung ist allerdings gerade in dem von dem Kollegen Gehb so besonders herausgestellten Teil nicht gelungen. Wirtschafts- und Mittelstandspolitik heißt für die FDP zum einen, strukturelle Probleme abzubauen. Unsere Unternehmen müssen von überflüssiger Bürokratie befreit werden. Deshalb unterstützen wir auch die mit der Reform angestrebte Deregulierung. Dass Sie den FDPVorschlag aufgenommen haben, die Eintragung ins Handelsregister von der Vorlage behördlicher Genehmigungen zu lösen, begrüßen wir ausdrücklich. Beschleunigung bei der Handelsregistereintragung haben wir aber auch schon durch das gemeinsam in dieser Legislaturperiode verabschiedete EHUG erreicht. So ist die Gründung einer GmbH nach neuesten Zahlen bei uns in Deutschland heute schon in durchschnittlich sechs Werktagen möglich. Der EU-weite Durchschnitt liegt bei dem Doppelten. Wir sind also bisher gar nicht so schlecht. Wichtig ist für uns Liberale auch eine Vereinfachung des GmbH-Rechts. Gesetze müssen verständlich und in der Praxis handhabbar sein. Gerade das GmbH-Gesetz war jedoch sehr kompliziert, und die dazu entwickelte Rechtsprechung des BGH war kaum noch nachvollziehbar. Eigenkapitalersetzende Darlehen, Cash-Pooling, verdeckte Sacheinlage - dies alles sind Begriffe, bei denen sich Unternehmer und Rechtsanwälte die Haare rauften. Es wurde Zeit für eine Vereinfachung und für die Schaffung von Rechtssicherheit. Es wird sich aber erst in Zukunft herausstellen, ob die gefundenen Regeln tatsächlich die richtigen Lösungen sind; die Sachverständigen hatten hier doch noch einige Bedenken. Das dritte Ziel des Gesetzentwurfes, das Sie angesprochen haben, die Missbrauchsbekämpfung, haben Sie für die Voll-GmbH, wie wir meinen, im Großen und Ganzen nicht schlecht umgesetzt. Leider zerstören Sie mögliche Erfolge durch die Einführung der Mini-GmbH. In den letzten Tagen ist mir gerade aus dem Bundesjustizministerium immer wieder vorgehalten worden, man habe mit der GmbH-Reform einen sehr liberalen Gesetzentwurf vorgelegt und verstehe daher überhaupt nicht, warum die FDP diesem Gesetzentwurf nicht zustimme. ({1}) - Ich werde es Ihnen erklären. - Wir tragen den Gesetzentwurf nicht mit, weil Sie mit der Mini-GmbH einen Systembruch begehen, der nicht notwendig ist und der - im Gegenteil - dem Wirtschaftsstandort schaden wird. ({2}) Liberale Politik heißt für uns nicht Beliebigkeit, heißt nicht Rosinenpickerei, heißt nicht, ohne ordnungspolitischen Rahmen jeden gerade so agieren zu lassen, wie es für ihn am einfachsten ist. Liberale Politik bedeutet Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und Übernahme von Verantwortung für wirtschaftliches Handeln. All dies haben Sie bei der Mini-GmbH nicht. ({3}) Sie verlassen den ordnungspolitischen Rahmen, indem Sie eine Kapitalgesellschaft ohne Kapital zulassen, und das, obwohl Sie - wenn auch spät - wieder zu der Einsicht gekommen sind, dass die Absenkung des Mindeststammkapitals für die GmbH gerade nicht der richtige Weg ist. Auch wenn Kollege Gehb immer wieder glaubt, mich darüber belehren zu müssen, dass das Stammkapital keine Voraussetzung für Gläubigerschutz ist, so kann ich nur sagen: Jawohl, lieber Jürgen, das weiß ich. ({4}) Aber das Stammkapital ist ein wichtiges Signal ({5}) für Wirtschaftskraft, für Seriosität und damit letztendlich auch für Gläubigerschutz. ({6}) Wer nicht einmal bereit ist, einen bestimmten Betrag für seine unternehmerische Idee einzusetzen, um damit die Ernsthaftigkeit seines Unternehmens zu unterstreichen, wird scheitern. ({7}) Wie begründen Sie denn die Beibehaltung des Mindeststammkapitals? Da spricht man davon, das Ansehen der GmbH als verlässlicher Rechtsform des Mittelstandes nicht beschädigen zu wollen und dass das Stammkapital als Seriositätsschwelle notwendig sei. Das alles liest sich doch wie die Argumentation der FDP. Warum aber gelten diese Argumente nicht für die Mini-GmbH? Sie nehmen sehenden Auges in Kauf, dass unseriöse Gesellschaften am Wirtschaftsleben teilnehmen. Ihnen ist es egal, welcher wirtschaftliche Schaden da entsteht. ({8}) Mit der Einführung der Mini-GmbH - Frau Ministerin hat es gesagt - wollen Sie auf die britische Limited eingehen, obwohl Sie wissen, dass eine solche Gesellschaftsform nicht notwendig ist. Waren Sie, Frau Ministerin, es nicht, die ausdrücklich vor dem Gehb-Modell gewarnt hat? ({9}) Haben Sie nicht noch kurz vor Verabschiedung des Regierungsentwurfs in der FAZ erklärt - ich zitiere Sie -: Die Mini-GmbH ist ein Zugeständnis an den Koalitionspartner... Und - das haben Sie heute noch einmal gesagt -: Ganz ohne Kapital kann man kein Unternehmen gründen, auch nicht im Dienstleistungssektor. Was hat Sie nun eigentlich vom Gegenteil überzeugt? Das haben Sie heute nicht erklärt. Die Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss kann es nicht gewesen sein. Die Mehrheit der Sachverständigen war weder von der Notwendigkeit noch gar von der Seriosität der MiniGmbH überzeugt. ({10}) Es ist richtig: Wir hatten in den letzten Jahren einen kurzfristigen Boom von Limiteds in Deutschland, kurzfristig deshalb, weil nur ungefähr die Hälfte der Limiteds statistisch das erste Geschäftsjahr überlebt und nur 3 Prozent - ich wiederhole: 3 Prozent - die ersten beiden Jahre. Demgegenüber sind die GmbHs viel stabiler. Nur 2,5 Prozent der GmbHs geraten im ersten Jahr in finanzielle Schwierigkeiten. Es ist also richtig, dass ein Großteil der Limiteds wirtschaftlich keinen Erfolg hatte. Warum? Diese Limiteds sind schlicht überschuldet. Das liegt nicht am britischen Recht, sondern an der fehlenden Finanzstärke dieser Limiteds. So wurde das Insolvenzverfahren bei 70 Prozent der Limited-Insolvenzen im Jahr 2006 mangels Masse nicht einmal eröffnet. Von diesen Insolvenzen - das bitte ich zu beachten - waren knapp 1 500 Arbeitnehmer in Deutschland betroffen, und die ausstehenden Forderungen beliefen sich auf rund 130 Millionen Euro. So viel zum gesamtwirtschaftlichen Schaden. ({11}) Mini-GmbHs werden dasselbe Schicksal erleiden wie die Limiteds. Sie werden bei Lieferanten, bei Banken und bei Behörden auf Vorbehalte treffen. Sie sind hoch insolvenzanfällig. Man kann natürlich sagen: Das ist das Risiko des einzelnen Geschäftsmannes. Es wird auch die Meinung vertreten, man könne die Mini-GmbH doch erst einmal ausprobieren. Wir Liberale fragen aber auch nach dem potenziellen wirtschaftlichen Schaden. ({12}) Wir fragen: Wer sind denn die Verlierer dieser Reform? Eine ganz klare Antwort hat der Sachverständige Professor Goette bei der Anhörung gegeben: Verlierer ist die Allgemeinheit. Der Fiskus, die Sozialkassen und die kleinen Gläubiger sind die Gelackmeierten. - Das sind nicht meine Worte, sondern die Worte von Professor Goette. Bei jedem insolventen Unternehmen gibt es Gläubiger, die ihr Geld nie sehen. Steuern und SozialabMechthild Dyckmans gaben - das wissen wir - sind das erste, was eine Firma nicht mehr zahlt, wenn sie wirtschaftliche Schwierigkeiten hat. Arbeitnehmer und deren Familien sind von dem wirtschaftlichen Fiasko besonders betroffen. Es wird versucht, die Mini-GmbH als „Einstiegsvariante“ zur GmbH hinzustellen, so in der FAZ, nach einer Pressemitteilung von Herrn Gehb. Wenn sie das denn wenigstens wäre, wenn man wirklich die Möglichkeit geschaffen hätte, zunächst mit einem geringen Mindestkapital zu beginnen, dann aber die GmbH mit einer festen Frist zu einer Voll-GmbH zwingend aufschließen zu lassen und umzufirmieren, dann wäre das noch ein gangbarer Weg gewesen. Eine solche Verpflichtung sieht der Gesetzentwurf aber nicht vor. Man hält bewusst an den zwei eigenständigen Formen fest, und das ist falsch. Das ganze Konzept der Mini-GmbH wird nicht gebraucht. Es nutzt niemandem. Zum Abschluss möchte ich auf eine ganz besondere Variante des Gesetzes eingehen. Das GmbH-Gesetz wird ein gesetzliches Musterprotokoll für Notare enthalten. Ausgerechnet der Notar, der am besten ausgebildete Jurist, ({13}) der zu Recht weiterhin alle Gründungen vornehmen soll, bekommt gesetzliche Beratung. Diesen Unsinn kann man einfach nicht mitmachen. ({14}) Es ist nicht Aufgabe des Gesetzgebers, Musterverträge, Mustersatzungen und Musterprotokolle vorzugeben. Glauben Sie wirklich, man kann unseren Alltag in gesetzliche Muster pressen? Wollen wir demnächst darüber nachdenken und darüber diskutieren, welche Formularhandbücher für Notare und Rechtsanwälte künftig Gesetzesrang erhalten sollen? Nein, diesen Unsinn machen wir von der FDP nicht mit. ({15}) Lassen Sie mich noch einen kurzen Satz zu dem Entschließungsantrag der Grünen sagen: Das ist Rosinenpickerei pur. Sie wollen zum einen eine Haftungsbeschränkung bei Kapitalgesellschaften und zum anderen die steuerliche Behandlung als Personengesellschaft. ({16}) - Das ist genau der Punkt. Dazu sagen Sie so gut wie gar nichts. ({17}) Wie der Gläubigerschutz aussehen soll, sagen Sie nicht. Das ist genau der Punkt. Sie wollen zwar, dass die Unternehmen Gewinne machen, aber die Risiken und die Schäden wollen Sie sozialisieren und auf die Allgemeinheit verlagern. Da machen wir nicht mit. ({18}) Zur vorliegenden Reform kann ich nur sagen: Ja, wir brauchen eine Kultur der Selbstständigkeit. Ja, wir brauchen Existenzgründer, also Menschen, die bereit sind, wirtschaftliche Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Ja, wir brauchen eine starke, seriöse, schnell und unbürokratisch zu gründende GmbH. Aber nein, wir brauchen weder eine Mini-GmbH noch ein gesetzliches Musterprotokoll. Manchmal ist weniger schlicht mehr. Danke schön. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dr. Jürgen Gehb ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manche Gesetzesvorhaben kommen völlig unspektakulär daher und entpuppen sich erst bei näherer Betrachtung als politische Schwergewichte. In diese Kategorie fällt auch die GmbH-Reform. Sie ist nicht nur die umfassendste Reform des GmbH-Rechts seit dem Bestehen der GmbH im Jahre 1892, sondern sie wird auch von manch einem in der Fachliteratur, aber auch in der gängigen Literatur, die jedermann zugänglich ist, als kleine Revolution bezeichnet. Frau Ministerin und Kollegin Dyckmans, der Herrgott verzeihe Ihnen Ihre Übertreibungen, die Sie mir bei der Urheberschaft zugebilligt haben, und mir, dass ich sie ganz gerne gehört habe. In den verschiedensten Zirkeln, zum Beispiel auf dem Deutschen Juristentag und bei Podiumsdiskussionen, wird schon sehr lange über die GmbH, über Defizite und über mögliche Veränderungen diskutiert. Nun ist das Diskutieren das eine, das Umsetzen ist das andere. Dazu braucht man nämlich Gestaltungskraft. Die Große Koalition ist auf dem Gebiet der Rechtspolitik handlungswillig und vor allen Dingen handlungsfähig. ({0}) Die Große Koalition wird hier und heute den Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen verabschieden. Letztlich kommt es nicht darauf an, ob man Zeitungsartikel schreibt, ob man Interviews gibt oder ob man Fachaufsätze verfasst, es kommt nur darauf an, was schwarz auf weiß im Bundesgesetzblatt steht. In einigen Wochen wird dies im Gesetzblatt stehen. Das ist die Leistung der Großen Koalition. ({1}) Ich möchte ohne Anspruch auf Vollständigkeit - und schon gar nicht wie in einer Rechtsvorlesung - wenigstens stakkatohaft auf einige Gesichtspunkte eingehen und sie aufzählen. Es gibt - das ist schon genannt worden - die berüchtigten Beerdigungsfälle, also Firmenbestattungen am Ende einer Gesellschaft. Es gibt die verzwickten verdeckten Sacheinlagen. Es gibt die großen verdrussbereitenden eigenkapitalersetzenden Darlehen und sonstige Leistungen, Nutzungsüberlassungen und Vorratsgesellschaften. Schließlich geht es um das ganz kontrovers diskutierte Cash-Pooling-System und vieles mehr. All diese damit verbundenen Ärgernisse schaffen wir ab. Die geplante Modernisierung werden wir erreichen. All den Missbrauch, den es bisher gegeben hat, werden wir verhindern. ({2}) Lassen Sie uns einen kurzen Augenblick Zeit nehmen und bei der Frage verweilen: Warum ist eine Reform des GmbH-Rechts notwendig? Die GmbH wird ja als das Erfolgsmodell seit ihrer Geburtsstunde 1892 bezeichnet, und 1 Million Gesellschaften mit beschränkter Haftung ist ein schlagender Beweis dafür. ({3}) Aber alle Erfolgsmodelle, ob es sich um Autos oder sonstige Waren und Güter handelt, kommen natürlich irgendwann in die Jahre und behalten ihren Erfolgsmodellcharakter nur, wenn sie den Zeiten angepasst werden. Das haben wir getan. ({4}) - „Neues Design“ sagt Herr Benneter. ({5}) Zu diesen bisher nur nationalen Gesichtspunkten einer Veränderung des GmbH-Rechts und einer Reform an Haupt und Gliedern gesellt sich eine europäische Variante, nämlich - die Kenner von Ihnen wissen es - die europäische Rechtsprechung des EuGH. Ich nenne nur die Verfahren Centros, Daily Mail, Überseering oder Inspire Art. Sie haben dazu geführt, dass wir aus unseren geradezu paradiesischen Verhältnissen - jedenfalls hinsichtlich der Exklusivität der deutschen Rechtsordnung jäh auf den Boden der Wirklichkeit zurückgeworfen worden sind. Plötzlich stellen wir fest, dass sich deutsche Firmengründer auch anderer europäischer Rechtsformen bedienen können, zum Beispiel einer französischen oder einer spanischen. Beispielhaft bzw. pars pro toto sei die englische Limited erwähnt, die in quantitativer Hinsicht - das ist schon gesagt worden - noch immer eine große Bedeutung hat. Diese europäischen Herausforderungen kann man nicht bewältigen, wenn man nur eine Änderung der GmbH-Konfiguration, wie wir sie kennen, vornimmt. Es ist nun einmal nicht möglich, eine Allzweckwaffe bzw. eine - ich formuliere es einmal volkstümlich - eierlegende Wollmilchsau zu schaffen. Man kann nicht einen Sportwagenfahrer, der gerne Porsche fährt, einen sechsfachen Familienvater, der einen Caravan braucht, und eine biedere Familie, die gerne ein Mittelklasseauto fährt, oder den Single mit einem Smart gleichzeitig bedienen. Daher haben wir gesagt: Neben der Änderung bei der GmbH, die wir alle für notwendig halten und die wir ja vorgenommen haben, müssen wir auch eine spezifische Antwort auf die Herausforderungen der englischen Limited geben. Das haben wir mit der sogenannten haftungsbeschränkten Unternehmergesellschaft, kurz „UG“ genannt, getan. Sie wird ihren Platz in § 5 a des Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts finden, und das wird auch so bleiben. Meine Damen und Herren, was zeichnet eine haftungsbeschränkte Unternehmergesellschaft aus? Der Beweggrund, der uns zu dieser Regelung veranlasst hat, war, dass wir eine preiswerte, schnelle und unkomplizierte Gründung ermöglichen und auch die GmbH von dem Ballast, den sie mit sich bringt, entschlacken wollten. Unser Angebot ist die Gründung einer Gesellschaft mit einem Stammkapital von 1 Euro. Allerdings besteht die Pflicht zur Thesaurierung eines Viertels des jährlichen Gewinns, bis man das Stammkapital der GmbH eingezahlt hat. Liebe Mechthild Dyckmans, aus diesem Grunde haben wir die Höhe des Stammkapitals der GmbH bei 25 000 Euro belassen. Denn aufgrund des Angebots einer Einstiegsvariante war ein „Herumfummeln“ an der Stellschraube Stammkapital - nach dem Motto: 25 000 Euro, 10 000 Euro, 5 000 Euro; wer bietet mehr, wer bietet weniger? - gar nicht mehr nötig. Wir konnten diese zugegebenermaßen bedeutungsvolle Seriositätsschwelle beibehalten. Weil Sie eben von Konkursen geredet haben, möchte ich Sie fragen: Wissen Sie eigentlich, wie hoch die Insolvenzsumme im Falle des Konkurses einer klassischen GmbH ist? Im Schnitt beträgt diese Insolvenzsumme 800 000 Euro. 25 000 Euro Haftungskapital, mit dem man das abfangen will, ist auch nur eine Quantité negligable. Daher haben wir die Hürde für die Gründung bei einem Stammkapital von 1 Euro eingebaut. Im Gegensatz zu den erfolglosen Versuchen in der Vergangenheit, allerdings bei politisch anders gearteten Konstellationen - ich erinnere nur an das Mindestkapitalgesetz oder an das MiKaTraG -, haben wir es nun geschafft, der klassischen GmbH unter Beibehaltung ihrer Attraktivität für diejenigen, die sich ihrer schon bedienen, eine kleine Schwester zur Seite zu stellen. Meine Damen und Herren, es ging uns nicht nur darum, eine Regelung zu schaffen, die ein geringes Stammkapital vorsieht, sondern auch darum, die Gründungskosten zu verringern. Wer mit einer EinmannGmbH vorliebnehmen will und zum Notar geht, der zahlt 20 Euro Notargebühren und 100 Euro Registergebühren. Das Ganze geht auch noch ziemlich schnell, und die Gründungskosten bleiben mit ungefähr 150 Euro deutlich unter den Kosten für die Gründung einer Limited. Nun wird kritisiert, das Gründungsprotokoll sei Quatsch, und man brauche es nicht. Ich sage Ihnen: Wenn Sie heute zum Arzt gehen und sagen, dass Sie ein bestimmtes Rezept brauchen, dann greift der Arzt in eine Schublade, holt seinen 08/15-Rezeptblock heraus und schreibt es auf. Das kostet Privatpatienten wie mich, die den 2,3-fachen Satz zahlen müssen, 20,11 Euro. Wer mehr will, wem dieses Basismodell, dieser Smart Standard, nicht reicht, wer lieber einen Smart mit Schiebedach, parfümierten Haftreifen ({6}) und Ledersitzen will, der muss natürlich mehr zahlen. Wer mehr will, muss abhängig vom Geschäftswert von mindestens 25 000 Euro - da lacht das Herz, Herr Benneter, nicht wahr? - mit nach oben offenen Grenzen, freilich degressiv, mehr zahlen. Das wollen wir auch. Mehr Leistung - mehr Gegenleistung; das ist auch auf anderen Gebieten so, das ist ein ganz einfaches Prinzip. Wenn ich schon für die Urheberschaft der Unternehmergesellschaft verantwortlich gemacht werde, will ich sagen: Solange etwas Erfolg hat, wollen alle der Urheber gewesen sein. So ist es auch diesmal: Es ist kurios, wer sich jetzt alles als Erfinder der UG geriert. Bei Misserfolg steht man allerdings als Waisenknabe da. Aber abwarten! Es ist nicht nur der rechtspolitische Sprecher der Union, der sich für die UG ausgesprochen hat, auch aus der Wirtschaft kamen Rufe nach einer solchen Rechtsform. Ich erinnere daran, dass der Chefjustiziar des DIHK, Herr Dr. Möllering, gesagt hat: Wir brauchen noch eine zusätzliche Rechtsform für die ganz Kleinen. ({7}) Auch aus der Wissenschaft kamen entsprechende Stimmen. So gehen Teile dieser Idee auf den Nestor, auf den Doyen der deutschen Gesellschaftsrechtslehre, Herrn Professor Dr. Lutter, zurück; die UG hat ihm viel zu verdanken. Auch Professor Heribert Hirte hat uns mit zahlreichen Vorschlägen flankierend zur Seite gestanden. Ihm ist ebenso zu danken wie den Mitarbeitern des Justizministeriums, die, was die UG angeht, zwar zum Jagen getragen werden mussten - freilich, Herr Seibert -, aber das dann wunderbar begleitet haben. ({8}) Wir haben nicht nur national Rückenwind: Der Präsident der Wirtschaftskammer Österreichs hat erklärt, dass er auf ein ähnliches Gesetz wie für die GmbH-Reform in Deutschland nebst der UG warte. Wir brauchen uns nicht zu wundern, wenn die Österreicher demnächst mit einer ähnlichen Gesellschaftsrechtsform aufwarten. ({9}) Last, but not least: Wer gelegentlich liest - dieses „liest“ wird zugegebenermaßen anders geschrieben -, konnte gestern im Handelsblatt lesen, dass die Europäische Kommission, so Binnenmarktkommissar McCreevy, eine Europäische Privatgesellschaft einführen will: die sogenannte Societas Privata Europaea - in keiner meiner Reden darf ein lateinischer Ausdruck fehlen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, nach der Geschäftsordnung des Bundestages wäre es zulässig, auf lateinische Begriffe zu verzichten. ({0})

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich mache nur das, was zulässig ist - obwohl manche hier, was die freie Rede angeht, eigentlich gänzlich gegen die Geschäftsordnung verstoßen. ({0}) Die Europäische Kommission schlägt vor, dass es für die Gründung einer Societas Privata Europaea genügen soll, 1 Euro einzubringen. Ich möchte einmal wissen, wie Sie dagegen angehen wollen, Frau Dyckmans! Aber wollen wir warten, bis die Europäische Kommission endlich zu Potte kommt? Nein. Hic et nunc, hier und jetzt, heute machen wir das! ({1}) Ganz zum Schluss: Verehrte Frau Dyckmans, liebe Mechthild, ({2}) bei der ganzen Kritik, die du vorgelesen hast, hättest du dir an deinem parlamentarischen Urahnen, dem nationalliberalen Abgeordneten Dr. Bamberger ein Beispiel nehmen sollen, der sich schon am 21. März 1892 in der 199. Sitzung des Reichstages bei der Einführung der GmbH neben der Aktiengesellschaft - die übrigens genauso bekämpft worden ist wie jetzt die UG, die neben der GmbH eingeführt werden soll - wahrscheinlich - ich war nicht Zeitzeuge, auch wenn ich manchmal fast so aussehe ({3}) ganz lässig hingestellt und erklärt hat: Allen Verzagten und allen Kritikern sei gesagt, dass sie sich erst einmal anschauen sollen, wie sich das Neue in der Praxis bewährt. - Das empfehle ich auch. Wir sollten nicht aus Angst vor dem Tode Selbstmord begehen! Wir sollten uns anstecken lassen von dem Optimismus der Pioniere des Gesellschaftsrechts! ({4}) Wir sollten nicht kleinkariert und kleinmütig an einer Gesellschaftsrechtsreform herummäkeln, die - davon bin ich überzeugt - sowohl den Gründungswilligen als auch den Investoren als auch den großen Konzernen einen Rechtsrahmen bietet, innerhalb dessen die Leute ihre unternehmerische Findigkeit, ihren Ideenreichtum umsetzen können. Ich bin der Meinung, mit der Reform, die wir heute verabschieden, wird die GmbH, wird das Gesellschaftsrecht fit für das 21. Jahrhundert. Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Sabine Zimmermann, Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Dr. Gehb, Sie sprachen eben von einem neuen Design für das Gesetz. Ich denke, es geht nicht um die Fassade, sondern um den Inhalt. Deswegen muss ich Ihnen hier wirklich widersprechen. ({0}) Wir beraten heute einen Gesetzentwurf in zweiter und dritter Lesung, der den Namen, den er trägt, aus unserer Sicht nicht verdient. ({1}) Wir haben diesen Gesetzentwurf im Ausschuss - ich muss sagen: in seltener Einmütigkeit mit der FDP - abgelehnt. ({2}) Dies werden wir auch heute tun. Aus unserer Sicht gibt es keinen Anlass, die bewährte Rechtsform der GmbH durch eine neue Unterform zu ergänzen. Diese sogenannte Unternehmergesellschaft ist missbrauchsanfällig, bietet keinen hinreichenden Gläubigerschutz und ist deshalb aus unserer Sicht völlig überflüssig. ({3}) Als Grund für diese Gesellschaftsform hat Dr. Gehb - ich muss ihn wieder zitieren - in der ersten Lesung am 20. September 2007 Folgendes gesagt: Wir stehen in einem europäischen Wettbewerb nicht nur hinsichtlich der Erzeugung von Gütern und Dienstleistungen, sondern auch hinsichtlich der Rechtsordnungen und der Rechtsformen. Diesen Wettbewerb nehmen wir an. Wir wollen und müssen ihn gewinnen. ({4}) Für mich stellt sich die Frage, ob dieser von Ihnen ausgerufene Wettbewerb zwangsläufig so aussehen muss, dass die niedrigsten Standards anzusetzen sind. Wenn überhaupt ein Vergleich zwischen Rechtsordnungen gezogen werden kann, dann sollte dies aus der Sicht meiner Fraktion nach dem Maßstab der Verwirklichung sozialstaatlicher und demokratischer Grundsätze erfolgen. Dies scheint mir hier nicht der Motor und der Maßstab der Veränderung gewesen zu sein. Sie unterstellen, dass viele Gründer darauf angewiesen sind, möglichst viel Kapital mit einem möglichst geringen Risiko zu erwirtschaften. Warum dies das Beste ist, kann uns allerdings niemand begründen. Warum muss ein Unternehmer, der als Marktteilnehmer Gewinne erzielt, von den Risiken seines Tuns möglichst freigestellt werden? Ich frage Sie: Wie wollen Sie das den Millionen Arbeitslosen erklären, denen in den vergangenen Jahren immer mehr Risiken der Lebenssicherung aufgebürdet worden sind? ({5}) - Ja, ich frage auch Herrn Benneter zum Beispiel. Sie sind ja in einer sozialen, demokratischen Partei, deren Mitglied ich auch einmal war. ({6}) Die Gründer, die Sie mit 1 Euro mal eben eine Gesellschaft gründen lassen wollen, werden am Markt tätig sein. Die Unternehmergesellschaft wird also Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigen und darüber hinaus viele weitere Gläubiger haben. Was macht dieser Unternehmer denn, wenn er statt der erwarteten Gewinne ganz im Gegenteil Verluste einfährt? ({7}) Er wird früher oder später logischerweise in die Insolvenz gehen. Meine Kollegin von der FDP hat es gesagt: Wer dann die Kosten trägt, scheint Ihnen gleichgültig zu sein. ({8}) - Dass Sie nicht unserer Meinung sind, ist ja allgemein bekannt. ({9}) Ebenso gehen Sie darüber hinweg, dass die neuen Unternehmen, die mit einer weitestgehenden Haftungsbeschränkung entstehen sollen, sehr viel häufiger pleitegehen. Gerade das lehrt ja die Erfahrung mit den britischen Limiteds. Von den Unternehmern, die sich in Deutschland für diese britische Rechtsform entschieden haben, ist ein hoher Prozentsatz längst insolvent. Mit ihrer grandiosen Innovation, mit ihren Unternehmergesellschaften, organisieren Sie einen Wettbewerb der Pleiterekorde. Wenn es um Arbeitslose und Rentner geht, dann drehen Sie jeden Cent dreimal um. Wenn es aber um Gründer geht, dann soll es egal sein, wie viel Geld für Rechtsstreitigkeiten und sonstige Folgekosten verloren geht. Möglichst schnell und möglichst einfach sollen Unternehmen gegründet werden. Viel mehr als ein Dogma haben Sie hier nicht zu bieten. Sie alle haben sicherlich schon von Fällen gehört, in denen die Zahlung der Arbeitslöhne angefochten wurde und die Löhne an den Insolvenzverwalter zurückgezahlt werden mussten. Versetzen Sie sich jetzt doch bitte einmal in die Lage eines Arbeiters oder eines Angestellten. Sollen sie, wenn sie bei einem solchen Unternehmen beSabine Zimmermann schäftigt sind, ihren Lohn etwa gleich beim Insolvenzverwalter abgeben, weil sie ja schließlich wussten, dass sie bei einer GmbH light arbeiten, die eben immer ein bisschen mehr Risiko in sich birgt? Ich habe dies bewusst zugespitzt ({10}) - es hat garantiert etwas damit zu tun -, weil die Koalition, wie uns scheint, anders an eine GmbH-Reform herangeht, als wir das tun würden. Während sich die Koalition fragt, mit welchen Rechtsordnungen sie um die Wette eifern kann, richten wir unseren Blick auch auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und fragen uns, wie wir deren Situation in solchen GmbHs verbessern können. Hierzu gibt es allerhand Anknüpfungspunkte im Bereich der Demokratisierung der Entscheidungsprozesse in den Unternehmen. Auch der Gläubigerschutz muss gestärkt werden. Denn dadurch werden Arbeitsplätze erhalten und andere Unternehmen - vor allem im Mittelstand - davor geschützt, bei einer Krise des Vertragspartners selbst in eine Krise zu geraten. Es gäbe also viel zu tun. Mit der Unternehmergesellschaft marschiert die Koalition in die entgegengesetzte Richtung und vermindert den Gläubigerschutz. In der Begründung zur Einführung dieser Unternehmergesellschaft wird lapidar auf die Vielzahl von Gründungen in der Form der Limited hingewiesen. Wie viele Gründungen aber gibt es genau? Wie viele sind schon wieder gelöscht worden? Warum ist das geschehen, und wie ergeht es den Gläubigern solcher Limiteds? Welche Probleme ergeben sich für die Gründer selbst? All diese Fragen sind nicht seriös beantwortet worden, sonst hätten Sie diesen Gesetzentwurf nicht in dieser Form vorgelegt. Zum Teil sind die von mir genannten Fragen in der Anhörung des Rechtsausschusses beantwortet worden. Die Antworten fielen deutlich gegen die Unternehmergesellschaft aus. Es wurde klar herausgestellt, dass der faktische Verzicht auf das Stammkapital ein Risiko für die Gläubiger darstellt. Es wurde auf die französischen GmbHs mit weniger als 7 500 Euro Stammkapital hingewiesen. Ebenso wurde deutlich darauf hingewiesen, dass die englischen Limiteds viel insolvenzanfälliger sind als Unternehmen nach dem bislang geltenden deutschen Recht. Ähnliches droht nun mit der Einführung der unterkapitalisierten Unternehmergesellschaft. Gegen diese von uns und vielen Sachverständigen geäußerten Warnungen führen Sie merkwürdige Argumente an. Über das Argument, selbst die 25 000 Euro der GmbH, die als Stammkapital aufzubringen sind, seien nichts im Vergleich zu den gewöhnlich auftretenden Schulden, kann man sich nur wundern. Man fragt sich, ob es sich dabei um Zynismus oder Gedankenlosigkeit handelt. Sie vergessen auch die Seriositätsschwelle, die vom Stammkapital ausgeht. Die Ansparpflicht für das Stammkapital, die für die neue Unternehmergesellschaft gelten soll, mag für Sie eine kleine Beruhigungspille sein. Aus unserer Sicht ist das aber keine Lösung. ({11}) Es ist auch nicht gesagt, dass der Gesetzentwurf den Gründern selbst wirklich hilft. Denn sie kommen damit eher zu dem Trugschluss, dass nichts leichter ist, als ein Unternehmen zu gründen. Im Zweifel sind die Gründer besser beraten, wenn sie durch entsprechende Hürden davon abgehalten werden, unwirtschaftliche Unternehmungen zu gründen. Wegen mangelnder Kreditwürdigkeit werden sie von den Banken sowieso nur dann Geld bekommen, wenn sie persönlich haften. ({12}) - Ja, aber auch das kann durch Ihren Gesetzentwurf zu einem Problem werden; denn Sie fördern die Leichtfertigkeit im Umgang mit unternehmerischen Entscheidungen. ({13}) - Sie haben gleich die Möglichkeit, darauf einzugehen. ({14}) Ein zu schnelles und leichtfertiges Eingehen persönlicher Haftungsrisiken wird durch Ihr Gesetz indirekt gefördert. Wenn die Gründer mit ihrer Geschäftsidee falsch liegen, sind sie doppelt hart getroffen: als Unternehmer gescheitert und in persönlichen Schulden versunken. Sie haben an keiner Stelle den Bedarf für die Einführung der Unternehmergesellschaft nachgewiesen. Wenn Sie den Vergleich der Rechtsordnungen sozial verantwortlich und ernsthaft durchführen würden, dann wären ganz andere Schlussfolgerungen zwingend notwendig. Dann gäbe es längst den Mindestlohn. Da Sie aber diesen Vergleich nicht sozial verantwortlich durchführen, kann man nur mit Schrecken abwarten, welche Neuerungen uns beim großen Wettbewerb der Rechtsordnungen erwarten. Alles in allem kann man zur Einführung der Unternehmergesellschaft nur festzustellen: Wie Sie hier auf den Namen „Gesetzentwurf … zur Bekämpfung von Missbräuchen“ kommen, ist schleierhaft und vollkommen unverständlich. Sie öffnen dem Missbrauch Tür und Tor. ({15}) Wir werden dem nicht zustimmen. Danke. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat der Kollege Jerzy Montag das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich vorgestern die FAZ gelesen habe, war ich fast geneigt, den Einstieg meiner heutigen Rede zu verändern; denn dort steht, von 2006 bis 2008 sei die Zahl der Neugründungen erschreckend zurückgegangen. Ich dachte: Oh Gott! Was ist passiert? Ich habe ein ganz anderes Bild. Aber am Ende des gleichen Zeitungsartikels steht der Satz, verantwortlich für den Rückgang seien vor allem die gute Konjunktur in den vergangenen Jahren und die damit einhergehende Entspannung auf dem Arbeitsmarkt. Die höhere Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt erklärt also die gesunkene Zahl der Gründungen. Danach war ich ein bisschen beruhigt. Ich habe mich dann den Zahlen des Statistischen Bundesamtes zugewandt. Danach gab es im Jahr 2006 in Deutschland 53 000 GmbHNeugründungen, 12 500 sogenannte Neuzuzüge und 8 000 Übernahmen - dabei handelt es sich um die Errichtung einer GmbH durch Kauf, Erbe oder Rechtsformänderung -, insgesamt 77 500 GmbHs. Das GmbH-Recht ist seit fast 30 Jahren unverändert. Die angestrebte Reform ist die größte und strukturell entscheidendste seit der Gründung dieser Rechtsform. ({0}) Unternehmer haben ein Interesse, sich bei überschaubarem Risiko wirtschaftlich zu betätigen, einem Risiko, das auf die wirtschaftliche Betätigung begrenzt ist und nicht ihr Privatvermögen betrifft. ({1}) Dies ist seit über 100 Jahren ein Erfolgsmodell in Deutschland. Insbesondere der Linken sage ich: Der Mittelstand bildet den Kern dieses Modells mit überschaubarem wirtschaftlichen Risiko. Das ist auch der Kern dessen, mit dem in Deutschland die Arbeitslosigkeit bekämpft werden kann. ({2}) Sie wollen dieses Modell mit Ihren populistischen Äußerungen grundsätzlich schleifen. Damit greifen Sie unmittelbar in die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ein und erhöhen die Arbeitslosigkeit, statt mitzuhelfen, sie zu mindern. ({3}) Über die Jahrzehnte haben sich Schwächen beim GmbH-Recht herausgebildet. Wir haben Lücken erkannt, genauso wie die Rechtsprechung. Es haben sich neue Entwicklungen ergeben, die neue Regelungen erfordern. Mit dem Gesetz werden alle Probleme angepackt, von der Geburt bis zur Insolvenz und zur sogenannten Bestattung. Das ist der Kern des GmbH-Rechts. Wir unterstützen dieses Reformwerk und werden ihm zustimmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie suchen krampfhaft nach zwei, drei Punkten - und seien sie noch so unbedeutend -, um Ihre Ablehnung zu begründen. Das ist angesichts des Reformwerks überhaupt nicht angemessen. ({4}) Punkt eins ist das beurkundungspflichtige Musterprotokoll, liebe Kollegin Dyckmans. Fakt ist - die Kollegen Notare werden mir das bestätigen -: Die Notare haben das längst und brauchen kein Musterprotokoll. Sie haben sich längst auf das Gesetz vorbereitet und haben in ihrer eigenen Mustersammlung, die sie bei ihrem Verband kaufen, bereits ein entsprechendes Musterprotokoll, das sie per Knopfdruck abrufen können. Es stimmt, dieses beurkundungspflichtige Musterprotokoll wird nicht gebraucht. Aber das ist kein Grund, den Gesetzentwurf abzulehnen. Man muss wirklich mit der Lupe suchen, um so etwas zu finden. ({5}) Punkt zwei ist die Debatte über das sogenannte Gründungskapital. Ich sehe, dass man bei der Argumentation hin und her laviert. Die Bundesjustizministerin Zypries hat einmal gesagt: Es ist vernünftig, die Höhe des Mindeststammkapitals auf 10 000 Euro abzusenken, alles andere bringt nichts. Jetzt ist genau das Gegenteil eingetreten. Es ist etwas Neues hinzugekommen, nämlich die UG. Die Höhe des Mindestkapitals ist nicht auf 10 000 abgesenkt worden; sie ist bei 25 000 Euro geblieben, so wie wir es immer hatten. ({6}) - Hören Sie mir bis zum Ende zu. Die andere Argumentation ist: Diese Summe hat die Funktion einer Seriositätsschwelle. Ich halte das alles für Argumente neben der Sache. Wir haben von den Sachverständigen gehört - das wissen wir doch -, dass dies keine Seriositätsschwelle ist. ({7}) Ob man 10 000 Euro, davon 50 Prozent als Bareinlage, oder 25 000 Euro, davon 50 Prozent als Bareinlage, braucht, ist, je nachdem, wie man sich betätigen will, entweder viel oder gar nichts. Wenn man ein Darlehen braucht und dafür Schulden machen muss, gilt sowieso die persönliche Haftung. Sie sagen selber: Bei einer durchschnittlichen Insolvenzsumme von 800 000 Euro spielen 10 000 oder 25 000 Euro überhaupt keine Rolle. Die Frage über die Höhe des Gründungskapitals mag im 19. Jahrhundert eine Rolle gespielt haben. Heute ist das unerheblich. Deswegen ist die Frage, ob die Große Koalition und das Bundesjustizministerium bei dieser Position mal so und mal anders argumentiert haben, unwichtig, wenn es darum geht, wie man diesen GesetzentJerzy Montag wurf bewertet. Das ist der zweite Punkt, bei dem ich Ihnen vorwerfe, dass Sie ein Haar in der Suppe suchen. ({8}) Punkt drei. Viele junge Leute haben eine Idee und wollen Unternehmer werden und suchen daher nach einer neuen und modernen Form, in der sie sich betätigen können. Diesem Bedürfnis muss man Rechnung tragen. Wenn man das nicht tut, dann verschließt man viele Möglichkeiten und verbaut den jungen Menschen Zukunftschancen. Man muss ihnen vielmehr ein Angebot machen, damit sie mit einer Beschränkung in Höhe des finanziellen Risikos, das sie in ihrem Gewerbe oder in ihrem Unternehmen tragen können, anfangen können, sodass sie nicht auf ihr persönliches Vermögen zurückgreifen müssen. Aufgrund der europäischen Rechtsprechung können diese neuen Unternehmer ausländische Rechtsformen wählen. Wir waren uns fast alle einig, dass dies durch ein deutsches Angebot insbesondere deswegen verbessert werden muss, weil diese Rückgriffe auf englisches, spanisches oder französisches Recht für die Betroffenen ab dem zweiten Jahr zu erheblichen Nachteilen führen. Insofern haben wir hier auch eine Schutzfunktion. ({9}) Die von Ihnen vorgeschlagene UG ist nicht so schlecht, wie ihre Feinde und Gegner sie machen wollen. Aber wir Grünen sagen: Sie hat genau für diese Personen einen strukturellen Nachteil. Weil dieses Angebot als Kapitalgesellschaft ausgestaltet ist, führt dies notwendigerweise dazu, dass die Steuer von den ersten 3 Euro Gewinn, die dieses Unternehmen macht, 1 Euro einbehält. ({10}) 30 Prozent gehen für die Körperschaftsteuer und weitere Steuern ab. Von den ersten 4 Euro, Herr Benneter, die ein solcher Jungunternehmer aus dem Unternehmen als Gewinn entnimmt, nimmt sich die Steuer wiederum 1 Euro, also 25 Prozent. Das ist kontraproduktiv. Wir sagen: Die UG, wie Sie sie gemacht haben, hat nicht so viele Fehler, dass man deswegen das ganze Gesetz ablehnen muss, Frau Dyckmans. ({11}) Das ist nicht glaubwürdig. Wir Grünen haben ein besseres Angebot, nämlich die Personengesellschaft mit beschränkter Haftung. ({12}) Mit unserem Entschließungsantrag sagen wir: Verbinden wir doch die Vorzüge der UG ({13}) mit einer steuerrechtlichen Lösung in Form einer Privatgesellschaft. Damit komme ich zu Ihnen, Frau Kollegin Dyckmans. Sie werfen uns vor, Rosinenpickerei zu betreiben und uns um Gläubiger und um Dritte nicht zu kümmern. Ich darf Ihnen dazu aus unserem Entschließungsantrag vorlesen, weil Sie offensichtlich nicht in der Lage waren, bis zum Schluss zu lesen, sonst hätten Sie uns keine solchen Vorwürfe gemacht: Besonderes Augenmerk ist bei der Gestaltung einer solchen neuen Gesellschaftsform auf verbesserten … Gläubigerschutz durch strenge Rechnungslegungs- und Publizitätspflichten, erhöhte Verantwortung der … Gesellschafter für die ausreichende Kapitalisierung der von ihnen betriebenen Gesellschaft und andere Maßnahmen zum Schutz von Gesellschaft, … Gesellschafter und … Gläubiger zu richten. Der Vorwurf gegen uns, wir würden uns diesem Problem nicht widmen, ist also falsch, widerlegt durch dieses Zitat. Der Gesetzentwurf, den die Koalition vorgelegt hat, ist gut und richtig. Wir werden ihm zustimmen. Die paar Schönheitsfehler haben wir benannt und zu Protokoll gegeben. Das ist aber kein Grund, den Gesetzentwurf abzulehnen. ({14}) Ich komme zum Schluss. Herr Präsident, meine Damen und Herren, es ist für mich eine einmalige Situation: Erstmals, seitdem ich im Hohen Hause Abgeordneter bin, habe ich meine Redezeit nicht vollständig ausgeschöpft. Das wird sich nicht wiederholen. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, diese Drohung wird ohnehin im Protokoll vermerkt. Ich werde sie aber den Kollegen im Präsidium gewissermaßen als Vorwarnung mit auf den Weg geben. ({0}) Als nächster Redner erhält der Kollege Klaus Uwe Benneter für die SPD-Fraktion das Wort. ({1})

Klaus Uwe Benneter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Montag, in der Kürze liegt die Würze. ({0}) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rechtsform der GmbH ist ein Erfolgsmodell. Das ist, Frau Dyckmans, gelebter Mittelstand. GmbH bedeutet heute Wertschätzung und Anerkennung. ({1}) Die GmbH ist seit mehr als 100 Jahren ein gesellschaftsrechtliches und wirtschaftspolitisches Erfolgsmodell. ({2}) - Dann sagen Sie das hier auch und machen Sie es nicht schlechter, als es ist. Bei 82 Millionen Einwohnern 1 Million GmbHs, das zeigt, dass viele Menschen ihr Können, ihre Arbeitskraft, ihre ganze Kreativität in solche erfolgreiche Unternehmungen oft über Generationen hinweg investieren. ({3}) Dennoch - das ist nicht zu verkennen - haben sich etliche Mängel über ein Jahrhundert - 1892 liegt ja doch schon so weit zurück - eingestellt. Kreativ sind ja nicht nur die Unternehmer gewesen, sondern kreativ waren auch die Rechtsanwender, beispielsweise die professionellen GmbH-Bestatter, die das bestehende Recht dazu genutzt haben, sich der Insolvenz und der Liquidation zu entziehen. Ihr probates Mittel war, marode GmbHs bewusst in Führungsverantwortungslosigkeit und vor allen Dingen Nichterreichbarkeit zu steuern. Diesen Firmenbestattern legen wir jetzt das Handwerk, ({4}) und zwar durch klare Zustellungsregelungen, durch eine verschärfte Haftung der Geschäftsführer bei unverantwortlichen Auszahlungen an Gesellschafter in der Krise der Gesellschaft und durch erweiterte Gesellschafterpflichten bei Führungslosigkeit der GmbH. Das alles sind Antworten auf Ihre Behauptung, wir würden eine leichtsinnige Reform machen. Kreativ war ja auch die Rechtsprechung. Das ist bei Hunderttausenden GmbHs kein Wunder. Sie hat in manchen Bereichen dazu geführt, dass das Recht für die Anwender überhaupt nicht mehr nachvollziehbar war. Das betraf die Rechtsprechung zu den Rechtsfolgen verdeckter Sacheinlagen, die im Insolvenzfall wertmäßig nochmals und dann doppelt erbracht werden mussten. Die meisten GmbH-Gesellschafter, wenn man einmal von Konzerntöchtern absieht, haben ja keine großen Rechtsabteilungen im Rücken. Diese wurden bisher mit weit übertriebenen Rechtsfolgen überrumpelt. Das konnte niemand mehr nachvollziehen. Wir gestalten jetzt die Rechtsfolgen verdeckter Sacheinlagen besser und einfacher. Die gefundene Anrechnungslösung, wonach die Sacheinlage nach Eintragung der Gesellschaft auf die an sich vereinbarte Geldeinlage angerechnet wird, ist korrekt. Sie verleitet den Geschäftsführer nicht zum Lügen. In der Sachverständigenanhörung wurde die noch im Regierungsentwurf vorgesehene Lösung zu Recht moniert. Wir stellen jetzt klar, dass der Gesellschafter für die Werthaltigkeit seiner Einlage beweispflichtig ist und bleibt. Meine Damen und Herren, kreativ waren auch die Registerrichter. Bisher war vorgegeben, dass die GmbHGründer alle erforderlichen verwaltungsrechtlichen Genehmigungen für das Unternehmen beizubringen hatten. Daraus wurde auch noch die Forderung, Negativatteste vorzulegen, also dass eine Behörde bescheinigt, dass eine Erlaubnis gerade nicht erforderlich ist. Welche Blüten das treibt, habe ich selbst erlebt. An mich hat sich ein junger Mann gewandt, der die Idee hatte, Autorückscheiben mit Abtönfolien gegen zu viel Sonne und vielleicht auch gegen zu viele neugierige Blicke anderer Autofahrer zu bekleben. Er sollte ein Negativattest beibringen, das besagt, dass es sich bei seinem Vorhaben nicht um ein Kfz-Handwerk handelt. Als er dann bei der Kfz-Innung war, wurde ihm gesagt, er solle erst einmal ein Negativattest beibringen, welches besage, dass es kein Glaserhandwerk sei. Da er beide Negativatteste nicht beibringen konnte, hat auch das Registergericht die Eintragung verweigert. Solcher Art sind die Blüten, die Unternehmensgründer zum Wahnsinn treiben konnten. Wir machen damit grundsätzlich Schluss. Wir trennen Gesellschaftsrecht und Verwaltungsrecht. Verwaltungsrechtliche Fragen gehören in den Bereich der Verwaltung und nicht in den des Registergerichts. Die GmbH kann sich gründen und erst dann die erforderlichen Genehmigungen für das Unternehmen einholen. Die zuständigen Behörden können sich darum kümmern, ob eine gegründete GmbH Genehmigungen braucht und wofür diese erforderlich sind. In vielen unkomplizierten Standardfällen ermöglichen wir künftig rasche, kostengünstige GmbH-Gründungen mit einem notariellen Musterprotokoll. Für 126 Euro können Sie jetzt eine GmbH mit einem normalen Stammkapital von 25 000 Euro gründen. Die Gründung einer Unternehmergesellschaft mit 1 Euro Stammkapital - darauf hat der Kollege Gehb schon hingewiesen - kostet jetzt 20 Euro. Jetzt bemängeln Sie, Frau Dyckmans, dass wir als Gesetzgeber uns als Gouvernante für Notare aufspielen und für diese ein Protokoll entworfen haben. Richtig, das können die auch alleine; das weiß ich aus eigenem Erleben. ({5}) - Ich schon, gut. - Das Musterprotokoll, Frau Dyckmans, ist keine Hilfestellung für Notare, sondern für die potenziellen Gründer, für die Laien. ({6}) Ein Blick ins Gesetz - also heute ins Internet -, und die Gründer wissen, dass das kein bürokratisches Monstrum, sondern ein kurzes, verständliches, lesbares Musterprotokoll ist. Ich denke, das ist das, worauf es ankommt. Das macht Unternehmensgründern Mut und die entsprechende Laune. Dagegen können Sie eigentlich nichts haben, auch Sie, Frau Dyckmans, nicht. ({7}) Der EuGH hat 2002 eine in Deutschland eigentlich gut eingeübte, funktionierende Rechtspraxis ausgehebelt. Gründungs- und Verwaltungssitz durften danach nicht auseinanderfallen. Das ist aufgehoben worden und mit der Niederlassungsfreiheit in Europa begründet worden. In der Folge hatten wir zunehmend die Rechtsform der britischen Limited, das heißt, es konnten nach englischem Recht Gesellschaften mit beschränkter Haftung ohne irgendein Mindestkapital gegründet werden. Von den sehr üblen Folgen wurden wir erst viel später überrascht. Wir reagieren auf diese Rechtsprechung. Jetzt sind einmal wir kreativ. Wir erlauben künftig deutschen GmbHs, ihren Betrieb ins Ausland zu legen und zu verlegen. Das war bisher für eine deutsche GmbH nicht möglich. Jetzt besteht die Möglichkeit, dass deutsche Unternehmen ihre europäischen Auslandstöchter in der ihnen bekannten Rechtsform der GmbH gründen und führen. Das ist für deutsche exportorientierte Unternehmen eine große Verbesserung. Bisher mussten deutsche Unternehmen in jedem Mitgliedstaat eine nach dortigem Recht geregelte Gesellschaft gründen. Das war logischerweise mit vielen Gesellschafts-, Rechts- und Formfragen und erst recht mit hohen Kosten verbunden. Jetzt wird unsere deutsche GmbH exportfähig. Weiterhin wurde ein für uns Sozialdemokraten wichtiges Anliegen geregelt, nämlich in der Insolvenz die Sanierungschancen und damit die Arbeitsplätze nach Möglichkeit zu erhalten. Anders als von der Linken hier behauptet, haben wir die für die Insolvenzpraxis wichtige Nutzungsüberlassung in der Insolvenz klarer geregelt. Es geht dabei um die Gegenstände, die man braucht, die der Gesellschaft von den Gesellschaftern überlassen worden waren, die aber für die Betriebsfortführung und zur Sanierung von erheblicher Bedeutung sind und bei denen immer die Gefahr bestand, dass sie sofort ausgesondert wurden und damit die Chancen auf Sanierung zunichte gemacht wurden. Die Herausgabe dieser Gegenstände können die Gesellschafter jetzt ein Jahr lang nicht verlangen. Das ist ein klarer Zeitraum. In diesem Zeitraum ist eine Sanierung möglich, sie kann in dieser Zeit gelingen. Wir schaffen mit der Unternehmergesellschaft ({8}) ein neues Angebot für Firmengründer, die eben kein Mindeststammkapital von 25 000 Euro brauchen und mit weniger auskommen können. Interessanterweise behauptet jetzt die Linke Arm in Arm mit der FDP, die Limiteds in Deutschland hätten gezeigt, dass unseriöse Unternehmensgründer es darauf anlegen würden, Mitarbeiter, Sozialversicherungen und den Fiskus zu schröpfen. Diese seien die Leidtragenden, wenn von Anfang an unsolide und zahlungsunfähige Unternehmergesellschaften ({9}) in Deutschland agieren würden. Die Unternehmergesellschaft ist nicht in erster Linie eine Antwort auf die Limited, sondern auf die weitverbreiteten und wohlbegründeten Zweifel an der Sinnhaftigkeit eines gesetzlich vorgegebenen Mindeststammkapitals. Es gibt viele Praktiker, die behaupten, das Stammkapital habe allenfalls in der Insolvenz eine Funktion, nämlich dann, wenn es in irgendeiner Art und Weise nicht ordentlich eingezahlt wurde und deshalb nachgezahlt werden müsse. Das Stammkapital soll ein Ausweis von Solidität und Seriosität sein, Frau Dyckmans. Das ist doch ein Witz! ({10}) - Gehen Sie einmal auf die Hamburger Reeperbahn. Dort können Sie immer etliche Herren treffen, die locker 25 000 Euro in bar in der Tasche haben. Bei diesen Herren ist das sicherlich kein Ausweis von Seriosität. ({11}) Sie meinen, dass derjenige, der weniger als 25 000 Euro einsetzen will oder kann, nicht in den Genuss der beschränkten Haftung kommen soll. Damit fallen Sie Dr. Bamberger doch in den Rücken und in der über einhundertjährigen Geschichte der GmbH weit zurück. Dieses Misstrauen war 1892 angebracht. Damals mussten GmbH-Gründer 20 000 Goldmark aufbringen; das war zu der Zeit ein Vermögen. Deshalb gab es Skepsis und Argwohn gegenüber Kapitalgesellschaften. Frau Dyckmans, Sie als Neoliberale machen sich diese heute zu eigen. Das ist nicht nachzuvollziehen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Benneter, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Klaus Uwe Benneter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich komme zum Fazit: Wir behalten unser Erfolgsmodell, die klassische GmbH, die wir rundum erneuert haben. Nach dem gleichen Erfolgsrezept bekommen wir eine ansehnliche Unternehmergesellschaft, der wir mit einiger Berechtigung eine gute Zukunft voraussagen können. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Kollege Benneter hat nun die Redezeit verbraucht, die Kollege Montag freundlicherweise nicht genutzt hat. Damit sind wir wieder im Limit, womit keine neue Rechtsform für unsere Debatten gemeint ist. Der nächste Redner ist der Kollege Andreas Lämmel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andreas G. Lämmel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! MoMiG - das ist ein schöner Name für ein Gesetz, verglichen mit den Bezeichnungen manch anderer Gesetze, die wir im Deutschen Bundestag verabschieden. Das MoMiG ist insgesamt ein außerordentlich gut gelungenes Gesetzeswerk. Gestern hat eine große Tageszeitung, das Handelsblatt, Folgendes dazu geschrieben: „Mo“ steht für Modernisierung und Benutzerfreundlichkeit. Der Wortbestandteil „Mi“ drückt aus, dass sich die Geschäftsführer bei Missbrauch wärmer anziehen müssen. Diese große Wirtschaftszeitung hat noch einmal deutlich gemacht, dass es sich bei dieser Reform um die größte seit 100 Jahren handelt. Wir sehen es also nicht nur selber so, sondern es wird auch von außen bestätigt, dass diese GmbH-Reform sehr wichtig für unser Land ist. Die drei Teile des Gesetzes betreffen erstens die Erleichterung und Beschleunigung von Unternehmensgründungen - dazu ist schon viel gesagt worden -, zweitens die Erhöhung der Attraktivität der GmbH als Rechtsform - auch dazu ist schon einiges gesagt worden und drittens die Bekämpfung von Missbräuchen. Ich will mich mit den Argumenten auseinandersetzen, welche die FDP und die Linke vorgebracht haben. Es ist schon erstaunlich, dass die Wirtschaftskompetenz heutzutage von der FDP offensichtlich langsam zu den Grünen wandert; denn die Unterstützung, die das MoMiG bei den Grünen findet, ist bemerkenswert. ({0}) Frau Dyckmans, es ist schon erstaunlich, dass keiner der FDP-Wirtschaftspolitiker heute hier vertreten ist. Sie sind offenbar nicht gekommen, weil sie Ihre Auffassung möglicherweise nicht ganz teilen. ({1}) Ich kann mich an Zeiten erinnern, in denen die FDP und erst recht die Linken Erleichterungen für Unternehmensgründer, eine zweite Chance für Unternehmer, die schon einmal gescheitert sind, und die Entbürokratisierung von Unternehmensgründungen gefordert haben. Insofern kann ich Ihre Argumentation, die Sie heute von diesem Pult aus geführt haben, nicht nachvollziehen. ({2}) Wenn wir uns das Gründungsgeschehen ansehen, stellen wir fest, dass in guten Zeiten von deutschen Gründern in einem Monat 3 000 GmbHs und 1 000 Limiteds gegründet werden. Man muss also zur Kenntnis nehmen, dass das Gründungsgeschehen in Deutschland sich absolut verändert hat. Mit dem Einzug des Internets in unser tägliches Leben haben sich Geschäftsmodelle entwickelt, die nicht erst 25 000 Euro Grundkapital brauchen, um eine Gesellschaft zu gründen; dieses Geld kann schon genutzt werden, um ein paar Computer oder andere Gerätschaften zu kaufen und das Geschäft aufzubauen. ({3}) Hätten wir diese Unternehmergesellschaft nach 1990 in Ostdeutschland schon gehabt, hätte sich manches menschliche Drama vermeiden lassen. Viele haben sich in eine Rechtsform begeben, bei der im Falle der Insolvenz bis ins Privatvermögen durchgegriffen wird, und die Betroffenen sind heute Sozialhilfeempfänger. Das wollen wir verhindern. Wir wollen jungen Gründern mit der beschränkten Haftung eine Möglichkeit geben, ihr Geschäftsmodell abzusichern, ohne ihr gesamtes Privatvermögen in das Geschäft einbringen zu müssen. ({4}) Zum Thema Musterprotokolle. Auch an dieser Stelle kann ich nur staunen. Die FDP begibt sich hier auf den Pfad, eine einzelne Berufsgruppe - vermeintlich - zu schützen. ({5}) Wir hätten natürlich sehr gern die Mustersatzung ermöglicht - das muss ich ganz deutlich sagen -, aber die Mehrheit hat sich letztendlich für das Musterprotokoll entschieden. Die Mustersatzung wäre noch etwas weiter gehend gewesen und hätte, wirtschaftspolitisch gesehen, für einfache Unternehmensgründungen viele Vorteile geboten, viele Kosten, auch Beratungskosten, gespart. ({6}) Das wäre eine starke Entbürokratisierung gewesen. Aber auch das Musterprotokoll ist ein großer Schritt voran. Herr Montag, ich glaube, Sie haben es gesagt: Man muss das vom Unternehmen und nicht vom Notar her sehen. Die Frage ist: Wie viele Gänge muss der Unternehmer machen? Wie viel Beratungsleistung muss er einkaufen, um überhaupt zur Unternehmensgründung zu kommen? Allein diese Punkte des Gesetzentwurfs sind ganz entscheidend. Das dritte Thema ist der Missbrauch. Wir haben nach der deutschen Einheit in Ostdeutschland einige Erfahrungen mit dem Missbrauch von GmbHs sammeln müssen. Der Schaden, der dadurch verursacht worden und letztlich bei der Gesellschaft verblieben ist, ist erheblich gewesen. ({7}) Das hat das Modell der sozialen Marktwirtschaft in den Augen vieler in Misskredit gebracht. ({8}) Um ihr Vermögen geprellte Unternehmer fragen sich natürlich, wieso es möglich ist, mit einer GmbH solchen Missbrauch zu betreiben. Insofern ist es sehr wichtig, dass solchen Missbräuchen ein Ende gesetzt wird. Damit wird auch die Rechtssicherheit erhöht, und es kann der gute Ruf Deutschlands in Bezug auf Rechtssicherheit, wenig Korruption und wenig Missbrauch erhalten werden. Frau Zimmermann, sich mit Ihren Argumenten auseinanderzusetzen, lohnt nicht. Sie würden am liebsten wieder VEBs gründen - das wissen wir -, ({9}) aber Ihr Modell ist pleitegegangen. Ohne beschränkte Haftung ist es absolut pleitegegangen. Zusammenfassend lässt sich sagen: Bedenkenträger gab es damals, als das GmbH-Recht eingeführt wurde. Bedenkenträger gibt es heute. Bedenkenträger wird es auch morgen noch geben. Bedenkenträger wird es immer geben. Aber uns liegt ein Gesetzeswerk vor, auf das wir stolz sein können. Herzlichen Dank allen Beteiligten, die mit dafür gekämpft haben. Vielen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Garrelt Duin, SPD-Fraktion.

Garrelt Duin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003751, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mir ein Beispiel an dem Kollegen Montag nehmen. Als Jurist stimme ich dem zu, was die Vorredner aus den verschiedenen Fraktionen, zumindest aus den Koalitionsfraktionen und eben auch Herr Montag von den Grünen, deutlich gemacht haben, nämlich dass wir hier auf einem juristisch wertvollen und richtigen Weg sind. Als Wirtschaftspolitiker, als der ich hier spreche, möchte ich das ebenso unterstreichen. Ich bin nämlich der festen Überzeugung, dass mit dieser Reform des GmbHRechts etwas getan wird, was in Deutschland nach den vielen Jahren, wo wir das Gesetz unangetastet gelassen haben, wirklich notwendig ist. Ich möchte nicht von „überfällig“ sprechen, aber jetzt ist wirklich der richtige Zeitpunkt, um das auf den Weg zu bringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, die deutsche Wirtschaft lebt von den kleinen und mittleren Unternehmen. 3,4 Millionen kleine und mittlere Unternehmen sowie Selbstständige prägen die Wirtschaft in unserem Land. 99,7 Prozent aller Unternehmen in Deutschland sind solche kleinen und mittleren Unternehmen. Neben der Sicherung des Bestandes dieser Unternehmen müssen wir uns besonders um die Gründung von neuen Unternehmen bemühen. Wir müssen Menschen ermuntern, dass sie den Mut aufbringen, ein Unternehmen zu gründen. ({0}) Eine entsprechende Dynamik brauchen wir in Deutschland in den nächsten Jahren. Ich bin sicher, mit diesem Gesetz und anderen Maßnahmen, auf die ich gleich zu sprechen komme, gehen wir den richtigen Weg, um für eine solche Dynamik zu sorgen. ({1}) Herr Montag, Sie haben recht mit dem, was Sie aus einem Zeitungsartikel von dieser Woche zitiert haben. Aus dem in der letzten Woche veröffentlichten „KfWGründungsmonitor 2008“ geht hervor, dass die Zahl der Neugründungen 2007 im Vergleich zum Jahr 2006 deutlich zurückgegangen ist. Im Vergleich zum Jahr 2006 beträgt der Rückgang 21 Prozent. Damit liegt die Zahl der Neugründungen auf dem niedrigsten Stand seit der Jahrtausendwende. Sie, Herr Montag, haben schon auf die Gründe dafür hingewiesen: Aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs haben sich viele wieder in abhängige Beschäftigungsverhältnisse begeben. Unter anderem dadurch ist dieser Rückgang zu erklären. Es ist jetzt aber die Aufgabe der Politik, Anreize zu setzen, um zu Existenzgründungen zu ermutigen. Wir haben ja in dieser Woche auch weitere entsprechende Maßnahmen auf den Weg gebracht. Denken Sie an das Forderungssicherungsgesetz und die Förderung von Wagniskapital. Damit und mit der GmbH-Reform sind wichtige Schritte getan, um die Attraktivität der GmbH im internationalen Wettbewerb zu steigern, ihre Neugründung unbürokratischer zu gestalten und - das ist von den Justizpolitikern hier eben ausreichend deutlich gemacht worden - wirkungsvoll Missbräuche bei Insolvenzen zu bekämpfen. Es wäre möglich gewesen, grundsätzlich ein Mindeststammkapital von 10 000 Euro vorzusehen. Wir haben darüber in den Ausschüssen diskutiert. Aber die jetzt gefundene Lösung - einmal die klassische GmbH mit einem Stammkapital von 25 000 Euro und die GmbHVariante mit geringeren Kapitalanforderungen - entspricht absolut den Anforderungen, die zu Beginn unserer Beratungen als ursprüngliche Maßgabe galten. Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dieser Reform verhindern, dass die Zahl von mittleren und kleinen Unternehmen zurückgeht. Vielmehr setzen wir notwendige Anreize, damit das nicht eintritt. Insgesamt müssen wir aber darauf achten, dass wir das Gründungsklima in Deutschland weiter verbessern. Da reichen solche Gesetze wie das heute zu verabschiedende allein nicht aus. Es muss vielmehr einen noch engeren Schulterschluss bzw. einen noch engeren Dialog zwischen Wirtschaft und Politik geben. Wer heute Unternehmer ist, muss Politik verstehen; daran führt kein Weg vorbei. Wir als Politiker müssen aber auch versuchen, zu verstehen, was einen Unternehmer antreibt. Wir müssen nicht als Lobbyist seiner Interessen auftreten; aber wir müssen ein Verständnis dafür entwickeln, welche Nöte und Sorgen er hat, damit er seine unternehmerische Tätigkeit voll ausfüllen kann. Dazu gehört, dass wir Dinge wie Wettbewerbsfähigkeit, Innovation und Mut zum Risiko im Blick haben. Wir müssen den Menschen sagen, dass wir ihren Mut zum Risiko, ein Unternehmen zu gründen, auch belohnen wollen. Wir dürfen ihnen nicht - das klang bei Ihnen, Frau Zimmermann, eben so durch - Angst machen, dass das alles wieder schiefgehen könnte und große Gefahren drohten. ({2}) Vielmehr müssen wir ihnen den Rücken stärken, wenn sie ein Unternehmen gründen wollen. ({3}) Wir wollen die Selbstständigkeit neben dem GmbHGesetz auch durch Bürokratieabbau fördern. Den Ausführungen der Vorredner zum Bürokratieabbau möchte ich mich ausdrücklich anschließen. Wir haben im Rahmen der GmbH-Reform nicht die Interessen der Notare zu vertreten, sondern wir sind dafür da, die Interessen von Existenzgründern zu vertreten. Ich glaube, dass wir das hier auch deutlich gemacht haben. ({4}) Wir tun auch mit dem Meister-BAföG etwas zur Förderung der Selbstständigkeit. Wir wollen die Schulungsund Beratungsmöglichkeiten für Gründerinnen und Gründer ausbauen. Wir werden sicherlich auch im Bereich der Bildung - wie können wir das Thema Wirtschaft in die Schulen hineinbringen? - noch das eine oder andere auf den Weg bringen müssen. Damit ich meinem Versprechen gerecht werde, die Redezeit nicht ganz auszuschöpfen, will ich mit Folgendem schließen: Wir als Große Koalition wollen den Unternehmergeist in Deutschland wecken - hoffentlich mit der Unterstützung von vielen. Die hier eingeleiteten Maßnahmen im GmbH-Gesetz weisen in die richtige Richtung. Lassen Sie uns den Menschen Mut machen, ein Unternehmen zu gründen und dadurch Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen! Wenn die Politik sagt: „Es droht zu viel; lass es lieber sein; schau, dass du irgendwie anders durchs Leben kommst“, dann werden die Menschen diesen Mut nicht finden. Lassen Sie uns mit einem klaren Beispiel und auch deutlichen Worten vorangehen! Heute ist jedenfalls dafür ein guter Tag. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Daniela Raab, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist die Krux eines jeden letzten Redners, dass im Prinzip alles Richtige und - rechts und links von mir bedauerlicherweise auch alles Falsche schon gesagt wurde. Volker Beck hat vorhin gerufen: Offensichtlich hat die Große Koalition keine wirklich wichtigen Tagesordnungspunkte mehr. Warum sonst sollten wir die GmbH-Reform in der Kernzeit debattieren? - Ich glaube, lieber Kollege Beck, Sie haben auch an den Ausführungen Ihres Kollegen Montag gemerkt ({0}) - sehen Sie, wir haben daraus gelernt -: ({1}) Die GmbH-Reform ist ein wichtiges Werk. Liebe Kollegen, insbesondere der Regierungskoalition und der Grünen, die Rechtspolitiker haben bewiesen, dass sie etwas sehr Gutes zu Ende bringen können, vor allem, dass sie nicht nur Rechtspolitik können, sondern auch Wirtschaftspolitik. Auch diese Debatte zeigt: Uns liegt ein Gesetzentwurf vor, der sowohl vom klassischen Mittelstand als auch von potenziellen kleinen Existenzgründern sehnsüchtig erwartet wurde. Alles, was wir für die klassische GmbH tun - wo wir sie aufmöbeln, wo wir sie modernisieren, wo wir sie auch den Zeiten, in denen wir leben, anpassen -, ist schon aufgeführt worden. Lieber Kollege Gehb, ich bin dir wirklich ausgesprochen dankbar, dass du hier der Vorreiter warst und wir dich dabei unterstützen durften. Natürlich mussten wir uns überlegen, wie wir damit umgehen, dass die Limited auch in Deutschland immer mehr Anhänger findet und dass die Limited ganz offensichtlich eine Gesellschaftsform ist, die in unser Rechtssystem nicht passt und vor der wir die Menschen vielleicht ein Stück weit bewahren müssen. Wenn wir uns die Daten aus Deutschland, aus Großbritannien und den Niederlanden - dort wird die Limited vorwiegend verwendet -, die uns vorliegen, anschauen, dann müssen wir feststellen: Sie weist eine hohe Frühsterblichkeit auf, und sie ist damit am Markt de facto schon gescheitert. Nachdem wir das gesehen hatten, war die Entscheidung klar: Wir wollen keine verwässerte GmbH, wir wollen keine nur abgespeckte Mini-GmbH. Liebe Frau Kollegin Dyckmans, eine Mini-GmbH ist das nicht. Dieser Ausdruck ist nicht nur despektierlich, sondern auch falsch. ({2}) Der Kollege Jürgen Gehb hat sich auf den Weg gemacht und überlegt, was wir tun können. Es gab einige Widerstände, auch aus den eigenen Reihen. Lieber Jürgen, wir können uns gut erinnern: Wir konnten nicht sofort alle auf unsere Seite ziehen, als wir für dein Modell einer „Unternehmergesellschaft ({3})“ plädiert haben; aber wir haben nunmehr auch das geschafft. Wir mussten einige Kompromisse schließen, die aber absolut akzeptabel sind. Wir haben jetzt eine Unternehmergesellschaft ohne Stammkapital. Wir haben dennoch eine Haftungsbeschränkung. Wir haben unglaublich leichte Gründungsmechanismen, die wir im Prinzip auch auf die GmbH anwenden können. Wir ermöglichen gleichzeitig das Aufwachsen dieser Unternehmergesellschaft zur GmbH, wenn die Voraussetzungen letztendlich erfüllt sind. Damit, liebe Kollegen von der FDP, ist die UG nicht nur eine bessere Limited - das wäre eine Beleidigung für diese wirklich schöne Rechtsform -, sondern die einzig richtige und funktionierende Gesellschaftsform für kleine Existenzgründer. Wir beweisen nämlich, dass beides geht: Rechtssicherheit, und zwar in einem sehr ausgeprägten Maße, und dennoch überschaubare Gründungsmodalitäten. Ich glaube, gerade an dieser Stelle ist es durchaus angebracht, dass wir uns selber einmal auf die Schulter klopfen; wir tun dies ja nicht oft. Denn genau diese Kombination, wenig Vorschriften und dennoch Rechtssicherheit zu schaffen, gelingt uns in diesem Hohen Haus leider viel zu selten. Wir können hier beispielhaft voranschreiten; denn wir beweisen: Wir schaffen auch mit wenigen, aber guten und überschaubaren Vorschriften eine ganz sichere Rechtslage für alle Beteiligten. ({4}) Es ist schon viel auf die FDP repliziert worden. Ich möchte nicht alles wiederholen, aber es erstaunt mich, und ich bin auch ein bisschen enttäuscht; das sage ich Ihnen ganz ehrlich. Ich war gestern im Ausschuss enttäuscht, und ich bin es auch heute wieder Wir hören immer so viel von: Ihr müsst mutig voranschreiten. Ihr müsst etwas für den Wirtschaftsstandort tun. Nutzt die Chancen, die wir euch geben. - Dann schaffen wir in fast ganz großer Übereinstimmung hier im Hause ein Instrument, aber dann wird haarklein rumgezuppelt und rumgezupft und geguckt, wo vielleicht noch irgendwo etwas stecken könnte, was zu kritisieren wäre. Vielleicht haben Sie einfach ein Problem damit, dass wir schneller waren und vor Ihnen darauf gekommen sind. ({5}) Ich meine, wir werden in den nächsten Jahren sicherlich erfolgreich evaluieren können, dass gerade diese haftungsbeschränkte Unternehmergesellschaft auf dem Markt ankommt und genutzt wird. Die Justizministerin hat völlig zu Recht gesagt: Diese Rechtsform ist vor Ort sehnsüchtig erwartet worden. Wir alle haben zahlreiche E-Mails von potenziellen Existenzgründern bekommen, die schlicht und ergreifend auf den gesetzgeberischen Startschuss warten, damit sie sich selbst in die Startlöcher bewegen und etwas vorwärts bringen können. Ich sage Ihnen eines: Wir haben die GmbH-Reform geschafft. Wir werden heute noch das Forderungssicherungsgesetz schaffen, und wir machen die FGG-Reform. Es ist insofern eine gute Woche für die Rechtspolitik. ({6}) Ich richte einen Dank an diejenigen, die organisieren, wann wir debattieren dürfen. Denn wir haben endlich schöne Debattenzeiten und können beweisen, dass Rechtspolitik mitten im Leben steht ({7}) und wichtige Gesetzesvorhaben voranbringt, die die Menschen persönlich betreffen. In diesem Sinne: Machen wir weiter so! Es kann fast noch besser werden. Danke schön. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9737, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf der Drucksache 16/6140 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit großer Mehrheit angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer möchte dagegen stimmen? - Möchte sich jemand der Stimme enthalten? - Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linken angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9796? - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Der Entschließungsantrag ist mehrheitlich abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9795? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Damit ist auch dieser Entschließungsantrag mit großer Mehrheit abgelehnt. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 5 b und setzen die Abstimmungen über die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses auf der Drucksache 16/9737 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/671 mit dem Titel „GmbH-Gründungen beschleunigen und entbürokratisieren“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 6 sowie den Zusatzpunkt 4 auf: 6 Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Jürgen Trittin, Marieluise Beck ({0}), Volker Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zur China-Politik der Bundesregierung - Drucksachen 16/7212, 16/9513 ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hellmut Königshaus, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Die Regierungsverhandlungen mit China zur Neuorientierung der Entwicklungszusammenarbeit und zur Förderung der chinesischen Zivilgesellschaft nutzen - Drucksache 16/9745 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2}) Finanzausschuss Präsident Dr. Norbert Lammert Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so vereinbart. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Kollegen Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will an dieser Stelle vorab noch einmal die Anteilnahme und das Mitgefühl meiner Fraktion - ich denke, aller Mitglieder des Hauses - anlässlich der vielen Opfer des Erdbebens in Sichuan ausdrücken. Ich wünsche den Chinesinnen und Chinesen alles Gute bei der weiteren Bewältigung dieser Katastrophe und beim Wiederaufbau. ({0}) In der Bewältigung dieser Katastrophe hat sich auch ein Stück des neuen China gezeigt, nicht nur im Vergleich zum schlechten Beispiel in Birma. Offenheit und Öffentlichkeit und die Annahme internationaler Hilfe begleiteten eine große solidarische Kraftanstrengung. Ich sage Ihnen: Wir wünschen, dass diese Offenheit in China zur Regel wird, übrigens auch bei der Aufarbeitung der Versäumnisse, die die Folgen des Erdbebens in so mancher Schule so verschlimmerten. Als wir im letzten Herbst unsere Große Anfrage zu China formulierten, hatten wir die unübersehbare Bedeutung im Kopf, die China heute für das globale Geschehen hat. Kaum ein anderes Land zieht so widersprüchliche Fantasien und Bilder auf sich wie China. Von der „gelben Gefahr“ über den „erwachenden Drachen“ bis zum jetzt ausgerufenen „Weltkrieg um Wohlstand“ reichen die Bilder und Ängste, die China in vielen Gesellschaften des Westens hervorruft. Es ist interessant: Dieser Diskurs hat eine ganz andere Sicht auf China abgelöst, die vor wenigen Jahren noch dominierte. Das war die Sicht der China-Bewunderer, jener Wirtschaftseliten, die in China vor allen Dingen einen Riesenmarkt sahen. Dazu gehörte auch die Sicht eines damaligen Wirtschaftsministers, der es ganz vorbildlich fand, wie China in zwei Jahren eine Transrapidstrecke plante und baute. Dabei hatte er aber einfach vergessen, dass dafür Menschen entschädigungslos enteignet und aus ihren Häusern vertrieben worden sind und dass die Pfeiler im Schlamm der Jangtse-Mündung so schlecht gegründet wurden, dass sie heute repariert werden müssen. Wir suchen also nach Antworten zwischen falscher Verdammnis und blinder Apologetik: Wie sieht die Bundesregierung den Akteur China auf der ökonomischen und politischen Bühne der Welt? Wie ist seine Rolle in einer multipolar gewordenen Welt, in der Länder wie Brasilien, China und Indien eine immer wichtigere Rolle spielen? Sieht die Bundesregierung China als Konkurrenz und Bedrohung oder als strategischen Partner? Eines wissen wir: Es gibt heute kein Problem auf diesem Globus, das man ohne oder sogar gegen China lösen könnte. Denken Sie an den Klimawandel, an die wachsende Konkurrenz um die sehr endlichen Ressourcen, an die Debatte um die Nahrungsmittelpreise. Heute wissen wir: Selbst der Dollarkurs hängt sehr viel mehr vom Anlageverhalten der Nationalbank Chinas ab als von den Entscheidungen der US-amerikanischen Fed. Schon lange investieren Unternehmen in China nicht mehr in erster Linie wegen niedrigerer Löhne, sondern weil sie diesen Markt einfach nicht mehr ignorieren können. Wir hatten gedacht, dass wir auf diese Fragen eine Antwort von der Bundesregierung bekommen. Sie hat zwar umfassend geantwortet; aber die Vielzahl der Antworten bezeugt eines: Es gibt keine einheitliche Politik Deutschlands gegenüber China. Es gibt eine Reihe kleinteiliger Einzelantworten; aber eine Konzeption gibt es nicht. ({1}) Interessant ist, dass die Bundesregierung auf diese Konzeptionslosigkeit, lieber Kollege, auch noch stolz ist. Auf unsere Frage, ob es ein Chinakonzept gibt, wird geantwortet, das lohne nicht, weil man angesichts der Veränderungen in China flexibel sein müsse; es gebe aber Konzepte von einzelnen Ressorts. Das heißt also, die Ressorts sind nicht so flexibel wie die Bundesregierung, deren Auswärtiges Amt für die Koordinierung zuständig ist. Wir haben nach Projekten in China gefragt. Was sind eigentlich die Ergebnisse dieser Zusammenarbeit? Auch da ist die Antwort bezeichnend: Es gibt keine Übersicht; es gibt auch keine Evaluierung der Zusammenarbeit mit China. Das gilt auch für die sehr verstreute Entwicklungszusammenarbeit mit China, die sich auf Klimapolitik sowie Wirtschafts- und Strukturreformen konzentrieren soll, was wir begrüßen. Dazu haben wir aber natürlich eine Frage: Wenn es, wie es in der Antwort heißt, ein besonderes deutsches Interesse für die Bereiche Klimapolitik, Wirtschaft und Rechtsstaatlichkeit gibt, wie konnte es dann eigentlich passieren, dass das BMZ nach den Unruhen am 14. März mal eben die Verhandlungen über die Ausgestaltung der EZ ausgesetzt hat? Man kann so oder so darüber denken. Mich würde einmal interessieren, lieber Herr Erler: Ist das eigentlich mit dem Auswärtigen Amt abgestimmt worden? Ist es im deutschen Interesse, genau diejenigen Felder der deutschen Kooperation fallen zu lassen, an denen Deutschland ein virulentes Interesse hat? ({2}) Oder war das einfach nur die Pressepolitik des BMZ der HWZ? Es hätte ja elegant sein können, wenn der Außenminister in der Frage des Empfangs des Dalai-Lama gesagt hätte: Das ist jetzt vielleicht nicht ganz angemessen; da schicke ich die Entwicklungsministerin vor. - Es wäre vielleicht auch eine gelungene Intrige gewesen, wenn es die Kanzlerin geschafft hätte, Frau WieczorekZeul gegen den Kanzlerkandidaten Steinmeier zu instrumentalisieren. ({3}) Ich glaube, wir in diesem Hause sind uns alle darin einig, dass keine dieser Vermutungen zutrifft. Wissen Sie, warum nicht? Weil das voraussetzen würde, dass sie miteinander reden. Genau das findet aber nicht statt. ({4}) Ich glaube, dass es bei dem gesamten Vorgang im Hinblick auf den Dalai-Lama-Besuch gar nicht um die Menschenrechte in China und in Tibet gegangen ist, sondern ausschließlich um Innenpolitik und Wahlkampfaufstellung in Deutschland. Ich finde, die Menschenrechte in China sind nicht geeignet, in dieser Weise für innenpolitische Auseinandersetzungen in Deutschland benutzt, um nicht zu sagen: missbraucht zu werden. ({5}) Wenn Sie es beispielsweise mit den Menschenrechten ernst meinen würden, dann würden Sie jetzt die Bereitschaft Deutschlands erklären, jene Uiguren, die seit Jahren in Guantánamo einsitzen, die die US-Armee selber als unschuldig und ungefährlich betrachtet und denen ein Gericht bescheinigt, dass sie keine feindlichen Kombattanten sind, endlich hier aufzunehmen, weil man sie nicht nach China abschieben kann; denn dort wären sie der Verfolgung ausgesetzt. Ich denke, das wäre eine vernünftige Menschenrechtspolitik. ({6}) Es gibt noch einen anderen Ansatz, sich China zu nähern. Das ist der Ansatz, den ich in der Asien-Strategie der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gefunden habe. ({7}) Darin sagt man, man solle sich mehr auf Indien statt auf China konzentrieren. ({8}) Denn Indien sei gut und China sei böse, weil Indien eine Demokratie sei, China aber ohne Zweifel nicht. ({9}) Das ist, lieber Herr Ramsauer, der gleiche Ungeist, der gerade in den USA abgewählt wird, ({10}) nämlich die Aufteilung der Welt in Gut und Böse, in Schwarz und Weiß. Genauso wenig wie in Indien heute alles gut ist, weil es demokratisch ist, ist in China heute alles schlecht und autoritär. Nichts würde den Menschen in China heute weniger nutzen und zur Lösung der globalen Probleme weniger beitragen als eine neue Frontstellung gegenüber China. China ist eine autoritäre, aber fragmentierte Gesellschaft. Wir brauchen eine auf Kooperation ausgerichtete Politik gegenüber China, die aber jenseits von Besserwisserei und jenseits von Leisetreterei funktioniert, die die Fortschritte, die es im Bereich der Menschenrechte gibt, thematisiert, die aber auch thematisiert, dass es im Vorfeld der Olympiade Rückschritte in der Menschenrechtspolitik gegeben hat, die klarmacht, dass wir zwar auf Chinas Kooperation angewiesen sind, aber auch bestimmte Erwartungen haben. Wer ein neuer Akteur in der Weltpolitik ist, muss sich auch der Verantwortung für die Lösung der Probleme dieser Welt stellen, ({11}) sei es in Darfur oder sei es im Umgang mit dem Atomprogramm des Iran. Das ist die richtige Herangehensweise. Wir brauchen eine China-Politik, die auf den Aufbau einer strategischen Kooperation setzt, und zwar jenseits von Besserwisserei und jenseits von opportunistischer Leisetreterei. Wir hätten uns gewünscht, das in der Antwort der Bundesregierung zu lesen. Was wir vorgefunden haben, war viel Richtiges und manch Fragwürdiges, aber alles nicht sortiert. Vielen Dank. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Trittin, in Ergänzung Ihrer Ausführungen zur Menschenrechtsfrage möchte ich darauf hinweisen, dass es gerade im Kontext des Rechtsstaatsdialogs zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China ganz sicher erwünscht wäre, wenn die seit langem geplante Reise des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestages, die erst vor Kurzem bedauerlicherweise zum wiederholten Male an Vorbehalten und Einwänden auf chinesischer Seite gescheitert ist, nun endlich zustande kommen könnte. ({0}) Nun erteilte ich das Wort dem Kollegen Eckart von Klaeden für die CDU/CSU-Fraktion.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Herr Kollege Trittin, bei aller Wertschätzung muss ich Ihnen leider sagen: Ihre Rede zu China hat nicht zu den stärksten Reden gehört, die Sie in diesem Haus gehalten haben. ({0}) Was Sie über die fehlende Konzeption der Bundesregierung und unser Asien-Papier gesagt haben, war eher Ausdruck freien Assoziierens als Ausdruck der Tatsache, dass Sie sich mit dem Konzept der Bundesregierung oder unserer Asien-Strategie beschäftigt haben. ({1}) Das, was unsere Asien-Strategie zum Ausdruck bringt, aber auch der Politik der Bundesregierung zugrunde liegt, ist unser Interesse an einer nachhaltigen Stabilität in der Entwicklung Chinas. „Nachhaltige Stabilität“ setzt einen qualitativen Stabilitätsbegriff voraus. Neben der wirtschaftlichen Entwicklung geht es um die politische Öffnung, um demokratische, vor allem rechtsstaatliche Reformen im Innern, um ein gutes Verhältnis zu den Nachbarn und eine verantwortungsvolle Teilnahme an internationalen Entscheidungsprozessen im globalen Rahmen, insbesondere als Mitglied des Weltsicherheitsrates. China ist dank seines ökonomischen und politischen Aufstiegs zu einem bedeutenden Akteur geworden, und zwar nicht nur auf den internationalen Märkten, sondern auch in der internationalen Politik. Seit 2005 ist China nach den USA, Japan und Deutschland die viertgrößte Volkswirtschaft. 2007 hat es mit über 11 Prozent erneut die höchste Wachstumsrate unter den großen Volkswirtschaften erzielt. Sein Anteil am Welthandel ist von unter 1 Prozent vor 20 Jahren auf heute 5 Prozent angestiegen, und die Exportrate steigt weiter an. Ausländische Direktinvestitionen strömen weiterhin in das Land, und chinesische Unternehmen treten im Ausland zunehmend selbst als Investoren auf. Dieser ökonomische Aufstieg hat zwangsläufig zu einem politischen Aufstieg Chinas geführt. China ist heute eine Macht mit nicht nur regionalen, sondern auch globalen Ambitionen. China ist ohne Zweifel eine Weltmacht im Werden. Deswegen werden unsere Beziehungen, aber auch die Beziehungen Europas zu China immer wichtiger. Daher ist es gut, dass wir heute an so prominenter Stelle eine grundsätzliche Debatte über unsere China-Politik führen. China ist für uns zu einem der weltweit wichtigsten Wirtschaftspartner geworden. Die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen sind in der Tat eine beeindruckende Erfolgsgeschichte. Der Außenhandel Deutschlands mit China hat sich in den Jahren 2000 bis 2007 fast verdreifacht. Da die Importe aus China seit einiger Zeit die deutschen Exporte dorthin übersteigen, erzielt China gegenüber Deutschland - auch gegenüber Europa - einen wachsenden Handelsüberschuss. China hat sich zudem zu einem wichtigen Produktionsstandort für deutsche Firmen entwickelt. Es gibt kaum ein großes deutsches Unternehmen, das nicht in China produziert. Das ist gut so; denn wir haben zur Sicherung unseres eigenen Wohlstandes ein Interesse daran, dass sich unsere Unternehmen an die Wachstumsdynamik in China ankoppeln. Chinas Einfluss wächst aber nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in politischer, diplomatischer, kultureller und militärstrategischer Hinsicht. Durch seine wachsende wirtschaftliche Kraft, zunehmende Softpower, seine Stellung als ständiges Mitglied im VN-Sicherheitsrat und sein aktiveres Engagement in regionalen und multilateralen Strukturen ist ein chinesischer Beitrag zur Lösung vieler regionaler und globaler Fragen heute nicht mehr wegzudenken. Die deutsch-chinesischen Beziehungen sind eng, substanzreich und robust. China ist für uns ein wichtiger Partner in Asien, und wir sind für Peking ein ebenso wichtiger Partner in Europa. Es gibt zwischen beiden Seiten eine breite Palette von Dialogen in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Umwelt und Politik. Dazu gehört auch der Menschenrechts- und Rechtsstaatsdialog, der auszubauen und zu fördern ist, wie es der Präsident gerade angesprochen hat. In der Außenpolitik ist inzwischen auch der notwendige Dialog über für beide Seiten relevante außen- und sicherheitspolitische Themen wie Iran, Sudan und Afrika aufgenommen worden. China ist also ein wichtiger Partner für uns. China wird insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht aber auch zu einem immer stärkeren und direkten Wettbewerber. Deutsche und europäische Unternehmen konkurrieren bereits heute in verschiedenen Weltregionen mit chinesischen Firmen, zum Beispiel um Infrastrukturprojekte im Nahen Osten oder in Afrika, aber auch zunehmend bei der Lieferung von Investitionsgütern und Maschinen. Hierbei kommen der chinesischen Seite insbesondere ihre erheblichen Kostenvorteile zugute. China ist auch der größte Produktimitator der Welt. Westliche Unternehmen verlieren in China und in zunehmendem Maße auch auf Drittmärkten und selbst auf dem Heimatmarkt jedes Jahr Milliardenbeträge durch Produktpiraterie. Durch die erheblichen Investitionen europäischer Unternehmen in China, die überwiegend in Joint Ventures erfolgen, wächst das Risiko, dass zu viel Know-how zugunsten chinesischer Firmen auf die beschriebene Weise abfließt. Auch im Energie- und Rohstoffbereich ist die Konkurrenz Chinas weltweit zu spüren und hat zu den Preiserhöhungen beigetragen, die wir seit einiger Zeit bei Öl und Gas erleben. Mit China - das ist Bestandteil unserer Asien-Strategie und ein Umstand, Herr Trittin, der nicht geleugnet werden sollte - steigt ein nicht demokratischer und nicht liberaler Staat in der weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Hierarchie auf. China hat in den vergangenen 30 Jahren ein Entwicklungs- und Modernisierungsmodell geschaffen, das bisher außerordentlich erfolgreich ist. Moderne autoritäre politische Führung wird kombiniert mit staatlich beaufsichtigtem Kapitalismus. Meines Erachtens steht der Beweis noch aus, ob das chinesische Modell langfristig eine nachhaltige Entwicklung ermöglichen kann. Daran sind insbesondere deswegen Zweifel angebracht, da nach unserer Auffassung - das betrifft den nachhaltigen Stabilitätsbegriff, der unserer Asien-Strategie zugrunde liegt und von Ihnen gerade infrage gestellt wurde - eine nachhaltige Entwicklung nur dann möglich ist, wenn sich China zu einem System weiterentwickelt, das auf Partizipation ausgerichtet ist und die Menschenrechte schützt. Das hat nichts mit der Auffassung zu tun, dass China böse und Indien gut sei; das steht nicht in unserer Strategie und ist auch sonst nirgendwo in unseren Reden oder Stellungnahmen zu finden. Ich glaube, das gehört zu einer differenzierten Wahrnehmung der Realität Chinas. Dazu gehört auch, dass das chinesische Modell sich in einigen Entwicklungsländern ganz offensichtlich erheblicher Attraktion erfreut und damit die Anziehungskraft westlich liberaler Ordnungsprinzipien mindert. Auch wenn die Veränderungen in China in den letzten drei Jahrzehnten ohne Zweifel bemerkenswert sind, müssen wir feststellen, dass sich das westliche Entwicklungsmodell nicht unmittelbar auf China übertragen lässt. Zwar ruht heute die Herrschaft der KP Chinas nicht mehr auf dem Kommunistischen Manifest, doch sind weder Demokratie noch Rechtsstaatlichkeit noch Bürgergesellschaft an seine Stelle getreten. Ihre Herrschaftslegitimation zieht die chinesische KP aus dem wirtschaftlichen Erfolg und - als Surrogat für die Partizipation - aus zunehmendem Nationalismus. Bei uns wird immer wieder angenommen, dass sich aus den verstärkten wirtschaftlichen Beziehungen automatisch eine Weiterentwicklung des politischen Systems in unserem Sinne ergeben muss. Vor dem Glauben an einen solchen Automatismus, denke ich, gilt es zu warnen. ({2}) Denn es ist eine falsche Annahme, die chinesische Führung betreibe freiwillig oder unfreiwillig eine Politik, an deren Ende zwangsläufig die eigene Selbstentmachtung in einer Mehrparteiendemokratie und einem Rechtsstaat mit Gewaltenteilung und unabhängiger Rechtsprechung stehen müsse. Gerade hier stößt das von vielen propagierte Konzept „Wandel durch Handel“ an seine Grenzen. Es muss von der Politik begleitet werden. Ich lehne das Konzept „Wandel durch Handel“ nicht ab, glaube aber, dass es weder absolut gilt, wie das manchmal dargestellt wird, noch automatisch zum Erfolg führt. Wir müssen uns auch mit der Frage beschäftigen, welche Risiken für Chinas Entwicklung in Zukunft entstehen könnten, zum Beispiel aufgrund der inneren Entwicklung, der wirtschaftlichen Entwicklung, des großen Armutsgefälles und des Verhältnisses von Nationalstaat zu Provinzen. Um sich auf Schwierigkeiten einzustellen, sollte man aus unserer Sicht nicht nur mit China selbst über die weitere Entwicklung sprechen, sondern auch die Nachbarn Chinas und die gesamte Region stärker in den Dialog einbeziehen. Das gilt für unsere traditionellen Verbündeten wie Japan und Südkorea, aber auch für die ASEAN-Staaten. Je mehr wir ein Umfeld schaffen, in dem wir die Entwicklung Chinas positiv begleiten, und je mehr sich die Deutschen und die Europäische Union bei der Gestaltung dieses Umfeldes engagieren - allerdings als Ergänzung und nicht als Alternative zum Ausbau unserer bilateralen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen -, desto besser ist die Aussicht darauf, dass sich die positive Entwicklung Chinas zum Nutzen unserer beiden Länder und zum Nutzen Asiens und Europas fortsetzt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass Kollege Trittin diese Debatte mit Bemerkungen zu den Opfern der Erdbebenkatastrophe in China eröffnet hat. Es ist immer wieder erforderlich, dass wir unser Mitgefühl mit den Opfern zeigen, unsere Hilfsbereitschaft anbieten und vor allen Dingen die Dimension dieser Katastrophe begreifen, die wahrscheinlich alles übertrifft, was wir in den letzten Jahrzehnten erlebt haben. Das wird eine dauerhafte Aufgabe sein, auch dann, wenn die Medien nicht mehr unmittelbar vor Ort sind. Denn der nächste Winter kommt bestimmt. Auch dann werden dort noch zig Millionen Menschen betroffen sein, die unsere Hilfe und Solidarität brauchen. ({0}) Es wäre auch nicht schlecht, wenn wir einmal, zum Beispiel beim Katastrophenschutz, von den Chinesen lernen würden. Von China lernen, das ist ohnehin etwas, was wir uns auf die Fahne schreiben sollten, anstatt ständig nur oberlehrerhaft gegenüber China aufzutreten. ({1}) Selten gab es im Bundestag und in Deutschland eine so intensive Auseinandersetzung mit China wie in diesem Jahr. Das ist gut und richtig. Trotzdem fällt auf, dass wir uns eigentlich immer nur mit Einzelfacetten befassen. Mein Eindruck ist: Das Tempo der Veränderung, nicht nur in der ökonomischen Sphäre, wird bei uns weder analytisch noch konzeptionell nachvollzogen. Stattdessen dominieren verschiedene Facetten das Bild: Facetten der Geschichte einer großen und Tausende Jahre alten Kulturnation, Facetten der Geschichte des Kommunismus, Facetten der Vielfalt der Völker und Regionen Chinas, die zusammenzuhalten für jede chinesische Regierung eine gigantische Herausforderung ist, Facetten wie Menschenrechte, Umwelt, Klima, Wahrnehmung internationaler Verantwortung, Religionsfreiheit, Medienfreiheit und vieles mehr. In der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage sind viele gute Informationen enthalten. Man findet Aussagen über Stärken und Schwächen. Aber wie bewerten wir das? Offenbar gibt es ja, wie wir heute Morgen festgestellt haben, zwei China-Politiken der Bundesregierung, wenn nicht mehr. Wenn man genauer hinsieht, stellt man fest, dass hier der klassische Konflikt zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik besteht. Für die Glaubwürdigkeit in Wertefragen und die Bedienung eigener taktischer oder innenpolitischer Zwecke ist immer angesagt, sich auf die Gesinnungsethik zu berufen. Wer aber auch und gerade in Wertefragen, zum Beispiel bei der Verbesserung der Menschenrechtslage, etwas erreichen und seine eigenen Interessen strategisch wahren will, der kommt allein mit der Berufung auf die Gesinnungsethik nicht aus. Wir sollten uns nicht dem Vorwurf aussetzen, mehr am Beifall zu Hause interessiert zu sein, wenn wir Fehlentwicklungen anprangern, als an der Lösung der Probleme, unter denen die Menschen vor Ort leiden. ({2}) Nur das Gesamtbild kann die Grundlage eines strategischen Ansatzes sein. Bei der Analyse kommt man zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen, je nachdem, ob man diesen Ansatz statisch oder dynamisch auslegt. Der Status Chinas und der Status unserer Beziehungen geben an vielen Stellen Anlass zu Kritik. Man muss aber sehen, woher China kommt und wohin es sich in den letzten 20 Jahren entwickelt hat. Man muss den gewaltigen Fortschritten Rechnung tragen und zumindest einmal feststellen, dass die Entwicklung im Großen und Ganzen in die richtige Richtung geht. ({3}) Es kommt auf die Basis an, auf der man Kritik äußert. Niemand wird von uns erwarten - von uns Liberalen schon gar nicht -, dass wir unsere Grundüberzeugungen in Menschenrechtsfragen über Bord werfen oder sie verstecken. Aber für eurozentrische Besserwisserei, für Überheblichkeit sollte kein Platz sein. Ehrlichkeit und die Vermeidung doppelter Standards sind angesagt. ({4}) Als Freund Chinas, auf der Basis von Respekt und Sympathie kann man heutzutage chinesischen Gesprächspartnern gegenüber die heikelsten Themen ansprechen. ({5}) Denn die Veränderungsdynamik Chinas geht weit über die ökonomische Sphäre hinaus. Im Grunde beobachten wir einen faszinierenden Prozess der Verwestlichung. Wir sollten das nicht als Bedrohung empfinden, sondern als Chance. ({6}) Warum sind manche Fragen in der Diskussion mit den chinesischen Partnern so heikel? Weil das Riesenreich seine Traumata hat. Stabilität und harmonische Entwicklung sind ein Stichwort, Zusammenhalt der Nation - so viele Ethnien leben in China - ist ein anderes. Und dann ist da dieses Relikt des Altkommunismus, nämlich die Haltung zu Religion und Religionsfreiheit: Religion als Opium für das Volk. Es ist höchste Zeit, dass auch unsere chinesischen Partner Marx in die Mottenkiste packen. Bisweilen fragt man sich, warum unsere chinesischen Partner es uns so schwer machen, warum sie nicht mehr Gelassenheit, warum sie nicht mehr Selbstbewusstsein an den Tag legen, wie es ihrer Kultur und Tradition eigentlich entspricht. Warum zum Beispiel greifen sie, wie kürzlich geschehen, auf die Sprache der Kulturrevolution zurück und lösen damit bei uns so viele Irritationen aus? Wir sollten unsere chinesischen Partner ermutigen, gelassener zu sein, souveräner zu sein und nicht jede kritische Anmerkung als Anschlag auf die nationale Einheit oder auf die stabile und harmonische Entwicklung zu empfinden. Weder eine Abkehr von der Ein-China-Politik noch eine Destabilisierung Chinas kann Ziel oder Motiv deutscher Politik sein. ({7}) Es gibt große Probleme, es gibt aber auch Fortschritte. Es gibt eine Riesenarmut, und die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter. Aber man muss auch sehen: Zwischen 1959 und 1961 sind 30 Millionen Menschen durch Hunger umgekommen. So etwas wäre im heutigen China nicht mehr möglich. Das muss man anerkennen. Im Bereich der Rechtsstaatlichkeit gibt es über die Frage der Menschenrechte weit hinaus viele Dinge, die man sich noch wünschen würde. Aber die Chinesen arbeiten daran, und das, was erreicht worden ist, ist enorm. Es ist auch ein Ergebnis kleiner Beiträge deutscher Politik; das sollten wir nicht verstecken. ({8}) Noch vieles ist umzusetzen. Wir sollten uns als Partner anbieten. Ab nächster Woche ist Tibet wieder für Ausländer geöffnet. Das ist eine gute Nachricht. Ich danke dem Präsidenten dafür, dass er eine Anmerkung zur Reise des Menschenrechtsausschusses gemacht hat. Auch in der Tibet-Frage sind Ehrlichkeit und Realismus angesagt, sowohl was die Historie angeht als auch was die Gegenwart und die Zukunft angeht. Unser Rat an die chinesischen Freunde lautet: Ihr seid gut beraten, den direkten Dialog mit dem Dalai-Lama zu suchen und den Dialog ernsthaft zu führen. ({9}) Wer weiß, was nach ihm kommt. Wir erwarten, dass unsere chinesischen Partner die Gesetze zum Schutz der Tibeter tatsächlich umsetzen. Wir müssen allerdings unseren tibetischen Gesprächspartnern gegenüber klarmachen, dass auch Gewalt von ihrer Seite nicht nur nicht zielführend, sondern inakzeptabel ist. ({10}) Das heißt, dass wir in den Gesprächen mit dem religiösen Führer der Tibeter - die wir selbstverständlich führen dürfen - sagen müssen, dass wir um eine präzise Definition von Autonomie nicht herumkommen ({11}) und dass wir keine Forderung unterstützen - die wird nicht von ihm kommen, aber möglicherweise von anderen -, die auf eine Destabilisierung Chinas hinauslaufen würde. Unter dem Strich: Sehen wir China als Partner oder als Gegner? Meine Damen und Herren, der Westen hat keine China-Strategie. Partnerschaft oder Eindämmung? Eindämmung ist das Thema neokonservativer Think Tanks in den Vereinigten Staaten und woanders. Eines müssen wir in der Tat eindämmen, nämlich den Nationalismus, der auch in China droht, ({12}) wenn wir die Empfindungen der Menschen in China in unsere Überlegungen nicht hinreichend einbeziehen. Wer China ständig nur als Bedrohung und strategischen Widersacher sieht, wird China als strategischen Gegner bekommen und - noch wichtiger - nichts von den Dingen erreichen, die uns hinsichtlich der inneren Probleme Chinas besonders am Herzen liegen. Bei keinem dieser Probleme werden wir dann etwas zum Besseren wenden können. Herzlichen Dank. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Walter Kolbow für die SPD-Fraktion. ({0})

Walter Kolbow (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001175, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie der Kollege Trittin und der Kollege Hoyer, so will auch ich für die SPD-Bundestagsfraktion noch einmal das Mitgefühl für die Erdbebenopfer zum Ausdruck bringen und in diesem Zusammenhang deutlich machen, dass die Hilfen, die von der Bundeswehr und den vielen Spenderinnen und Spendern öffentlich und privat geleistet worden sind, geholfen haben und sicherlich auch weiter helfen werden. ({0}) Ich denke, es ist gut, dass der Bundestagspräsident angesprochen hat, dass der Menschenrechtsausschuss nicht nur nach China möchte, sondern in unserem Namen auch soll, und dass das Argument - wir nehmen das natürlich ernst -, dass man dort im Moment wegen der Erdbebenkatastrophe nicht zur Verfügung stehen kann, noch einmal überdacht werden sollte, damit diese Reise möglich wird. ({1}) Herr Kollege Hoyer, ich stehe nicht an, deutlich zu sagen, dass vieles von dem, was Sie hier vorgetragen haben, auch den Intentionen der sozialdemokratischen China-Politik entspricht. Herr Kollege Trittin, ich weiß, dass das kräftige Sowohl-als-Auch, das bei der Beantwortung kompliziertester Fragen häufig auch eine Grundposition von Willy Brandt gewesen ist, auch auf das Problem hier zutrifft. Ich sage an dieser Stelle: Natürlich sind wir alle im Respekt vor Papieren, Auffassungen, Reiseergebnissen und Diskussionen in unserem Lande daran interessiert und von unserem Anspruch her auch dazu verpflichtet, eine China-Strategie zu entwikkeln. Zu einer Strategie bedarf es aber natürlich auch des Sich-Einlassens auf strategische Positionen. Hier ist gesagt worden, dass dem natürlich nicht nur der chinesische Pragmatismus gelegentlich entgegensteht, der diese Dinge für uns kompliziert, weswegen auch die Aufforderung an die chinesischen Partner ergeht - wie meine Vorredner das schon gesagt haben -, sich auf diese ehrliche Debatte so einzulassen, wie sie sich im eigenen Land auch auf die Überwindung ihrer schrecklichen Vergangenheit und Traumata - denken Sie nur an die Kulturrevolution und an das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Jahre 1989 zurück - eingelassen haben. ({2}) Ich denke, dass wir dadurch herausgefordert werden, Positionen zu überwinden, die 1966 bis 1969 während der ersten Großen Koalition zum Ausdruck kamen - sie sind heute nicht angeklungen -, als Kurt Georg Kiesinger den Deutschen zurief: „Ich sage nur China, China, China“. Auch wegen der offenen und ehrlichen Aussprache - an dieser werden wir uns messen lassen; das gilt aber auch für unsere chinesischen Partnerinnen und Partner - sind die Ängstlichkeit in diesem Zusammenhang und die Mystifizierung des chinesischen Partners ebenfalls bei weitem überwunden. ({3}) Ich denke, dass durch das EU-Projekt zur Durchführung von Dorfwahlen in China - um eines herauszugreifen, von dem ich glaube, dass dadurch Optimismus geweckt werden kann -, das von 2001 bis 2006 durchgeführt worden ist - inzwischen sind Dorfwahlen anerkannter Bestandteil der administrativen Strukturen in der Volksrepublik China -, deutlich gemacht wird, dass eine solche Kooperation möglich ist, dass es über einzelne Inhalte dieser Kooperation hinausgehen kann und dass sie Basis für Strategien werden kann; denn auf dem 17. Parteitag im Oktober 2007 hat sich der General18212 sekretär Hu Jintao immerhin zu dem Ziel der Partizipation und zur Basisdemokratie in der Bevölkerung bekannt. Daneben hat er auch unter der Überschrift „Harmonisierung der Gesellschaft“ den Anspruch verkündet, dies weiterzuentwickeln. Wir haben diesen Weg eingeschlagen und führen Diskussionen, auch mit den Verantwortlichen in der Kommunistischen Partei Chinas. Dort ist ein Diskussionsprozess eingeleitet worden, zu dem auch die Auseinandersetzung mit dem Alleinvertretungsanspruch gehört. Die Diskussion verläuft zwar zögerlich, aber immerhin hat sie begonnen. Dabei wird der Blick auch auf Parteiendemokratien in anderen Ländern gerichtet. Aber was die Strategie, mit der dieses Land mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern den Herausforderungen begegnet, und die bereits angesprochene Gefahr des Nationalismus angeht, müssen wir Geduld aufbringen und auch mit Rückschlägen fertig werden. Wir müssen aber auch dazu beitragen, solche Rückschläge zu vermeiden. ({4}) Es ist deutlich geworden, dass die Chinesen weltpolitische Spieler sind, ohne die in Bereichen wie Entspannung, Abrüstung, Rüstungskontrolle und friedensschaffende Maßnahmen auch in Hotspots der Weltgemeinschaft keine Erfolge mehr erzielt werden können. Gerade das Beispiel Nordkorea zeigt, dass China mittlerweile gewillt und fähig ist, seiner politischen Verantwortung in den internationalen Beziehungen nachzukommen und damit auch eine konstruktive Rolle in brennenden Situationen wie einem Atomkonflikt einzunehmen bereit ist. Auch daran muss man den chinesischen Partner messen und dieses positive Engagement auch auf andere Krisenregionen wie den Iran oder den Sudan übertragen. Ich denke, dass es intellektuell durchaus redlich ist, wenn wir uns - auch vor dem Hintergrund unserer Entschließungen zu den Laogai-Lagern und zur Verfolgung der Falun Gong - auch mit dem Thema Tibet befassen. Wir wollen das nicht überheblich mit erhobenem Zeigefinger tun - das wurde bereits angesprochen -, sondern wir gehen auch dieses Thema mit Respekt vor einem Dialog, der zum Ziel führen soll, an und laden die chinesischen Partner ein, die Verhandlungen mit den Exiltibetern wieder aufzunehmen. Wir machen deutlich, dass wir auf Ergebnisse setzen und dass die Aufnahme von Verhandlungen vor dem Beginn der Olympischen Spiele ein sinnvolles Zeichen des Friedens wäre, der diese Spiele begleiten soll. ({5}) Ich danke Ihnen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Wolfgang Gehrcke das Wort.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte für die Fraktion Die Linke meine Überlegungen damit beginnen, Beileid und Mitgefühl für die furchtbare Naturkatastrophe auszusprechen. Es liegt zwar kein Antrag vor, aber vielleicht kann man das - ähnlich wie es der Auswärtige Ausschuss bereits getan hat - im Namen aller Fraktionen des Deutschen Bundestages den chinesischen Partnerinnen und Partnern übermitteln. Ich würde das sehr begrüßen; denn es erleichtert vieles, wenn man die eigenen Überlegungen aus einer solchen Position heraus vertritt. Ich sehe in diesem Punkt auch keine Differenzen. ({0}) Wenn man versucht, den Stellenwert unserer Beziehungen zu China strategisch einzuordnen - aus meiner Sicht ist das Verhältnis Deutschlands bzw. der Europäischen Union zu China, um das es heute geht, eine der wichtigsten Fragen der deutschen Außenpolitik -, dann ist es zu bedauern, wenn in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Grünen nur auf Einzelprojekte und einzelne Ressorts verwiesen wird. Grundsätzlich stellt sich die einfache Frage, ob es so etwas wie eine deutsche China-Politik gibt, welches ihre Grundzüge sind und ob die Beziehungen zu China einen strategischen Stellenwert für Deutschland haben. Herr Staatsminister, ich habe mich schon mehrfach darüber beschwert, dass die Bundesregierung alle möglichen Politikfelder mit dem Etikett „strategisch“ versieht. Es gibt zwar strategische Partnerschaft und strategische Zusammenarbeit, aber in den meisten Fällen ist damit kein großer strategischer Inhalt verbunden. Die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und China hätte tatsächlich einen strategischen Stellenwert. Es muss doch der Bundesregierung möglich sein, diesen strategischen Stellenwert nicht auf einzelne Bereiche beschränkt - das ist Verschwendung -, sondern zusammenfassend zu formulieren. Ich finde, das ist ein Mindestanspruch, den man erheben muss. ({1}) China ist eine Weltmacht oder auf dem Weg zu einer Weltmacht. Ich will gleich hinzufügen, damit das nicht falsch ausgelegt wird: Ich war immer und bin ein Gegner einer unipolaren Welt und von Ansprüchen auf eine solche Welt. Die Alternative zu einer unipolaren Welt ist nicht eine bipolare Welt. Die Alternative dazu ist vielmehr eine Gemeinschaft unterschiedlicher Akteure, Völker und Vereinigungen. Das macht einen großen Unterschied in der Betrachtung unseres Verhältnisses zu China aus. ({2}) Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, hört sich banal an, obwohl er fast die Grundlage für alles ist. Ich finde es herausragend, dass heute keine Menschen mehr in China verhungern. Die einfache Überlebensfrage nach einer Schale Reis ist beantwortet. Es gibt in China sicherlich Armut, Ungerechtigkeit und viele ungeWolfgang Gehrcke löste Probleme. Aber dass dieses Land mit einer Milliardenbevölkerung es schafft, seine Menschen zu ernähren, ist ein gewaltiger Schritt, den man nicht mit kleiner Münze beantworten darf. Aus meiner Sicht ist das tief beeindruckend. ({3}) Wir sollten versuchen, zu ermessen, was es bedeutet, wenn Menschen nicht mehr verhungern müssen. Drittens müssen wir uns darüber klar sein, dass kein Weltproblem ohne die Hilfe oder - genauer gesagt ohne aktive Mitarbeit Chinas zu lösen ist. Wir sollten uns wünschen, dass China in noch stärkerem Maß Verantwortung in der Weltpolitik übernimmt. Ich will einige Bereiche nennen. Die Bewältigung von Klimaentwicklung und Klimakatastrophen, die Beantwortung der Fragen nach dem ökologischen Überleben der Welt und die Bekämpfung des Hungers in allen Teilen der Welt sind ohne China nicht möglich. Ich will auch ansprechen, warum es uns so schwerfällt, die Stärke und den Einfluss Chinas bei einer friedlichen Lösung in Afghanistan zu nutzen - das ist eine einfache Überlegung -, und zwar in Kooperation mit den Nachbarn Afghanistans, dem Iran und anderen, und eine entsprechende Politik zu betreiben. ({4}) Das hieße, Militär endlich mit Politik zu beantworten. Ich glaube zudem, dass wir keine Lösung in den Fragen betreffend das Atomprogramm Nordkoreas und das mögliche Atomprogramm des Irans erreichen, wenn wir China nicht als fairen Mittler - China hat das Recht, die westliche Politik nicht ständig zu unterstützen und ihr zu widersprechen - in Anspruch nehmen. ({5}) Außerdem wird es eine Reform der UNO ohne China nicht geben - das ist klar -, nicht nur weil China Mitglied des UN-Weltsicherheitsrates ist. Hat es nicht auch für die deutsche Politik eine hohe Bedeutung, dass wir über China einen besseren Draht zu den sogenannten Blockfreien - obwohl es keine Blöcke mehr geben soll entwickeln könnten? China kann in mehrfacher Hinsicht für eine kooperative Welt nutzbringend sein. Die Grundlage dazu ist - ich finde es spannend, Herr Kollege von Klaeden, dass das in Ihrer Rede überhaupt nicht auftauchte; aber das müssen Sie selber wissen - eine Ein-China-Politik. Gerade von einer Partei wie der CDU/CSU, die sich zu einem Zeitpunkt, als ich eine gegensätzliche Position vertrat, so sehr für eine Ein-Deutschland-Politik eingesetzt hat, hätte ich, was eine Ein-China-Politik betrifft, mehr Aufmerksamkeit und Klarheit erwartet. ({6}) Vor diesem Hintergrund müssen wir gemeinsam über eine Lösung des Tibet-Problems nachdenken. China wäre gut beraten, sich an die eigene Verfassung exakt zu halten, die autonome Regionen sowie die Gleichheit der Nationen, der Sprachen, der Sitten und der Gebräuche vorsieht. ({7}) Das ist Gegenstand der chinesischen Verfassung. Es liegt in der Auseinandersetzung der Kooperation zwischen Tibetern und Chinesen, dies in die politische Praxis umzusetzen. Ich sage Ihnen aber auch: Die Definition des DalaiLama - er war Gast bei uns im Auswärtigen Ausschuss von Autonomie - nicht auf das Gebiet Tibet, sondern auf die Abstammung bezogen; er sprach wörtlich von Religion und Blut - lässt sich schwer in Rechte fassen. ({8}) Aber auch eine solch offene Sprache gegenüber unseren Partnern kann man sich doch nicht gegenseitig untersagen. Überlegen Sie sich einmal: Wenn in China Ähnliches wie in der damaligen Sowjetunion passiert wäre, eine Auflösung des Staatengebildes in Einzelstaaten, dann hätte dies die Welt nicht ausgehalten. ({9}) Deswegen muss man vorsichtig sein und den Anfängen mit einer vernünftigen Politik wehren. Ich möchte uns, mich selbst immer eingeschlossen, gemeinsam mahnen, in Stil und Gestus einen anderen Umgang zu pflegen. Allzu oft klingt in unseren Reden durch: Wir sind die Belehrenden, und ihr seid die Lernenden. Dieser Gestus kann gerade vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte Europas in China nicht akzeptiert werden. ({10}) Das Land legt großen Wert auf Würde, Stolz und Selbstbewusstsein. Wir müssen eine Sprache finden, in der nicht immer der Eurozentrismus in Erscheinung tritt. Ich denke, es ist wichtig, dass der belehrende Ton weg muss. ({11}) - Ich erinnere daran, dass ich vorhin von kleiner Münze gesprochen habe, Herr Kollege. Ich will eine letzte Bemerkung zur chinesischen Außenpolitik machen. Ich finde die chinesische Außenpolitik durchaus berechenbar. Sie bewegt sich sehr hart am Text der Charta der Vereinten Nationen. ({12}) Ich finde - damit will ich abschließen, Frau Präsidentin, obwohl noch vieles zu sagen wäre -, dass die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die entsprechende Frage etwas sehr Vernünftiges geschrieben hat. Ich zitiere: Da der Erhalt eines friedlichen Umfeldes für die Entwicklung des Landes höchste Priorität besitzt, ist Chinas Militärpolitik und -doktrin defensiv ausgerichtet; der Ersteinsatz von Nuklearwaffen wird ausgeschlossen. Wenn ich das Gleiche von den USA behaupten könnte, dann wäre ich sehr glücklich und dann wäre der Welt wirklich gedient. ({13}) In diesem Sinne möchte ich gerne, dass wir zusammen eine vernünftige Politik entwickeln. Herzlichen Dank. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Erich Georg Fritz für die CDU/CSU-Fraktion.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Herr Trittin, ist tatsächlich zu einem Kompendium über China geworden. Wenn Sie die Struktur bemängeln, Herr Kollege Trittin, dann muss ich Ihnen sagen, dass sie, wie Sie bei der Lektüre feststellen können, ausschließlich an Ihrer Frageweise liegt. Von daher dürfen Sie sich nicht beklagen, wenn die Bundesregierung so antwortet, wie Sie gefragt haben. Ich glaube, dass die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage ziemlich genau das ganze Feld der inneren Entwicklung Chinas mit seinen Erfolgen und Widersprüchen darlegt. Sie zeigt die unendlichen Bedürfnisse und Möglichkeiten, die in einer Zusammenarbeit Europas und insbesondere Deutschlands mit China liegen. Ich habe den Eindruck, dass die Antwort weder politisch geschönt noch zu drastisch ist. Sie nennt einfach die Dinge beim Namen. Insofern halte ich die Antwort im Sinne eines vernünftigen Umgangs mit unserem Partner für angemessen. ({0}) Bei der Zusammenfassung kommt man zu einigen Einschätzungen, die für die weitere Diskussion vielleicht nicht unwesentlich sind. 30 Jahre wirtschaftliche Reformen und Entwicklungen in China haben nicht nur dieses Land, sondern auch die Welt verändert. Das heißt für China und für die Welt, dass ein altes Kulturvolk auf die weltpolitische Bühne zurückgekommen ist. Wenn man sich klarmacht - Herr Gehrcke, vielleicht mit Ihrer begeisternden Zustimmung früher -, was dieses Volk auf diesem Weg mitgemacht hat, ist die Kraft, ist der Elan, sind die sich entwickelnden Fähigkeiten geradezu bewundernswert, die China an den Tag legt. ({1}) Dass nicht nur wir Deutsche, sondern dass die Welt Probleme hat, den kulturellen Hintergrund dieser Entwicklung zu lesen - das gilt nicht nur für Unternehmer, sondern auch für Politiker, für alle, die mit China zusammenarbeiten. Dieses Land hat sich selbst zurückgezogen und den Austausch nicht gepflegt. Jetzt ist es zurück. Beide Seiten lernen, nicht nur, weil wir dazu genötigt sind, sondern auch, weil wir Freude daran haben, mit dieser neuen Herausforderung umzugehen. Es ist ein Land mit einer ungewöhnlichen wirtschaftlichen Dynamik. Die Welt nimmt das erstaunt zur Kenntnis, häufig genug voller Angst. Es gibt eine Verringerung von Armut im großen Stil. Ist das denn gar nichts wert? Warum reden wir nicht darüber, ({2}) dass dieser Weg der wirtschaftlichen Liberalisierung Chinas zu einer Verringerung von Armut führt wie in Indien und Brasilien auch? Ich habe manchmal das Gefühl, alle, die früher vom Teilen geredet haben, haben damit nichts mehr im Sinn, wenn etwas plötzlich über den Wettbewerb erworben und nicht mehr gnädig gegeben wird. China ist nun einmal in der Rolle dessen, der sich seinen Anteil über den Wettbewerb nehmen kann. Freilich gibt es auch an dieser Form des Wettbewerbs das eine oder andere zu kritisieren. Der politische Bedeutungszuwachs Chinas ist noch nicht immer in Peking und in der Welt mit den richtigen Ressourcen hinterlegt. Aber das ist doch kein Wunder. Wenn Sie sich einmal anschauen, wie schnell der Generationenwechsel in der Führungsschicht und bei den international Aktiven gelungen ist, dann ist es schon erstaunlich, welche Qualität man vorfindet. ({3}) Darauf müssen wir uns einstellen. Da gibt es neue Herausforderungen, die wir erst einmal bestehen müssen. Aber noch ist und fühlt sich China nicht in der Lage, in jeder Weise, zu jeder Zeit und an jeder Stelle Verantwortung zu übernehmen. Diese Ansprüche an die Übernahme von Verantwortung in internationalen Angelegenheiten, an Chinas Mitgestaltung werden aber gestellt. Deshalb muss sich China von vielen, allein auf nationales Interesse konzentrierten Vorstellungen lösen. Diese positive Entwicklung Chinas bedeutet aber auch, dass China es jetzt mit Ängsten und Widerständen auf der Welt zu tun hat, mit denen umzugehen es bisher überhaupt nicht gewohnt war. Deshalb sind manche Reaktionen, die wir in den letzten Monaten erlebt haben, natürlich vor diesem Hintergrund zu sehen. China muss soziale und regionale Disparitäten ausgleichen. Dagegen ist der Ausgleich in den Beitrittsländern der Europäischen Union geradezu eine Bagatelle, obwohl wir wissen, wie schwierig solche Prozesse sind. Die Rohstoffsicherung für eine so dynamisch wachsende Wirtschaft zu betreiben, ist natürlich eine Herausforderung. Für die gab es auch in China kein Drehbuch. Wir beklagen uns zu Recht, dass wir da einem Prozess zuschauen, den wir in seinen Auswirkungen wenig beeinflussen können und den wir an vielen Stellen in der Art des Vorgehens nicht gutheißen. Mit internationalen Ansprüchen auf Standards für Menschenrechte, Ressourcenschonung, KlimaverantworErich G. Fritz tung, soziale Entwicklung und den Ausbau des Rechtsstaats wird China von allen Seiten konfrontiert. Wir sind an diesem Prozess beteiligt. Jeder, der diese Gespräche führt, weiß, dass die Möglichkeit eines Dialogs, das Verständnis für diesen Dialog und die Bereitschaft, sich einzulassen, in China zugenommen haben, auch wenn die Ergebnisse nach wie vor nicht so sind, wie wir sie gerne hätten. Die Vorteile aus der Öffnung der Märkte für chinesische Produkte sind natürlich mit dem Anspruch hinterlegt, die Regeln, die man unterschrieben hat, konsequent einzuhalten und alles dafür zu tun, dass in Peking nicht nur ein Gesetz gemacht wird, sondern dass man sich auch vor Ort in den Unternehmen, in den Handelsströmen an die akzeptierten Regeln hält. Die vielfältigen Umweltprobleme und deren Folgen für die Bevölkerung dürfen nicht länger verdrängt werden. Dies bietet eine ganz neue Form der Zusammenarbeit. Der Bericht der Bundesregierung zeigt, was darin steckt und was wir auf diesem Feld zum Vorteil beider Seiten leisten können. Einzusehen, dass auf Dauer ein modernes, weltoffenes China, wirtschaftlich erfolgreich und international angesehen, den Bürgern nicht die wesentlichen Partizipationsmöglichkeiten vorenthalten kann, zu akzeptieren, dass Menschenrechte nicht nach Gutdünken verweigert werden können, dass Meinungs- und Religionsfreiheit nicht unterdrückt werden können, wenn man diesen Prozess nicht innerhalb des eigenen Landes gefährden will, und dass man Pluralismus in Gesellschaft und Politik auf Dauer braucht, weil anders die kreativen Kräfte dieses Volkes nicht zu erhalten sein werden - auf dieser Basis ist es möglich, den Dialog mit China zu führen. ({4}) Ich glaube, dass der gerade vorhin angeklungene Gegensatz zwischen Gesinnungsethik oder werteorientierter Außenpolitik und pragmatischer Außenpolitik eine Konstruktion ist, die eigentlich gar nichts taugt. Es kann doch nur darum gehen, dass wir die Interessen, die auf beiden Seiten vorhanden sind, die auch gemeinsame sein können - ich hoffe, in Afrika wird es in Zukunft besser gemeinsam gehen -, natürlich vor dem Hintergrund der eigenen Wertvorstellungen diskutieren. Ich denke, dass man dem Anspruch der Chinesen auf Vertrauen und gerechten und fairen Umgang miteinander und Respekt voreinander umso besser gerecht werden kann, je mehr sich Wertvorstellungen durch einen dauerhaften Dialog einander annähern, und dass daraus ein umso größeres Verständnis und damit erst die Möglichkeit des gegenseitigen Respekts erwachsen. Es gibt viele Dinge im Zusammenhang mit unserer China-Politik, die diskussionswürdig sind. Aber diese Politik ist so, weil die Wirklichkeit so ist. Deshalb sollte man sich davor hüten, zunächst einmal eine Schablone zu basteln und dieser die China-Politik anzupassen. Lassen Sie uns vielmehr an den Stellen, wo Menschen aktiv miteinander umgehen, in der Wirtschaft, in der Politik, zunehmend in der Kultur, alle Chancen für den Dialog nutzen. Dann wird es eine Entwicklung zum gegenseitigen Vorteil geben. Herzlichen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Bundesregierung spricht nun Herr Staatsminister Gernot Erler. ({0})

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte diese Debatte nutzen, um noch einmal unser tiefes Mitgefühl für die Opfer der Erdbebenkatastrophe vom 12. Mai zum Ausdruck zu bringen. Das Ausmaß dieser Katastrophe, bei der über 5 Millionen Wohnhäuser zerstört wurden, ist schwer vorstellbar. Die chinesische Regierung hat schnell reagiert, die chinesische Gesellschaft hat große Solidarität mit den Betroffenen gezeigt. Die Offenheit, mit der die chinesische Führung auf die internationalen Hilfsangebote, auch auf unsere, reagiert hat, hat Eindruck gemacht und dazu beigetragen, dass diese Hilfe schnell bei den Betroffenen ankam. Dass dies nicht selbstverständlich ist, wissen wir von anderen aktuellen Katastrophenfällen. Wir werden China auch bei den jetzt anstehenden Aufgaben der Sicherung und des Wiederaufbaus nach Kräften unterstützen. ({0}) Wenn man über unsere China-Politik redet, sollte man sich zunächst vergewissern, mit welchem Partner man es hier zu tun hat. China ist ein riesiges Land mit 1 300 Millionen Menschen, mit einer jahrtausendealten, reichen Kultur, das in den letzten beiden Jahrzehnten ein geradezu atemberaubendes Entwicklungstempo vorgelegt hat, mit zweistelligen Wachstumsraten in den letzten fünf Jahren und einer äußerst konkurrenzfähigen Außenwirtschaft, die über den Außenhandel inzwischen eine Devisenreserve von 1,6 Billionen US-Dollar angesammelt hat. Aber China ist eben auch eine Gesellschaft, die vor enorm großen Herausforderungen steht. Wie dieses Land mit seinen vielen Völkern und Religionen zusammenhalten? Wie eine Identität und ein Zusammengehörigkeitsgefühl für 1,3 Milliarden Menschen schaffen und aufrechterhalten? Wie die Dynamik des Wirtschaftswachstums so steuern, dass möglichst viele Menschen am Wohlstandsgewinn teilhaben und dass die Unterschiede zwischen Arm und Reich nicht zu groß werden? Wie eine Balance finden zwischen der notwendigen Handlungsfähigkeit der Regierung und der ebenso notwendigen Transformation und Modernisierung von Staat und Gesellschaft? Dazu kommt ein unvermeidbarer Lernprozess. Chinas Rolle als Global Player wächst. Damit schwindet aber auch Chinas Chance, sich allein auf die eigenen Probleme zu konzentrieren. Vielmehr muss China inter18216 Dr. h. c. Staatsminister Gernot Erler nationale, globale Verantwortung übernehmen, und zwar in Bezug auf Frieden und Konfliktlösung auf verschiedenen Kontinenten, die Zivilisierung des Wettbewerbs um Rohstoffe und Energieressourcen sowie gemeinsame Antworten auf die globalen Umwelt- und Klimawandelprobleme. Liebe Kollegen Trittin, Hoyer und Gehrcke, die Bundesregierung hat sich, was ihre China-Politik angeht, entschieden. Sie verfolgt eine Grundlinie, die jede Isolierung und Ausgrenzung vermeiden will, die auf Einbindung, eine Verantwortungsgemeinschaft und vor allem auf Dialog setzt. ({1}) Dabei sind wir schon ein Stück vorangekommen. Wir haben seit Jahren einen ernsthaften Strategiedialog - das Wort „Strategie“ wurde also aufgegriffen -, einen durchaus nicht immer einfachen Menschenrechts- und Rechtsstaatsdialog und einen Umweltdialog. Insgesamt wurden über 30 verschiedene Dialogmechanismen entwickelt. Das sind hochrangig besetzte, echte Dialoge, die auf gleicher Augenhöhe stattfinden und bei denen wir uns auch den kritischen Fragen der chinesischen Seite stellen. Das ist eine Politik, die auf konkrete Ergebnisse setzt, die auf eine langfristige und nachhaltige Entwicklung hinarbeitet, die aber - wie wir mehrfach erfahren haben manchmal auch von tagespolitischen Ereignissen nicht unberührt bleibt. Das war zum Beispiel der Fall bei der hochrangigen Begegnung mit dem Dalai-Lama, die zu einer Unterbrechung der bilateralen deutsch-chinesischen Dialogforen führte. Diese Unterbrechung gehört mittlerweile zum Glück der Vergangenheit an. Es waren vor allen Dingen die Bemühungen des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier - zuletzt bei seiner China-Reise vom 13. bis 15. Juni -, die den Weg für eine Fortsetzung dieser Dialoge freigemacht haben. ({2}) Übrigens sparen diese Dialoge kein Thema aus, auch nicht die Punkte, bei denen wir uns nachdrücklich eine Änderung der chinesischen Politik wünschen, ob das die massive Anwendung der Todesstrafe, die Administrativhaft oder den Umgang mit Dissidenten und mit Minderheiten angeht. Unsere Erfahrung ist, dass nur auf partnerschaftlicher Basis geführte Gespräche etwas bewirken können; nur damit kann man Einfluss nehmen. ({3}) Nach den jüngsten Ereignissen in Tibet haben wir mehrfach zu direkten Gesprächen zwischen der chinesischen Führung und dem Dalai-Lama geraten. Am 4. Mai hat es eine erste Begegnung zwischen Pekinger Offiziellen und Vertretern des Teams des Dalai-Lama in Shenzhen gegeben. Eine zweite war für den 11. Juni vorgesehen, wurde aber wegen der Erdbebenereignisse verschoben. Wir ermutigen dazu, auf diesem Weg weiterzugehen. Die Welt braucht China als verantwortungsbewussten Teilhaber der Weltgesellschaft. In jedem Schritt unserer China-Politik - das ist unser Anspruch - muss dieses Ziel erkennbar bleiben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Hellmut Königshaus für die FDP-Fraktion. ({0})

Hellmut Königshaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003709, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind dem Präsidenten sehr dankbar dafür, dass er eingangs der Debatte darauf hingewiesen hat, dass noch einige Menschenrechtsfragen, die im Zusammenhang mit der Reise des Menschenrechtsausschusses zu sehen sind, mit der chinesischen Seite zu diskutieren sind. Dieser Hinweis war sehr wichtig. Deshalb ist es sehr zu bedauern, dass wir ausgerechnet die Menschenrechts- und die Tibet-Fragen heute leider voraussichtlich erst gegen 22 Uhr unter fast vollständigem Ausschluss der Öffentlichkeit besprechen werden. Der Eindruck des Kollegen Trittin, dass es der Bundesregierung bei der China-Politik an einer kohärenten Haltung fehlt, ist nicht falsch. Wenn man zur Regierungsbank schaut, wird auch optisch erkennbar, woran das liegen könnte. Kein einziger Bundesminister hat sich zu dieser Kernzeitdebatte hierher bewegt, übrigens auch nicht Frau Ministerin Wieczorek-Zeul, obwohl wir sie zur Belohnung mit unserer Auffassung zur Entwicklungshilfe für China vertraut gemacht hätten. Das ist mir unverständlich. ({0}) - Ja, die Staatssekretärin sitzt dort. Ihr sind unsere Auffassungen bestens vertraut - das weiß ich -; sie nimmt diese Belohnung immer gern entgegen. Wir sind uns beiderseits in dieser Frage schon in vielen Punkten entgegengekommen. Ich denke, wir sind uns einig darüber, dass China - das räumt auch die Bundesregierung ein - kein Entwicklungsland im klassischen Sinne mehr ist; viele der Ausführungen hier haben das deutlich gemacht. China ist eine Großmacht: über 1 Billion Euro Devisenreserven, Wachstumsraten, von denen wir hier nur träumen können, Exportweltmeister, wenn man die EU-Binnenlieferungen der Deutschen einmal außen vor lässt. China ist übrigens inzwischen selbst Geber. Allein nach Afrika fließen 7,5 Milliarden Euro. Da stellt sich doch die Frage, warum dieses Land eigentlich nach wie vor der größte Nehmer deutscher Entwicklungshilfe ist. ({1}) Etwa 200 Millionen Euro beträgt die ODA-Leistung inzwischen. Wir haben uns gestern über Afghanistan und über die Frage unterhalten, wo dort die strategischen Interessen liegen. Angesichts dessen ist dieser Fakt weitestgehend unverständlich. Ich frage insbesondere Sie, meine Damen und Herren von der Koalition: Warum machen Sie das weiter mit? Dazu sollten Sie hier eigentlich Stellung nehmen. Wir von der FDP wollen nicht die Einstellung der Entwicklungszusammenarbeit mit China, wie immer behauptet wird; wir wollen eine Umstellung, die den veränderten Voraussetzungen Rechnung trägt. ({2}) - Herr Tauss, herzlich willkommen! - Dazu gehört insbesondere, dass wir die Zivilgesellschaft stärken. Die bisherige EZ beschränkt sich im Wesentlichen auf die Zusammenarbeit mit staatlichen Organisationen - dafür ist vielleicht noch Stamokap-Denken ein bisschen verantwortlich -, aber die richtigen Partner für eine nachhaltige Entwicklung sind auf Dauer die privaten Unternehmen und die zivilen Organisationen. Dahin müssen wir kommen. ({3}) Wir müssen darauf achten, dass China, das selbst überall als großer Investor und auch als großer Geber auftritt, eingebunden wird und koordiniert auftritt mit den traditionellen Gebern, zu denen wir gehören; denn wir haben gemeinsam die Verpflichtung, die MDGs zu erreichen. Wir brauchen die Chinesen, damit sie das nicht konterkarieren. China müssen wir also als Partner betrachten. Deshalb - Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss - müssen wir bereit sein, in unseren Beziehungen, in unserer Entwicklungszusammenarbeit diese neuen Realitäten zur Kenntnis zu nehmen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Vielen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Manfred Grund für die CDU/CSU-Fraktion.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es sind die Bilder des schrecklichen Erdbebens, die sich bei uns so tief eingeprägt haben - Bilder von Eltern und Lehrern, die unter den Trümmern von Schulgebäuden und Wohnhäusern mit bloßen Händen nach ihren Kindern bzw. Schülern suchen, Bilder auch von erschöpften Helfern. Ich denke ebenfalls an das Bild des chinesischen Ministerpräsidenten, der sich angesichts dieses Leids seiner Tränen nicht geschämt hat. Damit einhergehend zeigt sich eine große Offenheit im Umgang mit dem Ausmaß dieser Katastrophe und in der Annahme von Hilfeleistungen. Insbesondere die deutsche Erdbebenhilfe war vorbildlich. Neben einem mobilen Krankenhaus wurden mehrere Wasseraufbereitungsanlagen und Unterkünfte zur Verfügung gestellt. Herr Staatsminister, es war gut, heute Ihre Aussage zu hören, dass diese Hilfe weitergeht, weil angesichts des Ausmaßes der Katastrophe, der zerstörten Ortschaften, die in dieser Form wahrscheinlich nie wieder aufgebaut werden können, eine länger andauernde Hilfe notwendig ist. Wir leisten sie gern, weil wir dazu in der Lage sind und weil sie angenommen wird. Vielen Dank auch an die Bundesregierung! ({0}) Unsere Hilfe und unser Mitgefühl gelten natürlich den Menschen in Sichuan, der betroffenen Provinz. Aber wir sollten auch die politische Dimension dieser geleisteten und entgegengenommenen Hilfe nicht unterschätzen. Damit ergibt sich ein positiver Effekt für die deutsch-chinesischen Beziehungen. Jetzt nehme ich das Thema von Herrn Königshaus auf: Entwicklungszusammenarbeit. Genau diesen positiven Effekt erwarten wir auch von der Entwicklungszusammenarbeit mit China, wie sie auch ausgestaltet sein mag. ({1}) Natürlich könnte China aufgrund der Devisenreserven - sie sind schon mehrfach genannt worden - infolge des Handelsüberschusses unsere Unterstützung vom finanziellen Umfang her allein kompensieren. Unsere Zusammenarbeit erschöpft sich aber nicht in finanzieller Unterstützung, sondern wir wollen wirtschaftliche und finanzielle Hilfen geben. Insbesondere die technische Zusammenarbeit stellt nicht eine Einbahnstraße dar, sondern wir bekommen auch etwas zurück, was uns im gegenseitigen Verhältnis guttut. Ich glaube, zwei Punkte sprechen dafür, warum wir an der wirtschaftlichen und der Entwicklungszusammenarbeit festhalten sollten: Erstens. Natürlich ist China kein Entwicklungsland mehr. Es ist ein Schwellenland, in dem Erste und Dritte Welt manchmal ganz unvermittelt aufeinanderprallen. Vergleiche von China mit anderen Partnerländern der Entwicklungshilfe gehen häufig fehl. Wenn schon, dann müsste man China mit Afrika vergleichen: So groß sind die Gegensätze, aber auch die Dimensionen unserer Hilfe. Zweitens. Der Zweck unserer Entwicklungszusammenarbeit ist letztlich nicht allein am Volumen der finanziellen Hilfe zu bemessen, sondern auch an den Einflussmöglichkeiten, die wir in positivem Sinne dadurch gewinnen können. ({2}) Dabei spielt der Wissenstransfer eine große Rolle, insbesondere geförderte Projekte im Bereich von Umweltund Energietechnologien. Deutsche Firmen sind mit Umwelttechnologie in China auf dem Markt und setzen dort einen ganz erheblichen Anteil ihres Volumens um. Umgekehrt vermittelt diese Entwicklungszusammenarbeit aber auch ein besseres Verständnis der Probleme und der Entwicklungsprozesse in China. Die Entwicklungszusammenarbeit ist somit eigentlich ein Entwicklungsdialog. Ich glaube, allein das ist es wert, daran festzuhalten. ({3}) Wir sollten bei allem Kritischen, was hier und heute von Vertretern aller Fraktionen angesprochen worden ist, eines nicht aus dem Auge verlieren: China ist ein Land mit 1 300 Millionen Menschen, in dem vor 30, 40 Jahren noch Millionen Menschen verhungert sind. Die Regierung hat den Menschen dieses Landes erstmals, auch wenn es nur schrittweise vorangeht, gesicherte Perspektiven eröffnet. Das ist eine Riesenverantwortung, die die Regierenden da auf ihre Schultern geladen haben und die sie nach meinem Dafürhalten auch nach bestem Wissen und Gewissen umzusetzen versuchen. Natürlich wird auf Dauer nur ein pluralistisches System den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt in China gewährleisten können. Auf Dauer braucht China ein Regierungssystem, welches auf dem Wettbewerb unterschiedlicher politischer Kräfte beruht. Aber wenn wir von einem Wettbewerb der Systeme sprechen, dann haben wir zugleich auch eine Perspektive vor Augen. Auf längere Sicht wird es zu diesem Wettbewerb der Systeme kommen. Im Moment ist es China, das versucht, sich diesem Wettbewerb zu stellen, und auch erst einmal in diesem strategischen Wettbewerb bestehen muss. Keiner von uns hat versucht, das jetzige politische System der Volksrepublik zu verteidigen. Ich glaube aber, wir alle setzen darauf, dass es eine evolutionäre Entwicklung gibt. Es gibt ja in den letzten 20 Jahren erkennbare Fortschritte. Der letzte Tiefpunkt waren die Geschehnisse auf dem Tiananmen-Platz. Danach gab es in weiten Teilen eine sehr verantwortungsvolle Entwicklung. Was wir brauchen, ist keine unkritische Haltung, sondern eine Politik des Verständnisses und des Engagements mit China. Was wir brauchen, ist ein konstruktivkritischer Dialog. Das kam heute eigentlich in fast allen Reden zum Ausdruck. Ich glaube, wir sind in der Zusammenarbeit mit der Volksrepublik China auf einem guten Weg. Wir sollten so fortfahren. Herzlichen Dank für diese Gemeinsamkeit in der Sache. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat für die SPD-Fraktion der Kollege Johannes Pflug das Wort. ({0})

Johannes Pflug (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst sagen: Ich bin sehr froh über diese Debatte am heutigen Vormittag, weil sie sicherlich dazu beitragen kann, dass das in der Vergangenheit in der Öffentlichkeit, aber auch bei Veranstaltungen und in der Medienberichterstattung entstandene Zerrbild der Volksrepublik China wieder einigermaßen in den richtigen Rahmen gerückt wird. ({0}) Ich selbst bin in diesem Jahr dreimal in China gewesen, zum ersten Mal während der Ereignisse in Tibet. Ich war zu der Zeit in Schanghai. Ich konnte am Abend des 14. März noch die Berichterstattung von CNN sehen. Am nächsten Tag wurde die Berichterstattung von CNN wie auch die anderer Fernsehsender zensiert. Ich habe das für einen Fehler gehalten: CNN zeigte auch brennende Autos und geplünderte Läden, keineswegs nur demonstrierende Menschenrechtler oder Mönch. Es war ein schwerer Fehler der chinesischen Politik, die Berichterstattung zu zensieren. Zur Zeit des Erdbebens war ich zum zweiten Mal in China und in Nordkorea. Ich konnte mich davon überzeugen, mit welcher Hilfsbereitschaft junge Menschen vor öffentlichen Gebäuden auf der Straße spontan für die Opfer des Erdbebens sammelten. In Chongqing ließ man brennende Kerzen auf kleinen Teppichen über den Jangtse schwimmen - natürlich gegen ein entsprechendes Entgelt -, ebenfalls für die Opfer des Erdbebens. Die Welle von Hilfsbereitschaft war unglaublich. Ich konnte mich in Schanghai von dem unglaublichen Enthusiasmus überzeugen, den man vor Beginn der Olympischen Spiele aufbrachte, als die Fackelläufer durch die Stadt liefen. Tausende von jungen Menschen standen mit Fähnchen und Bändern am Straßenrand und winkten. Wir als Europäer wurden freundlich und herzlich aufgenommen. Da war nichts von Abkommandieren oder Ähnlichem zu spüren, sondern nur von Enthusiasmus. Vor allen Dingen nach den Erdbeben herrschte das Gefühl vor, von der Führung endlich ernst genommen worden zu sein und eine offene Berichterstattung zu bekommen. Herr Hoyer, ich gebe Ihnen recht: Da bildet sich Nationalgefühl heraus, nicht Nationalismus. Wer gestern das Fußballspiel gesehen hat und die Straßen hier bei uns vor und nach diesem Spiel beobachtet hat, der wird nicht auf die Idee kommen, dass das, was man gesehen hat, Nationalismus war. Ich würde das einmal als völlig normalen Umgang mit dem Nationalbewusstsein bezeichnen. Dennoch muss man diese Entwicklung durchaus im Auge behalten. Vor kurzem bin ich zum dritten Mal in China gewesen, und zwar mit unserem Außenminister und Kolleginnen und Kollegen. Diese Reise war sehr erfolgreich, vor allen Dingen deshalb, weil Außenminister Steinmeier nicht nur sehr hochrangige Gesprächspartner hatte und gute Gespräche geführt hat, an denen wir teilweise teilnehmen konnten, sondern auch, weil er darauf bestanden hat, dass er und wir Abgeordneten mit Regimekritikern sprechen durften, ({1}) was von bestimmten Richtungen in der chinesischen Regierung, die es natürlich auch gibt, so nicht vorgesehen war. Steinmeier hat sich da durchgesetzt. Diese Gespräche sind für uns sehr nützlich gewesen. In der Großen Anfrage steht, dass die Entwicklung in China bei den Menschen häufig Angst, Besorgnis und ungeheuere Hoffnungen erweckt. Ich denke, das ist zu Recht so formuliert. Es wird auch auf die mangelhafte Lage von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten verwiesen und die Rolle Chinas in der Zukunft hinterfragt. Niemand hat bisher verschwiegen, dass dieses große Land natürlich auch große Probleme hat. Es gibt in China große Umweltprobleme, Korruption - vor allem auf den lokalen Ebenen -, Fehlallokation von Ressourcen, vermutlich im Wesentlichen durch die zentrale Steuerung. Es gibt soziale Disparitäten in der Einkommensverteilung, in den sozialen Sicherungssystemen und in der Bildung. Es gibt auch regionale Disparitäten zwischen den Küstenstädten, den Großstädten im Landesinnern, den ländlichen Regionen und vor allem in der Infrastruktur. Aber all diese Probleme werden von der chinesischen Führung gar nicht geleugnet; vielmehr werden sie nach meinen Erkenntnissen durchaus sehr gut angegangen. Man versucht, diese Probleme zu lösen. Was wir sehen müssen, ist, dass China zur Lösung dieser Probleme weiterhin auf hohes Wachstum setzt. Hohes Wachstum erfordert Energie und Rohstoffe. Das wiederum führt dazu, dass die Welt Chinas Aktivitäten auf den internationalen Energie- und Rohstoffmärkten sehr intensiv beobachtet und dass China dabei an die Interessensgrenzen anderer Staaten stößt. Hier stellt sich in der Tat die Frage: Wie geht China mit den Interessen anderer Staaten um, und wie werden diese Konflikte gelöst? Ohne dies hier in der Kürze der Zeit diskutieren zu können, darf ich eines sagen: Wer die chinesische Politik der letzten 20 Jahre beobachtet hat, der wird bestätigen müssen, dass Chinas Außen- und Innenpolitik sehr pragmatisch auf Ausgleich und Konfliktvermeidung angelegt ist. Dieser Pragmatismus führt zugleich zu stetigen Veränderungen der innerstaatlichen Strukturen, und zwar in Richtung mehr Rechtsstaatlichkeit und Demokratisierung, sowie zur Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung; Kollege Gehrcke hat darauf hingewiesen. ({2}) Lassen Sie mich zum Abschluss etwas machen, was in einem deutschen Parlament nicht unbedingt üblich ist. Ich möchte gerne Ministerpräsidenten Wen Jiabao aus seiner Rede zitieren, die er am 13. März zur Begrüßung von Herrn Steinmeier und seiner Delegation gehalten hat. Wen Jiabao sagte: Erstens. China wird auf jeden Fall seine Öffnungspolitik fortsetzen. Zweitens. China wird ein transparentes Rechtssystem aufbauen. Drittens. China wird die Urheberrechte schützen. Viertens. China wird den Bürokratieabbau fortsetzen. Die bilateralen Beziehungen zwischen China und Deutschland, der Europäischen Union und anderen Staaten müssen langfristig und strategisch angelegt sein. Die Zusammenarbeit im internationalen Bereich, insbesondere in den Vereinten Nationen, im EU-China-Dialog, in der ASEM und in anderen Organisationen, muss gestärkt werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich stimme dem chinesischen Ministerpräsidenten voll und ganz zu. Gleichzeitig betone ich aber, dass wir auch weiterhin unsere deutschen, europäischen und westlichen Werte offen vertreten werden. Dazu gehört selbstverständlich auch, dass wir empfangen und reden werden, wann, wo und mit wem wir es für richtig halten.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.

Johannes Pflug (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Man sollte allerdings beachten, dass die Resultate von Treffen und Gesprächen - mit wem auch immer - in einem vernünftigen Verhältnis zu den mittel- bis langfristig verfolgten politischen Zielen stehen müssen. Das wird auch in Zukunft zu Meinungsunterschieden führen. Wichtig ist jedoch, dass wir darüber offen und ehrlich sprechen. Nur dann kann sich Vertrauen bilden, und nur dann wird aus Kooperation eine konzeptionelle strategische Partnerschaft und schließlich gute Freundschaft zwischen den Menschen. Das ist wichtig.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, Sie müssen wirklich zum Schluss kommen.

Johannes Pflug (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir alle tragen gemeinsam Verantwortung - nicht nur für unsere Völker, sondern für alle Menschen auf der Welt. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Christoph Strässer für die SPD-Fraktion. ({0})

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Königshaus, Sie tun so, als würden wir die menschenrechtliche Komponente bei der ChinaDebatte vernachlässigen. Wir hatten aber in den letzten drei Monaten wohl vier Debatten zu den Themen China, Menschenrechte und Tibet sowie Große Anfragen und Aktuelle Stunden. Wenn uns also jemand vorwirft, wir würden die Thematik der Menschenrechte in China nicht problematisieren, dann ist dies eine Konterkarierung der Realität im Deutschen Bundestag, meine Damen und Herren. ({0}) Lassen Sie mich diese menschenrechtliche Thematik in einigen Punkten ansprechen. Das Erste, was Johannes Pflug erwähnt hat, ist mir ganz wichtig. Ich möchte nämlich an einem Beispiel aufzeigen, wie und in welchen Dimensionen auch unterschiedliche Facetten der chinesischen Wirklichkeit deutlich werden. Er hat unseren Versuch angesprochen, mit Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern in Peking ein Gespräch zu führen. Das hat die Deutsche Botschaft mit fünf prominenten Menschen vorbereitet. Allerdings erreichte uns am Vormittag jenes Tages die Nachricht, dass das Gespräch abgesagt wurde. Wir haben natürlich gefragt, warum dieses Gespräch abgesagt wurde und ob es seitens der Chinesen gecancelt wurde. Aber nein, die Antwort lautete: Diese Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler hatten Angst. Sie hatten Angst, weil vor ihren Häusern die Staatssicherheit positioniert war. Sie hatten Angst, weil sie in Anrufen bedroht worden sind und um ihre persönliche Sicherheit fürchten mussten. Nun ist etwas passiert, was ich hervorheben möchte, wenn es um Werte in der Außenpolitik geht. In diesem Zusammenhang möchte ich das Agieren unseres Außenministers ganz hoch einsortieren. Er hat nämlich seinen Besuch an dieser Stelle genutzt und in Gesprächen mit dem Vizeaußenminister der Volksrepublik China gefordert: Unser Gespräch mit der chinesischen Führung werden wir nur dann ordentlich weiterführen können, wenn es ein Gespräch mit Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern in Peking geben wird. ({1}) Meine Damen und Herren, dieses Gespräch hat dann letztendlich stattgefunden. Ich kann Ihnen auch über die Wirkung dieses Gesprächs berichten, die es nicht nur bei uns entfaltet hat; wir sagen nämlich immer, dass es uns gut tut. Die Frau - sie ist die Sprecherin der Toten vom Tiananmen-Platz -, mit der wir gesprochen haben, hat uns in einer sehr bewegenden Rede Folgendes gesagt: Das heutige Gespräch mit dem deutschen Außenminister ist für mich so etwas wie ein Durchbruch in meiner politischen Arbeit. Das wünschen wir uns. - Sie ist uns unendlich dankbar dafür gewesen, dass wir es möglich gemacht haben, dieses Gespräch zu führen. ({2}) Ich will an diesem Punkt noch etwas anderes deutlich machen; das betrifft das, was wir heute diskutieren. An diesem Ereignis wird deutlich, welch unterschiedliche Perspektiven die chinesische Innenpolitik aufweist. Auf der einen Seite gibt es - das ist uns auch sehr deutlich gesagt worden - Probleme mit einem stark beharrenden Apparat, der zum Beispiel für das Aufstellen von Staatssicherheitseinheiten vor den Häusern der Bürgerrechtler verantwortlich ist. Aber es gibt eben auch die andere Seite dieser chinesischen Politik, ({3}) für die die Reformer stehen, die sich in der Konfrontation, die wir vor Ort erlebt haben, durchgesetzt haben, indem sie dieses Gespräch ermöglicht haben. Für mich ist eine der Erkenntnisse aus dieser Reise unserer Delegation, dass wir uns fragen müssen: Wen unterstützen wir eigentlich? Wen unterstützt die deutsche Außenpolitik und mit welchen Mitteln? Ich kann nur sagen: Unser klarer Anspruch muss sein, diejenigen politischen Kräfte in China zu unterstützen, die an dieser Reformpolitik, so langsam sie auch vorangeht und so schwer sie durchzusetzen ist, festhalten. Denn mit diesen Menschen werden wir einen Dialog führen können, der letztendlich die Volksrepublik China, was den Aspekt Menschenrechte betrifft, voranbringt. Das ist die klare Botschaft. ({4}) Ich möchte noch an zwei anderen Stellen deutlich machen, wo wir die Diskussion über Probleme im Zusammenhang mit den Menschenrechten fortführen müssen. Der Präsident hat die abgesagte Reise des Menschenrechtsausschusses schon angesprochen. Ich füge hinzu: Wir wenden uns hier in dieser Angelegenheit zwar an unsere chinesischen Partner und an den chinesischen Botschafter. Aber der Menschenrechtsausschuss hat auf seine Bitte, dass auch andere Ausschüsse auf die Absage der Reise reagieren mögen, keine Reaktion erfahren. Wenn man gegenüber den Chinesen den Mund spitzt, aber intern nicht pfeift, dann wird unsere Kritik nicht ernst genommen werden. Diesen Punkt sollten wir in unseren Beratungen einmal ansprechen. Aus unseren Gesprächen ergibt sich folgende Botschaft: Wenn wir einen Dialog wollen - Dialog ist kein Selbstzweck, aber er ist wichtig; wir haben gesehen, dass es an vielen Stellen vorangeht -, dann brauchen wir dafür einen Partner. Ich sage es jetzt einmal etwas salopp: Wir können uns als Deutsche, als Europäer oder als internationale Gemeinschaft unsere Partner auf der anderen Seite nicht backen. Sie sind so, wie sie sind. Deshalb finde ich es ausgesprochen gut und richtig, wenn wir von hier aus signalisieren, dass wir darin übereinstimmen, dass wir sie akzeptieren müssen. Eine Botschaft von Helmut Schmidt, die schon 30 Jahre alt ist und die sich heute bewahrheitet, lautet: Die westliche Besserwisserei, die in Peking an den Tag gelegt wird, ist von Übel. - Ich kann mich dieser Feststellung nur anschließen und sagen: Wir wollen und müssen diesen Dialog weiterführen. Denn er wird dazu führen, dass die von China betriebene Öffnungspolitik auch unter menschenrechtlichen Aspekten unumkehrbar ist. Dafür sollten wir gemeinsam arbeiten und andere Dissonanzen im Zusammenhang mit der Frage, wer eine wertegebundene und ethisch verantwortungsvolle Außenpolitik macht, zurückdrängen. Menschenrechtspolitik soll den Menschen nutzen; daran sollten wir sie messen. Auch ich sage der Bundesregierung herzlichen Dank für die Antworten, aber auch für ihre konstruktive Menschenrechtspolitik gegenüber China, die in den letzten Wochen und Monaten betrieben worden ist. Danke schön. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache zu diesem Punkt. Bezüglich des Zusatzpunktes 4 wird interfraktionell die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9745 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be- schlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 46 a bis 46 d sowie 46 f und 46 g auf: a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen Gleichbehandlung der Auftragsforschung öffentlich-rechtlicher Forschungseinrichtungen ({0}) - Drucksache 16/5726 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Zusammenführung der Regelungen über befriedete Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes - Drucksache 16/9741 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Behm, Ulrike Höfken, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Forschung für den ökologischen Landbau ausbauen - Drucksache 16/9345 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({3}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich ({4}), Jan Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Verlängerung der Hauptuntersuchungsintervalle für Oldtimer mit H-Kennzeichen - Drucksache 16/9480 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus f) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({6}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung ({7}) Mediennutzung und eLearning in Schulen Sachstandsbericht zum Monitoring „eLearning“ - Drucksache 16/9527 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({8}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Kultur und Medien g) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({9}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung ({10}) Zielgruppenorientiertes eLearning für Kinder und ältere Menschen Sachstandsbericht zum Monitoring „eLearning“ - Drucksache 16/9528 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({11}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- ten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind auch diese Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 47 a bis 47 p sowie den Zusatzpunkten 5 a bis 5 m. Dabei handelt es sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 47 a: 47 a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt … Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes und eines … Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes - Drucksache 16/9300 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({12}) - Drucksache 16/9570 Berichterstattung: Abgeordnete Bernhard Kaster Christian Lange ({13}) Jörg van Essen Dr. Dagmar Enkelmann Volker Beck ({14}) Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Ge- schäftsordnung empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 16/9570, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/9300 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen Mehrheit, das heißt einstimmig, an- genommen. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- schließungsantrag der Fraktion der FDP auf Druck- sache 16/9811. Wer stimmt für diesen Entschließungs- antrag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- tionsfraktionen abgelehnt. Tagesordnungspunkt 47 b: b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({15}) zu dem Antrag der Abgeordneten Claudia Roth ({16}), Winfried Nachtwei, Marieluise Beck ({17}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 20 Jahre nach Halabja - Unterstützung für die Opfer der Giftgasangriffe - Drucksachen 16/8197, 16/9150 Berichterstattung: Abgeordnete Holger Haibach Uta Zapf Harald Leibrecht Kerstin Müller ({18}) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 16/9150, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8197 abzu- lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh- lung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der FDP-Fraktion und Gegenstimmen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke ange- nommen. Tagesordnungspunkt 47 c: c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({19}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NATO-Gipfel für Kurswechsel in Afghanistan nutzen - Drucksachen 16/8501, 16/9431 - Berichterstattung: Abgeordnete Bernd Schmidbauer Uta Zapf Monika Knoche Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 16/9431, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8501 abzu- lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- nen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 47 d: d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({20}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Hofbauer, Dirk Fischer ({21}), Dr. HansPeter Friedrich ({22}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heinz Paula, Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Zwölf-Tage-Regelung in Europa wieder einführen - zu dem Antrag der Abgeordneten Patrick Döring, Horst Friedrich ({23}), Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wiedereinführung der Zwölf-Tage-Regelung in Europa unterstützen - Drucksachen 16/9076, 16/7861, 16/9739 - Berichterstattung: Abgeordnete Klaus Hofbauer Patrick Döring Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 16/9739, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Druck- sache 16/9076 anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FDP-Frak- tion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent- haltung der Fraktion Die Linke angenommen. Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 47 d. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9739 den Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Wieder- einführung der Zwölf-Tage-Regelung in Europa unter- stützen“ auf Drucksache 16/7861 mit einbezogen. Über diese Vorlage soll jetzt ebenfalls abschließend beraten werden. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so verfahren. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be- schlussempfehlung die Ablehnung des eben genannten Antrags der Fraktion der FDP. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP angenommen. Tagesordnungspunkt 47 e: e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({24}) zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung zum Schutz des Klimas vor Veränderungen durch den Eintrag bestimmter fluorierter Treibhausgase ({25}) - Drucksachen 16/9446, 16/9517 Nr. 2, 16/9731 Berichterstattung: Abgeordnete Ingbert Liebing Michael Kauch Lutz Heilmann Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9731, der Verordnung auf Drucksache 16/9446 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkte 47 f bis 47 p: Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 47 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26}) Sammelübersicht 431 zu Petitionen - Drucksache 16/9616 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 431 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 47 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27}) Sammelübersicht 432 zu Petitionen - Drucksache 16/9617 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist auch die Sammelübersicht 432 mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 47 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28}) Sammelübersicht 433 zu Petitionen - Drucksache 16/9618 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 433 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 47 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29}) Sammelübersicht 434 zu Petitionen - Drucksache 16/9619 Wer stimmt dafür? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 434 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 47 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30}) Sammelübersicht 435 zu Petitionen - Drucksache 16/9620 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 435 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 47 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31}) Sammelübersicht 436 zu Petitionen - Drucksache 16/9621 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 436 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP angenommen.

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Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0}) Sammelübersicht 437 zu Petitionen - Drucksache 16/9622 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 437 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 47 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1}) Sammelübersicht 438 zu Petitionen - Drucksache 16/9623 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 438 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 47 n: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2}) Sammelübersicht 439 zu Petitionen - Drucksache 16/9624 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 439 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktionen der FDP und Bündnis 90/ Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 47 o: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3}) Sammelübersicht 440 zu Petitionen - Drucksache 16/9625 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 440 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 47 p: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4}) Sammelübersicht 441 zu Petitionen - Drucksache 16/9626 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 441 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Zusatzpunkt 5 a: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({5}) zu der Verordnung der Bundesregierung Einhundertsiebte Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste - Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung - Drucksachen 16/9211, 16/9391 Nr. 2.1, 16/9698 Berichterstattung: Abgeordnete Ulla Lötzer Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9698, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 16/9211 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDPFraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion der Linken angenommen. Zusatzpunkt 5 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({6}) Übersicht 11 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Drucksache 16/9782 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 5 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({7}) zu den Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 2/08 und 2 BvR 1010/08 - Drucksache 16/9783 Berichterstattung: Abgeordneter Andreas Schmidt ({8}) Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, eine Stellungnahme zu den Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht abzugeben und den Präsidenten zu bitten, Professor Dr. Dr. h. c. Ingolf Pernice als Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Zusatzpunkte 5 d bis 5 m. Es handelt sich noch einmal um Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.

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Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0}) Sammelübersicht 442 zu Petitionen - Drucksache 16/9767 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 442 ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 5 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1}) Sammelübersicht 443 zu Petitionen - Drucksache 16/9768 Wer stimmt dafür? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Auch die Sammelübersicht 443 ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 5 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2}) Sammelübersicht 444 zu Petitionen - Drucksache 16/9769 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 444 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Zusatzpunkt 5 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3}) Sammelübersicht 445 zu Petitionen - Drucksache 16/9770 Wer stimmt dafür? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 445 ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 5 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4}) Sammelübersicht 446 zu Petitionen - Drucksache 16/9771 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 446 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Zusatzpunkt 5 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5}) Sammelübersicht 447 zu Petitionen - Drucksache 16/9772 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 447 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Zusatzpunkt 5 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6}) Sammelübersicht 448 zu Petitionen - Drucksache 16/9773 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 448 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion angenommen. Zusatzpunkt 5 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7}) Sammelübersicht 449 zu Petitionen - Drucksache 16/9774 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 449 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Zusatzpunkt 5 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8}) Sammelübersicht 450 zu Petitionen - Drucksache 16/9775 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 450 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Zusatzpunkt 5 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9}) Sammelübersicht 451 zu Petitionen - Drucksache 16/9776 Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 451 ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung zur unrechtmäßigen Einleitung radioaktiver Lauge in das ehemalige Salzbergwerk Asse II Bevor ich die Aussprache eröffne, will ich Sie darauf hinweisen, dass mir eine Rednerliste vorliegt, deren Reihenfolge aufgrund grundsätzlicher Vereinbarungen zwischen den Fraktionen erstellt wurde. Nachdem sie Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt erstellt worden war, äußerte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen den Wunsch nach Änderung der Reihenfolge. Diesem Änderungswunsch haben einige der anderen Fraktionen widersprochen. Deshalb liegt die Entscheidung über die Reihenfolge der Redner bei mir. Ich möchte es so handhaben, dass die Redner in der Reihenfolge sprechen, die zunächst vereinbart war; davon möchte ich Sie in Kenntnis setzen. Nun können wir mit der Aktuellen Stunde beginnen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin Schavan! Sehr verehrter Herr Minister Gabriel von dem ich erwartet hätte, dass er der Fraktion, die diese Aktuelle Stunde beantragt hat, die Möglichkeit gibt, mit ihrem zweiten Redebeitrag auf ihn zu reagieren! ({0}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zum zweiten Mal, seit ich Mitglied des Bundestages bin, debattieren wir die Problematik Asse II, wieder auf Antrag der Grünen. Schon beim ersten Mal haben wir Sie, Minister Gabriel, aufgefordert, die Zuständigkeit für die Asse an sich zu nehmen - nicht um Sie zu ärgern oder um Ihnen irgendein Versäumnis vorzuwerfen, sondern weil sich schon damals abzeichnete, dass die nach bergrechtlichem Verfahren agierenden Betreiber mit der Einschätzung der Gefahrensituation heillos überfordert waren. Schon damals war der Skandal groß genug. Tausende von Jahren dauere es, bis die zufließende Lauge, von der niemand weiß, woher sie kommt, in die Kammern mit Atommüll eindringen könne. Diese Aussage traf die betreibende Helmholtz-Gemeinschaft im letzten Jahr, wohl wissend, dass es seit Jahren verstrahlte Lauge und Überschreitungen des Grenzwertes um das bis zu Elffache gibt. So große Lockerheit bei einem Standort, dessen Gebirgsschichten grundwasserführend sind! Die Vorstellung, dass Caesium-137 ins Trinkwasser gelangt - das ist nach der Studie des BfS nach spätestens 150 Jahren nicht mehr auszuschließen -, ist der reine Horror. ({1}) Angeblich ohne sich bewusst zu sein, dass sie dafür eine strahlenschutzrechtliche Genehmigung bräuchten, verbrachten die Betreiber das Caesium-137 kurzerhand 200 Meter tiefer, frei nach der beliebten Methode „Aus den Augen, aus dem Sinn“. Frau Ministerin Schavan greift in diese Debatte nicht ein. Ich will ganz klar sagen: Frau Ministerin, für mich als Grüne sind Sie in dieser Frage auch nicht die richtige Ansprechpartnerin. Denn was soll ich von jemandem fordern, der trotz dieser illegalen Machenschaften keinerlei Zweifel an der Zuverlässigkeit des Betreibers hat? So darf man mit Atommüll nicht umgehen. Genau deshalb gibt es das Atomrecht. ({2}) Bisher mag Ihre Argumentation, Herr Gabriel, dass wir das Fachwissen derer, die die Asse kennen, brauchen, noch gut genug gewesen sein. Aufgrund Ihrer gestrigen Äußerung im Umweltausschuss - Sie sagten, das Wichtigste seien Fachkompetenz und Zuverlässigkeit stellt sich aber die Frage: Was muss noch passieren, bis auch Sie öffentlich sagen: „Die können es nicht!“? ({3}) Fordern Sie den Statusbericht, Herr Gabriel! Das ist nicht verkehrt. Schicken Sie eine Taskforce nach Niedersachsen; aber lassen Sie diese Taskforce auch eigene Messungen vornehmen und nicht nur nachfragen! Auf Aussagen und Messungen der Helmholtz-Gemeinschaft würde ich mich an Ihrer Stelle nicht verlassen. Bringen Sie Ihre niedersächsischen Genossen dazu, gemeinsam mit den Grünen und den Linken die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu fordern! Wann, wenn nicht hier, ist er nötig? Handeln Sie endlich! ({4}) Ihre Zusicherung aus dem Jahre 2007, beim geplanten Zusammenwirken mit dem BMBF die Beachtung aller atomrechtlichen und strahlenschutzrechtlichen Aspekte zu gewährleisten, konnten Sie nicht einlösen. Aus all dem - aus Ihrer Forderung nach Fachkompetenz und Zuverlässigkeit, aus dem Umstand, dass der Betreiber davon ausgeht, für den Transport radioaktiv verseuchter Lauge keine strahlenschutzrechtliche Genehmigung zu benötigen, und in Anbetracht des unglaublichen Informations- und Kommunikations-GAUs - ergibt sich nur eine logische Konsequenz: Nehmen Sie die Asse II in Ihre Verantwortung und stellen Sie sie unter Atomrecht! ({5}) Ich kenne Ihre Argumentation und weiß, dass Sie darauf nicht wirklich Lust haben. Das kann ich gut verstehen. Aber Sie können nicht länger die Taube auf dem Dach spielen, Herr Minister; Sie müssen die Rolle des Spatzen übernehmen. Es ist nicht mehr an der Zeit, weiterhin, wie gestern im Umweltausschuss Frau Flachsbarth für die Union ausführte, konstruktiv mit allen Beteiligten zusammenzuarbeiten. Es ist an der Zeit, klare und transparente Verhältnisse zu schaffen. Noch etwas, Herr Gabriel: Auch wenn Sie immer wieder betonen, dass Asse II einerseits und Morsleben, Schacht Konrad und Gorleben andererseits nichts miteinander zu tun hätten - durch die räumliche Nähe haben sie das natürlich doch. Wie wollen Sie bei einer Bevölkerung, die diesen Endlager-GAU miterleben muss, jemals wieder Akzeptanz für irgendein Lager für Atommüll gewinnen? Das, Herr Minister Gabriel, ist tatsächlich nicht das Problem von Frau Schavan, sondern Ihres. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Axel Fischer. ({0})

Axel E. Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Verantwortung dafür, was heute bei Asse II passiert, liegt doch nicht bei Herrn Gabriel. Umweltminister Trittin war als Niedersachse damals sicherlich gut über Asse II informiert. ({0}) Die Grünen hatten sieben Jahre Zeit - von 1998 bis 2005, als sie an der Bundesregierung beteiligt waren -, die von Ihnen heute beschriebenen Gefahren abzuwehren und das vermeintlich Gute, was Sie heute gefordert haben, zu machen. ({1}) Wenn das, was Sie, Frau Kollegin Kotting-Uhl, heute fordern, so sinnvoll wäre, hätten Sie es doch in diesen sieben Jahren machen können. Dass das Bergwerk vollläuft, dass Salz nachrutscht, dass die Stabilität nachlässt und der Abfall irgendwann nicht mehr herauszuholen sein wird, war schon lange absehbar, auch zu Ihrer Regierungszeit. Wenn Sie das damals schon wussten, muss man sich fragen, warum Sie sieben Jahre lang nichts getan haben. Das müssen Sie sich heute vorwerfen lassen. ({2}) Es stellt sich die Frage, warum wir heute im Rahmen einer Aktuellen Stunde diese Debatte führen. Die Grünen haben auf ihrer Bundesdelegiertenversammlung vom 8. März 1998 beschlossen, dass der Liter Benzin in zehn Jahren 5 DM kosten soll. ({3}) Mit dieser Forderung sind Sie, Herr Fell, in den Wahlkampf gezogen. Jetzt sind die zehn Jahre um; der Liter Benzin kostet heute umgerechnet etwa 3 DM. Das hat einen handfesten Grund: Sie wurden vor drei Jahren - zum Glück! - abgewählt. ({4}) Dafür knackt es jetzt an anderer Stelle: beim Strompreis. Knapp einen halben Euro muss der Verbraucher für die Einspeisung einer Kilowattstunde Solarstrom zahlen. Rechnet man die Durchleitungskosten hinzu, sieht man, dass der Bezug einer Kilowattstunde Solarstrom mehr als 50 Cent kostet. Die hohen Energiepreise machen uns alle ärmer. Strom aus Kernkraftwerken kann für 2 Cent die Kilowattstunde eingespeist werden. Das wissen die Bürgerinnen und Bürger. ({5}) - Das ist vollkommen richtig. Wir reden aber natürlich auch darüber, warum wir heute über dieses Thema diskutieren. ({6}) Meine Damen und Herren, Sie wissen genau, dass die Akzeptanz der Kernenergie insgesamt zunimmt. ({7}) Es hat doch seinen Grund, warum Frankreich, England und die Schweiz neue Kernkraftwerke bauen wollen. Eine Weiternutzung bestehender deutscher Kernkraftwerke liegt in unser aller Interesse. Es macht nämlich wenig Sinn, eine kostengünstige und CO2-freie Stromerzeugung ({8}) einfach aufzugeben. ({9}) Das spüren auch die Menschen. Den Grünen geht es bei dieser Diskussion - wie bei vielen anderen Tagesordnungspunkten - darum, die Kernenergie in Deutschland auch aus ideologischen Gründen insgesamt schlechtzureden. Wir müssen aber, wenn Sie diesen Tagesordnungspunkt schon beantragen, über die berechtigten Sorgen und Ängste der Bürger reden. ({10}) Dafür ist eine Aktuelle Stunde weniger geeignet als die verantwortungsvolle Diskussion in den Ausschusssitzungen. ({11}) Ich bin mir sehr sicher, dass dieses Thema bei Bundesumweltminister Gabriel und Bundesforschungsministerin Schavan, bei der Bundesregierung, sehr gut aufgehoben ist und dass wir auch im Ausschuss eine weitere verantwortungsvolle Diskussion zu diesem Thema führen werden; natürlich haben wir sie auch schon geführt. ({12}) Es macht wenig Sinn, dass Sie hier versuchen, dieses Thema zu instrumentalisieren, um Ihre Positionen nach außen zu tragen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Axel E. Fischer ({13}) berechtigten Sorgen und Ängste der Bürgerinnen und Bürger ernst genommen werden. Das liegt in unserer Verantwortung. Mir wäre es sehr recht, wenn Sie sich hier ein bisschen mehr mit einbringen könnten; denn ich sage es noch einmal, Herr Trittin: Sie hatten sieben Jahre lang Zeit und haben gar nichts getan. Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie sogar die Forschungsmittel für Asse II reduziert. ({14}) Das zeigt, mit welcher Verantwortung Sie da herangegangen sind, nämlich mit gar keiner. Heute versuchen Sie mit dieser Debatte, das zu verschleiern. ({15})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für den Bundesrat spricht nun der Minister für Umwelt und Klimaschutz des Landes Niedersachsen, HansHeinrich Sander. ({0}) Hans-Heinrich Sander, Minister ({1}): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! Das Salzbergwerk Asse II ist eine radioaktive Altlast. Im Rahmen von Forschungsarbeiten wurden in den Jahren 1967 bis 1978 rund 130 000 Fässer mit schwach- und mittelradioaktiven Abfällen in diesem Salzbergwerk eingelagert. Sie stammten größtenteils aus der öffentlichen Hand. Dort wurden also Abfälle aus Forschungsreaktoren und medizinische Abfälle zwischengelagert. In den 90er-Jahren ist ein Schließungskonzept entwickelt worden, um die Menschen in der Region vor diesen Abfällen zu schützen bzw. diese Abfälle von der Biosphäre fernzuhalten. Meine Damen und Herren, auch zur Zeit der rot-grünen Regierung ab 1998 ist dieses Bergwerk weiter betrieben worden. Herr Kollege Trittin, auch während Ihrer Zeit als Bundesratsminister - 1990 hatten Sie noch die Aufsicht über Asse II - und später als Bundesumweltminister haben wir im Lande nur wenig Unterstützung von Ihnen erhalten. ({2}) Sehr geehrte Frau Kollegin Schavan und Herr Kollege Gabriel, seitdem Sie die Verantwortung übernommen haben - ich kann davon sprechen, weil ich auch Ihre Vorgängerin in dieser Sache angeschrieben habe, ({3}) und zwar insbesondere hinsichtlich der für die Bevölkerung nicht ausreichenden Informationspolitik -, ist Bewegung in die Sache gekommen. Herr Gabriel, bei Ihnen bedanke ich mich besonders, weil Sie auch als Wahlkreisabgeordneter Ihre Verantwortung wahrgenommen haben und nicht mit Schuldzuweisungen auf die Landesregierung zugegangen sind, ({4}) sondern gemeinsam mit Ihrer Kollegin konstruktiv an der Sache gearbeitet haben. ({5}) Um hier der Wahrheit Genüge zu tun, muss ich sagen: Obwohl auch in den 90er-Jahren erhöhte Strahlenbelastungen festzustellen waren - wobei der Betreiber und das Landesbergamt allerdings unterschiedlicher Ansicht darüber waren, wo die Ursachen dafür lagen -, haben wir als Umweltministerium erst am 12. dieses Monats erfahren, dass es an zwei Stellen zusätzliche Strahlenbelastungen gab. Es ist nicht hinnehmbar, dass die Aufsichtsbehörde das erst so spät vom Landesbergamt erfährt, ({6}) weil das natürlich - das wissen alle hier in diesem Hause, die Verantwortung tragen - zur Verunsicherung in der Öffentlichkeit führt. Von daher müssen wir ein Konzept entwickeln, mit dem die Informationspolitik in Zukunft verbessert wird. Herr Kollege Gabriel und Frau Kollegin Schavan, wir müssen aber auch den Statusbericht möglichst bis Mitte August fertigstellen. Wir werden alle Beteiligten - sowohl Ihre Experten aus dem Bundesumweltministerium als auch diejenigen aus dem Bundesamt für Strahlenschutz in Salzgitter, aber auch den Betreiber und das Landesbergamt - mit einbinden, um ein Konzept zu entwickeln, wie wir weiter verfahren können. Wenn der Statusbericht vorliegt, dann können wir - ich hoffe, dass alle Kräfte in diesem Haus das unterstützen - das weitere Vorgehen festlegen und klären, ob wir das vorhandene Schließungskonzept weiterverfolgen oder ob zeitlich die Möglichkeit besteht, Alternativen ins Auge zu fassen. Über eines müssen sich alle - auch die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen - klar sein: Ab 2014 - das wird von keinem Wissenschaftler bestritten - ist die Standsicherheit des Bergwerks Asse nicht mehr gegeben. Insofern geht es nicht um Schuldzuweisung, sondern darum, ein Konzept zu erarbeiten. Seit Dienstag bin ich fest davon überzeugt, dass es uns gemeinsam mit dem Betreiber gelingen wird, noch in diesem Jahr ein Schließungskonzept zu erarbeiten. Das ist notwendig, um mit der verbleibenden Zeit bis 2014 auszukommen. Von wesentlicher Bedeutung dafür ist - das ist mir sehr wichtig -, dass die Berichtsgruppe morgen ihre Arbeit aufnimmt. Wir haben alle Verantwortlichen - auch Ihre Experten - schon morgen ins Ministerium eingeladen, um sofort damit zu beginnen. ({7}) Dabei werden wir auch den Landrat des Landkreises Wolfenbüttel mit einbeziehen. Denn die Menschen vor Ort müssen wissen, dass die Politiker handeln und sich für sie einsetzen, statt zu dramatisieren, um irgendwelche politische Ziele zu verfolgen, wie es leider bei Ihnen der Fall ist. ({8}) Daher appelliere ich an Sie, die Beteiligung der Öffentlichkeit mit zu unterstützen und Ihren Beitrag dazu zu leisten. Herr Kollege Trittin, Sie haben seinerzeit den schönen Arbeitskreis „AK End“ eingerichtet. Er ist zwar in der Versenkung verschwunden, aber vielleicht besteht jetzt die Chance, ein anderes Verfahren unter stärkerer Beteiligung der Öffentlichkeit zu vollziehen. In dem Sinne gehe ich davon aus, dass Sie unser Vorhaben unterstützen werden. Wir werden das Problem Asse mit der Mehrheit in diesem Hause und mit der niedersächsischen Landesregierung lösen. Herzlichen Dank. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Jörg Tauss für die SPD-Fraktion.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich glaube in der Tat, dass wir uns vor billigen Schuldzuweisungen hüten sollten. Klar ist, Herr Minister, dass hinsichtlich des bergrechtlichen Verfahrens und der Frage, inwiefern Berichte unterblieben sind - Frau Kollegin Griefahn hatte damals schon als Umweltministerin gehandelt und entsprechende Informationen eingefordert -, eine Reihe von Punkten diskutiert werden müssen. Darüber haben wir gestern im Ausschuss beraten und mit dem Umweltministerium und dem Forschungsministerium eine Übereinkunft herbeigeführt. Herr Kollege Fischer, Sie konnten gestern leider nicht an der Ausschusssitzung teilnehmen. Wir haben eine Reihe interessanter Punkte diskutiert, die alle in eine Richtung gehen. Lustigerweise wird diese Debatte von Meldungen überlagert - das ging schon heute Morgen im Frühstücksfernsehen los -, dass jetzt in Deutschland ein Kernkraftwahlkampf geführt werden solle. Ich glaube, gerade das Beispiel Asse II zeigt, dass wir als Sozialdemokraten guten Grund hätten, uns auf einen solchen Kernkraftwahlkampf zu freuen. Das sage ich in aller Deutlichkeit. ({0}) Klar ist: Kernkraft ist nicht billig; sie ist vielmehr die teuerste Energie. In Baden-Württemberg hat die Kernkraft den größten Anteil an der Stromerzeugung. Diese Situation ist unverantwortlich, was unter anderem das Beispiel Tschernobyl zeigt. Kernkraft ist kein Ökostrom, sondern sie ist dreckig. Dies beweist das Beispiel Asse. ({1}) Wir müssen Millionen, wenn nicht sogar Milliarden Euro dafür aufwenden, den Abfall, der in früheren Jahren entstanden ist, zu entsorgen. Wie man damit umgehen kann, Herr Kollege Fischer, folgt nicht der Devise „Klappe zu, Affe tot“, wie Sie es in der letzten Debatte ausgedrückt haben. Leider ist es nicht so einfach. ({2}) - Ich rede nicht von den Brennstäben, sondern von dem Material, das beispielsweise von der Wiederaufbereitungsanlage in Karlsruhe stammt und dort eingelagert wurde. Das sind Urlasten der Kernenergie, die der Steuerzahler bezahlt und die beim Strompreis nicht berücksichtigt werden. ({3}) Das müsste man aber tun, wenn man eine ehrliche Bilanz der Kernkraft ziehen wollte. Ich nenne ein Beispiel. Bei uns in Karlsruhe wird gerade die Wiederaufbereitungsanlage abgebaut. Das sollte ursprünglich 2 Milliarden DM kosten. Die Kosten liegen nun bei 4 Milliarden Euro. Die endgültige Zahl steht aber noch aus. Asse kostet uns pro Jahr 100 Millionen Euro; das ist die aktuelle Zahl. Rechneten wir dies in den Strompreis ein, wäre die Behauptung von der billigen Kernenergie in diesem Land für jeden als Lüge erkennbar. Stünde uns dieses Geld zur Verfügung, könnten wir vieles andere tun. ({4}) Zurück zu Asse. Es ist völlig klar, dass wir hier schnellstmöglich vollständige Transparenz brauchen und klären müssen, ob das, was wir in den letzten Jahren im Vertrauen auf die bergrechtliche Situation toleriert haben, noch tolerabel ist. Ich halte es für richtig, dass wir über ein atomrechtliches Verfahren oder zumindest über ein dem Atomrecht vergleichbares Verfahren diskutieren. ({5}) Die Prüfmaßstäbe müssen in vollem Umfang den atomrechtlichen Genehmigungsverfahren entsprechen. Das haben die Anwohner, die Menschen in Niedersachsen, selbstverständlich verdient. Ein Bergamt, das nicht informiert, ist nicht geeignet, diese Aufgabe zu erfüllen. ({6}) Die Angriffe auf die Helmholtz-Gemeinschaft verstehe ich allerdings nicht. Dort sitzen Expertinnen und Experten. Wir sind froh - darüber haben wir gestern im Ausschuss diskutiert -, dass diese Fachleute uns in diesem aus wissenschafts- und forschungspolitischer Sicht komplexen Bereich zur Verfügung stehen. Wen hätten wir denn sonst? Ich halte es für richtig, dass die Helmholtz-Gemeinschaft mit ihrer Kompetenz beteiligt ist. Wir sollten uns an dieser Stelle vor Schuldzuweisungen hüten. Nicht die Helmholtz-Gemeinschaft, sondern diejenigen haben die Verhältnisse verursacht, die irgendwann vor uns Atommüllfässer in Asse gelagert haben nach dem Motto „Was weg ist, ist nicht mehr da; wir sehen es jedenfalls nicht mehr“. Heute müssen wir Hunderte Millionen Euro aufbringen, um die Folgen zu beseitigen. ({7}) Den berechtigten Sorgen der Bürgerinnen und Bürger ist selbstverständlich Rechnung zu tragen. Dieses Thema eignet sich nicht, um auf billige Art und Weise parteipolitische Vorteile zu erzielen. Dafür ist das Thema zu ernst. Aber es ist gut, um einen Atomwahlkampf zu führen, wenn Sie es wünschen. Dann hätten wir zusätzliche gute Argumente. Herzlichen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort der Kollege Hans-Kurt Hill. ({0})

Hans Kurt Hill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003767, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Atommülllager Asse II geht es offenbar zu wie bei Hempels unterm Sofa. Für mich ist es unfassbar, was da abgeht. Nicht nur, dass der Betreiber des alten Salzbergwerks illegal Strahlenmüll eingelagert hat. Nein, der Vorfall wird auch vom verantwortlichen CDU-Forschungsministerium und dem vor Ort verantwortlichen Helmholtz-Zentrum München gezielt heruntergespielt. Was ist geschehen? Erstens. Radioaktive Stoffe und Abfälle wurden unter Missbrauch des Atomrechts eingelagert. Zweitens. Die Bevölkerung wurde ahnungslos gelassen. Drittens. Nun sollen die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler den Schaden bezahlen. All das lässt die Bundesregierung offenbar kalt; denn sie zieht nicht die richtigen Konsequenzen. Fest steht: Ohne die Menschen vor Ort, die sogenannte Asse-Begleitgruppe, wäre das Chaos nicht ans Tageslicht gekommen. ({0}) Dass diese Öffentlichkeit hergestellt wurde, ist zweifelsfrei dem jetzigen Bundesumweltminister zu verdanken, der jetzt auch handelt. Allerdings könnte ich auch fragen, was Herr Gabriel als Ministerpräsident von Niedersachsen unternahm, als der Betrug in vollem Gange war, oder was den grünen Umweltminister, Herrn Trittin, umtrieb, als er den Informationsfluss des Bundesumweltministeriums zu Asse II einfach abschnitt. Klar ist: Hier geht es wieder einmal um das Verschleiern und Herunterspielen von radioaktiven Gefahren. Das Helmholtz-Zentrum München hat den Salzstock Asse 30 Jahre lang mit öffentlichen Fördergeldern zur atomaren Endlagerforschung genutzt. Heute weiß man: Der Betreiber wusste zu jeder Zeit, dass die Schachtanlage einsturzgefährdet ist und dass es massive Wassereinbrüche gibt. Trotzdem hat er Teile des Atommülls wahrscheinlich unrückholbar verbuddelt. ({1}) Es wurden 77 Kubikmeter radioaktiv verstrahlter Lauge und andere verstrahlte Betriebsabfälle in 925 Metern Tiefe verklappt. Das war vorsätzlich und falsch. Ich halte aber die Rolle des Landesbergamtes für entscheidend. Ich glaube nicht, dass diese als Genehmigungsbehörde weniger Informationen als der Betreiber zu Asse II hatte. Über mindestens fünf Jahre hinweg stimmte es der Umlagerung der verseuchten Lauge zu, und zwar ohne weitere Prüfverfahren. Das ist Missbrauch von Rechtsvorschriften. Mit Gefahrenabwehr nach Atomrecht hat das überhaupt nichts zu tun. ({2}) Aufzudecken ist, inwieweit sich das Landesbergamt und das Helmholtz-Zentrum zum Zwecke der Verschleierung abgesprochen haben. ({3}) Es gibt hinreichende Erfahrungen aus der Atomwirtschaft, Herr Tauss, Gefahren herunterzuspielen und zu verheimlichen. Warum sollte es hier anders sein? Ich erinnere an die Informationspolitik der Betreiber der Atomkraftwerke von Brunsbüttel und Krümmel anlässlich der Zwischenfälle vor fast einem Jahr. Teile der Bundesregierung - das ist schon angesprochen worden und auch die Atomlobby führen gerade eine verlogene Werbekampagne zugunsten der Atomkraft auf allen Kanälen. Atomstrom ist und wird kein Ökostrom. ({4}) Was wir brauchen, ist Aufklärung über die Risiken und Gefahren. Deshalb müssen jetzt die richtigen Konsequenzen gezogen werden: Dem Helmholtz-Zentrum München ist die Betriebsgenehmigung zu entziehen. ({5}) Dabei muss der Betreiber aber in die Pflicht genommen werden und den Schaden auf eigene Kosten beheben. Es wäre ein weiterer Skandal, wenn wieder einmal die Bürgerinnen und Bürger die Zeche zahlen, während sich einzelne mit öffentlichen Fördergeldern die Taschen füllen. ({6}) Ich habe gestern mit Bürgerinnen und Bürgern aus der Region telefoniert, Herr Tauss. ({7}) Die Angst ist groß. Dabei sind zwei Dinge deutlich geworden. Da die Bundesregierung nicht gegen den Betreiber vorgeht, werden wieder einmal die Leute vor Ort die Arbeit machen müssen und Anzeige erstatten. Was die Strahlenbelastung betrifft, ist die Stimmung wirklich auf dem Tiefpunkt. Das Bundesamt für Strahlenschutz hat deutlich gemacht, dass spätestens nach 150 Jahren mit dem Austritt von Radioaktivität über den schon heute erlaubten Grenzwerten zu rechnen ist. Die Menschen fragen sich daher: Warum sollten die Aussagen stimmen, dass zu keiner Zeit eine Gefährdung für die Bevölkerung besteht? Die Linke fordert deshalb ein Messprogramm für die Umgebungsluft und das Trinkwasser und eine unabhängige Überprüfung aller vorgenommenen Strahlenmessungen im Bergwerk. ({8}) Das Fazit ist und bleibt nach den Erkenntnissen von Asse II: So schnell wie möglich raus aus der gefährlichen Atomenergie! Vielen Dank. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Maria Flachsbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003527, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit einigen Tagen ist bekannt, dass es im Versuchsendlager Asse II in der Nähe von Wolfenbüttel Laugenzuflüsse gibt, die mit Caesium-137 kontaminiert sind. Sowohl die Laugenzuflüsse als auch die mangelnde Standsicherheit - in Gutachten wird davon ausgegangen, dass das Bergwerk vermutlich nur noch bis Mitte des kommenden Jahrzehnts ausreichend standsicher sei, um Bergleute unter Tage arbeiten zu lassen - resultieren daraus, dass Asse II von 1909 bis 1964 als Salzbergwerk genutzt wurde und durchlöchert ist wie ein Schweizer Käse. Nach heutigen Maßstäben wäre es inakzeptabel, einen solchen Salzstock als Endlager zu nutzen. 1965 aber kaufte das GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit, heute das Helmholtz-Zentrum München, im Auftrag des Bundes die Asse und führte bis 1995 Forschungs- und Entwicklungsarbeiten für die Endlagerung durch. Von 1967 bis 1978, bis Ministerpräsident Albrecht dem ein Ende setzte, fand die Einlagerung von mehr als 125 000 Fässern mit schwachradioaktivem Abfall und 1 300 Fässern mit mittelradioaktivem Abfall statt. Nach Beendigung der Forschungsarbeiten bereitet der Betreiber die Schließung der Anlage vor. Das ist deshalb ein höchst schwieriges Unterfangen, da der radioaktive Abfall vermutlich zumindest zum Teil im Berg bleiben muss. Man hatte ihn bei der Einlagerung nicht geordnet abgestellt, sondern teilweise einfach in die Schächte gekippt und mit Salzabraum abgedeckt, was jetzt einen bergmännischen Abbau mit Hacke und Spaten erforderlich machen würde. Dabei würde man die Bergleute enormen Belastungen mit Radioaktivität insbesondere in der Luft bei harter körperlicher Arbeit in Schutzanzügen aussetzen. Wahrscheinlich hat man aber wegen der nachlassenden Standfestigkeit vermutlich gar nicht mehr die Zeit, das Bergwerk zu räumen. Doch das wird derzeit von der AG Optionsvergleich geprüft. Eine geordnete Schließung ist aber ungemein wichtig für Menschen und Umwelt, da seit 1988 Salzlauge ins Bergwerk fließt, derzeit cirka 12 Kubikmeter am Tag. Das Schließungskonzept muss verhindern, dass durch das Wasser Radioaktivität aus dem Bergwerk in die Biosphäre gelangt. ({0}) Diese Situation ist für die Bürgerinnen und Bürger der Standortgemeinden ungemein belastend. Um neues Vertrauen aufzubauen, haben das niedersächsische Umweltministerium als Kontrollbehörde vor Ort, das Bundesforschungsministerium, dem der Betreiber zugeordnet ist, und das Bundesumweltministerium als oberste Überwachungsbehörde für den Umgang mit Radioaktivität im Herbst 2007 im Zuge erweiterter Öffentlichkeitsbeteiligung vereinbart, Vertreter der regionalen Bevölkerung eng in die Prüfung der unterschiedlichen Schließungskonzepte mit einzubeziehen. Nicht zuletzt durch diese erweiterte Öffentlichkeitsbeteiligung wurde in den vergangenen Tagen die Kontamination von Teilen der Salzlauge bekannt. Zwar wusste der Betreiber bereits seit einigen Jahren davon und hat dies auch dem niedersächsischen Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie mitgeteilt. Doch von dort gelangte die Nachricht nicht, wie eigentlich vorgeschrieben, zum niedersächsischen Umweltministerium. ({1}) Darüber hinaus hat der Betreiber ohne strahlenschutzrechtliche Genehmigung die kontaminierte Lauge zusammen mit weiterem radioaktiven Abfall in die unterste Sohle des Bergwerks, den sogenannten Tiefenaufschluss, verbracht. Laut Fachleuten besteht zwar keine Gefahr für Mensch und Umwelt, allerdings wissen die Experten noch nicht konkret, woher dieses Caesium-137 stammt. Das niedersächsische Umweltministerium als Überwachungsbehörde hat daraufhin sofort eine weitere Verbringung radioaktiven Materials in den Berg untersagt und bis auf Weiteres die Abstimmung aller Entscheidungen des LBEG bezüglich der Asse angeordnet. Weiterhin haben der niedersächsische Umweltminister Sander, Bundesumweltminister Gabriel und die Bundesforschungsministerin Schavan am Dienstag in Berlin vereinbart, bis August einen Statusbericht zur Situation der Asse zu erarbeiten. Dabei helfen soll die Taskforce aus Fachleuten von Bund und Land. Darüber hinaus sollen die Arbeiten zur Schließung der Asse - das ist insbesondere ein Optionsvergleich - sowie die Erstellung ({2}) der Langzeitsicherheits- und Störfallanalyse - darum geht es eigentlich, Frau Künast - zügig vorangetrieben werden. ({3}) Ich begrüße dieses Vorgehen der drei Minister ausdrücklich. Es geht darum, Frau Künast, keinen politischen Profit aus dieser Sache zu schlagen, ({4}) sondern die Sorgen und Nöte der Anwohner ernst zu nehmen. ({5}) Ziel aller Bemühungen muss es sein, die Bevölkerung vor Ort und das Betriebspersonal jetzt und in Zukunft zu schützen und Vertrauen in die Verantwortlichen zurückzugewinnen. Das Thema ist zu ernst für politische Spielchen und Schuldzuweisungen. Die Zeit ist zu knapp, um akademisch über Vor- und Nachteile der Anwendung unterschiedlicher Rechtssysteme zu debattieren. Deshalb begrüßt die Union, dass die drei Minister an der im Herbst 2007 vereinbarten Zusammenarbeit festhalten. Es geht jetzt darum, zügig ein Konzept für eine geordnete und sichere Schließung der Asse zu erarbeiten, das die Sorgen der Menschen aufnimmt und die offenen Fragen der Bürger und Fachleute beantwortet. ({6}) Für die Unionsfraktion bitte ich deshalb die zuständigen Bundesministerien, den Ausschuss für Bildung und Forschung sowie den Umweltausschuss regelmäßig über den Fortgang der Arbeiten zu unterrichten. ({7}) Ich bitte sicherzustellen, dass trotz aller professionellen Routine das Bewusstsein für die Notwendigkeit der besonderen Sorgfalt bei allen Beteiligten gewahrt bleibt. ({8}) Die Einrichtung eines Qualitätsmanagementsystems bei der LBEG ist dazu ein guter Schritt. Herzlichen Dank. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Jürgen Trittin das Wort.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Sander, Sie haben natürlich recht, wenn Sie mich kritisieren. ({0}) In der Tat kann man mir vorwerfen, dass ich einen Minister, der sich mit einem T-Shirt, auf dem „Kernenergie ist kerngesund“ steht, in Endlagern abbilden lässt, nicht daran gehindert habe, Atomaufsicht in diesem Land zu betreiben. ({1}) Ich kann Ihnen allerdings sagen: Wir hatten dazu einen Vorschlag in die Föderalismuskommission eingebracht, dessen Richtigkeit durch die Ausführungen von Frau Flachsbarth unterstrichen worden ist. In der Tat ist es absolut notwendig, die Nuklearaufsicht, die Aufsicht über die Atomkraftwerke und den Strahlenschutz, den Ländern wegzunehmen, damit sie nicht weiter in solchen sach- und fachunkundigen Händen liegt. ({2}) - Lieber Herr Kollege, ich bin gerne bereit, über Verantwortung und über alle Fehler zu reden. Wir brauchen uns nicht zu scheuen ({3}) - auch über die eigenen, Herr Eisel -, darüber zu reden. Aber wenn das so ist, dann frage ich mich, warum die CDU, die FDP und noch - ich vermute, das wird anders werden - die SPD die Einsetzung des dafür notwendigen Instruments, nämlich eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses, scheuen wie der Teufel das Weihwasser. ({4}) Gehen Sie doch voran! Machen Sie doch! Klagen Sie doch Trittin an, und sagen Sie: Der ist verantwortlich! Klären Sie das doch im Untersuchungsausschuss auf! Aber setzen Sie sich dafür ein, anstatt auf Arbeitskreise und weiteres Vertuschen zu setzen! ({5}) Zweite Bemerkung: Wir haben doch einen ganz einfachen Vorgang. Der Bundesumweltminister als Verantwortlicher hat eines festgestellt, nämlich dass er Zweifel an der Zuverlässigkeit der Asse-Betreiber hat. ({6}) Der Bundesumweltminister hat recht, der Täter ist geständig. Die Bundesregierung antwortete auf meine Kleine Anfrage: Nach den Erkenntnissen der Bundesregierung hat es das LBEG versäumt, das niedersächsische Umweltministerium als Aufsichtsbehörde rechtzeitig zu informieren und eine ausreichende strahlenschutzrechtliche Genehmigungsgrundlage für das Verbringen der Lauge in den Tiefenaufschluss sicherzustellen. - Das ist der Kern, da stellt sich die Frage der Verantwortung. Wenn Sie, Herr Gabriel, sagen, der Betreiber ist unzuverlässig, dann schauen Sie auf Ihre rechte Seite. Da sitzt der Betreiber, er heißt Annette Schavan. Das ist der Punkt, an dem Handeln angesagt ist. ({7}) Ich will Ihnen eine ganz einfache Prophezeiung machen. Es wird noch Verschiedenes - auch die Rolle von Frau Bulmahn - in dem Untersuchungsausschuss, den Sie in Niedersachsen sicherlich mittragen werden, aufgeklärt werden. Es wird noch eine Weile diskutiert, und es werden Statusberichte geschrieben. Am Ende - da sind wir beide sicher - ist das Ergebnis eindeutig: Es wird nicht mehr die Helmholtz-Gemeinschaft sein, und es wird nicht mehr das Bergrecht sein, die die Schließung dieses Bergwerks organisieren, sondern es wird die Institution sein, die das fachkundig zum Beispiel schon in Morsleben und anderswo gemacht hat, nämlich das Bundesamt für Strahlenschutz. ({8}) Wenn Sie einen kollegialen Rat hören wollen, dann sage ich Ihnen: Entscheiden Sie das schnell! Entscheiden Sie es selber, anstatt dazu gedrängt zu werden! Noch ist dazu Zeit. ({9}) Letzte Bemerkung: Asse ist nicht irgendein Salzstock. Asse war das Vorbild für Gorleben. Asse ist von Herrn Professor Kühn, dem Hauptgutachter für Gorleben, begutachtet worden. Ich rufe gerne in Erinnerung, was Herr Professor Kühn im Jahr 1967 über die Asse geschrieben hat: Es lässt sich aus allen Gegebenheiten schließen, dass die Gefährdung der Schachtanlage Asse II durch Wasser oder Laugeneinbrüche als minimal anzusehen ist bzw. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sogar auszuschließen ist. Vielmehr lässt sich die diesbezügliche Situation gerade auch im Vergleich mit anderen Salzvorkommen als durchaus günstig bezeichnen. Wenn die Asse in ihren Grundvoraussetzungen gegen Laugeneinbruch im Vergleich zu anderen Salzstöcken geologisch eine günstige Situation aufweist, dann spätestens ist es an der Zeit, die Frage eines Auswahlverfahrens mit Blick auf Gorleben, die Orientierung auch auf andere Wirtsgesteine statt auf Salz endlich auf die Tagesordnung zu setzen. ({10}) Wer jetzt so tut, als seien die Vorkommnisse in der Asse nur ein peinlicher Zwischenfall gewesen, der verkennt, dass genau diese die Fragen zur Eignung von Gorleben als Endlager neu aufwerfen. Hören Sie, die Kollegen von der CDU/CSU und der FDP, endlich auf, bei dem Auswahlverfahren für ein Endlager einen Vergleich unterschiedlicher Wirtsgesteine, wie der Bundesumweltminister ihn durchführen möchte, zu blockieren! Nur dann werden Sie Ihrer Verantwortung für die Zukunft gerecht. ({11}) Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung. Ich habe gestern von Herrn Pofalla, dem Nachfolger von Herrn Hintze, ({12}) gehört, Atomenergie sei Ökoenergie. ({13}) Das wäre die erste Ökoenergie, bei der man damit rechnen muss, dass sie Caesium, Plutonium und andere Stoffe an die Biosphäre und an das Trinkwasser abgibt. Wenn das Öko ist, dann bin ich kein Öko mehr! Vielen Dank. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Christoph Pries hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Christoph Pries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003874, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Versuchsendlager Asse II ist der GAU der deutschen Atomindustrie. 126 000 Fässer schwach- und mittelradioaktiven Atommülls lagern in einem Salzbergwerk, das feucht und einsturzgefährdet ist. Was lernen wir daraus? Erstens. Die Halbwertzeit wissenschaftlicher Vorhersagen ist deutlich kürzer als die Halbwertzeit radioaktiver Stoffe. ({0}) Zweitens. Bei der Suche nach einem atomaren Endlager müssen Sorgfalt und Sicherheit immer höchste Priorität haben. Drittens. Atomenergie ist keine Ökoenergie. ({1}) Sie ist eine Hochrisikotechnologie und produziert radioaktiven Abfall, der für Jahrtausende sicher gelagert werden muss. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie wollen der Atomenergie ein Ökolabel aufkleben. Dann müssen Sie den Menschen ehrlich sagen: ({2}) Eine Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke um zehn Jahre bedeutet 3 500 Tonnen hochradioaktiven und 8 000 Kubikmeter schwach- und mittelradioaktiven Abfalls zusätzlich. Die SPD-Bundestagsfraktion will das nicht. Wir stehen auch deshalb weiterhin zum Atomausstieg. ({3}) Die Geschichte des Versuchsendlagers Asse ist ein einziges Sammelsurium von Fehlprognosen und Intransparenz. Das neueste Kapitel dieser Geschichte ist die Entsorgung von 77 000 Litern radioaktiver Lauge. Seit 2004 tritt auf der 750-Meter-Sohle Lauge auf, die mit Caesium-137 kontaminiert ist. Die Caesium-Konzentration in der Flüssigkeit überschreitet den zulässigen Grenzwert zum Teil um das Achtfache. Es ist nicht auszuschließen, dass die Lauge durch Kontakt mit dem eingelagerten Atommüll kontaminiert wurde. Die Betreibergesellschaft hat diese Lauge aufgefangen und zwischen Februar 2005 und Januar 2008 auf der 975-Meter-Sohle nicht rückholbar entsorgt. Diese Entsorgung geschah ohne eine ausreichende strahlenschutzrechtliche Genehmigung, ohne Kenntnis der atomrechtlichen Aufsichtsbehörden und selbstverständlich ohne Information der Öffentlichkeit. Die Verantwortlichen haben die kontaminierte Lauge nach eigenen Angaben aus Gründen des betrieblichen Strahlenschutzes entsorgt. Wie kommt es dann, dass wir in den jährlichen Strahlenschutzberichten nicht ein Wort darüber finden? Wie kommt es darüber hinaus, dass wir aus dem zusammenfassenden Laugenbericht vom 29. Februar 2008 alles Mögliche erfahren, nur nichts über die vor der Einlagerungskammer 12 genommenen Proben? Wie kommt es schließlich, dass die Wahrheit erst auf kritische Nachfragen von Kommunalpolitikern und Journalisten hin scheibchenweise ans Licht gekommen ist? Informationen wurden der Öffentlichkeit ganz bewusst vorenthalten. Aus diesem Grund hat die SPDBundestagsfraktion erhebliche Zweifel an der Zuverlässigkeit der Betreibergesellschaft. Wir begrüßen daher, dass Bundesumweltminister Gabriel diese Zuverlässigkeit nun überprüfen lässt. ({4}) Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt zugleich die Einsetzung einer Taskforce zu Asse II. Wir erwarten, dass dadurch endlich alle Fakten zur und alle Missstände in der Asse auf den Tisch kommen. Sehr geehrter Herr Bundesumweltminister, unsere Unterstützung haben Sie. Wie Sie nehmen auch wir die Sorgen der Bevölkerung im Landkreis Wolfenbüttel sehr ernst. Für uns gilt: Erstens. Es dürfen keine Maßnahmen vorgenommen werden, die ein alternatives Schließungskonzept oder eine vollständige bzw. teilweise Rückholung der eingelagerten Abfälle unmöglich machen. ({5}) Zweitens. Vor einer Entscheidung über den Abschlussbetriebsplan müssen alle Optionen eingehend geprüft werden. Die sicherste, nicht die einfachste Lösung muss den Zuschlag erhalten. ({6}) Drittens. Auch eine Schließung der Asse nach Bergrecht muss den Prüfungsmaßstäben bei einem atomrechtlichen Genehmigungsverfahren in vollem Umfang genügen. Viertens. Die umfassende Information und Einbindung der Bevölkerung muss während des gesamten Verfahrens gewährleistet sein. In diesem Zusammenhang möchte ich an alle Beteiligten appellieren: Arbeiten Sie konstruktiv zusammen! Asse II ist ein Problem, für das wir alle verantwortlich sind. Nicht formale Ressortzuständigkeit, sondern Kompetenz muss den Ausschlag geben. Das sind wir den Menschen im Landkreis Wolfenbüttel schuldig. ({7}) Ich möchte meine Ausführungen mit einem Dank beenden. Mein Dank gilt Umweltminister Gabriel für sein schnelles und konsequentes Handeln. ({8}) Mein Dank gilt aber auch den Kommunalpolitikern im Landkreis Wolfenbüttel. Nur deshalb, weil im Umweltausschuss des Kreistages beharrlich Fragen gestellt werden, diskutieren wir heute über die Missstände im Versuchsendlager Asse II. Dieses Engagement sollte man auch von dieser Stelle aus einmal würdigen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jochen-Konrad Fromme hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jochen Konrad Fromme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Beitrag des Kollegen Trittin war ein Beweis dafür, dass hier ein Stellvertreterkrieg geführt werden soll. ({0}) Ich empfinde es als zynisch, dass mit den Ängsten der Menschen Politik betrieben wird. Unsere Aufgabe ist, uns um die Sicherheit der Menschen vor Ort zu kümmern. Es ist eine Erblast, mit der wir es zu tun haben. ({1}) Unser erstes Ziel muss sein, alles zu tun, was den Menschen dient. ({2}) - Herr Kollege Trittin, ich will Ihnen einmal Folgendes sagen: Wer mit dem Finger auf andere zeigt, der zeigt mit zwei Fingern auf sich selbst. ({3}) Sie waren von 1990 bis 1994 in Niedersachsen verantwortlich, Sie waren von 1998 bis 2005 im Bund verantwortlich, und da ist nichts passiert. ({4}) 2005 hat es einen Kulturwechsel in der Frage des Umgangs mit der Asse gegeben; denn seitdem herrscht Offenheit, und wir kümmern uns um die Menschen. Die Kollegin Schavan war die erste verantwortliche Forschungsministerin, die vor Ort war. ({5}) Bundesumweltminister Gabriel war als zuständiger Minister vor Ort. Sie, Herr Trittin, habe ich da noch nie gesehen, obwohl Sie lange für diese Fragen zuständig waren. ({6}) Dass die Informationen heute öffentlich sind, ist ein Zeichen der neuen Kultur. ({7}) Erst die Tatsache, dass wir alles auf den Tisch gelegt haben, hat den Landkreis in die Lage versetzt, die Fragen zu stellen. Nun sage ich ganz offen: Transparenz hat für mich auch etwas mit aktivem Handeln zu tun. Das bedeutet: nicht nur auf Anfrage auf den Tisch legen, sondern selbst Hinweise geben. Das ist hier nicht geschehen. Insofern müssen wir besser werden. Seit 2007 gibt es die Vereinbarung darüber, wie wir mit diesen Dingen umgehen. Seitdem - das ist der Punkt - hat sich vieles geändert. Wir haben die Menschen dort ernst genommen und ihnen gesagt: Wir müssen uns um die Sache kümmern. - Übrigens war ich schon viel öfter und viel früher da als andere, selbst in der Zeit, als wir noch in der Opposition waren. Ich glaube, es gibt kaum jemanden hier im Raum, der sich so oft um die Angelegenheiten dort gekümmert hat. ({8}) Wir haben die Asse-Begleitgruppe eingesetzt. Wir haben den Optionenvergleich eingeleitet. Ich sage es noch einmal: Die Tatsache, dass wir heute darüber diskutieren, hat ihre Wurzel ({9}) in unserem veränderten Verhalten. Entscheidend ist nicht die Frage, nach welchem Recht man vorgeht. Im Hinblick auf Technik und Sicherheit kommt es auf den richtigen Lösungsweg an, und es ist völlig egal, ob wir den nach Bergrecht oder nach Atomrecht beschreiten. ({10}) Wenn wir aber noch lange Symposien darüber durchführen, dann verlieren wir Zeit, die die Menschen vor Ort nicht haben. Darum geht es doch. ({11}) Ich sage Ihnen: Wir haben die positiven Elemente des Atomrechts, nämlich die Öffentlichkeit, und die positiven Elemente des Bergrechts, nämlich die vermehrten Klagemöglichkeiten der Bürger, im Verfahren freiwillig verbunden. Wir haben sozusagen das Optimum aus beiden Rechtsgebieten gebildet. Etwas Besseres kann es doch nicht geben. Jedem, der heute Kritik daran übt, stelle ich immer wieder die Frage, was er gemacht hat, als er die Möglichkeit hatte, zu handeln. ({12}) Ihnen, die Sie die heutige Aktuelle Stunde beantragt haben, kann ich nur sagen: Sie sollten sich schämen und mit einem roten Kopf hier herauslaufen, weil Sie in den Jahren, in den Sie Regierungsverantwortung trugen - immerhin sieben Jahre Berlin und vier Jahre Hannover -, nichts gemacht haben. ({13}) Sie sind doch die Letzten; denn - ich sage es noch einmal - Sie wollen sich gar nicht um Asse kümmern, sondern hier einen Stellvertreterkrieg führen. Das finde ich nicht in Ordnung. ({14}) Zu dem Vorschlag, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, sage ich: Das bringt uns, so reizvoll das wäre, weil man da gerade Ihre Rolle, Herr Trittin, ganz besonders gut beleuchten könnte, nichts. ({15}) Bündeln wir doch die Kräfte, um die Probleme anzupacken und technisch nach dem besten Weg zu suchen. Egal, wie man zu den einzelnen Fragen steht, eines steht doch fest: Wir haben verstrahlte Abfälle aus der Medizin, aus der Forschung. ({16}) Ich habe noch nie gehört, dass Sie Nuklearmedizin ablehnen. Ich für mich persönlich lehne sie auch nicht ab. Aber wenn man sie nicht ablehnt, dann muss man sich auch um die Reste kümmern. ({17}) Deswegen brauchen wir Endlagerung, unabhängig von der Energiefrage, bei der ich natürlich eine andere Auffassung habe als Sie. Das ist selbstverständlich, weil Sie ja in den letzten Jahren nichts dazugelernt haben. Meine Damen und Herren, deswegen sage ich: Es ist verlogen, wenn man sich hier hinstellt und so tut, als wenn man etwas für die Menschen tun wollte, aber in Wahrheit nur Klamauk macht, um eine ganz andere Frage zu diskutieren. ({18}) Lassen Sie uns doch die Sorgen der Menschen vor Ort ernst nehmen und uns darum kümmern. ({19}) Ich sage Ihnen: Anders als Sie tun wir das. ({20})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht der Kollege Klaus Hagemann für die SPD-Fraktion. ({0})

Klaus Hagemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002668, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem ich die aufgeheizte Debatte verfolgt habe, stellt sich mir nun die Frage: Wie wirken sich diese Entwicklungen finanziell aus? Das ist die Hauptfrage; denn es geht ja darum, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob die Nutzung von Atomenergie umweltfreundlich und preiswert ist. Als Erstes frage ich mich: Für wen ist sie preiswert? ({0}) Ist sie für die Atomwirtschaft oder für den Steuerzahler und die öffentliche Hand preiswert? Wir diskutieren über Asse, aber das Thema ist noch wesentlich komplexer; der Kollege Tauss hat das eben schon angerissen. Ich möchte das nun aus finanzieller und haushalterischer Sicht noch einmal etwas beleuchten. Es geht ja nicht nur um diese Einrichtung, sondern es gibt noch 10 bis 15 weitere Einrichtungen, wo atomarer Abfall entsorgt wird. Hier fallen auch entsprechende Kosten an, die bei keinem Preisvergleich zwischen atomarer und nichtatomarer Energie berücksichtigt werden. ({1}) Vielmehr werden sie vom Steuerzahler bezahlt. Diesen Aspekt müssen wir auch mit einbeziehen. Lassen Sie mich zunächst noch einiges zu Asse aus finanzieller Sicht hinzufügen: Im Finanzplan sind bis zum Jahr 2017 insgesamt 775 Millionen Euro vorgesehen; diese Zahl sollte man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Es handelt sich um Barmittel, aber logischerweise auch um Verpflichtungsermächtigungen, weil man ja so weit in die Zukunft plant. Im Plan ist vorgesehen, dieses Jahr 57 Millionen Euro auszugeben. Frau Ministerin Schavan hat gestern, so ist mir berichtet worden, im Bildungsausschuss gesagt, dass die 57 Millionen Euro nicht reichen und wir wahrscheinlich 100 Millionen Euro brauchen, zu 100 Prozent vom Bund finanziert. Man sieht also, dass die Schätzungen nicht mit der Realität übereinstimmen und dass wir mehr brauchen werden. ({2}) - Ja. Dem Haushaltsausschuss ist ein Bericht vorgelegt worden. Darin wird die Frage der Rückstellungen beantwortet. Ich darf daraus zitieren: Die als Rückstellungen in den Passiva der Bilanzen der Helmholtz-Gemeinschaftszentren ausgewiesenen Kostenschätzungen sind vielfach mit Unsicherheiten behaftet. Wir sehen also, dass all diese Zahlen mit großen, dicken Fragezeichen zu versehen sind. Wenn ich die Entwicklung in den letzten Jahren beobachte, dann stelle ich fest: Sie sind nicht gleichmäßig leicht gestiegen, sondern deutlich nach oben gegangen; das sei noch einmal herausgestellt. Die Helmholtz-Gemeinschaft wird zu 90 Prozent durch den Bund finanziert; auch das sollten wir hier noch einmal deutlich machen. ({3}) Selbstverständlich muss gehandelt werden. Ich glaube, da sind wir uns alle einig. Das oberste Prinzip muss natürlich sein: Sicherheit der Menschen und der Umwelt bedingt die Sicherheit der atomaren Anlagen. Deswegen müssen sowohl alle technischen als auch alle finanziellen Anstrengungen unternommen werden. Wir haben uns schon im Herbst bemüht; das ist nicht erst jetzt auf die Tagesordnung gekommen. Herr Bundesumweltminister, bei den Haushaltsberatungen haben wir durchgesetzt, dass zwei Stellen aus dem Stellenplan des Forschungshaushalts in Ihr Haus überwiesen werden, damit die Kontrolle dieser Maßnahmen im Bereich Asse vorgenommen werden kann. Das ist nicht so leicht gewesen. Beispielsweise die FDP hatte dagegengestimmt, Frau Flach. ({4}) Mit dem Koalitionspartner haben wir längere Diskussionen dazu gehabt. Wir haben schon im Herbst im Haushaltsausschuss beschlossen, dass jetzt, zum 30. Juni, ein Bericht über Asse vorzulegen ist. Auch darauf möchte ich noch einmal hinweisen. ({5}) Die Finanzprobleme gelten nicht nur für Asse, sondern auch - Herr Tauss hat darauf hingewiesen - für die Wiederaufbereitungsanlage in Karlsruhe. Da geht es um - man höre und staune - 60 Kubikmeter atomar verseuchten Müll. Dieser Müll soll schon seit 20 Jahren entsorgt werden, und geschehen ist bisher nichts; man muss es leider sagen. Man hat 1991 geschätzt: 2 Milliarden DM sind zu bezahlen. Wir sehen heute, welche Summen auf uns zukommen: Bis zum Jahr 2035 ist nach heutiger Schätzung mit etwa 5 Milliarden Euro zu rechnen, und zwar für die WAK und die anderen Forschungsreaktoren. ({6}) Ich sage noch einmal: 5 Milliarden Euro, die nirgendwo eingestellt sind, müssen aufgebracht werden. ({7}) - Nicht für einen einzigen Reaktor, sondern für alle Forschungsreaktoren, in denen Atommüll eingelagert wird. Dieses Geld fehlt uns im Forschungshaushalt, um beispielsweise die Exzellenzinitiative zu finanzieren ({8}) oder das 3-Prozent-Ziel zu erreichen. Diese Kosten müssen in die Atomstrompreise einberechnet und gesamtgesellschaftlich gedeckt werden. Ich verweise auf die Fixkosten, die in Karlsruhe zurzeit anfallen, und zwar für den Nullbetrieb. Obwohl noch nichts geschieht, fallen dort Fixkosten an: Das sind 3 Millionen Euro im Monat, also 36 Millionen Euro im Jahr. Noch kann dort nicht gehandelt werden, weil Genehmigungen nicht erteilt worden sind, weil Nachrüstungen vorgenommen werden müssen. Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Man hat in Karlsruhe jetzt plötzlich ein bisher unentdecktes Fass gefunden. Man weiß noch nicht, was darin enthalten ist. Auch hierdurch werden Mehrkosten entstehen. Hinzu kommt: Ein verrückter Mensch hat atomaren Müll aus Karlsruhe mit nach Hause nach Landau genommen. Daraufhin mussten neue Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden. Dafür mussten zig Millionen Euro aufgebracht werden. All diese Kosten müssen beim Atomstrom einberechnet werden; leider geschieht das nicht. Deswegen sollten wir nicht weiterhin über neue Atomkraftwerke reden. Die Zahlen machen das deutlich. Herzlichen Dank. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Bundesminister Sigmar Gabriel.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe bei einer Reihe von Wortbeiträgen gedacht: Was werden wohl die Menschen im Landkreis Wolfenbüttel, in Remlingen und in den umliegenden Ortschaften denken angesichts der begrenzten Bereitschaft einer Reihe von Rednern, etwas dazu zu sagen, wie den Menschen vor Ort geholfen werden kann? Frau Kotting-Uhl, was haben Sie in Ihrem Redebeitrag eigentlich zum Problem und zur Lösung des Problems gesagt? ({0}) Meinem Eindruck nach gar nichts! Sie haben gesagt, wir sollten das Verfahren wechseln, und es solle Atomrecht gelten. Ihnen ist gar nicht aufgefallen, dass bei dem vorliegenden Problem das Atomgesetz die Grundlage der Entscheidung des Bergamtes in Niedersachsen gewesen ist. Und sie haben es falsch gemacht. ({1}) Das heißt, es scheint doch nicht um die Frage zu gehen, auf welchem Verfahrensweg man etwas betreibt, sondern es scheint um die Frage zu gehen, ob ausreichend Kompetenz da ist und ob wir sie aufrüsten und mehr tun müssen. Ich glaube nicht, dass es Sinn macht, sich über die Frage zu unterhalten, welche Verfahrensschritte wir unternehmen. Ich glaube vielmehr, dass die Leute einen Anspruch darauf haben, dass alle, die an diesem Thema beteiligt sind - das niedersächsische Landesbergamt, die Fachaufsicht in Niedersachsen, der Betreiber, die Leute im Forschungsministerium, die etwas davon verstehen, und unsere Experten aus dem Bundesamt für Strahlenschutz und dem Bundesumweltministerium -, gemeinsam zusammenarbeiten, um das Problem zu lösen. Es geht nicht darum, hier vor Ort Verfahrensspielereien zu betreiben. ({2}) Ich glaube übrigens, dass man über Gorleben lange debattieren kann. Aber dass man, Frau Kotting-Uhl, wirklich nichts anderes im Sinn hat, als anhand der Sorgen, die dort real existieren, sozusagen eine politische Verantwortungsdebatte zu führen, um am Ende auf Gorleben zu sprechen zu kommen, wird der Problemlage vor Ort in keiner Weise gerecht. ({3}) Deswegen sage ich Ihnen, was wir gemacht haben. Wir haben 2007 zum ersten Mal ein gemeinsames Verfahren mit den eben beschriebenen Beteiligten vor Ort organisiert. Wir, Frau Kotting-Uhl, haben uns dafür entschieden, die Vorschläge zur Stilllegung und zur Schließung des Bergwerks in der Asse ergebnisoffen zu überprüfen, ({4}) und zwar bis hin zu der Frage, ob wir dort nicht eine Teilrückholung oder vollständige Rückholung einleiten müssen; allerdings habe ich große Zweifel daran, dass das jemals möglich sein wird. Wir haben den Interessen der Bürgerinnen und Bürger vor Ort Rechnung getragen. Wir haben gesagt: Wir werden erstmals dafür sorgen, das, was im Bergrecht nicht, aber im Atomrecht verfahrensrechtlich geht, nämlich eine Öffentlichkeitsbeteiligung, herzustellen. Und hier hat Kollege Fromme absolut recht: Es ist doch erst durch die Einrichtung dieser Begleitgruppe der Asse vor Ort mit dem Landrat Jörg Röhmann, mit den Kritikern und unter Einbeziehung externer unabhängiger Wissenschaftler gelungen, die Öffentlichkeit so zu beteiligen, dass durch die Fragen, die jetzt gestellt wurden, die Probleme auf den Tisch des Hauses gekommen sind. Ich habe nicht zu kritisieren, was in der Amtszeit meiner Vorgänger oder auch der Vorgängerinnen von Frau Schavan passiert ist. Was ich allerdings nicht will, ist, dass ausgerechnet Sie diejenigen kritisieren, die das endlich geändert haben. Das geht nicht. ({5}) Wir fordern den Langzeitsicherheitsnachweis. Das Bundesamt für Strahlenschutz, von dem Sie sagen, dass es zuständig sein soll, prüft den Langzeitsicherheitsnachweis. Wir haben große Zweifel daran, dass alle Fragen beantwortet worden sind. Wir haben gesagt: Ihr müsst eine Störfallanalyse erstellen. - Die ist bis dahin überhaupt nicht Gegenstand der Beratung gewesen. Also, all das, was Sie einfordern - die Fachkompetenz des Bundesamtes für Strahlenschutz und die des Bundesumweltministeriums -, ist in das Verfahren eingebracht worden, und es macht nicht viel Sinn, den Streit darüber zu führen, ob es verfahrensrechtlich besser unter Bergrecht oder unter Atomrecht fällt. Ich sage Ihnen - das wissen Sie auch von mir -: Ich bin natürlich der Überzeugung, dass eine Menge dafür spricht, dass wir ein Bundesendlager nach § 9 a des Atomgesetzes einrichten. Das wird auch weiter beraten werden. Dazu gibt es - übrigens ausgehend von Ihrem Banknachbarn - eine andere Rechtsauffassung. Denn das Bundesumweltministerium hat früher die Auffassung vertreten, dass hier nach Bergrecht verfahren werden muss. Ich erspare es mir, Ihnen all das vorzulesen. Es gab vorher unter dem Kollegen Trittin eine völlig andere Rechtsauffassung als die, die ich heute vertrete. Es macht allerdings keinen Sinn, dass wir uns heute über die Frage des rechtlichen Rahmens streiten. ({6}) Sind wir in der Praxis in der Lage, die Schritte einzuleiten, die gewährleisten, dass wir das richtige Schließungskonzept verfolgen? Ja oder nein? Hier sind der Kollege Sander, die Kollegin Schavan und ich absolut einer Meinung, dass wir es gemeinsam zu bewältigen haben. ({7}) Daran gibt es keinen Zweifel, meine Damen und Herren. ({8}) In dem laufenden Verfahren ist es nach unserer Auffassung offensichtlich zu Rechtsverstößen gegen das Strahlenschutzrecht gekommen. Wir werden jetzt überprüfen, was noch alles passiert ist. Wir wollen die Dokumentationen einsehen. Wir reden noch nicht über die Schließungskonzepte; sie werden derzeit erst überprüft. Wir wollen aber wissen, ob die Aussage des Kollegen Sander zutrifft, dass die Standsicherheit des Grubengebäudes nur bis zum Jahre 2014 gewährleistet werden kann. Die entscheidende Frage ist, ob wir überhaupt die Chance haben, unterschiedliche Optionen zu verfolgen. Niemand - auch Sie nicht - wird Bergleute mit einem anderen Schließungskonzept als der Flutung dort hineinschicken können, wenn die Sicherheit des Grubengebäudes über 2014 hinaus nicht gewährleistet werden kann. Wir wollen sicherstellen, dass auch geprüft wird, ob durch technische Baumaßnahmen die Sicherheit des Grubengebäudes nicht längerfristig aufrechterhalten werden kann, zum Beispiel durch den Einsatz von Salzbeton. Bisher ist dort Salzgrus eingebaut worden und nicht wie in Morsleben Salzbeton. Deswegen ist die Stabilität des Grubengebäudes dort nicht so hoch wie in Morsleben. Wir wissen daher nicht, mit welchem Schließungskonzept wir am Ende vernünftigerweise arbeiten müssen. Herr Kollege Sander hat recht, dass dies bis zum Ende des Jahres geklärt sein muss. Herr Kollege Hill, da Sie uns vorhin angegriffen haben, sage ich Ihnen: Beim Thema Morsleben können Sie viel Kompetenz in Ihren Reihen finden. Wir bewältigen da eine Altlast aus der DDR. ({9}) Machen Sie uns nicht zum Vorwurf, dass wir damit nicht korrekt umgehen würden. Wir sind die richtige Behörde, die vernünftig handelt. ({10}) Ich bin mir nicht ganz sicher, wie Sie vorhin Ihre Hinweise gemeint haben. ({11}) Gestatten Sie mir deshalb diese Bemerkung. In der Sache selber wollen wir natürlich auch überprüfen, was eigentlich der Grund dafür ist, dass die Helmholtz-Gemeinschaft bei der Anwendung des geltenden Strahlenschutzrechtes Vorschläge gemacht hat, die zu Fehlentscheidungen führen, und warum die niedersächsische Bergbehörde dementsprechend falsch reagiert hat. Natürlich gehört das auf den Tisch des Hauses. Wir haben Zweifel an der Fachkunde und Zuverlässigkeit des derzeitigen Betreibers. Aber der nächste Schritt muss doch sein, zu klären, wie man diese Zweifel ausräumen kann. Was immer wir aufseiten der Betreiber verändern, so ist doch klar, dass wir die, die dort arbeiten, auch in Zukunft auf Dauer brauchen. Niemand kann doch auf die Idee kommen, die jetzt dort arbeitenden Bergleute und Ingenieure auszutauschen. ({12}) Niemand hat mehr Kompetenz, was die Asse angeht, als diejenigen, die dort arbeiten. Wir können ihnen nicht vorwerfen, sie würden ihren Job nicht vernünftig machen. Es stellen sich vielmehr die Fragen: Ist die Prozesssteuerung sinnvoll? Ist das Management vernünftig organisiert oder müssen wir da aufrüsten? Welche Leitfragen müssen die Basis für die Arbeit sein? Ich werfe den Bergleuten und Ingenieuren doch nicht vor, sie würden falsch handeln. Die Prozesssteuerung läuft offensichtlich nicht korrekt. ({13}) Frau Kotting-Uhl, diese Leute und ihr Wissen brauchen wir heute, morgen und leider auch noch übermorgen. ({14}) Ich will darauf hinweisen, dass das Problem nicht auf triviale Art gelöst werden kann, indem wir das Verfahren wechseln. Damit haben wir nichts gewonnen. Wir werden die Menschen auch weiterhin brauchen. ({15}) - Ich sage Ihnen einmal etwas zum Thema Verantwortung. Es gibt einen einzigen Vorfall, bei dem sich das Bundesumweltministerium aufsichtsrechtlich eingeschaltet hat. Das war in der letzten Woche. Wir haben die Verantwortung erstmals wahrgenommen. Davor hat sich im Bundesumweltministerium niemand jemals rechtlich eingeschaltet. ({16}) Machen Sie uns jetzt doch nicht den Vorwurf, wir würden unsere Verantwortung nicht wahrnehmen. ({17}) Der Kollege Jürgen Trittin ist der Letzte, dem man vorwerfen könnte, er würde mit atomrechtlichen Fragen nicht sorgfältig umgehen. Wir beide kennen uns ein paar Tage länger aus unterschiedlichen Zusammenhängen. Wir standen mal näher und waren mal etwas weiter voneinander entfernt. Ich werfe ihm nicht vor, dass er sich damals bei der Entscheidung der Bundesregierung gegen den Wechsel zum Atomrecht entschieden hat. Er wirft mir meine Rolle heute ebenfalls nicht vor. Ich bitte Sie, Frau Kotting-Uhl, Folgendes zu beachten: Wir wollen - das ist doch das, was Sie fordern - unserer Zuständigkeit als Bundesaufsicht gerecht werden. Wir sind die oberste Strahlenschutzbehörde; deswegen haben wir uns eingeschaltet. Wir sind die oberste Atomaufsichtsbehörde; deswegen haben wir uns eingeschaltet. Werfen Sie uns daher nicht das vor, was wir jetzt tun. Genau das machen Sie aber heute. ({18}) Das werden wir uns von Ihnen nicht gefallen lassen. Da können Sie sicher sein. ({19}) Letzte Bemerkung, was den Gesamtzusammenhang mit der Region angeht. Frau Kotting-Uhl, Sie dürfen sich bei der Debatte um die Endlagerung nicht wie Biedermann und die Brandstifter verhalten. Sie fragen uns heute, wie wir vor Ort angesichts von Asse II Akzeptanz für Schacht Konrad finden wollen. Um das zu erreichen, dürfen Sie erstens nicht permanent Schacht Konrad in der Öffentlichkeit infrage stellen. ({20}) Das ist unter anderem ein Projekt, für das Sie mitverantwortlich zeichnen. Zweitens müssen Sie den Menschen die volle Wahrheit sagen, und die lautet, dass bei Konrad der Langzeitsicherheitsnachweis, die Störfallanalysen, also all das, was bei Asse II aufgrund der historischen Dimension dieses Versuchsbergwerks nicht geschehen ist, vorher stattgefunden hat. Das heißt, all die Probleme, die wir heute haben, gibt es bei Konrad deshalb nicht, weil vorher eine Prüfung stattgefunden hat und weil die Mitarbeiter im Bundesamt für Strahlenschutz, die Sie für kompetent gehalten haben, dafür geradegestanden haben und der Auffassung sind: Konrad ist ein sicheres Endlager. Wenn Sie das den Menschen sagen und keine scheinheiligen Fragen zu Schacht Konrad stellen, dann werden Sie dazu beitragen, dass die Menschen vor Ort Vertrauen in unsere Endlagerpolitik haben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Minister!

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Wenn Sie aber immer wieder versuchen, Asse II in Verbindung zu Konrad zu bringen, obwohl es keine Verbindung gibt, dann machen Sie das Gegenteil von dem, was Sie hier einigermaßen scheinheilig vorgetragen haben. Darum geht es mir. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat jetzt Carsten Müller für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Carsten Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003815, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte hat einiges gezeigt, vor allen Dingen aber eines - gestatten Sie mir diese Bemerkung als jemandem, der sowohl vom Schacht Konrad als auch vom Schacht Asse II nicht weit entfernt wohnt -: Die niedersächsische Landesregierung und die Bundesregierung nehmen die Sorgen der Menschen vor Ort ernst. Wichtig scheint mir allerdings die Feststellung zu sein - das ist in der Diskussion etwas zu kurz gekommen -, dass nach den Bekundungen der Bundesministerien durch den heute an sich zu diskutierenden Vorgang, nämlich das Umpumpen von radioaktiver Salzlauge, nach heutigen Erkenntnissen ganz offensichtlich keine Gefährdung für die Öffentlichkeit und die Belegschaft im Schacht entstanden ist. Das ist eine wichtige Feststellung. Noch wichtiger ist, dass wir gemeinsam umgehend dafür sorgen müssen, dass auch in Zukunft keine Gefährdung von der Schachtanlage Asse ausgeht, dass die berechtigten Sorgen der Bevölkerung vor Ort Berücksichtigung finden und ihnen Rechnung getragen wird. Darauf haben sich unsere gemeinsamen Anstrengungen zu konzentrieren. Weil das so ist - auch das ist mehrfach bekundet worden; leider ist es nicht von jedem Redner beherzigt worden -, eignet sich das Thema dieser Aktuellen Stunde denkbar schlecht für parteipolitischen Streit. ({0}) Aufgrund der vorangegangenen Redebeiträge möchte ich Ihnen allerdings zwei Gesichtspunkte nicht ersparen, zum einen die Feststellung - Kollegin Flachsbarth hat darauf richtigerweise hingewiesen -, dass es der CDU-Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, Ernst Albrecht, war, der im Jahre 1977, also unmittelbar nach seinem Amtsantritt, die Einlagerung insbesondere des mittelradioaktiven Abfalls umgehend gestoppt hat. Ich fand es zum anderen außergewöhnlich bemerkenswert - Kollege Gabriel ist eben darauf eingegangen -, dass sich ein vorgeblicher Feuerwehrmann, der sich an der Diskussion beteiligt hat, bei genauerem Hinschauen eher als mitverantwortlicher Brandstifter entpuppt hat. ({1}) Beim Entpuppen - Frau Kotting-Uhl, Sie schauen etwas ungläubig - versucht er, sozusagen durch lautes Geschrei Tumult auszulösen, um dann entwischen zu können. Das werden wir allerdings nicht zulassen. ({2}) Es ist eine Taskforce eingerichtet worden. Fachleute aus dem Landesumweltministerium in Niedersachsen, dem Bundesumweltministerium und dem Bundesforschungsministerium setzen sich zusammen und beraten die Lage, das weitere Vorgehen - und das in großer Transparenz. Das halte ich für außerordentlich wichtig; das ist das berechtigte Anliegen der Menschen vor Ort, ({3}) des Landkreises, der interessierten Öffentlichkeit. Ich möchte Bundesumweltminister Gabriel ganz ausdrücklich dafür danken, dass er in seinem Redebeitrag eine außergewöhnlich differenzierte Betrachtung von Asse II auf der einen Seite und anderen in Aussicht genommenen Endlagern auf der anderen Seite - beispielsweise Schacht Konrad und Gorleben - vorgenommen hat. Nur so wird man den Schwierigkeiten und den Sorgen der Menschen vor Ort gerecht. Frau Kotting-Uhl, es nutzt Ihnen nichts, weder kurz- noch mittel- noch langfristig, die Menschen weiter in Aufruhr und Angst zu versetzen. ({4}) Wir müssen Lösungen finden. ({5}) Wenn Sie das abstreiten, empfehle ich Ihnen die Lektüre Ihres eigenen Redebeitrages zu diesem Thema. Ich möchte ausdrücklich der Bundesforschungsministerin Annette Schavan danken. Mit ihrem Besuch der Schachtanlage am 9. Januar 2008 hat sie dieses Thema ganz oben auf die bundespolitische Tagesordnung gesetzt. Das haben die Menschen in der Region - Sie können mir das glauben - wohltuend zur Kenntnis genommen. Ebenso nehmen sie wahrscheinlich die sachlichen Redebeiträge von heute wohltuend zur Kenntnis. Ich unterstütze die Anstrengungen von Frau Schavan sehr. Ich unterstütze auch die Forderung des niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff sehr, der sagt: Nun schonungslose Offenheit und transparentes Vorgehen allenthalben, ({6}) Carsten Müller ({7}) damit wir die Bevölkerung, die berechtigterweise etwas irritiert ist - der Bevölkerung geht es nicht anders als uns -, informiert und unterrichtet halten. ({8}) Die Zeitachse ist dargestellt worden. Weil das ein drängendes Problem ist, kann die Forderung von uns allen, die wir guten Willens sind, nur lauten: Das Problem Asse II muss mit Sorgfalt, Sicherheit, Umsicht und vor allen Dingen zügig gelöst werden. Ich hoffe, in dieser Angelegenheit möglichst viele Mitstreiter zu finden. Frau Kotting-Uhl, ich habe auch Sie noch nicht verloren gegeben. Vielen Dank. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Dieter Grasedieck spricht jetzt für die SPD-Fraktion. ({0})

Dieter Grasedieck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bürgerinnen und Bürger brauchen mehr Transparenz. Die Bürgerinnen und Bürger brauchen Zukunftslösungen. Das ist das Entscheidende. Darum müssen wir uns bemühen. Wir müssen die Sorgen der Menschen in diesem Gebiet ernst nehmen, und wir müssen das Ganze aufarbeiten. Schuldzuweisungen und Vorwürfe sind manchmal unterhaltsam, wie diese Plenarsitzung zeigt, aber eigentlich sind Lösungen gefragt. Ich muss Ihnen sagen: Unsere Bundesregierung ist diesbezüglich auf dem richtigen Weg, ({0}) und auch die Betreibergesellschaft bemüht sich, Hilfen anzubieten. Natürlich sind das echte Probleme. Asse macht deutlich, wie ohnmächtig wir manchmal sind und wie hilflos wir auf solche Entsorgungsprobleme reagieren. Das Versagen der Behörden ist ein Thema; darüber haben Sie ausführlich gesprochen. Wichtig sind die Lösungen, und dafür brauchen wir belastbare Langzeitanalysen, die vom Minister gerade angesprochen worden sind. Das ist entscheidend; denn Atomkraft kostet uns schließlich viel Geld; Klaus Hagemann hat vorhin schon darauf hingewiesen. Allein für die Stilllegung der Atomkraftwerke sind im Langzeitprogramm der Bundesregierung 3 Milliarden Euro vorgesehen, für die Endlagerung fast 4 Milliarden Euro und für Morsleben - es ist vorhin schon gesagt worden, dass der Bund diese Kosten allein trägt 2 Milliarden Euro. Nein, Kernkraft ist kein billiger Ökostrom. Diese Aussage kann man nur unterstreichen. ({1}) Gestern waren Krümmel, Brunsbüttel und die schwedischen Atomkraftwerke unser Thema. Morgen wird vielleicht über andere Störfälle diskutiert werden. Heute diskutieren wir ausführlich über Asse II. In der Salzlauge ist der Grenzwert um deutlich mehr als das Achtfache überschritten worden. Das ist nicht zu vertreten. Wir müssen die Gefahren sehen und die Probleme der Bürgerinnen und Bürger ansprechen. Wir müssen überlegen, welche Lehren wir langfristig aus diesen Diskussionen ziehen. Zur Sicherheitsproblematik hat der Minister vieles ausführlich dargestellt. Das muss fortgesetzt werden. Wir haben keine Alternative. Wir müssen das Problem lösen. Es ist eine überkommene Last, um die wir uns jetzt kümmern müssen. Wenn wir die Planung langfristig durchführen, sind wir auf dem richtigen Wege. Die Bundesregierung bemüht sich schon seit Jahren darum, den Ökostrom - und nicht den Atomstrom - an erster Stelle zu forcieren und zu fördern. ({2}) Damit sind viele Arbeitsplätze verbunden. Unsere Förderung umfasst die unterschiedlichsten Bereiche, unter anderem Windenergie. Da sind wir, die Bundesregierung und die Koalition, erfolgreich. Wir gehen in eine neue, sichere Zukunft ohne Atomkraft. Das ist entscheidend und wichtig. Da vorhergesagt wird, dass wir auch im Jahre 2030 unseren Bedarf noch nicht allein mit erneuerbaren Energien decken können, müssen wir uns die Frage stellen: Muss die Förderung der Steinkohle nicht über 2018 hinaus weiterlaufen? Das ist im Zusammenhang mit Asse eine entscheidende Frage; denn es ist direkt damit verbunden. Diese Lehre müssen wir daraus ziehen. ({3}) Deshalb sage ich: Das Auftreten solcher Vorfälle kann reduziert werden, wenn wir unsere eigenen Ressourcen, zum Beispiel die Kohle, berücksichtigen. Sie ist entscheidend und wichtig. Asse zeigt deutlich, wie schwierig es ist, die gefährlichen Abfallprodukte zu entsorgen. Deshalb brauchen wir Transparenz, Langzeitanalysen und endlich Lösungen. Darum bemüht sich unsere Bundesregierung. Die Bürgerinnen und Bürger stehen dabei im Mittelpunkt. Danke schön. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes - Drucksache 16/8867 18242 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes - Drucksache 16/9615 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) - Drucksache 16/9792 Berichterstattung: Abgeordnete Ingrid Fischbach Ina Lenke Ekin Deligöz - Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/9793 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Ole Schröder Petra Hinz ({2}) Otto Fricke Alexander Bonde b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Ekin Deligöz, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kinderzuschlag weiterentwickeln - Fürsorgebedürftigkeit und verdeckte Armut von Erwerbstätigen mit Kindern verhindern und bekämpfen - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über die Auswirkungen des § 6 a des Bundeskindergeldgesetzes ({4}) sowie über die gegebenenfalls not- wendige Weiterentwicklung dieser Vor- schrift - Drucksachen 16/8883, 16/4670, 16/9792 - Berichterstattung: Abgeordnete Ingrid Fischbach Ina Lenke Ekin Deligöz c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana Golze, Jörn Wunderlich, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Armut trotz Arbeit vermeiden - Benachteiligung Alleinerziehender beim Kinderzuschlag beenden - Drucksache 16/9746 Zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes der Fraktionen der CDU/ CSU und SPD liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Es ist zwischen den Fraktionen verabredet, eine Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der Kollegin Ingrid Fischbach für die CDU/CSU-Fraktion. ({5})

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir sind heute mit der zweiten und dritten Lesung des Entwurfs zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes an einer - wie ich glaube, mit Fug und Recht sagen zu können - guten Stelle für die Familien, für diejenigen, die in unserem Lande Kinder erziehen, angelangt. ({0}) Denn wir alle wissen, dass das Problem der Kinderarmut eigentlich ein Problem der Elternarmut ist. Wenn Eltern nicht in Arbeit sind und nicht für den Lebensunterhalt sorgen können, leiden die Kinder. Die Folge ist Kinderarmut. Deshalb ist es richtig, wichtig und, ich glaube, der wichtigste Punkt überhaupt, den Eltern Arbeitsmöglichkeiten zu verschaffen, den Arbeitsmarkt zu öffnen, damit Eltern arbeiten können, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder zu verdienen. Es gibt aber den Fall - das ist leider eine Entwicklung in unserer Gesellschaft -, dass Eltern in Arbeit sind und den eigenen Lebensunterhalt finanziell bestreiten können, aber nicht genug Geld verdienen, um die Kinder gut zu ernähren und ihre Entwicklung zu unterstützen. Um diesen Familien zu helfen, hat die letzte Bundesregierung den Kinderzuschlag entwickelt; dies war vom Ansatz her richtig und nötig. Das heißt, dass wir in den Fällen, in denen das Einkommen der Eltern nicht für die Kinder ausreicht, einen Zuschlag zahlen, damit die Eltern, die in Arbeit sind, nicht in Hartz IV rutschen, sondern weiterhin arbeiten und ihre Kinder ernähren können. Allerdings - das hat die Entwicklung gezeigt - war das Konzept, das auf den Tisch gelegt wurde, leider noch nicht so ausgegoren, dass die meisten Eltern davon profitieren konnten, im Gegenteil: Die Ablehnungsquote lag bei weit über 80 Prozent. Deshalb haben wir bei der Weiterentwicklung des Kinderzuschlags an genau dieser Stelle angesetzt und uns gefragt: Warum wurden die Anträge abgelehnt? Die erste Änderung, die wir vorgenommen haben, behebt das Problem, dass die Mindesteinkommensgrenzen nicht klar definiert waren. Die Eltern hatten individuelle Ansprüche, wussten aber nicht, ob sie generell einen Anspruch auf den Kinderzuschlag haben oder nicht. Deshalb haben wir ganz klare Mindesteinkommensgrenzen eingeführt: für Alleinerziehende bei 600 Euro, für Paare bei 900 Euro. Nun können die Eltern erkennen, ob sie eiIngrid Fischbach nen Anspruch auf den Kinderzuschlag haben oder nicht. Dadurch wird sich die Ablehnungsquote sicherlich verringern, und die Eltern, die auf den Kinderzuschlag angewiesen sind, können ihn auch bekommen. ({1}) Ein weiterer wichtiger Punkt ist - das haben wir auch in der Anhörung erfahren -, dass gerade Alleinerziehende, deren Armutsrisiko größer als das von Familien ist, kaum vom Kinderzuschlag profitieren konnten. Um das zu ändern, werden wir jetzt in einem ersten Schritt ein kleines Wahlrecht einführen. Da die Redner der Opposition mit Sicherheit wieder kritisieren werden, dass das nicht ausreicht, dass das viel zu wenig ist und dass wir viel mehr tun müssten, möchte ich sagen: Das ist richtig, aber wir müssen die Haushaltsvorgaben beachten. Alleinerziehende und all die Personengruppen, die einen Mehrbedarf haben, zum Beispiel Alleinerziehende, Behinderte oder Personen, die einer kostenaufwendigeren Ernährung bedürfen, können sich entweder für den Mehrbedarfszuschlag entscheiden - in diesem Fall haben sie keinen Anspruch auf den Kinderzuschlag -, oder sie können sich für den Kinderzuschlag entscheiden, um nicht auf Sozialtransfers angewiesen zu sein. Ich glaube, es ist vernünftig, diese Entscheidung den Eltern zu überlassen. Wir begrüßen sehr, dass es uns gelungen ist, hierfür auch im Nachhinein noch Mittel „lockermachen“ zu können, wie wir im Ruhrgebiet sagen. ({2}) Es liegen einige Anträge der Oppositionsfraktionen auf dem Tisch, die uns deutlich machen sollen, wo die Knackpunkte sind und was alles noch verbessert bzw. wesentlich verändert werden müsste, damit noch mehr Kinder und Familien einen Anspruch auf den Kinderzuschlag haben. Ich weise an dieser Stelle allerdings darauf hin: Die Änderungen, die wir jetzt vornehmen, werden dazu führen, dass sich die Zahl der Kinder und Familien, die einen Anspruch auf den Kinderzuschlag haben, mehr als verdoppelt; statt knapp 100 000 werden es bald 250 000 Kinder und Eltern sein. Es ist richtig und wichtig, dieses Signal zu setzen. Natürlich wird Herr Wunderlich gleich wieder sagen, dass einmal davon die Rede war, 500 000 Kinder und Familien würden einen Anspruch auf Kindergeld haben; ({3}) das haben wir auch gesagt. Dieser Kritikpunkt wird wahrscheinlich nicht nur von Herrn Wunderlich, sondern von allen Oppositionsfraktionen angesprochen. ({4}) - Nein? Frau Lenke sagt gleich also etwas anderes. ({5}) Da bin ich aber gespannt. Ich kann mich nämlich daran erinnern, dass auch Sie, Frau Lenke, im Ausschuss kritisch angemerkt haben, dass wir eigentlich noch mehr tun könnten. ({6}) - Ja. Deswegen sollten Sie jetzt einmal zuhören, wie ich das begründe. Dann wissen Sie, warum ich das kritisch angemerkt habe. - Das ist natürlich richtig. Man kann immer noch mehr tun, wenn man den Finanzrahmen erhöht. Für uns bedeuten Nachhaltigkeit und gute politische Entscheidungen aber auch, den Haushalt im Blick zu behalten. ({7}) Für die Zukunft unserer Kinder ist es sehr wichtig, dass unsere politischen Entscheidungen nachhaltig und zukunftsfest sind und dass wir den Haushalt so gestalten, dass wir den Familien, die darauf angewiesen sind, auch in Zukunft noch einen Kinderzuschlag zahlen können. Das können wir aber nur dann tun, wenn wir den Haushalt konsolidieren und uns an unsere Vorgaben halten. Wir dürfen uns nicht auf blauen Dunst hin immer weiter verschulden. Das ist nicht nachhaltig und nicht im Sinne der Zukunft der Kinder und Familien. Meine Damen und Herren, ich glaube nicht, dass wir mit diesen Veränderungen einen Riesenwurf gelandet haben; da bin ich ganz ehrlich. Sie sind aber ein erster richtiger und wichtiger Schritt. Wie Sie wissen, haben auch wir in der Anhörung und bei der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfs im Bundestag deutlich gemacht, dass wir eigentlich ein großes Wahlrecht, also eine Wahlfreiheit für alle Eltern, einführen wollten; das ist aber nicht zu finanzieren. Wir haben außerdem darüber nachgedacht, die Einkommensgrenzen anders zu gestalten; aber auch das ist eine Kostenfrage. Deshalb fordere ich die Kolleginnen und Kollegen, die nach mir ans Rednerpult treten, auf - das richtet sich auch an die Grünen, Frau Haßelmann -, deutlich zu machen, woher das Geld für die Dinge, die sie fordern, kommen soll. Sie haben uns auf Ihrer Seite, wenn Sie deutlich machen, woher das Geld dafür kommen soll. An die Linken gerichtet sage ich: Ihre Forderungen, Leistungen zu erhöhen und auszuweiten, nehme ich sehr wohl wahr, Herr Wunderlich. Ich habe aber selten - um nicht zu sagen: gar nicht - erlebt, dass Sie gesagt haben, woher das Geld dafür kommen soll. Doch das wäre wichtig. Meine Damen und Herren, mit der ersten Weiterentwicklung des Kinderzuschlags sind wir auf einem guten Weg. Wir haben es möglich gemacht, dass doppelt so viele Menschen Leistungen beziehen können. Ich sage ganz ehrlich: Mir wäre es am liebsten, der Arbeitsmarkt würde sich so weiterentwickeln, dass wir über den Kinderzuschlag gar nicht reden müssten, weil die Eltern genug verdienen, um sich und ihre Kinder zu ernähren. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Ina Lenke spricht jetzt für die FDPFraktion. ({0})

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Schon bei der Einführung des Kinderzuschlages durch SPD und Grüne bestand ein eklatantes Missverhältnis zwischen der Zahl der Anträge, die gestellt worden sind, und der Zahl der Anträge, die tatsächlich bewilligt wurden. 88 Prozent der Anträge ist nicht zugestimmt worden; sie wurden nach einem aufwendigen Berechnungsverfahren abgelehnt. Das fördert die Verdrossenheit der Bürgerinnen und Bürger. So etwas sollte ein Parlament nicht machen. Die vorgesehene Gesetzesänderung wird den Zustand nicht heilen. Der politische Wille ist zwar da - von Ihnen wie von uns -; aber dies blieb ohne durchschlagenden Erfolg. Anfang Juni hat eine Expertenanhörung stattgefunden. Diese Expertenanhörung hat viele Schwachpunkte der Gesetzgebung in diesem Bereich aufgezeigt. Die überwiegende Mehrheit der Experten und Expertinnen war sehr kritisch, und das zu Recht. Ich zitiere aus dem Protokoll - die Expertenanhörung hat ja öffentlich stattgefunden -, was Frau Becker gesagt hat: Die … Evaluation des derzeitigen Kinderzuschlages ergibt … sechs kritische Punkte. … Der vorliegende Gesetzentwurf … greift nur zwei dieser Punkte auf … Der Vertreter der Prognos AG hat erklärt: Die bestehende Regelung erfüllt diese Ziele zum Teil, gleichwohl besteht erheblicher Verbesserungsbedarf … Der Vertreter des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge hat ausgeführt: Betrachtet man den Kinderzuschlag aus der Perspektive, ob die Hilfebedürftigkeit von Kindern im SGB II im größtmöglichen Umfang vermieden wurde, so ist festzustellen, dass dies nicht der Fall ist. ({0}) Die Vertreterin des Verbands Alleinerziehender Mütter und Väter - wir alle schätzen diesen Verband - hat gesagt: Der Verband … hat die Einführung des Kinderzuschlags abgelehnt und akzeptiert ihn seither lediglich als Interimsmaßnahme. Ich könnte noch weit mehr Experten und Expertinnen zitieren; leider fehlt mir dazu die Zeit. Dass die Experten das Gesetz nicht rundheraus abgelehnt haben, liegt, liebe Frau Fischbach, einfach daran, ({1}) dass eine Sozialleistung ausgeweitet wird und es Geld vom Staat gibt. ({2}) Meine Damen und Herren, die FDP-Bundestagsfraktion wird der Erweiterung dieses gut gemeinten, aber schlecht gemachten Gesetzes nicht zustimmen. Ohne eine grundsätzliche Neustrukturierung der Sozial- und Steuerpolitik werden wir das große Problem der Armut von Kindern und Familien nicht lösen. Der Kollege von der SPD hat im Ausschuss richtigerweise gesagt: Es ist ein Baustein. - Dem stimme ich zu; aber der Baustein ist zu minimal. Bei dieser Gelegenheit will ich der Bundesregierung in Erinnerung rufen, dass sie - dazu gehören natürlich CDU/CSU und SPD - mit der Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent den Familien geschadet hat, insbesondere denjenigen Familien, die ihr gesamtes monatliches Einkommen für das tägliche Leben ausgeben müssen. ({3}) - Der Mehrwertsteuersatz auf Lebensmittel beträgt 7 Prozent; aber Kinder brauchen auch Schuhe, einen Schulranzen usw., und der Mehrwertsteuersatz darauf beträgt 19 Prozent. Wir wissen das beide, Frau Fischbach. ({4}) In der Süddeutschen Zeitung las ich eine interessante Aussage von der SPD: Familien sollen mehr Geld bekommen … Wäre es nicht besser, liebe Kollegen von der SPD, den Familien von ihrem Verdienst mehr in der Tasche zu lassen? ({5}) Die FDP-Bundestagsfraktion hat Ihnen, dem Parlament, heute einen Antrag vorgelegt, mit dem die Bundesregierung aufgefordert wird, zuerst - das ist mir und auch der FDP wirklich wichtig - eine Analyse der 153 ehe- und familienbezogenen Leistungen vorzulegen. Dabei geht es nämlich um 189 Milliarden Euro jährlich. Herr Kues, bisher ist viel Papier vorgelegt worden - meterweise -, jedoch keine Wirkungsanalyse. Diese brauchen wir aber. Welche Leistungen bauen aufeinander auf? Welche Leistungen sind historisch gewachsen? Wie sollen wir Leistungen reformieren? Wenn wir die Wechselwirkungen dieser 153 Leistungen kennen, dann können das Parlament und die Regierung auf dieser Grundlage Familien helfen, die staatlicher Hilfe bedürfen. Das Familienministerium drückt sich um diese Analyse. Ich habe im Ausschuss eine negative Antwort bekommen. ({6}) Deshalb will ich hier noch einmal sehr deutlich sagen, dass die Gesamtanalyse fehlt. Ich komme jetzt zum Schluss. Die FDP will die Modernisierung des gesamten Sozialsystems durch die Einführung eines liberalen Bürgergeldes. Wir wollen möglichst alle steuerfinanzierten sozialen Hilfen des Staates auf die Bedürftigkeit von Bürgern und Bürgerinnen - natürlich auch den kleinen - ausrichten. Wir wollen das pauschaliert durch einen Universaltransfer erreichen. Das soll in einem Bürgergeld zusammengeführt werden. Durch den Armuts- und Reichtumsbericht wurde es an den Tag gebracht: Die Armut steigt. Sowohl die finanzielle als auch die Bildungsarmut greifen weiter um sich. Jeder sechste Mensch verlässt die Schule ohne Abschluss. Frau Fischbach, Sie sagten, dass die Zahl der Familien, die Anspruch auf den Kinderzuschlag haben, verdoppelt wird, und zwar auf 250 000, und dass das die Familien aus der Armut bringt. ({7}) 2,4 Millionen Kinder leben an der Armutsgrenze oder sind arm. Deshalb sage ich Ihnen: Der Kinderzuschlag ist auch als Baustein keine Lösung. Lassen Sie uns doch gemeinsam nicht Bausteine, sondern ein Gesamtkonzept entwickeln! Dann sind wir bei Ihnen. Wir werden jedenfalls eines vorlegen. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht Wolfgang Spanier für die SPD-Fraktion. ({0})

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn die FDP, wie das Frau Lenke hier gerade getan hat, von einer Neuorientierung in der Sozialpolitik spricht und dabei der Begriff „Steuersenkung“ auftaucht, dann kann ich nur hoffen, dass sie wenigstens auf Bundesebene auch weiterhin politisch keinen Einfluss auf die Sozialpolitik nehmen kann. Es wird einem angst und bange, weil man ahnt, was dahintersteckt. ({0}) Ich war vier Jahre lang in der Opposition und weiß, wie man reagiert, wenn man ein Gesetz eigentlich ganz vernünftig findet, was man aber, weil man nun einmal in der Opposition ist, so nicht aussprechen kann. ({1}) Man sagt immer: Es ist viel zu wenig und müsste mehr sein. ({2}) - Ich spreche doch nicht immer nur von Ihnen, Frau Lenke. Ich habe rundum geschaut. ({3}) Ferner sagt man: Die Wirksamkeit dieses Gesetzes ist ja nur beschränkt. Mit diesem Gesetz werden Sie die Armut in unserem Land nicht beseitigen. Niemand erwartet, dass das mit diesem Gesetz geschieht. Niemand erhebt diesen Anspruch. Es gibt hier ein ganz konkretes Ziel: Wir wollen den Eltern helfen, die arbeiten, ein Erwerbseinkommen haben und zwar sich selbst, aber nicht ihre Kinder anständig mit diesem Erwerbseinkommen unterhalten können. Sie bekommen neben dem Kindergeld und dem Wohngeld sozusagen ein zweites Kindergeld, mit dem wir sie aus der Bedürftigkeit herausholen wollen. ({4}) Ich habe in einem Zeitungsartikel gelesen, dass es dabei um die Beschönigung der Armutsstatistik gehe. Wer so etwas unterstellt, der müsste ja verlangen, dass wir überhaupt nichts gegen Armut und zur Armutsprävention tun, weil dadurch natürlich möglicherweise die Statistik verändert würde. Das kann kein Argument sein. Dieses Instrument wirkt auch - vor allen Dingen für die Eltern, die mehr als drei Kinder haben. Bei 44 Prozent der bewilligten Anträge geht es um solche Familien. Das ist ein weitaus größerer Anteil - etwa dreimal so hoch -, als es der Zahl dieser Familien in der Realität entspricht. Die Kehrseite ist, dass es bei Alleinerziehenden wenig wirkt. Es ist richtig, dass lediglich 7 Prozent der bewilligten Anträge von Alleinerziehenden stammen. Deswegen haben wir an dieser Stelle noch einmal angesetzt und die 7 Prozent auf immerhin 14 Prozent erhöht. Man muss aber dazusagen, dass nicht jedes der verschiedenen Instrumente zur Prävention von Armut und zur Armutsbekämpfung alle Zielgruppen gleichzeitig erreichen kann. Wir müssen - darauf wurde heute noch nicht eingegangen - den Zusammenhang zwischen dem Kinderzuschlag und seiner Verbesserung und dem Wohngeld sehen. Der Bedarf an Wohngeld steigt automatisch, wenn man nicht mehr die Unterkunftskosten nach SGB II erstattet bekommt. Wir sind noch weitergegangen. Wir haben nicht nur den Mehrbedarf an Wohngeld berücksichtigt, der durch diese Veränderungen entsteht, sondern auch das Wohngeld deutlich erhöht. Im Durchschnitt waren es bisher 90 Euro pro Monat; künftig werden es 140 Euro pro Monat sein. ({5}) Davon profitieren zwar nicht nur Familien, sondern auch 300 000 Rentnerinnen und Rentner. Es ist aber ein weiterer Baustein, um Armutsprävention und Armutsbekämpfung in unserem Land durchzusetzen. Beides zusammen entspricht einem Aufwand von immerhin rund 500 Millionen Euro, die wir ausgeben, um deutliche Verbesserungen zu erzielen. Ich wiederhole: Was wir heute beschließen, ist nur ein Baustein, aber es ist ein wichtiger Baustein. Es geht nicht nur um materielle Armut, sondern auch - das ist besonders wichtig - um die Chance auf Teilhabe an Bildung. Dafür haben wir mit dem demnächst im Bundestag zu verabschiedenden Kinderförderungsgesetz bereits einen weiteren Baustein im finanziellen Bereich vorgesehen, nämlich den deutlichen Ausbau der Krippenplätze für die unter Dreijährigen. ({6}) Damit verfolgen wir zwei Ziele: die deutliche Verbesserung der Förderung aller Kinder und gleichzeitig die Erleichterung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Beides sind Instrumente zur Prävention und Bekämpfung von Armut. Von diesen neuen Möglichkeiten werden sicherlich besonders viele Alleinerziehende profitieren können. Zumindest ist das in meiner Heimatregion der Fall. Ein weiterer Punkt: Wir dürfen die Armutsbekämpfung nicht auf Familienpolitik und auch nicht auf Bildungspolitik reduzieren. Die Arbeitsmarktpolitik gehört ebenfalls dazu. In diesem Bereich haben wir gemeinsam Förderprogramme auf den Weg gebracht, die ebenfalls dazu beitragen werden, Menschen aus der Bedürftigkeit herauszuholen, weil Arbeit mit einem auskömmlichen Erwerbseinkommen der beste Schutz vor Armut ist und bleibt. ({7}) Eine Frage ist noch offen - Frau Fischbach, wir haben in diesem Gesetzgebungsverfahren sehr vertrauensvoll und gut zusammengearbeitet; das wünsche ich mir auch von den Arbeits- und Sozialpolitikern -, nämlich dass wir endlich den Mindestlohn im Rahmen des Entsendegesetzes in den kommenden Wochen wie verabredet unter Dach und Fach bringen. ({8}) Denn nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern auch die rasante Ausweitung im Niedriglohnsektor fördert Armut in unserem Land. Mindestlöhne sind ein Instrument, um etwas dagegen zu tun. Ich gebe den Freien Demokraten recht: Wir brauchen ein Gesamtkonzept. ({9}) Das ist richtig. Wir Sozialdemokraten haben zehn Maßnahmen vorgelegt. Dabei ist Folgendes wichtig: Erstens gibt es keinen Königsweg oder etwas wie einen Schalter, den man nur umlegen muss, und schon gibt es keine Armut mehr in unserem Land. ({10}) Zweitens ist es wichtig, dass wir auf allen drei staatlichen Ebenen - in den Kommunen, im Land und im Bund zusammenarbeiten. Mir geht es nicht darum, Zuständigkeiten zuzuweisen und damit Verantwortung - vor allem finanzielle Verantwortung - auf andere abzuschieben. Es ist nun einmal so: Bildung ist zwar ein ganz entscheidender Schlüssel, um gerechte Chancen für alle Kinder zu schaffen, aber sie liegt in erster Linie in der Zuständigkeit der Länder. Wir können das also nur gemeinsam erreichen. Vor Ort entscheidet sich, wie den Kindern beispielsweise im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe über das Materielle hinaus geholfen werden kann. Der Bund ist in erster Linie für die materiellen Leistungen zuständig. Beim Wohngeld und beim Kinderzuschlag haben wir einen deutlichen Schritt nach vorn getan. Das reicht aber nicht aus. Im kommenden Herbst wird der nächste Existenzminimumbericht vorliegen. Dann werden wir über das Kindergeld - auch ein wichtiges Instrument zur Armutsprävention -, Steuerfreibeträge und das Sozialgeld, also den Regelsatz für Kinder, sprechen müssen. Wir Sozialdemokraten wünschen uns, dass wir in der Großen Koalition im Herbst die Kraft aufbringen, den Bausteinen, die wir bereits beschlossen haben, diese weiteren wichtigen Bausteine hinzuzufügen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jörn Wunderlich hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wollen materielle Kinderarmut reduzieren und hierzu den Kinderzuschlag mit Wirkung ab dem Jahr 2006 weiterentwickeln. Dieser Satz ist zweieinhalb Jahre alt und entstammt Ihrer Koalitionsvereinbarung. Dass Sie Ihre selbst gesteckten Ziele derart verfehlen, kann Ihnen nicht entgangen sein; denn wir haben Sie oft genug daran erinnert. Ich gebe zu: Ich hatte die Hoffnung, dass diese nicht geringe Fristüberschreitung von Ihnen dazu genutzt wird, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Versprechen einhält, die Sie in Ihrem Koalitionsvertrag geben. Der vorliegende Entwurf enttäuscht aber in den meisten Punkten. Die Aufgaben, die der Koalitionsvertrag dem Kinderzuschlag zurechnet, sind in zentralen Punkten nicht erfüllt, höchstens ansatzweise. Sie haben die zeitliche Begrenzung abgeschafft. Aufgrund der Änderungen werden Sie einige Familien mehr als bisher erreichen, wird die Abschmelzrate auf 50 Prozent reduziert und die Mindesteinkommensgrenze - das wurde bereits angesprochen - gesenkt. In der öffentlichen Anhörung wurde dem Gesetzentwurf aber das Zeugnis ausgestellt, das er verdient hat. Alle neun Sachverständigen haben in ihren Statements klargestellt, dass der Kinderzuschlag auch in der jetzt vorgelegten Form kein effektives Mittel gegen Kinderarmut ist. Viele der dort genannten Kritikpunkte teilen wir als Fraktion Die Linke. Ich will mich auf die für uns wichtigsten beschränken. Zentral ist für uns die Höhe des Kinderzuschlags. Den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung ist seit langem bekannt, dass die Höhe von 140 Euro viel zu gering ist. Dennoch halten sie an dieser Höhe fest, wohl wissend, dass sie den realen Problemen der Familie nicht gerecht wird. Eine Gruppe trifft die Regelung - das wurde bereits angesprochen - besonders hart: die Alleinerziehenden. Sie waren schon nach dem alten Modell des Kinderzuschlags die Verlierer. Dass die Gruppe der Alleinerziehenden größer wird und gleichzeitig das höchste Armutsrisiko hat, kann man in den Untersuchungen von Prognos nachlesen. Auch die letzten Änderungen in dieser Woche entpuppen sich schnell als Mogelpackung. Wer Alleinerziehende ernsthaft vor die Wahl zwischen Kinderzuschlag und Mehrbedarf stellt, hat die Notwendigkeit des Mehrbedarfs nicht begriffen. ({0}) - Frau Fischbach, manchmal sollte man den eigenen Kopf anstrengen. - Die festgestellten Mindesteinkommensgrenzen machen deutlich, dass Sie aus der Ablehnungsquote von 87 Prozent beim bisherigen Kinderzuschlag nichts gelernt haben. Wenn Sie die ALG-IIBedürftigkeit überwinden wollen, müssen Sie an diesen Stellschrauben arbeiten. Der Kinderzuschlag wurde unter Rot-Grün eingeführt - ich zitiere -, „dass ein wesentlicher Teil der Familien nicht wegen ihrer Kinder auf Sozialhilfe oder zukünftig auf das Arbeitslosengeld II angewiesen sein soll“. Bekanntermaßen sind die - zuerst 150 000 - Kinder nicht erreicht worden. Wie gesagt, wurden 87 Prozent der Anträge abgelehnt. Aber Sie wollen das alles als Erfolg verkaufen. In der Sendung Hart, aber fair am 28. Mai 2008 spricht die CSU-Generalsekretärin ernsthaft von den - angeblichen - Verdiensten der Großen Koalition und sagt: Wir haben den Kinderzuschlag erhöht. ({1}) Diese Aussage ist nachweislich falsch, um nicht zu sagen: gelogen. Der Kinderzuschlag wird doch auch nach der Reform bei 140 Euro liegen, Herr Singhammer. Den Kinderzuschlag von 140 Euro auf 140 Euro zu erhöhen, das ist Ihre Erhöhung. Das ist genauso, als wenn Sie sagen würden: Wir erhöhen die Renten, weil die Zahl der Rentner steigt. ({2}) Die Regierung kann sich nicht damit herausreden, dass mehr Kinder in den Genuss des Zuschlages kommen werden. Wie gesagt: Nur weil die Zahl der Rentner steigt, wird doch die Rente nicht erhöht. ({3}) - Dazu komme ich noch. Dass sich die Bundeskanzlerin, das Familienministerium und das Ministerium für Arbeit und Soziales ständig in den Angaben widersprechen „Erhöhen“, „Nicht erhöhen“, „Doch erhöhen“, „Von Erhöhung war nie die Rede“, habe ich schon gesagt und möchte ich hier nicht im Detail wiederholen. Das formulierte Vorhaben, den Kreis der Berechtigten auszuweiten, um mehr Kinder zu erreichen, wurde mit der Zahl von etwa 500 000 zu erreichenden Kindern umschrieben und dann auf 250 000 herunterkorrigiert. Dass unsere Bundesfamilienministerin - leider ist sie nicht da ({4}) das damit begründet, dass mehr Familien vom wirtschaftlichen Aufschwung profitieren und deshalb das Geld nicht brauchen, war für viele Familien wie eine Ohrfeige. Der wirtschaftliche Aufschwung, von dem unsere Ministerin redet, endet für etliche Familien in Armut, weil er mit Minijobs und unwürdiger Arbeit einhergeht. Die Folgen sind allen bekannt. 2,6 Millionen Kinder leben in dieser reichen Bundesrepublik in Armut. Wir leisten uns einen Kinderzuschlag mit enormem Verwaltungsaufwand, der völlig am Ziel vorbeigeht. Ich denke, bei Frau von der Leyen ist die Inkubationszeit für Realitätsverluste überschritten. ({5}) Wir wollen materielle Kinderarmut reduzieren - das war Ihre Zielsetzung im Koalitionsvertrag. ({6}) Dieses Ziel wird mit unserem Antrag eher erreicht; denn allen hier im Haus - das klang durch - ist klar, dass der Kinderzuschlag allein nicht die Lösung sein kann. Er ist ein Baustein, der aber viel zu klein ist.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fischbach zulassen?

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein, ich möchte zum Ende kommen. Ich bin gleich fertig, Frau Fischbach. ({0}) Deshalb fordern wir: Der Kinderzuschlag wird deutlich erhöht, die Mindesteinkommensgrenze und die Höchsteinkommensgrenze entfallen, die Kinderzuschlagsberechtigung endet im Zuge der Einkommensanrechnung durch Abschmelzung. ({1}) - Herr Singhammer, wenn Sie immer dazwischenquatschen und nicht zuhören, dann können Sie es nicht begreifen. ({2}) Der Mehrbedarfszuschlag für Alleinerziehende wird im Anrechnungsverfahren nicht berücksichtigt, aber im Falle der Kinderzuschlagsberechtigung als Erhöhungsbetrag zum Kinderzuschlag gewährt. Darüber hinaus wird ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt. Man kann nämlich die Armut der Kinder nicht von der Armut der Eltern abkoppeln. Hören Sie doch einmal auf die Sozialverbände. Stimmen Sie unserem Antrag zu und gehen Sie die Kinderarmut nicht nur halbherzig, sondern wirklich an. Dem Argument der Haushaltskonsolidierung kann ich nur entgegnen: Bauen Sie drei Kriegsschiffe weniger und investieren Sie das Geld in Familien. Dann sind sie besser bedient. Familien brauchen, bezogen auf die Zukunftsperspektiven, Frau Fischbach, keinen Kinderzuschlag, wenn die Eltern ordentlich verdienen und davon sich und ihre Kinder ernähren können. Das ist zukunftsweisend. ({3}) Frau Fischbach, es mutet schon komisch an, wenn es immer heißt, die Anträge der Linken seien nicht bezahlbar und würden deshalb abgelehnt, aber wenige Monate später kommen praktisch wortgleiche Anträge von der Koalition und sind dann plötzlich bezahlbar. ({4}) Das ist schon merkwürdig. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Fischbach das Wort.

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da Herr Wunderlich so feige war, keine Zwischenfrage zuzulassen, nutze ich die Form der Kurzintervention. Herr Wunderlich, ich habe meinen Kopf angestrengt, Sie Ihren sicherlich auch. Aber was ich bei aller Anstrengung nicht erfahren habe, war, wie Sie denn nun, auch wenn Sie dreimal angekündigt haben, dass das nun kommt - ich habe sehr genau zugehört -, all das, was Sie gerade vorgeschlagen haben, finanzieren wollen, nämlich die Ausweitung des Berechtigtenkreises und die Erhöhung des Betrages des Kinderzuschlages. Ich glaube, nicht nur wir Kolleginnen und Kollegen wären sehr daran interessiert, das zu hören, sondern sicherlich auch die Zuschauer auf den Tribünen. Vielleicht können Sie die eine Möglichkeit, die Sie im Kopf haben, wie Sie das alles bezahlen wollen, darlegen. ({0}) Im Übrigen würde ich mich freuen, wenn wir zukünftig in einem vernünftigen Ton miteinander und auch über Personen reden, die nicht anwesend sind. Ich fand das sehr daneben, wie Sie sich gerade geäußert haben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Wunderlich hat das Wort zur Antwort.

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Kollegin Fischbach, Sie haben offensichtlich eben nicht zugehört, als ich mich dazu geäußert habe. Ich will nur ein Beispiel anführen: ({0}) Wenn der politische Wille da ist, ist auch das Geld da. ({1}) - Einen Moment. Durch Umschichtungen im Haushalt ist vieles möglich. ({2}) - Frau Fischbach, wenn Sie nicht zuhören, dann ist das Ihr höchstpersönliches Problem. Ich habe gerade am Pult gesagt: Bauen Sie drei Kriegsschiffe in Form von Fregatten weniger und geben Sie das Geld den Familien. Damit ist vielen Familien geholfen. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die nächste Rednerin ist Britta Haßelmann für Bündnis 90/Die Grünen.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf der Zuschauertribüne! Wir reden heute über das Thema Kinderzuschlag im Bundeskindergeldgesetz, also über ein Instrument innerhalb einer ganzen Palette von Instrumenten. Bei den Rednerinnen und Rednern der Großen Koalition ist schon deutlich geworden, dass wir auch über Kinderarmut insgesamt reden. Das sollten wir auch tun. Meine Damen und Herren, ich verstehe nicht, warum Sie sich in Reden auf Parteitagen in Programmen überschlagen: 10-Punkte-Plan der SPD, Kindergelderhöhung, Kinderfreibetragserhöhung der CDU/CSU. ({0}) So schaukeln Sie sich Woche um Woche hoch. Das alles kostet viel Geld. Getan wird jedoch seit 2005 in dieser Hinsicht nichts, aber auch gar nichts. Ich finde, das muss die Öffentlichkeit einmal wissen. Sie beklagen in Sonntagsreden und Interviews, wie dramatisch die Kinderarmut gestiegen ist. Das ist sie in der Tat. Wir haben ja vor kurzem den Armuts- und Reichtumsbericht vorgelegt bekommen. Von Ihnen kommen Modelle und Vorschläge, aber es wird so getan, als würden Sie nicht regieren. Das kann man an dieser Stelle nicht durchgehen lassen. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin Haßelmann, möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Spanier zulassen?

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte.

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Haßelmann, da wir uns einig sind, dass es bei Armutsprävention und Bekämpfung von Armut nicht nur um materielle Leistungen geht, sondern dass wir das umfassend angehen müssen und dass dabei chancengerechte Bildung ein ganz entscheidender Schlüssel ist, ({0}) frage ich Sie: Würden Sie sich gemeinsam mit mir daran erinnern, dass die rot-grüne Koalition ein Ganztagsschulprogramm aufgelegt hat, sodass in Deutschland 6 500 Grundschulen den offenen Ganztagsunterricht mit zusätzlichen Förderchancen gerade für sozial Benachteiligte haben? Würden Sie sich ferner gemeinsam mit mir daran erinnern, dass wir die Leistungen nach dem TAG ausgeweitet haben, dass wir ab 2013 sogar einen Rechtsanspruch haben werden, dass wir den Kommunen finanziell unter die Arme greifen und dass der Ausbau der frühen Förderung ebenfalls ein ganz wichtiges Instrument zur Armutsbekämpfung ist? Würden Sie mir zuletzt darin zustimmen, dass die deutliche Verbesserung des Wohngeldes, die Sie ja in der damaligen Anhörung auch gefordert haben, und der Kinderzuschlag sehr wohl Maßnahmen sind, mit denen wirksam Armut bekämpft werden kann?

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Spanier, ich kann mir viele Maßnahmen vorstellen, mit denen Armut bekämpft werden kann. Dazu gehört sicherlich auch Ihre zuletzt angesprochene Wohngelderhöhung, die aus meiner und Ihrer persönlichen Sicht überfällig war. Wir haben beide auf unsere Art seit Jahren dafür geworben, dass es zu einer Wohngelderhöhung kommt. Mich müssen Sie nicht überzeugen, wie wichtig beim Thema Kinderarmut Zugangsgerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit, gleiche Chancen auf Bildung für Kinder und Jugendliche sowie Frühförderung sind und wie groß die Ungerechtigkeit für Kinder ist. Ich habe versucht, Sie davon zu überzeugen - nicht nur ich, sondern meine Fraktion -, genau aus den Gründen, die Sie genannt haben, was die Programme zur Ganztagsbetreuung in der letzten Legislaturperiode angeht, die Bildungspolitik im Rahmen der Föderalismusreform eben nicht an die Länder zu geben, sodass wir heute keine Chance mehr haben, einzugreifen und vom Bund aus steuernd Dinge anzustoßen im Sinne von Teilhabegerechtigkeit und Investitionen in frühe Förderung, in Bildung und Infrastruktur. Da hatten wir vor anderthalb Jahren eine harte Auseinandersetzung. Ich bedauere sehr, dass Sie den Argumenten nicht gefolgt sind, nicht nur denen aus unserer Fraktion nicht, sondern auch denen von vielen externen Bildungsexperten sowie Experten der Kinder- und Jugendhilfe nicht, die gesagt haben: Lasst die Bildungspolitik beim Bund; wir brauchen die Steuerungselemente. ({0}) - Sie wissen ganz genau, was ich meine, Frau Humme. ({1}) Wir könnten heute kein einziges Programm mehr auflegen, das wir unter Rot-Grün aufgelegt haben, weil der Bund keine direkte Beziehung mehr zu den Kommunen aufnehmen kann. Das haben Sie mitverbockt. Sie wussten, welche verheerenden Folgen das hat. ({2}) - Ich sehe, wie Sie sich aufregen. Sie haben nachher noch Redezeit, gehen Sie doch darauf ein, und erklären Sie uns, warum es gut ist, dass die Länder das jetzt alleine machen und wir in puncto Teilhabe und Infrastruktur fast nichts mehr machen können. Meine Damen und Herren, ich appelliere an Sie. Auf der Tribüne sitzen viele Leute, die sich fragen, was Sie gegen Kinderarmut tun. Auch sie stellen fest, dass Sie in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung oder in anderen Zeitungen sagen, Kinderarmut sei etwas ganz Schreckliches und da müsse etwas passieren, auf der anderen Seite aber nichts geschieht. Dann stellt sich Frau Fischbach hier hin und sagt, es tue ihr leid, dafür sei leider kein Geld vorhanden, man müsse die Haushaltslage in Rechnung stellen. ({3}) Natürlich hat ein nachhaltiger Haushalt etwas mit Kindern und Generationengerechtigkeit zu tun. Sie haben gerade einmal vor zwei Monaten, ohne mit der Wimper zu zucken, 2 Milliarden Euro für eine Aufstockung auf eine 1,1-prozentige Rentenerhöhung ausgegeben, was Sie bis zum Jahr 2011 10 Milliarden Euro kostet. Wie wollen Sie das eigentlich erklären? Wie wollen Sie diese Prioritätensetzung erklären? Sie stellen sich hier hin und sagen, für den Kinderzuschlag habe es nicht gereicht, sie könnten leider nicht mehr Familien einbeziehen und auch den Kinderzuschlag nicht erhöhen, obwohl die Ministerin beides angekündigt hat. In der Rede der Ministerin hieß es, dass 500 000 Kinder in den neuen Kinderzuschlag einbezogen werden und dass der Kinderzuschlag erhöht wird. Von beidem ist nicht mehr die Rede. Es bleibt ungefähr der gleiche Berechtigtenkreis. Sie haben bestimmte Dinge verändert, die wir gemeinsam in der Anhörung besprochen haben. Ich hätte mir andere Sachen gewünscht, auf die ich gleich noch eingehen werde.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Vielleicht nach den Zwischenfragen?

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. - Aber Sie können sich doch nicht hinstellen und sagen, Sie hätten leider nicht mehr Geld und gern ein bisschen mehr gewollt, aber gleichzeitig geben Sie an anderer Stelle, ohne über Argumente nachzudenken, in einem ganz kurzen Verfahren viel mehr Geld aus, nur im Bereich der Kinder nicht. ({0}) Das finde ich nicht in Ordnung, und das müssen Sie den Leuten draußen erklären. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt gibt es zwei Wünsche nach Zwischenfragen.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie haben doch alle noch Redezeit. Ich will nicht unhöflich sein. Stellen Sie mir ruhig Fragen, aber Sie sind doch alle auf der Rednerliste.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das vergrößert Ihre Argumentationsmöglichkeit. Bitte schön, Herr Kollege Singhammer.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, Sie haben auf die Kinderarmut hingewiesen. Stimmen Sie mir zu, dass eine der entscheidenden Ursachen der Armut der Kinder die Elternarmut ist? Können Sie meiner Argumentation folgen, dass 1 600 000 neue Arbeitsplätze in den vergangenen zwei Jahren, davon der größte Teil sozialversicherungspflichtig, ein entscheidendes Instrument zur Verringerung der Elternarmut und damit auch zur Verringerung der Kinderarmut sind? ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Singhammer, Sie wissen genauso gut wie ich, dass Erwerbstätigkeit von Frauen und Männern, die Kinder haben, ein ganz entscheidendes Instrument dafür ist, damit Kinder nicht in Armut leben. Was die Frauenerwerbstätigkeit angeht, muss ich Sie noch überzeugen; denn Sie sind derjenige, der meint, es solle ein Betreuungsgeld gezahlt werden, damit die Frauen zu Hause bleiben und die Welt so bleibt, wie sie vor 25 Jahren war. Ich sage Ihnen - Sie müssen die Grünen nicht überzeugen -: Wir waren diejenigen, die gemeinsam mit der SPD an dem Instrument Kinderzuschlag gearbeitet und dieses vorgeschlagen haben, weil wir wollten, dass Menschen, die keine Mittel nach SGB II beziehen und die keine ausreichenden Einnahmen aus Erwerbstätigkeit haben, in den Genuss eines Kinderzuschlages kommen können. Wir haben damals auch um Ihre Zustimmung geworben. Die haben wir allerdings nicht erhalten. Heute sind Sie dafür; das finde ich in Ordnung. Die Erwerbstätigkeit von Frauen und Männern ist ganz wichtig, wenn es darum geht, Armut wirksam zu bekämpfen. Das ist aber nicht die einzige Frage, die wir zu beantworten haben. Deshalb habe ich vorhin gesagt, dass Sie sich vor einer Antwort auf die Frage drücken, wie wir mit 2,6 Millionen Kindern, die in Armut leben, umgehen. Das darf nicht erst 2009 geschehen, wenn wieder Wahlkampf ist, sondern das muss heute, hier und jetzt, geschehen. Das betrifft die Regelsatzerhöhung, die Infrastruktur und den Kinderzuschlag. Ich könnte Ihnen noch fünf weitere Maßnahmen nennen, von denen Sie seit zwei Jahren sagen, dass Sie sie prüfen, erörtern, Expertengespräche dazu durchführen und zu denen angeblich noch Anhörungen nötig sind. Letztlich passiert aber nichts. ({0}) Die letzte Anhörung fand zu den Kinderregelsätzen, insbesondere zu der Tatsache statt, dass der Eckregelsatz von Kindern nicht mehr von dem eines Erwachsenen abgeleitet werden darf. Auch aus dieser Anhörung haben Sie noch keine Schlussfolgerungen gezogen, obwohl alle Gutachterinnen und Gutachter unisono sagen, dass diesbezüglich ganz dringend etwas getan werden muss. Ich glaube, ich bin nicht die Einzige, die das registriert und sich noch darüber aufregen kann, und zwar obwohl ich schon seit einigen Jahren Politik mache. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Da Herr Singhammer Platz genommen hat und seine Frage damit offensichtlich als beantwortet ansieht, frage ich Sie jetzt, ob Sie eine Zwischenfrage von Frau Fischbach zulassen.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Fischbach, bitte.

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe in meiner Einführung gesagt, dass der Kinderzuschlag unter Ihrer Regierungsverantwortung eingeführt wurde. Sie haben gerade kritisch angemerkt, seine Höhe sei zu niedrig und die Zahl der damit erreichten Familien zu gering. Welche Beweggründe haben Sie damals veranlasst, dieses Gesetz auf den Weg zu bringen, wohl wissend, dass sowohl die Höhe des Kinderzuschlags zu niedrig als auch die Zahl der damit erreichbaren Familien zu gering ist? ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Fischbach, es gibt zwei Gründe. Zum einen wollte Rot-Grün den Kinderzuschlag einführen, um Menschen zu erreichen, die knapp oberhalb des damaligen Sozialhilfeniveaus - des heutigen SGB - II-Niveaus leben. Zum anderen können Sie sich, glaube ich, noch sehr gut an die Rolle der CDU im Vermittlungsausschuss erinnern. Wie viele Dinge damals aufgrund von Interventionen CDU-regierter Länder im Bundesrat in der einen oder anderen Art im Vermittlungsausschuss entschieden worden sind, wissen Sie. Deshalb tragen auch Sie Ihren Teil der Verantwortung. Ich finde es gut, dass Sie mir diese Frage gestellt haben. Wenn man ein Instrument einführt, dann muss man es auch überprüfen. Ich finde es richtig, dass man überprüft, ob es möglicherweise zu kompliziert war und ob es genügend Leute erreicht. Wenn man nicht genug Leute erreicht, muss man das Instrument ändern. ({0}) Genau das ist das Argument, das ich anführe, um zu sagen, dass die von Ihnen vorgeschlagenen Änderungen jetzt aber nicht ausreichend sind. ({1}) Es ist bei der Anhörung festgestellt worden, dass verdeckte Armut im Hinblick auf die Unterschreitung von Mindesteinkommensgrenzen, Höchsteinkommensgrenzen, Beantragungsprobleme und das Fehlen eines Wahlrechts zwischen Arbeitslosengeld II und Kinderzuschlag ein großes Problem ist. Meine Fraktion ist doch die letzte, die sich damit herausredet, dass wir vor drei Jahren einmal etwas dazu beschlossen haben. Das ist doch völlig absurd. Es geht darum, dass ein neu eingeführtes Instrument überprüft werden muss. Das ist jetzt geschehen. Mein Vorwurf an Sie ist, dass Sie es zwar überprüfen, aber alles so - insbesondere so kompliziert lassen, wie es ist, und nichts gegen verdeckte Armut tun. ({2}) - Nein, Sie belassen es bei der alten Mindesteinkommensgrenze und bei der alten Höchsteinkommensgrenze und führen keine Wahlfreiheit ein. Das sind doch Dinge, die ganz klar als Probleme benannt wurden. ({3}) - Regen Sie sich doch nicht so auf. Ich versuche doch gerade, es zu erklären. ({4}) - Sie können sich ja noch einmal zu Wort melden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Äußerungen von Frau Fischbach haben die Qualität eines Zwischenrufs, und die Redezeit läuft weiter. Dass Menschen sich hier aufregen, gehört dazu. ({0})

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dann mache ich jetzt einfach weiter. - Frau Fischbach, der Kinderzuschlag ist von Rot-Grün eingeführt worden, weil wir ihn als Instrument zur gezielten Armutsbekämpfung in einem bestimmten Bereich betrachtet haben. Nach ein paar Jahren ist festgestellt worden, dass dieses Instrument zu kompliziert ist und nicht genügend Leute erreicht. Daran muss man etwas verändern, und man muss entsprechende Schlussfolgerungen ziehen, ({0}) die Sie mit dem Hinweis auf die Finanzlage nicht gezogen haben. Sie haben nicht gesagt, die von den Expertinnen und Experten gelieferten Argumente seien falsch. Sie haben vielmehr gesagt, dass Sie gerne ein bisschen mehr hätten, dies aber aufgrund der Haushaltslage nicht umsetzen könnten. Dann muss ich Sie aber fragen, was aus Ihrem entschiedenen Engagement gegen Kinderarmut geworden ist. Sie können an dieser Stelle doch nicht sagen: Tut mir leid. Wir würden gern 500 000 Kinder erreichen, so wie es die Ministerin wollte. Wir hätten gern den Kinderzuschlag erhöht. Aber jetzt haben wir festgestellt, dass wir nicht mehr in der Kasse haben. Also machen wir eine kleine bescheidene Reform. - Das war mein Vorwurf an Sie. Die Debatte heute zeigt: Der Kinderzuschlag ist das eine, aber wir brauchen dringender denn je eine Diskussion darüber, wie wir durch Infrastruktur und Teilhabegerechtigkeit auch in der Bildung, bei der frühen Förderung, von Anfang an, sowie durch eine materiell bessere Absicherung von Kindern einen wirklich nachhaltigen Beitrag zur Bekämpfung von Kinderarmut leisten können ({1}) und das nicht erst 2010, wenn die nächsten Wahlen gewesen sein werden. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt würde ich gern das Wort dem Kollegen Parlamentarischen Staatssekretär Hermann Kues geben.

Dr. Hermann Kues (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002709

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Haßelmann, Sie haben versucht, zur Familien- und Kinderpolitik einen ganz großen Bogen zu schlagen. ({0}) Sie haben dabei - wenn ich das einmal so sagen darf einiges durcheinandergebracht. ({1}) Ich kann jetzt nicht alles richtigstellen, sondern will nur ein Beispiel nennen. ({2}) Sie sagen, die Ministerin habe eine Erhöhung des Kinderzuschlags angekündigt. Tatsächlich hat sie eine Erhöhung des Budgets angekündigt, und die ist längst geschehen. Kritik zu üben, ist Ihr gutes Recht als Opposition. Ich muss Ihnen aber sagen: Bildungspolitik war nie Aufgabe des Bundes, sondern ist Aufgabe der Länder. In einem sind sich alle in Deutschland - auch die, die uns jetzt zuhören - einig, nämlich darin, dass wir in dieser Legislaturperiode in der Familienpolitik einen gewaltigen Schritt nach vorn gemacht haben. ({3}) Das muss einmal festgehalten werden: Wir haben einen gewaltigen Schritt nach vorn gemacht. Wenn Sie sich auf Landesebene, auf kommunaler Ebene, bei privaten Trägern oder auch bei Wohlfahrtsverbänden umhören, werden Sie feststellen, dass das in keiner Weise bestritten wird. Wir haben also einen gewaltigen Schritt nach vorn gemacht, und zwar mit einem in sich stimmigen Konzept. Wir sollten in Deutschland endlich dazu kommen, dass wir hinsichtlich der Rahmenbedingungen für Familien und für das Leben mit Kindern eine gemeinsame Linie verfolgen, damit Eltern wissen, auf was sie sich wirklich verlassen können. Eine solche gemeinsame Linie haben wir häufig gefunden, auch im Ausschuss. Es ist ein in sich stimmiges Konzept, das wir Schritt für Schritt umsetzen. ({4}) Ein wichtiger Schritt ist jetzt die Veränderung des Kinderzuschlags. Das ist heute Nachmittag ein großer Augenblick für die Familienpolitik. ({5}) Ich sage auch etwas zu Ihnen, Frau Lenke, weil Sie immer wieder erwähnen, auch im Ausschuss, dass wir keine echte Wirkungsanalyse vorgestellt haben. Gleichzeitig sagen Sie, wir hätten Ihnen Massen an Papier zur Verfügung gestellt. Alles, was es an Analysen gibt, etwa zur Wirkung der Zahlung von Kindergeld, zum Beispiel bei Mehrkinderfamilien, liegt Ihnen vor. Die Konsequenzen daraus muss das Parlament ziehen. Es ist nicht Aufgabe der Regierung, sondern es ist letztlich Aufgabe des Parlaments, zu entscheiden, welche Konsequenzen aus diesen Zahlen gezogen werden. Darüber, wie Kindergeld wirkt, werden wir im Herbst zu reden haben, wenn der Existenzminimumbericht vorliegt. Wenn wir feststellen, dass das Existenzminimum gestiegen ist - davon gehen, glaube ich, wir alle miteinander aus -, wird man sich zu überlegen haben, was beim Kindergeld zu tun ist. Die Ministerin hat bereits angedeutet, dass wir für Mehrkinderfamilien mehr tun müssen, weil solche Familien in Deutschland fast verschwunden sind und weil Kinderarmut gerade dort zu Hause ist, wo mehrere Kinder sind oder wo Vater und Mutter keine Möglichkeit haben, den Lebensunterhalt für ihre Kinder zu verdienen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Staatssekretär, ich hätte Ihnen eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke anzubieten. ({0})

Dr. Hermann Kues (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002709

Ja.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, Sie haben ausgeführt, dass Ihr Ministerium alle 153 Leistungen evaluiert habe, wir uns nur die Gutachten durchlesen müssten und sich für uns daraus die Wirkungsanalyse ergeben würde. Es ist einfach zu wenig, wenn das Ministerium nur Gutachten sammelt. Das ist keine ausreichende Leistung. Meine Frage lautet nun: Bekommen wir in dieser Legislaturperiode eine Wirkungsanalyse auf Basis der Evaluierung der 153 familienbezogenen Leistungen?

Dr. Hermann Kues (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002709

Frau Kollegin Lenke, sicherlich haben auch Sie schon einen Teil des riesigen Stapels, den wir auch Ihnen persönlich zur Verfügung gestellt haben, durchgelesen. Ich gebe zu, man kann das nicht alles auf einmal schaffen, aber man kann sich immer wieder ein Päckchen vornehmen. Lesen Sie zum Beispiel einmal, wie Kindergeld wirkt, welche Bedeutung es etwa bei Alleinerziehenden hat - da hat es eine große Bedeutung; das haben wir mit Zahlen belegt - und welche Bedeutung es etwa bei Mehrkindfamilien hat. Wenn Sie das getan haben, dann müssen Sie politisch überlegen, welche Schlussfolgerungen Sie daraus ziehen wollen. Das ist der Punkt. Viele der Schlussfolgerungen, die wir auf diese Weise nach und nach ziehen - das haben wir uns natürlich für diese Legislaturperiode insgesamt vorgenommen, und das macht nach meiner festen Überzeugung letztlich den Erfolg der Familienpolitik aus -, werden in dieser Wirkungsanalyse grundgelegt. Wir werden weiter daran arbeiten müssen. Familienpolitik - das gilt auch für andere Politikfelder - ist nie zu Ende. Eben sagte Herr Spanier zum Thema Kinderarmut, es gibt nicht die Möglichkeit, irgendwo einen Knopf zu drücken und damit dieses Problem zu erledigen. Vielmehr wird man immer wieder neu ansetzen und überlegen müssen, ob die Maßnahmen wirklich zielgerichtet sind. Deshalb sage ich noch einmal: Der Kinderzuschlag ist in der Form, wie wir ihn heute beschließen werden, absolut zielgerichtet, weil er sich an die Eltern richtet, die ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen können, aber die es nicht schaffen, auch den Lebensunterhalt für ihre Kinder zu verdienen. Das ist der entscheidende Punkt. Da setzt der Kinderzuschlag an. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Staatssekretär, es gibt auch noch eine Zwischenfrage des Kollegen Roland Claus. Möchten Sie die zulassen?

Dr. Hermann Kues (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002709

Ja, natürlich.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Staatssekretär, hat denn nun die Bundesfamilienministerin am 13. September des vergangenen Jahres vor dem Deutschen Bundestag davon gesprochen, dass 500 000 Kinder von diesem Gesetz profitieren, oder hat sie es nicht? Jetzt profitieren davon ja nur noch die Hälfte. Hat denn die Bundeskanzlerin am 28. November vor diesem Bundestag von einer Erhöhung des Kinderzuschlages, also von „140 plus“, gesprochen, oder hat sie das nicht getan? Sind Sie nicht vor diesem Hintergrund bereit, einzuräumen, dass beide Versprechen gebrochen wurden? ({0})

Dr. Hermann Kues (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002709

Ich bin dazu natürlich nicht bereit, weil das, was Sie sagen, falsch ist. Ich sage noch einmal ausdrücklich - ich habe das eingangs schon gesagt -: Die Kanzlerin hat davon gesprochen, dass das Budget für den Haushaltsposten Kinderzuschlag erhöht wird. Das ist gesagt worden. Das haben wir auch umgesetzt. ({0}) Was die Gesamtzahl angeht, bestreite ich überhaupt gar nicht - das gilt für fast alle Felder der Familienpolitik -, dass wir, wenn wir beliebig viel Geld zur Verfügung hätten, auch beim Kinderzuschlag noch eine ganze Menge tun könnten. So läuft ja das, was von Ihnen und Ihren Kolleginnen und Kollegen kommt, in der Regel fast immer darauf hinaus, die Ansätze zu erhöhen. Sie sagen aber an keiner Stelle, wie Sie sich die Finanzierung vorstellen. Wenn man regiert, hat man ein kleines Problem: Die guten Ideen und Konzepte, die man entwickelt hat, muss man zu den finanziellen Möglichkeiten in Beziehung setzen. Das geht immer nur über Kompromisse. Deswegen sage ich: Das, was wir jetzt machen, ist eine ganz wichtige Maßnahme gegen Kinderarmut. ({1}) Ich möchte ausdrücklich noch einmal das betonen, was eben Herr Singhammer in seiner Zwischenfrage angemerkt hat: Wir machen nicht nur eine ausgesprochen erfolgreiche Familienpolitik, sondern auch unsere Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik ist außerordentlich erfolgreich. Es ist in der Tat so: 1,6 Millionen neue Arbeitsplätze bringen es mit sich, dass viele Väter und Mütter jetzt in der Lage sind, den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder selbst zu verdienen. Das ist eine ganz tolle Entwicklung. ({2}) Wir setzen zum Beispiel dabei an, dass wir Menschen zur Selbstständigkeit ermuntern und ermutigen und ihnen zugleich auch Möglichkeiten aufzeigen, was sie machen können. Wir setzen nicht in erster Linie darauf, dass man beliebig hohe Summen aus dem Staatshaushalt entsprechend einsetzt. Sie wissen aus den Bereichen, wo Sie politische Verantwortung tragen, ja auch, dass das nicht so ohne Weiteres geht. Der Kinderzuschlag bringt nicht nur finanzielle Entlastungen für Familien im Niedrigeinkommensbereich, sondern von ihm gehen auch zwei ganz wichtige gesellschaftspolitische Signale aus. Das erste Signal: Arbeit lohnt sich. Wer in unserem Land arbeitet, wer hier erwerbstätig wird, der hat einen Vorteil. Das zweite Signal: Die Entscheidung für Kinder ist - das will ich ausdrücklich sagen - kein Grund für Armut. Mit diesem Ansatz leisten wir einen Beitrag dazu, dass man wegen Kindern nicht in Armut versinkt. Wenn wir in unserem Land sagen müssten: „Wer sich zu Kindern bekennt, wer sich für Kinder entscheidet, wer sich womöglich für mehr Kinder entscheidet, der endet in Armut“, dann wäre das eine fürchterliche Feststellung. Armut durch Kinder, dagegen wollen wir politisch vorgehen, und das leistet dieser Kinderzuschlag. ({3}) Ich habe ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dies nur ein Element ist, und dass es viele andere Punkte gibt, die in unserem Gesamtkonzept angesprochen worden sind. Dazu gehört das Elterngeld. Das ist eine Erfolgsgeschichte. Wir haben auch das entsprechend weiterentwickelt. Dazu gehört auch der Ausbau der Kinderbetreuung. Sie können heute in jeder Gemeinde feststellen, dass sich dort in den letzten zwei, drei Jahren ungeheuer viel bewegt hat. Wir brauchen das nicht zu propagieren. Das kann jeder feststellen, der es möchte. Wir werden uns jetzt ganz gezielt einer weiteren Sache zuwenden, nämlich dem Kindergeld. Es ist wichtig, dass wir den Blick nicht nur auf diejenigen Kinder richten, die sich, leider, im SGB-II-Bezug - früher haben wir von Sozialhilfe gesprochen - befinden, und auf diejenigen, die von einem Freibetrag profitieren, weil deren Eltern gut verdienen, sondern auch auf diejenigen, die weder von dem einen noch von dem anderen profitieren. Genau dort setzt das Kindergeld an. Insofern ist das eine ganz wichtige sozialpolitische Entscheidung, gerade für Mehrkinderfamilien. Herzlichen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Fraktion der FDP hat jetzt Miriam Gruß das Wort. ({0})

Miriam Gruß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003760, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Schon in der letzten Sitzungswoche haben wir auf Antrag der FDP über das Thema Kinderarmut gesprochen. Ich freue mich, dass wir dieses Thema in dieser Sitzungswoche wieder - zu relativ prominenter Zeit auf der Tagesordnung haben. Die Große Koalition hat mittlerweile also tatsächlich erkannt: Da gibt es ein Thema, das bearbeitet werden muss. Allerdings gibt es auch hier die schlechte Nachricht: Es geht leider wieder in die falsche Richtung. Es mag dahingestellt sein, wie viele vom verbesserten Kinderzuschlag tatsächlich profitieren werden. Sie sprechen von 250 000 Kindern. Hier regieren drei Parteien. An dieser Stelle will ich ansprechen, dass die CSU auf Bundesebene mitregiert, Herr Singhammer. Es gibt in Bayern leider keinen Armutsbericht. Die Ministerin ist ihn uns seit vielen Jahren schuldig. Trotzdem gibt es Zahlen von Verbänden. Wenn die Bundesregierung hier behauptet, 250 000 Kinder profitierten vom verbesserten Kinderzuschlag, verweise ich darauf, dass allein in Bayern 150 000 Kinder unter 15 Jahren auf Sozialhilfeniveau leben. Deswegen muss man sich noch sehr viel grundsätzlichere Gedanken über die Kinderarmut machen. Das Instrument, das Sie uns heute hier vorgestellt haben, reicht bei weitem nicht aus. ({0}) Herr Spanier hat gesagt: Keiner erwartet jetzt, dass wir mit diesem Instrument die Kinderarmut wirklich beseitigen. Da stellt sich natürlich die Frage: Warum hat man es überhaupt entwickelt? ({1}) Sie sprechen hier das Kinderfördergesetz an und sagen, damit seien die Probleme gelöst. Ich erinnere mich immer noch an den von Ihnen letztendlich mitgetragenen Zusatzparagrafen, durch den die Einführung des Betreuungsgeldes geregelt wird. Das wird wieder dazu führen, dass gerade die Kinder, die es brauchten, keine Teilhabechancen haben. ({2}) Ganz grundsätzlich: Sie sprechen hier von Verteilen; wir sprechen von Lassen. Warum lassen wir den Familien nicht einfach das Geld, das sie verdienen? Die Familien wissen schon selber, wofür sie es ausgeben würden. ({3}) An dieser Stelle möchte ich sagen: Das ist wieder ein Linke-Tasche-rechte-Tasche-Spiel. Auf der einen Seite wollen Sie den Familien etwas geben, auf der anderen Seite ziehen Sie ihnen mit allen möglichen Maßnahmen das Geld wieder aus der Tasche. 1 600 Euro hat eine durchschnittliche vierköpfige Familie im letzten Jahr aufgrund von Maßnahmen, die Sie, CDU/CSU und SPD, hier beschlossen haben, mehr ausgeben müssen. Zwischen dem 15. Dezember 2005 und dem 8. November 2007 sind 19 Maßnahmen beschlossen worden, die zu Steuererhöhungen geführt haben. GravieMiriam Gruß rend war natürlich die Erhöhung der Mehrwertsteuer. Hinzukommen viele andere von Ihnen hier beschlossene Maßnahmen. Dieses Linke-Tasche-rechte-Tasche-Spiel wird nicht aufgehen. Die Familien haben davon jedenfalls nichts. ({4}) Und weil mein lieber Herr Kollege, der Haushaltsausschussvorsitzende, hier sitzt, möchte ich an dieser Stelle noch einmal darauf hinweisen: Auch das ist wieder eine Maßnahme, deren Wirkung zu wünschen übrig lässt bzw. möglicherweise fraglich ist. Wir haben keine Wirkungsanalyse über die Maßnahmen, aber auf diesen Schuldenbergen, die wir bereits haben und auf die wir die neuen Schulden, die wir jetzt aufbauen, draufsatteln, können unsere Kinder nicht spielen und erst recht nicht lernen. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt spricht Christel Humme für die SPD-Fraktion. ({0})

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Liebe Frau Haßelmann, leider hat Ihre erregte Rede letztlich nicht aufgezeigt, dass wir in der rot-grünen Regierungszeit mit dem Kinderzuschlag ein sehr gutes Instrument auf den Weg gebracht haben. ({0}) Jetzt geht es darum, dieses Instrument weiterzuentwickeln, und wir werden heute beschließen, dass mehr Familien diesen Kinderzuschlag erhalten - zusätzlich zum Kindergeld. Das sind 300 Euro monatlich pro Kind. Das sollte man nicht so runterspielen, sondern als gutes Instrument feiern. ({1}) Frau Haßelmann, wir haben uns bereits damals große Sorgen über Kinderarmut gemacht; das ist gar keine Frage. Wir wissen ganz genau, dass materielle Armut letztlich zu gesellschaftlicher Ausgrenzung führt. Auch das wollten wir durch den Kinderzuschlag verhindern. Wir wollten einem Grundproblem, dem wir heute leider immer noch gegenüberstehen, begegnen. Es ist das Grundproblem, dass es Frauen und Männer gibt, die zwar - auch in Vollzeit - beschäftigt sind, aber trotzdem ein Armutsrisiko tragen. Ich denke, das ist die eigentliche Debatte, die wir langfristig führen müssen. Wir können uns zwar über den Kinderzuschlag streiten, aber es geht im Wesentlichen um eine gute Beschäftigung und eine gute Entlohnung. Denn vor allen Dingen davon würden auch Alleinerziehende profitieren.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Humme, Frau Lenke möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe schon darauf gewartet, Frau Lenke.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Es ist also ausgemacht, also ein abgekartetes Spiel.

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir spielen uns die Bälle nur so zu. ({0})

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, das ist sicherlich kein Spiel. Denn es geht hier um Steuergelder. Frau Kollegin Humme, Sie haben gesagt, dass es ein erfolgreiches Gesetz ist. Allerdings haben nur 12 Prozent der Antragsteller seit 2004, als SPD und Grüne dieses Gesetz eingeführt haben, davon profitiert. Alle Experten haben dieses Gesetz unisono nicht gelobt, und sie kritisieren auch diese gesetzliche Änderung. Ich habe Ihnen die Zitate dazu gezeigt, und ich glaube, dass Sie auch bei der Anhörung anwesend waren. Ich kann den Ausführungen aller Expertinnen und Experten - auch denen der Experten von der SPD - nicht entnehmen, dass das eine Erfolgsstory ist. Sagen Sie mir doch einmal, wo wir beide unterschiedlich denken. Schwarz auf weiß sind Ihre Aussagen nicht belegt. Welchen Grund haben Sie, es als Erfolg zu werten?

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Also, Frau Lenke, Sie verwechseln da etwas. Das Instrument des Kinderzuschlags ist hervorragend, aber wir alle wussten ganz genau, dass wir dieses Instrument auch weiterentwickeln müssen. Genau das tun wir, und das werden wir heute für viele Familien, die davon profitieren werden, beschließen. Darum geht es. ({0}) Wir wissen natürlich auch, liebe Kollegen und Kolleginnen, dass dieser Kinderzuschlag das gesellschaftliche Problem der mangelnden Beschäftigung lediglich korrigiert, und daher kann dieser Kinderzuschlag - das hat auch Herr Spanier zutreffend gesagt - nur ein kleiner Baustein sein. ({1}) Herr Wunderlich und Frau Gruß, es ist natürlich richtig, dass wir nicht nur Bausteine brauchen. Wir brauchen zur Bekämpfung der Kinderarmut und der Familienarmut eigentlich ein Haus bzw. ganz viele Bausteine, und dazu gehören - wie schon gesagt - Beschäftigung und existenzsichernde Löhne. Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang gleicher Lohn für die gleiche Arbeit von Männern und Frauen ein wichtiges Thema, und ich denke, auch das Thema gesetzlicher Mindestlohn gehört hier hin. Das wollen wir unbedingt. ({2}) Dazu gehören allerdings auch - das wurde schon gesagt mehr Betreuungsplätze, damit Frauen und Männer und vor allen Dingen Alleinerziehende die Chance haben, eine Beschäftigung aufzunehmen. Schließlich sagt uns der Armuts- und Reichtumsbericht ganz deutlich: Das Armutsrisiko sinkt von 48 auf 4 Prozent, wenn beide Elternteile tatsächlich beschäftigt sind. Darum ist es für uns ganz besonders wichtig, die Frauenerwerbsquote zu erhöhen. Wir wollen gute Arbeit, gut bezahlte Arbeit und mehr Betreuungsplätze; denn das sind die soliden Fundamente für ein Haus, das vor Armut - vor allen Dingen vor Kinderarmut - schützen soll. In diesem Jahr gab es zwei parallele Debatten. Die eine Debatte, die uns auch sehr stark beschäftigt und die wir heute führen, setzt sich mit der Frage auseinander, wie wir mit dem Thema Kinderarmut umgehen. Die andere Debatte befasst sich mit Steuersenkungen. ({3}) - Die Steuersenkungsspirale ist in der öffentlichen Debatte sehr häufig angesprochen worden. - Beide Debatten passen nicht zueinander; es sei denn, dass diejenigen, die über Steuersenkungen diskutieren, wollen, dass die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinandergeht. Das wollen wir eindeutig nicht. Uns ist es ernst mit der Armutsbekämpfung und mit der Armutsprävention. Dazu brauchen wir einen finanziell gut ausgestatteten Sozialstaat. Alles andere funktioniert nicht. ({4}) Kinderzuschlag jetzt und Wohngelderhöhung ab dem 1. Januar 2009 kosten 650 Millionen Euro. Diesen Bausteinen zur Bekämpfung von Armut wollen wir noch andere Bausteine hinzufügen: zielgenaue Hilfen zu den Schulmitteln, Anpassung der Kinderregelsätze und auch die Erhöhung des Kindergeldes. Eine Steuersenkungsdebatte können wir an dieser Stelle überhaupt nicht gebrauchen. Darüber hinaus gilt: Der finanzielle Ausgleich über Transferleistungen allein reicht nicht. Wir sind im europäischen Vergleich nach wie vor im Zugzwang, mehr in Bildung und Betreuung zu investieren. In keinem anderen europäischen Land - Frau Lenke, da gebe ich Ihnen recht - gibt es einen so starken Effekt wie in Deutschland. Bei uns gilt seit 30 Jahren, dass Armut vererbbar ist; denn immer noch werden Kinder aufgrund ihrer finanziellen Lage und aufgrund ihrer Herkunft in unserem Bildungssystem abgehängt. Das hat uns der aktuelle Nationale Bildungsbericht bedauerlicherweise wieder vor Augen geführt. Wir wollen diesen Kreislauf unbedingt durchbrechen. Auch dafür brauchen wir einen starken und finanziell gut ausgestatteten Sozialstaat. ({5}) Mit dem Ganztagsschulprogramm haben wir den Prozess eingeleitet; mit dem Rechtsanspruch auf frühkindliche Bildung setzen wir diese Politik fort. Allein der Rechtsanspruch auf frühkindliche Bildung wird uns 12 Milliarden Euro kosten. Steuersenkungen helfen an dieser Stelle überhaupt nicht weiter. Allein der quantitative und qualitative Ausbau der Bildung und Betreuung ist ein massives Beschäftigungsprogramm. Wir brauchen 80 000 Erzieherinnen und Erzieher mehr in diesem Bereich. Wir müssen diejenigen, die jetzt schon als Erzieherinnen und Erzieher arbeiten, besser qualifizieren, weiterbilden und in Zukunft besser bezahlen. Dafür brauchen wir mehr Geld: im Bund, in den Ländern und in den Kommunen. Gerade hier sind Steuersenkungen das falsche Signal. Wir wollen ein stabiles Haus bauen, das Familien und ihren Kindern langfristig das Armutsrisiko nimmt und sie vor Armut schützt. Wir haben das Baumaterial vom Fundament bis zum Dach. Ein wirksames Gesamtkonzept ist wichtig. Neben dem Kinderzuschlag - er ist nur ein Baustein von vielen - sind zielgenaue finanzielle Hilfen, bildungs- und beschäftigungspolitische Programme wichtige Bausteine. Zu einem langlebigen Haus gehört auch eine solide Finanzierung; da gebe ich Ihnen, Frau Lenke, vollkommen recht. Auch ich würde natürlich gerne auf die 184 Milliarden Euro schauen, die wir an Familienleistungen zur Verfügung stellen, und überprüfen, ob es nicht Möglichkeiten gibt, mehr umzuschichten. Denn eines ist auch richtig: Immer draufzusatteln und sich immer höher zu verschulden, hilft auch der nachfolgenden Generation nicht und schützt sie nicht vor Armut. Danke schön. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Paul Lehrieder hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Werte Zuschauer! Frau Lenke, Sie haben in Ihrer Rede mehrfach die zu kleinen Bausteine moniert. Ich möchte Ihnen ein anderes Beispiel nennen. Es gibt einen guten Spruch, der lautet: Jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Den ersten Schritt in puncto Kinderzuschlag hat zugegebenermaßen die rot-grüne Bundesregierung vor unserer Zeit gemacht. Wir machen jetzt den zweiten Schritt in diese richtige Richtung. Liebe Frau Lenke, mit vielen kleinen Schritten kommen wir auch zum Ziel. Wenn man natürlich überhitzt oder überstürzt vorprescht, kann man auch ins Stolpern geraten. ({0}) - Trippelschritte, Herr Fricke, sind es nicht. Wie gesagt, wir müssen ein bisschen auf den Haushalt aufpassen. Frau Haßelmann, Sie haben moniert, es sei zu wenig in der Kasse, um noch mehr zu erreichen. Ihr Programm ist offensichtlich dem Erbe ähnlich, das Rot-Grün hinterlassen hat: 37 Milliarden Euro neue Schulden. ({1}) Frau Kollegin Humme hat zu Recht darauf hingewiesen: Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen. Wir können doch der nächsten Generation um Himmels willen nicht einen noch größeren Berg an Schulden hinterlassen. ({2}) Die Gegenfinanzierungsvorschläge des Kollegen Wunderlich, zum Beispiel jenen zu den drei Fregatten, erspare ich mir zu kommentieren. Wir können nicht die äußere Sicherheit mit sozialen Leistungen aufrechnen, Herr Kollege Wunderlich. Das wäre schlichtweg zu einfach. Ich kann mir auch ein kritisches Wort zu unserem Koalitionspartner nicht ganz verkneifen, lieber Kollege Spanier, liebe Kollegin Humme. Auf der Regierungsbank sitzt der Herr Staatssekretär Brandner. Er kann Ihnen gern erklären, was es mit dem Mindestlohn auf sich hat. Wir reden heute über Mehrkinderfamilien, die durch den Kinderzuschlag vor Hartz IV bewahrt werden sollen. Wenn Sie über die Einführung eines Mindestlohns von 7,50 oder 8,50 Euro diskutieren wollen, dann lassen Sie sich doch bitte schön einmal vom Kollegen Brandner erklären, dass ein Mindestlohn von 8 Euro einer vierköpfigen Familie gar nichts bringt, weil diese schon nach den Regelsätzen einer Bedarfsgemeinschaft bei circa 12 bzw. 12,50 Euro liegen würde. Streuen wir also unseren Zuhörern keinen Sand in die Augen ({3}) und tun wir nicht so, als würde ein Mindestlohn genau die Schicht erreichen, die wir mit dem Kinderzuschlag erreichen wollen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Herr Spanier würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich. Wenn ich ihn angreife, muss er doch antworten dürfen. ({0})

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn Sie möchten, dass wir uns jetzt im Plenum miteinander unterhalten, mache ich das natürlich gerne.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie wollen doch eine Frage stellen.

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich will nur eines klarstellen: Ich habe vorhin in meinem kurzen Redebeitrag ganz vergessen, den gesetzlichen Mindestlohn anzusprechen. ({0}) Herr Lehrieder, ich habe vielmehr die Union daran erinnert, dass wir beschlossen haben, im Rahmen des Entsendegesetzes zwischen Tarifparteien vereinbarte Mindestlöhne für allgemeinverbindlich zu erklären. Man entschuldige die etwas bürokratische Sprache; aber der Klarheit wegen muss ich dies so sagen. Ich habe mir gewünscht, dass wir in dieser Frage so zusammenarbeiten, wie wir das auch beim Kinderzuschlag getan haben. ({1}) Dabei bleibe ich. Sie auch? Ich muss ja eine Frage stellen.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Spanier, ich muss gestehen: Die Zusammenarbeit zwischen den Koalitionsfraktionen ist nicht in allen Bereichen gleich intensiv und gleich gut. Das ist nicht völlig neu; das wissen Sie so gut wie ich. Im Protokoll werden Sie nachlesen können, was Sie zum Mindestlohn gesagt haben. Wir arbeiten daran; ich bin Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales. Aber da haben wir noch einen langen Weg vor uns. Auch da müssen wir einen Schritt nach dem anderen machen und dürfen nichts überstürzen. ({0}) - Wir machen schon Schritte. Bei der Diskussion über den Bereich der Kinderarmut fällt natürlich auf, dass gerade Familien im niedrigen Einkommensbereich - darauf wurde bereits hingewiesen wie auch alleinerziehende Mütter und Väter derzeit überdurchschnittlich oft im ergänzenden ALG-II-Bezug vertreten sind. Besonders Eltern mit mehreren Kindern können zum Teil trotz Vollzeiterwerbs nur mit großen Anstrengungen ein Einkommen erzielen, das oberhalb des existenzsichernden ALG-II-Bedarfs der gesamten Familie liegt. Mit dem heute vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes wollen wir erreichen, dass durch eine Verbesserung und Weiterentwicklung des Kinderzuschlags weniger Kinder und ihre Familien auf Leistungen nach dem SGB II angewiesen sein werden. ({1}) Entsprechend den Koalitionsvereinbarungen vom 11. November 2005 soll unter anderem der Kreis der Berechtigten ausgeweitet werden, um die Zielsetzung des Kinderzuschlags besser als bisher zu realisieren. Zwar gibt es den Kinderzuschlag bereits seit Beginn des Jahres 2005; ich habe darauf hingewiesen. Allerdings haben Probleme in der Umsetzung gezeigt, dass eine Weiterentwicklung vonnöten ist. Das Antragsverfahren soll künftig vereinfacht werden. ({2}) - Bitte eine Frage. - Bisher musste die Mindesteinkommensgrenze mit hohem bürokratischem Aufwand individuell bestimmt werden. Die von uns gesetzte klare und zugleich deutlich gesenkte Einkommensgrenze von einheitlich 600 Euro für Alleinerziehende und 900 Euro für Paarhaushalte lässt Eltern nun leichter, schneller und einfacher erkennen, ob sie für den Kinderzuschlag infrage kommen oder nicht. Der Kreis der Berechtigten wird erheblich ausgeweitet; vielleicht nicht so sehr, wie man ursprünglich gedacht hat, aber zumindest wird er ausgeweitet. In Kombination mit der Wohngeldreform kann so dazu beigetragen werden, dass Familien mit Kindern unabhängig von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende werden. Zusätzlich zur fixen Mindesteinkommensgrenze von 600 bzw. 900 Euro wird - auch das ist wichtig - die Abschmelzrate für Einkommen aus Erwerbstätigkeit von derzeit 70 Prozent auf nunmehr nur noch 50 Prozent abgesenkt. ({3}) Das bedeutet, dass der Kinderzuschlag bei steigendem Einkommen maßvoller abnimmt. Eltern haben von ihrem selbst erwirtschafteten Einkommen künftig mehr für sich. Durch die gesenkte Abschmelzrate wird ein durchgehender Erwerbsanreiz gesetzt. Zugleich wird der Anreiz zum Ausstieg aus der Arbeitslosigkeit deutlich erhöht. Beschäftigung muss für alle Erwerbsfähigen in diesem Land attraktiv bleiben, insbesondere für Eltern. Arbeiten für die eigene Familie soll sich auszahlen. Mit der Weiterentwicklung des Kinderzuschlags und der unbefristeten Bezugsdauer können Familien, vor allem Mehrkinderfamilien, spürbar entlastet werden. Über den Kinderzuschlag werden die Leistungen weiterhin auf Familien im Niedriglohnbereich konzentriert. Diese wichtige Unterstützung von Eltern und Kindern war trotz schwieriger Haushaltslage möglich. Von dieser Weiterentwicklung und der Ausweitung des Kreises der Berechtigten profitieren künftig 120 000 Kinder und 50 000 Familien mehr als bisher. ({4}) Die Armutsgefährdungsquote von Kindern wird durch den erweiterten Kinderzuschlag deutlich verringert. ({5}) Kinder dürfen kein Grund für Familienarmut sein. Genauso wenig darf die finanzielle Lage der Menschen in unserem Land ein Grund sein, sich gegen die Gründung einer Familie zu entscheiden. Mit unserem Maßnahmenpaket, der Einführung des Elterngeldes, dem Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen für unter Dreijährige - zugegebenermaßen in harmonischer Zusammenarbeit mit unserem Koalitionspartner, Herr Spanier - und der Weiterentwicklung des Kinderzuschlags, haben wir in den letzten Jahren viel erreicht. Wir sind mit den genannten zielgenauen und wirkungsvollen Instrumenten auf dem richtigen Weg, um materieller Armut gerade bei den jüngsten Mitgliedern der Gesellschaft und deren Familien entgegenzuwirken. ({6}) Wir werden diesen Weg weitergehen. Es ehrt die Oppositionsparteien, dass sie uns regelmäßig mit pawlowschem Reflex kritisieren ({7}) und sagen: Ihr macht es zwar richtig, aber zu langsam, und das ist zu wenig. Wir bitten Sie, uns weiterhin kritisch zu begleiten, aber auch anzuerkennen, was gut ist und was richtig läuft. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort der Kollegin Caren Marks. ({0})

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Sehr geehrte Herren und Damen! Zuerst möchte ich ein paar Sätze an die Kolleginnen und Kollegen der FDP richten: Von Ihrem Steuersenkungsprogramm profitieren von Armut betroffene Familien nicht wirklich. Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass es die rot-grüne Bundesregierung war, die den Grundfreibetrag verdoppelt hat und den Eingangssteuersatz von 25 auf 15 Prozent gesenkt hat. Das hat Familien mit geringem Einkommen wirklich entlastet. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Frau Lenke würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ach nein, das ist immer die gleiche. Ich habe sonst nichts gegen Zwischenfragen, aber die Fragen von Frau Lenke tragen selten zur Klärung bei. ({0}) Armut - das haben wir heute schon mehrfach gehört ist ein Mangel an Teilhabe, an Bildung, an materiellen Gütern, an sozialen Kontakten und an einer guten gesundheitlichen Entwicklung. Die Ausprägung von Armut - das muss uns bewusst sein - ist vielschichtig. Der Kinderzuschlag ist ein Baustein zur Bekämpfung von Armut, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben ihn zusammen mit den Grünen erfolgreich eingeführt. Da Stillstand Rückschritt wäre, entwickeln wir den Kinderzuschlag in der Großen Koalition weiter. ({1}) 160 000 Kinder in 75 000 Familien werden mit dem weiterentwickelten Kinderzuschlag zusätzlich erreicht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Paul Lehrieder ({2}) Diese Kinder und Familien werden ab dem nächsten Jahr von der bereits beschlossenen Wohngelderhöhung und der geplanten Kindergelderhöhung profitieren. Der Dritte Armuts- und Reichtumsbericht zeigt einmal mehr: Die Kombination aus Kinderzuschlag, Wohngeld und Kindergeld ist ein Beitrag zur Bekämpfung von Armut. Hauptprofiteure vom Kinderzuschlag sind die Mehrkinderfamilien. Durch den Kinderzuschlag wird deren Einkommen um durchschnittlich 250 Euro im Monat aufgestockt. Das sind bis zu 15 Prozent mehr monatliches Haushaltsnettoeinkommen. Weniger zufrieden sind wir dagegen mit der Wirkung des Kinderzuschlags für Alleinerziehende. Sie haben das höchste Armutsrisiko, profitieren bisher aber kaum vom Kinderzuschlag. Um das zu ändern, führen wir jetzt das bereits erwähnte kleine Wahlrecht ein. Insgesamt erhöhen wir den Anteil der Alleinerziehenden, die Anspruch auf Kinderzuschlag haben, von 7 auf 14 Prozent. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Alleinerziehende brauchen allerdings mehr als finanzielle Hilfen. Sie brauchen vor allem fair bezahlte Arbeit; denn sie müssen das Familieneinkommen allein erwirtschaften. ({3}) Deshalb machen wir uns für Mindestlöhne stark. Das Nein der Familienministerin und der Union ist für mich nicht nachvollziehbar. ({4}) Alleinerziehende brauchen gute Betreuungs- und Bildungsangebote für Kinder. Deshalb lautet unser familienpolitischer Schwerpunkt nicht erst seit dieser Legislaturperiode: mehr und bessere Kita-Angebote und Ganztagsschulen. ({5}) Mit dem gegenseitigen Abschieben von Verantwortlichkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen muss endlich Schluss sein. ({6}) Dafür haben die Familien in diesem Land zu Recht kein Verständnis. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben einen Aktionsplan für gleiche Lebenschancen vorgestellt, in dem wir die Verantwortlichkeiten deutlich benennen. Die Kommunen sind vor allem für das gesunde Aufwachsen von Kindern und den Ausbau der Kitas zu Eltern-Kind-Zentren verantwortlich. Die Sicherstellung von gleichen Bildungschancen für alle und die Qualität der Bildungseinrichtungen sind Sache der Länder. Wir als Bund müssen für eine gerechte Besteuerung, für eine gezielte finanzielle Förderung von Familien und für angemessene Regelsätze in der Grundsicherung sorgen. Auf der Ebene der Zuständigkeiten gilt Paragraf eins: Jeder macht seins. Es kann nicht sein, dass wir im Bund zusätzliche Leistungen für Familien beschließen und die Länder und Kommunen dies über höhere KitaBeiträge, Abschaffung von Lernmittelfreiheit und Essensgebühren sozusagen wieder einkassieren. ({7}) Wir brauchen ein gemeinsames Vorgehen zur Schaffung gleicher Lebenschancen aller Kinder. Wir brauchen eine Gesamtstrategie, die alle politischen Bereiche in die Verantwortung nimmt. Wir brauchen eine nationale Kinderkonferenz. Ich werbe um breite Unterstützung dafür. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin Ina Lenke.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Kollegin Marks, ich muss mich gegen Ihre Angriffe verwahren. Sie haben sich über die FDP sehr diskriminierend geäußert. Stichwort Steuererhöhungen: Ich habe die Tatsache genannt, dass SPD und CDU/CSU die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent erhöht haben. Das belastet gerade Familien mit wenig Geld. Das sind zusätzliche Kosten. Außerdem stelle ich fest, Frau Kollegin Marks, dass Sie unseren Antrag, den wir hier heute vorgelegt haben, nicht gelesen haben. Sonst hätten Sie dem Parlament und den Besuchern nicht so viel Falsches erzählt. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Marks.

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich glaube, mit dieser Kurzintervention haben Sie sich selbst ins Abseits gestellt. ({0}) Darum will ich dazu gar nicht mehr viel anmerken. Die FDP - es ist schon lange her - war ja einmal in Regierungsverantwortung. Sie sprechen davon, dass Sie Steuersenkungsprogramme für Familien mit kleinen Einkommen aufgelegt haben. Dazu finde ich nichts. Vielleicht suchen Sie einmal; aber ich glaube, auch Sie werden nichts finden. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9792, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/8867 in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung auf Drucksache 16/4670 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9812. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist bei Gegenstimmen der FDP mit den Stimmen des restlichen Hauses abgelehnt. Wir setzen die Abstimmungen über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 16/9792 fort. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9615 zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8883 mit dem Titel „Kinderzuschlag weiterentwickeln - Fürsorgebedürftigkeit und verdeckte Armut von Erwerbstätigen mit Kindern verhindern und bekämpfen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grünen und bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/9746 mit dem Titel „Armut trotz Arbeit vermeiden - Benachteiligung Alleinerziehender beim Kinderzuschlag beenden“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des restlichen Hauses abgelehnt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Joachim Stünker, Michael Kauch, Dr. Lukrezia Jochimsen und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts - Drucksache 16/8442 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Joachim Stünker, SPD-Fraktion.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf Ihnen heute Nachmittag - ich möchte sagen: endlich - den Gesetzentwurf einer Gruppe von 209 Kolleginnen und Kollegen aus vier Fraktionen dieses Hauses vorstellen, mit dem wir den Umgang mit Patientenverfügungen im Betreuungsrecht verbindlich regeln wollen. Man kann die getroffene Regelung in einem Satz wie folgt zusammenfassen: Falls ein Patient entscheidungsunfähig ist, hat der behandelnde Arzt eine vorgelegte Patientenverfügung zu respektieren, sofern diese aktuell und auf die gegebene Situation anwendbar ist. Ich wiederhole: sofern sie aktuell und auf die gegebene Situation anwendbar ist. Viele sagen: Es ist doch alles klar, wir brauchen diese Regelung nicht. Der Präsident der Bundesärztekammer hat erst vor wenigen Tagen in einem Zeitungsinterview gesagt: Wir haben Klarheit - und diese wird durch ein Gesetz nicht noch klarer werden. Ich denke, in dieser Frage ist gar nichts klar. Gerade das teilweise babylonische Stimmengewirr, das wir im Vorfeld der heutigen Debatte in den Medien erlebt haben, macht mit Nachdruck deutlich: Vieles ist nicht klar. Lassen Sie mich einige Beispiele nennen. Immer wieder heißt es, wir wollen die aktive Sterbehilfe nicht befördern. Dazu kann ich nur sagen: Unser Gesetzentwurf hat mit aktiver Sterbehilfe überhaupt nichts zu tun. ({0}) Tötung auf Verlangen bleibt nach § 216 des Strafgesetzbuches strafbar, und kein Mensch will diese Grenze überschreiten. Wenn ein Mensch eine bestimmte medizinische Behandlung für sich ausschließt, nicht möchte, dass sie an ihm vorgenommen wird, und sie seinem WilJoachim Stünker len entsprechend unterlassen wird, ist das keine aktive Sterbehilfe. ({1}) Es wird immer gesagt - so war es auch heute Morgen im Fernsehen zu verfolgen -, die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes verlange für die Rechtsverbindlichkeit einer Patientenverfügung, dass eine sogenannte infauste Prognose vorliegt, das heißt, dass der Sterbeprozess bereits begonnen hat. Viele Ärzte und viele andere Menschen, die das heute Morgen gehört haben, werden da erschrocken gewesen sein. Denn die Praxis ist eine ganz andere, und die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes - das ist in der Rechtswissenschaft einhellige Meinung - besagt das eben nicht. Es wird behauptet, wir wollten mit diesem Gesetzentwurf das Sterben regeln. Meine Damen und Herren, wir wollen nicht das Sterben regeln, wir wollen lediglich Rechtssicherheit schaffen, wie mit Patientenverfügungen umzugehen ist. ({2}) Denn rechtstatsächlich betrachtet haben wir Unklarheit. Unklarheit bedeutet Rechtsunsicherheit. Ich meine, die Menschen verlangen in einem Rechtsstaat, dass der Gesetzgeber Rechtssicherheit schafft - übrigens nicht nur für die Patientinnen und Patienten, sondern auch für die Ärzte, die ja Tag für Tag mit Patientenverfügungen umgehen müssen. 9 bis 10 Millionen Menschen in unserem Land haben bereits eine Patientenverfügung verfasst. Diese Menschen wollen, dass ihr Wille im Hinblick auf ihr Lebensende bindend beachtet wird. ({3}) Die Menschen haben ein verfassungsrechtlich verbrieftes Recht darauf, dass ihr Wille beachtet wird: Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. So steht es in Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes. Diese Garantie der Selbstbestimmung vermag auch die wie auch immer geartete Lebensschutzpflicht des Staates nicht zu relativieren, geschweige denn zu negieren. ({4}) Über seine leiblich-seelische Integrität bestimmen zu können, gehört zum ureigenen Bereich der Personalität des Menschen. In diesem Bereich ist man aus der Sicht des Grundgesetzes frei, seine Maßstäbe zu wählen, nach ihnen zu leben, nach ihnen zu entscheiden. Der Einzelne hat ein Recht auf Leben, aber nicht die Pflicht zu leben. Die Menschen, die ihren Willen in einer Patientenverfügung niedergelegt haben, haben sich ganz individuell in diesem verfassungsrechtlichen Rahmen bewegt. Diese Entscheidung hat der Staat zu respektieren. ({5}) Wie kann das Grundrecht auf Selbstbestimmung gewährleistet werden, wenn sich der Bürger infolge einer schweren Krankheit nicht mehr äußern kann? Da eine Patientenverfügung vor Zeiten niedergelegt worden ist, stellt sich die - entscheidende - Frage: Will der Patient noch, dass gemacht wird, was er einmal aufgeschrieben hat? Im Grunde ist das - entschuldigen Sie den Ausdruck - ein Sonderfall von Kommunikation. Wodurch lässt sich das direkte Gespräch zwischen Arzt und Patient, das ja nicht mehr stattfinden kann, ersetzen? Für die Umsetzung und die Überprüfung der schriftlichen Verfügung haben wir in dem Ihnen vorliegenden Gesetzentwurf klare Regeln definiert. Lassen Sie mich diese Regeln kurz erläutern. Für eine Patientenverfügung soll die Schriftform erforderlich sein. Die Patientenverfügung ist vom Arzt und vom Betreuer oder Bevollmächtigten gemeinsam auszulegen. Jede Patientenverfügung ist zu interpretieren; es gibt keinen Automatismus, dass das, was in der Patientenverfügung steht, eins zu eins umgesetzt wird. Der in der Patientenverfügung niedergelegte Wille ist nur dann umzusetzen, wenn er auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutrifft - was zu prüfen ist. Arzt und Betreuer oder Bevollmächtigter müssen dies einvernehmlich feststellen. Wenn sie es nicht einvernehmlich feststellen können, wenn Uneinigkeit bleibt, muss letzten Endes das Vormundschaftsgericht entscheiden. Aktuelle Lebensäußerungen des Patienten sind zu beachten; sie müssen Vorrang haben vor dem, was in der Patientenverfügung niedergelegt ist. Eine Patientenverfügung soll jederzeit formlos widerrufbar sein. Gibt es keine Patientenverfügung oder trifft der niedergelegte Wille nicht die aktuelle Lebens- oder Behandlungssituation, müssen Arzt und Bevollmächtigter den mutmaßlichen Patientenwillen ermitteln. Das ist das, was in der Praxis täglich geschieht. Anhand dieser Fragen, die zu regeln sind, eine Grundsatzdebatte über Leben oder Tod zu beginnen, ist in meinen Augen unangemessen. Das sollte der Gesetzgeber im Ergebnis nicht mitmachen. Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir werden diesen Gesetzentwurf in der parlamentarischen Beratung mit Sachverständigenanhörungen nach der Sommerpause sicherlich sehr gründlich beraten können. Es ist uns ja teilweise vorgeworfen worden, wir würden nun voreilig und zu schnell handeln. ({6}) Ich darf Ihnen nur sagen: Diesen Gesetzentwurf gibt es bereits seit einem Jahr. Im Koalitionsvertrag aus dem Jahre 2005 steht, dass wir in dieser Legislaturperiode entsprechend vorangehen wollen. Ich glaube, wenn wir in dieser Legislaturperiode noch eine Entscheidung herbeiführen wollen, dann müssen wir uns in der Tat beeilen. Schönen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe dem Kollegen Michael Kauch, FDP-Fraktion, das Wort. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Sterben ist Teil des Lebens. Wir sprechen heute über die Selbstbestimmung von Patientinnen und Patienten und müssen erkennen, dass das ein Baustein für ein menschenwürdiges Leben bis zuletzt ist, aber eben nur ein Baustein. Deshalb haben wir in der vergangenen Woche beispielsweise auch sehr intensiv über die palliativmedizinische Versorgung von Patientinnen und Patienten gesprochen. Wir brauchen mehr Qualität in der Pflege, wir brauchen ein Gesundheitssystem, mit dem wir nicht sehenden Auges rationieren, wir brauchen mehr Zuwendung für Sterbende, und wir brauchen gerade auch für die Menschen, die zu Hause sterben wollen, eine professionelle und leidmindernde Palliativmedizin, und zwar nicht nur in den Großstädten, sondern auch in der Fläche. ({0}) All diese Maßnahmen sind aber keine Gegensätze zu einer Politik für mehr Patientenautonomie. Beides gehört zusammen: das Angebot der Gesellschaft für eine optimale Versorgung und die Freiheit des Einzelnen, bestimmte Behandlungen auch ablehnen zu können. Fürsorge in Fremdbestimmung ist so schlecht wie Selbstbestimmung ohne Fürsorge; denn durch die moderne Medizin wurden viele Möglichkeiten geschaffen, die man sich vor 50 Jahren nicht vorstellen konnte. Für viele Menschen ist das ein großes Geschenk, für manche ist das aber eben auch eine Qual. Ob es eine Qual oder ein Geschenk ist, kann niemand anderer als der Einzelne selbst entscheiden. ({1}) Niemand muss Patientenverfügungen abfassen. Es ist völlig in Ordnung, wenn man sagt: Ich habe einen Bevollmächtigten, der das im Falle des Falles für mich entscheiden soll. Wer aber klar weiß, was er will und was er nicht will, dessen Patientenverfügung muss geachtet werden. Das darf vom Staat nicht in Abrede gestellt werden. ({2}) Einen Gegensatz zwischen der Vorsorgevollmacht und der Debatte über Patientenverfügungen aufzumachen, wie das die Kollegin Künast gestern leider getan hat, grenzt schon an Verdummung der Leute; denn auch der Bevollmächtigte kann heute nicht jede Behandlungsbeschränkung verfügen. Er ist an die gleiche Reichweitenbeschränkung gebunden, die es auch bei der Patientenverfügung gibt. Meine Damen und Herren, bereits 2004 und 2006 haben die Liberalen als einzige Fraktion einen Antrag zur Stärkung von Patientenverfügungen in den Deutschen Bundestag eingebracht. Bereits in der vergangen Wahlperiode hat die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ die Pros und Kontras genau abgewogen und eine Empfehlung abgegeben. Bereits vor einem Jahr haben wir in diesem Parlament eine Orientierungsdebatte geführt. Deshalb ist es völlig abwegig, wenn nun von der Fraktionsführung der CDU/CSU in Person von Herrn Röttgen gesagt wird, alles gehe zu schnell. Nein, die Menschen im Land warten seit vier Jahren darauf, dass dieses Parlament endlich eine Entscheidung trifft. ({3}) Leitbild der Liberalen ist das Bild eines Menschen, der auch in existenziellen Fragen so frei wie möglich über sein Leben entscheiden kann. Wir geben der Selbstbestimmung im Zweifel Vorrang vor anderen Überlegungen, seien sie auch noch so fürsorglich motiviert. Das ist die eigentliche Trennlinie in der Debatte über Patientenverfügungen: Die eine Seite nimmt fürsorglichen Paternalismus auch mit Zwangsbehandlungen in Kauf, die andere Seite vertraut auf die Kraft und die Urteilsfähigkeit des Menschen. Um es klar zu sagen: Wir haben keine naive Vorstellung von Selbstbestimmung. Beim Verfassen einer Patientenverfügung besteht eine gewisse Unsicherheit. Man weiß nicht genau, was in Zukunft sein wird. Der voraus verfügte Wille ist immer schwächer als der aktuell verfügte. Was aber ist die Alternative? Die Alternative zum voraus verfügten Willen der eigenen Person ist die Entscheidung eines Dritten. Die Alternative ist im Zweifel eine Fremdbestimmung auch unter Inkaufnahme einer Zwangsbehandlung. Das ist aus meiner Sicht nicht akzeptabel; auch für die große Mehrheit meiner Fraktion ist das keine Lösung. Eine Begrenzung der Reichweite auf irreversibel zum Tode führende Erkrankungen liefert den Patienten einer möglicherweise fehlerhaften ärztlichen Prognose aus. Ob beim Wachkoma, in der Notfallmedizin oder bei religiösen Behandlungsbeschränkungen: In all diesen Fällen führt eine Reichweitenbegrenzung dazu, dass Menschen entgegen ihrem explizit geäußerten Willen zwangsbehandelt werden. Eine Reichweitenbegrenzung bedeutet - um sich das in der Praxis vorzustellen -, dass gegen den Willen des Patienten Magensonden gelegt, Sehnen zerschnitten und Antibiotika verabreicht werden. Das hat mit Selbstbestimmung nichts zu tun. ({4}) Was haben wir Liberalen in den Gesetzentwurf eingebracht? Erstens haben wir durchgesetzt, dass eine Patientenverfügung nur dann Gültigkeit hat, wenn der gesetzliche Vertreter des Patienten genau geprüft hat, ob sie noch dem aktuellen Willen des Patienten entspricht. Zweitens haben wir durchgesetzt, dass auch nonverbale Äußerungen, etwa von Demenzkranken, berücksichtigt werden und im Zweifel pro vita entschieden wird. Drittens haben wir durchgesetzt, dass Angehörige und Pflegekräfte in den Prozess einbezogen werden, damit sie gegebenenfalls das Vormundschaftsgericht anrufen können. Die Sicherungen, die dieser Gesetzentwurf bringt, sind sehr stark.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Kauch.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Deshalb bitte ich Sie, diesem Gesetzentwurf, gegebenenfalls in geänderter Fassung, zuzustimmen. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe dem Kollegen Markus Grübel, CDU/CSUFraktion, das Wort. ({0})

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben letzte Woche an dieser Stelle über bessere Rahmenbedingungen für Schwerstkranke und Sterbende gesprochen. ({0}) Wir waren uns einig, dass aktive Sterbehilfe oder Ähnliches keine Antwort einer menschlichen Gesellschaft auf die Frage von Leiden und Krankheit sein kann. Die Antwort darauf liegt vielmehr in der Palliativmedizin und Hospizarbeit, wobei eine gute Versorgung in der Fläche, sowohl ambulant als auch stationär, notwendig ist. ({1}) Palliativmedizin und Hospizarbeit sind noch junge Teile des Gesundheitswesens. In diesen Bereichen hat sich in Deutschland in den letzten Jahren sehr viel getan. Insofern war es richtig, die Diskussion über das Thema Patientenverfügung nicht zu früh zu führen. Wir hatten vereinbart, das Thema erst nach der Sommerpause zu diskutieren. Ihr Gesetzentwurf, Herr Stünker, wurde nach der ersten Debatte, die der Orientierung diente, nicht in der ursprünglichen Fassung eingebracht. Sie hatten Zeit erbeten, um Ihren Gesetzentwurf zu überarbeiten. ({2}) Auch meine Gruppe hatte sich noch Zeit erbeten. Die Absprache wurde leider nicht eingehalten. Viel Zeit gewinnen wir aber nicht, weil die Sommerpause bevorsteht. ({3}) Bei der Bewertung einer Patientenverfügung geht es im Wesentlichen darum, ob der voraus verfügte Wille eines Patienten und der aktuelle Wille gleich sind. Im Normalfall kommt dem Gespräch zwischen Arzt und Patient eine große Bedeutung zu. Der Arzt oder die Ärztin stellt die Diagnose und erläutert dem Kranken die Krankheit. Der Patient hat die Möglichkeit, Rückfragen an den Arzt zu richten. Der Arzt merkt schnell, ob der Patient verstanden hat, welches Krankheitsbild er aufweist und wie die Krankheit möglicherweise verläuft. Wenn sich der Patient über seinen Gesundheitszustand im Klaren ist, dann zeigt ihm der Arzt Behandlungsmöglichkeiten, verbunden mit möglichen Konsequenzen, Chancen und Risiken, auf. Danach - möglicherweise nach einer Bedenkzeit, in der der Patient Rücksprache mit Angehörigen oder einem weiteren Arzt halten kann entscheidet sich der Patient für oder gegen die Behandlung. Dann kann der Arzt noch einmal nachfragen, wenn er den Eindruck hat, dass dem Patienten möglicherweise moderne oder zeitgemäße Behandlungsmethoden, zum Beispiel eine gute Schmerztherapie, nicht bekannt waren. Die Entscheidung des Patienten, sein aktueller Wille ist selbstverständlich bindend. Bei der Patientenverfügung sieht das anders aus: Dem Arzt liegt ein Schriftstück mit einer Unterschrift vor. Er kann nicht nachfragen. Der Patient kann seine Ausführungen auch nicht mehr erläutern und interpretieren. Es gibt in Deutschland rund 200 gängige Musterformulare für Patientenverfügungen. Kein Arzt kann wirklich wissen, ob der Patient das richtige Formular beispielsweise aus dem Internet heruntergeladen hat oder eher zufällig unter www.patientenverfuegung.de eine Patientenverfügung erhalten und unterschrieben hat. ({4}) Meine kurze Darstellung zeigt - das ist unstreitig -, dass der aktuelle und der voraus verfügte Wille eben nicht gleich sein müssen. Das, was ich vor einem Jahr, vor fünf Jahren, vor zehn Jahren oder vor fünfzehn Jahren festgelegt habe, ist möglicherweise etwas anderes als das, was ich aktuell will. ({5}) Herr Stünker, in dem von Ihnen unterstützten Gesetzentwurf wird von einem sehr elitären Ansatz, von sehr gut informierten Menschen ausgegangen. Aber nur wenige Menschen verfügen über hervorragende medizinische und rechtliche Kenntnisse und können so eine mögli18264 cherweise eintretende Sterbesituation umfassend vorbereiten. ({6}) - Sie sind nicht zu dumm. Aber viele Menschen trauen sich nicht zu, eine Entscheidung zu treffen. ({7}) Ich sehe ein weiteres Problem in Ihrem Gesetzentwurf. Der Lebensschutz ist nicht ausreichend berücksichtigt. In der Verfassung gibt es das Gebot, für einen schonenden Ausgleich zwischen den Werten Selbstbestimmung und Lebensschutz zu sorgen. Das ist Aufgabe des Gesetzgebers. ({8}) Wir bekommen einen solchen Ausgleich entweder über eine Reichweitenbegrenzung - ich verweise auf die Enquete-Kommission und den Bosbach-Entwurf - oder über starke Sicherungsmittel hin, dass Menschen nicht irrtümlich oder deshalb, weil sie nicht einwilligungsfähig waren, eine Patientenverfügung unterschreiben, die ihnen schadet. ({9}) Herr Stünker, ich sehe bei Ihrem Entwurf die Gefahr, dass ein Mensch irrtümlich eine Patientenverfügung unterschreibt und dass dann die Behandlung einer heilbaren Krankheit eingestellt wird. Ein falsches Kreuz bei einer Multiple-Choice-Patientenverfügung, und schon ist es geschehen. Ein falscher Baustein aus einer Gruppe von Bausteinen, und schon ist es geschehen. Das falsche Formular am Schriftenstand mitgenommen und unterschrieben, und schon ist es geschehen. Ich selber habe als Notar viele Beratungen, in denen es um Patientenverfügungen ging, durchgeführt und war jedes Mal erstaunt, wie unterschiedlich der gleiche Satz von verschiedenen Menschen interpretiert wird. Daher sind Patientenverfügungen ohne Reichweitenbegrenzung eine ganz scharfe Waffe, die der Mensch gegen sich selber richtet. Weiß der Arzt, der Betreuer oder der Bevollmächtigte wirklich, ob der Wille geändert ist, ob der Betreffende einwilligungsfähig war oder ob er die Sätze richtig verstanden hat? Wer nicht mehr einwilligungsfähig ist, mit dem kann man keine Gespräche mehr führen und dem kann man auch keine Rückfragen stellen. Das ist die Kritik an Ihrem Entwurf. Ich kann mir vorstellen, dass wir möglicherweise einen Kompromiss finden müssen, weil weder Ihr Gesetzentwurf noch andere Gesetzentwürfe eine Mehrheit haben, weder hier im Haus noch in der Gesellschaft. Ich kann mir folgenden Kompromiss vorstellen: Es gibt eine einfache Patientenverfügung mit einer Reichweitenbeschränkung, die ethisch weitgehend unproblematisch ist. Hier müssen wir keine hohen Hürden aufbauen, was Beratung, Aktualisierung sowie Überprüfung der Urheberschaft und der Einwilligungsfähigkeit betrifft. Das ist quasi eine Volkspatientenverfügung. Des Weiteren gibt es eine qualifizierte Patientenverfügung für diejenigen, die sich sehr intensiv mit der Sache befasst haben, die sich medizinisch und rechtlich haben beraten lassen, deren Urheberschaft und Einwilligungsfähigkeit festgestellt wurde und deren Patientenverfügung nachweisbar regelmäßig aktualisiert wurde, sodass man weiß, dass sie weitgehend dem aktuellen Willen entspricht. Diese qualifizierte Patientenverfügung wird für einen kleineren Teil der Menschen sein, für diejenigen, die sich mit der Sache intensiv befassen und die Hürden überwinden wollen. In dem vorliegenden Gesetzentwurf und in den anderen Gesetzentwürfen, die wir alle kennen, manifestieren sich Grundüberzeugungen. Ich selber trage den Bosbach-Entwurf mit, weil eine Reichweitenbegrenzung meiner Grundüberzeugung entspricht. Aber genauso wie in vielen anderen ethischen Fragen müssen wir manchmal Kompromisse eingehen und die eigenen Grundüberzeugungen mit denen der anderen in einen Ausgleich bringen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass das beschriebene zweistufige Verfahren eine Mehrheit sowohl in der Gesellschaft als auch hier im Hause findet, weil es beide Interessen abbildet und das Risiko minimiert, dass Menschen versehentlich aufgrund einer radikalen Patientenverfügung, die sie gar nicht wollten, nicht behandelt werden und sterben, weil sie die Konsequenzen nicht abgesehen haben. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Lukrezia Jochimsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003777, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht in unserem Gesetzentwurf nicht um eine radikale Patientenverfügung. Die große Mehrheit der Bevölkerung - alle Umfragen, die wir kennen, deuten darauf hin - wünscht sich ein Rechtsinstitut der Patientenverfügung, wie wir es jetzt diskutieren, schon seit langer Zeit. ({0}) Über ein Jahr ist es her, dass wir hier zum ersten Mal über die Patientenverfügung debattiert haben. Damals habe ich gesagt: Es geht um eine Kernfrage der durch das Grundgesetz geschützten Würde und Freiheit des Individuums und um das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Deswegen ist es eine Aufgabe für uns alle, in unserem Land endlich die rechtliche Möglichkeit dafür zu schaffen, selbstbestimmt sterben zu können. Ich habe versprochen, dass sich die Linksfraktion aktiv an dieser zu leistenden gesetzgeberischen Anstrengung beteiligen wird. Heute spreche ich hier für 24 Abgeordnete meiner Fraktion, die den Gruppenantrag nach ausführlicher Diskussion des Für und Widers namentlich mit eingebracht haben. 24 Abgeordnete entsprechen fast der Hälfte unserer Fraktion. Das macht deutlich, dass es auch in unseren Reihen andere Positionen gibt, auch noch die der Unentschlossenheit. Es ist heute ja auch die erste Lesung zu diesem Gesetz. Wir 24 aber sind uns einig, dass es höchste Zeit wird, das Rechtsinstitut Patientenverfügung rechtlich zu verankern und zum Schutz der Betroffenen verfahrensrechtliche Regelungen zu treffen. Patientenverfügungen sind nichts Neues. Seit Jahren gibt es sie als grundsätzlich verbindliche Dokumente, in denen schriftlich festgelegt ist, welche Therapie sich der Verfügende wünscht und welche er ausschließt. Es wird geschätzt, dass mehr als 8 Millionen Bürger und Bürgerinnen - das wurde schon gesagt - diese Willenserklärung bereits verfasst haben. Wie viele davon tatsächlich geachtet und wie viele missachtet werden, wissen wir nicht. Ein Blick in Zeitungen oder Fernsehdokumentationen lässt Schreckliches vermuten, und zwar weit über Einzelfälle hinaus. So wies die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung am 15. Juni dieses Jahres unter der Überschrift „Sterben verboten“ in einem Dossier auf den massenhaften Einsatz von Magensonden hierzulande hin. Ich zitiere: Die Zwangsernährung Sterbender wird in Deutschland schleichend zum medizinischen Standard … Etwa 140 000 Ernährungssonden werden jedes Jahr in Deutschland gelegt, zwei Drittel davon bei Bewohnern von Pflegeheimen. Es geht also um fast 100 000 Fälle künstlicher Ernährung in Pflegeheimen jedes Jahr. ({1}) Wenn das so ist - niemand hat diese Angaben bisher dementiert oder auch nur berichtigt -, dann wäre es allein schon wegen dieses Zustandes aus meiner Sicht wichtig, dass sich Menschen per Patientenverfügung wehren können und der Gesetzgeber sie endlich schützt. ({2}) Von welchem Grundsatz lassen wir uns bei diesem Gesetzentwurf leiten? Vom Grundsatz, dass der Mensch während seines gesamten Lebens Anspruch auf Achtung seines Selbstbestimmungsrechts hat und dass dieses Selbstbestimmungsrecht nicht mit dem Verlust der Einwilligungsfähigkeit endet, dass also Entscheidungen, die im Zustand der Einwilligungsfähigkeit getroffen werden, auch später für diejenigen bindend sind, die dann die Entscheidungen treffen müssen: Ärzte, Betreuer, Angehörige. Das ist eine schwere Aufgabe und eine schwierige Gratwanderung. Aber schwerste Krankheit, Sterben und Tod stellen uns vor schwere Aufgaben und nötigen uns schwierige Gratwanderungen ab. Darüber können wir uns hier nicht einfach hinwegsetzen. ({3}) Leichte Lösungen lassen sich in dieser Situation nicht finden. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz und der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche haben uns in einem Brief auf Folgendes hingewiesen: In der Ausübung seines Selbstbestimmungsrechtes ist der Mensch darauf angewiesen, dass andere Menschen sich seiner annehmen; das gilt gerade in Zeiten der Krankheit und Hinfälligkeit. Genau dies stellen wir in den Mittelpunkt unserer Überlegungen, wenn wir unter Punkt 2 der Begründung erklären: Da sich der nicht mehr einwilligungsfähige Patient in der Regel nicht mehr äußern kann, ist ein Dialog ({4}) - hören Sie doch einmal zu ({5}) zwischen den an der Behandlung Beteiligten erforderlich, in dem über die Vornahme ärztlicher Maßnahmen entschieden wird. Dieser Prozess hat so weit wie möglich die Durchsetzung des zu einem früheren Zeitpunkt geäußerten Patientenwillens zu sichern. Gleichzeitig muss er die sich aus Artikel 2 Abs. 2 des Grundgesetzes ergebende Pflicht des Staates umsetzen, das Leben und die körperliche Unversehrtheit des Menschen zu schützen. Dies bedeutet keinen Widerspruch. Die staatlichen Verpflichtungen richten sich nicht gegen den Menschen und seine selbstbestimmte Entscheidung, auch wenn diese sich gegen lebensverlängernde oder gesundheitserhaltende Maßnahmen richtet. Vielmehr gewährleisten der Dialog zwischen den an der Behandlung Beteiligten und im Konfliktfall das vormundschaftsgerichtliche Verfahren, dass der Patientenwille sorgfältig ermittelt wird. Dieser abwägende Dialog, an dem der Patient durch seine Verfügung mitbeteiligt ist, soll durch das neue Recht ermöglicht werden. Das ist im ureigensten Interesse der Kranken, aber auch der Ärzte, Betreuer und Angehörigen. Viel wird ihnen in den Situationen zwischen Leben und Tod abverlangt. Da haben sie ihrerseits das Recht, sicher zu wissen, was ihre Patienten, ihre Angehörigen wollen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Eichhorn?

Dr. Lukrezia Jochimsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003777, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, bitte.

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, Sie haben gerade den Brief der Bischöfe zitiert. Ich habe den Brief als Kritik an Ihrem Gesetzentwurf verstanden. ({0}) Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie den Brief als Unterstützung Ihrer Position verstehen?

Dr. Lukrezia Jochimsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003777, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Überhaupt nicht! Ich habe zitiert, ({0}) dass die Bischöfe uns gesagt haben: Menschen sind auf die Fürsorge anderer angewiesen. Anschließend habe ich unsere Begründung zitiert, die genau dieses bis in den Kern beschreibt. Es geht um einen Dialog. ({1}) Es geht um andere. Genau dieses habe ich beschrieben und aufgenommen. ({2}) Über eine Tatsache wollen wir nicht hinwegtäuschen: Mit der rechtlichen Anerkennung von Patientenverfügungen allein schaffen wir nicht humanere Bedingungen für Sterben und Tod. Wir haben hierüber in der vergangenen Wochen diskutiert; darauf ist mehrfach hingewiesen worden. Dafür ist eine neue Medizin und vor allem ein anderes gesellschaftliches Bewusstsein notwendig, das Verantwortung und Fürsorge für Kranke und Sterbende nicht ausblendet. Aber: Abbau von Ängsten und Unsicherheit - das kann dieses neue Recht schaffen, und das ist nicht wenig. Kürzlich hat der Vorstand der Deutsche-Hospiz-Stiftung Eugen Brysch das so formuliert: Wir erleben in der Praxis täglich, dass die Menschen, die bei uns Rat einholen, künstliche Ernährung kategorisch ablehnen. Dahinter steht die Angst vor einem jahrelangen Dahinvegetieren, vor einem Leben ohne Lebensqualität, das nur durch die Magensonde aufrechterhalten wird. Dieser Angst gilt es zu begegnen. Wohl wahr! Darum votieren wir 24 Abgeordnete der Linksfraktion für diese Gesetzesänderung. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort der Kollegin Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Grübel, bei Ihren Ausführungen habe ich mich gefragt, ob Sie Ihre Idee, man müsse den Menschen immer vor sich selber schützen, zu Ende gedacht haben. Ich frage Sie ganz ohne polemische Absicht, was Sie denn wohl tun würden, wenn Sie feststellen, dass eine schwer herzkranke Frau ihre Medikamente nicht nimmt. Sie würden doch nicht ernsthaft an eine Zwangsbehandlung denken. ({0}) In einer modernen Gesellschaft muss man es tolerieren, dass sich Menschen in einer Weise verhalten, die ganz viele von uns als absolut unverantwortlich erachten. Aber das ist so. Alles andere ist entweder eine sehr traditionelle Gesellschaft mit sehr festgefügten Normen, die gnadenlos durchgesetzt werden, oder letztendlich ein Polizeistaat. ({1}) Meine Damen und Herren, ein Arzt hat einmal zu mir gesagt: Wo früher das Wohl des Patienten galt, gilt heute nur noch der Wille. Er sagte das, lieber Josef Winkler, mit dem Ausdruck resignativer Traurigkeit, weil er die Orientierung am Patientenwillen als Absage an die Verantwortung des Arztes und an die Möglichkeiten der modernen Medizin begriff. Tatsächlich hat sich die Kultur der medizinischen Behandlung in unserer Gesellschaft in den letzten Jahren und Jahrzehnten verändert. Hatten unsere Eltern vielleicht noch zum Arzt gesagt: „Ja, wenn Sie meinen, Herr Doktor“, so sagt der Mensch heutzutage: „Ich will wissen, welche Alternativen es gibt, Herr bzw. Frau Doktor, und ich will mich für die Alternative entscheiden, die für mich richtig ist.“ Das ist mitnichten eine Absage an die Kompetenzen des Mediziners; im Gegenteil: Es macht die Rolle des Arztes anspruchsvoller. Denn er oder sie sollte Alternativen beschreiben können, und er oder sie sollte gesprächsfähig sein. In einer Situation, in der sich der Betroffene nicht mehr äußern kann, spielen diese Anforderungen an die ärztliche Kunst eine wichtige Rolle; denn auch dann muss der Arzt Alternativen beschreiben können, zum Beispiel ob Akutmedizin oder eine palliative Behandlung die Wahl ist, wie wichtig Lebensverlängerung sein könnte, was Lebensqualität heißt und wo ein möglicher Zielkonflikt zwischen den beiden liegt. So schwierige Fragen können und sollen zwei lebendige Menschen erörtern. Das kann der Arzt und die Ärztin und zum Beispiel die mit einer Vorsorgevollmacht ausgestattete Ehefrau sein. Die Entscheidung, die der Patient nicht mehr treffen kann, liegt dann bei ihr. Es ist eine eigene Entscheidung von ihr, es ist nicht die des Betroffenen. Ich glaube, diese Möglichkeit will hier niemand abschaffen. Aber die andere Möglichkeit ist die eines Gesprächs zwischen Arzt und Betreuerin, die gemeinsam versuchen, eine Patientenverfügung auf die gegebene Situation anzuwenden. Ich muss sagen: Ich verstehe die Kolleginnen und Kollegen nicht, die eine solche Vorabfestlegung und das Gespräch darüber als etwas Obszönes zu brandmarken versuchen. ({2}) Das Argument, man könne nicht wissen, ob man in einer existenziellen Krise oder in der Situation des Sterbens noch so denke wie zuvor, mag zutreffen. Ich habe zwar einiges für die These übrig, dass der Mensch so stirbt, wie er gelebt hat, das heißt, dass Grundhaltungen, die das Leben bestimmt haben, auch dann noch gelten, ({3}) aber ich gestehe ihnen zu: Es ist ein Risiko. Wir haben aber Verfahrensweisen in dieser Gesellschaft, wie wir Menschen beistehen, denen wir eine eigene Entscheidung nicht zutrauen. Ich meine etwa Entscheidungen im Namen des Kindeswohls. Wenn Eltern überfordert sind, dann tritt das Gericht ein. Einem unmündigen Kind muten wir keine existenzielle Entscheidung zu. Aber ein erwachsener sterbender Mensch ist kein Kind, und Patientenwohl kann nicht heißen, dass andere sagen, was für diesen Menschen gut ist. ({4}) Vielmehr kann immer nur der eigene Wille maßgebend sein, soweit er zuvor geäußert wurde. Alles andere würde bedeuten, dass die Begegnung auf Augenhöhe, die sich in der modernen Medizin herausgebildet hat, wieder durch die überlegene Autorität des Halbgottes in Weiß oder eventuell in Schwarz, wenn es um die Richterrobe geht, ersetzt wird.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Bender, ich muss Sie an Ihre Zeit erinnern.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ein abschließender Satz, Frau Präsidentin. - Wer eine Patientenverfügung aufsetzt, geht auch ein Risiko ein. Aber wir sollten der Anmaßung widerstehen, den Menschen vor solchen Risiken bewahren zu wollen. Ich finde, diese Entscheidnungsmöglichkeit gehört zu einer freiheitlichen Gesellschaft. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Carola Reimann, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass wir heute über die Patientenverfügung diskutieren. Das Thema bewegt viele Menschen. In Gesprächen und in den durchweg gut besuchten Veranstaltungen zu diesem Thema ist das sehr deutlich zu spüren. So groß das Interesse ist, so groß ist aber auch die Verunsicherung vieler. Viele Menschen fragen sich, ob ihre Ärzte ihre Patientenverfügung im Krankheitsfall wirklich befolgen werden. Auf der anderen Seite haben viele Ärzte Angst vor rechtlichen Konsequenzen, wenn sie auf bestimmte lebenserhaltende Maßnahmen verzichten. Hier muss endlich Rechtssicherheit geschaffen werden. Die Debatte um Patientenverfügungen ist nicht einfach irgendeine politische Debatte. Es ist ein hoch emotionales Thema, das grundlegende Fragen nach dem Umgang mit Krankheit und Sterben aufwirft. Das sind Fragen, die jeder hier im Hause auch für sich selbst nach seinem eigenen Gewissen entscheiden muss. Ich finde, dass Parteipolitik bei diesem Thema nichts verloren hat. Deshalb wird der vorgelegte Entwurf auch von Parlamentariern aus verschiedenen politischen Lagern getragen. Die Ernsthaftigkeit der Stammzelldebatte hat gezeigt, dass es der Sache durchaus dienlich ist, wenn Parteipolitik in diesem Hause für kurze Zeit einmal keine Rolle spielt. ({0}) Ich unterstütze den Stünker-Entwurf, weil er das Selbstbestimmungsrecht des Menschen ins Zentrum stellt. Kann ein Patient sich nicht mehr äußern, muss der in der Patientenverfügung festgelegte Wille gelten, und zwar unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung. Wenn ich mich bei vollem Bewusstsein gegen eine Behandlung entschließe - sei es medizinisch auch noch so unsinnig; die Kollegin Bender hat ein entsprechendes Beispiel gebracht -, darf mich auch heute niemand gegen meinen Willen behandeln. Dieses Recht auf Selbstbestimmung darf meiner Überzeugung nach nicht mit dem Verlust der Äußerungsfähigkeit enden. ({1}) Patientenverfügungen sind Vorausverfügungen; das ist bereits angeklungen. Natürlich ist eine Vorausverfügung nicht mit einer aktuellen, bei vollem Bewusstsein in der Arztpraxis oder im Krankenhaus getroffenen Entscheidung gleichzusetzen. Dieser Problematik trägt der vorliegende Entwurf jedoch ausreichend Rechnung. Denn entgegen vielfachen Behauptungen soll nicht einfach das, was in der Patientenverfügung steht, ohne Prüfung übernommen werden. In der konkreten Erkrankungssituation des Patienten müssen Arzt und Betreuer bzw. Bevollmächtigter feststellen, ob die Patientenverfügung, erstens, auf die aktuelle Lebenssituation und Behandlungssituation zutrifft, ob sie, zweitens, für diese Situation eine Entscheidung über die anstehende ärztliche Maßnahme enthält und ob sie, drittens, noch dem aktuellen Willen des Patienten entspricht. Diese Hürden sind für mich entscheidend, denn sie verlangen von den Verfassern von Patientenverfügungen, dass sie sich präzise schriftlich äußern und ihre Verfügung regelmäßig aktualisieren, wenn sie sicherstellen wollen, dass ihre Verfügung von Arzt und Betreuer oder Bevollmächtigtem als auf die aktuelle Situation zutreffend gewertet werden kann. Dies setzt meiner Meinung nach auch voraus, dass der Verfasser sich vorab umfassend informiert. Denn nur dann ist er in der Lage, eine solche Verfügung überhaupt entsprechend zu verfassen. Mir ist wichtig, dass diese Vorausverfügung eine informierte und reflektierte Entscheidung ist. Es ist eine sehr persönliche Entscheidung, die mit Multiple Choice nichts zu tun hat. ({2}) Bei einer Vorausverfügung stellt sich natürlich immer die Frage, inwiefern man jetzt über eine Extremsituation in der Zukunft entscheiden kann, die man noch nie erlebt hat. Wer kann garantieren, dass man in dieser Situation nicht doch eine andere Einstellung zu lebenserhaltenden Maßnahmen hat? - Das kann natürlich keiner. Aber soll man daraus schlussfolgern, dass es besser ist, andere über das eigene Schicksal entscheiden zu lassen? Nein! ({3}) Natürlich kann ich mich vorab nur schwer in mögliche Extremsituationen hineinversetzen. Man löst dieses Dilemma aber nicht auf, indem man diese Entscheidung einer zweiten Person, zum Beispiel dem Arzt, allein überlässt. Auch mein Arzt kennt die Situation nicht, denn auch er oder sie hat sie nicht erlebt oder durchlebt. Aber im Gegensatz zu meinem Arzt kenne ich beim Verfassen der Verfügung, die freiwillig ist, mich und meine Einstellung zu Krankheitsbehandlung, Lebensverlängerung und Lebenserhaltung sehr genau, und zwar besser als jeder andere. ({4}) Aus diesem Grund ist es richtig, dass Patientenverfügungen als Ausdruck des freien Willens ohne Reichweitenbeschränkungen, aber mit genauer individueller Prüfung verbindlich sein sollen. Wir diskutieren bereits seit Jahren über eine gesetzliche Regelung für Patientenverfügungen. Ich halte dies angesichts des sensiblen Themas auch für gerechtfertigt. Allerdings sollten wir nun, nach erneuter monatelanger Verschiebung, langsam zum Ziel kommen. ({5}) Es gab genügend Zeit zur Positionierung. Neben dem Stünker-Entwurf stehen noch einige andere Vorschläge im Raum. Ich hoffe sehr, dass die heutige Debatte Startpunkt für eine zügige und abschließende Diskussion ist, die dann möglichst bald zu der dringend erforderlichen gesetzlichen Regelung führen soll. Danke schön. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger, FDP-Fraktion. ({0})

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Professor Borasio, Inhaber eines Stiftungslehrstuhls für Palliativmedizin am Klinikum Großhadern in München, gehört zu den Ärzten, die sich ausdrücklich für eine Regelung zur Verbindlichkeit einer Patientenverfügung aussprechen. Im Kreise seiner Kolleginnen und Kollegen, sowohl in der Ärzteschaft als auch unter den Pflegekräften, wirbt er dafür, weil er in seiner Arbeit auf der Palliativstation am Klinikum Großhadern täglich erlebt, dass es ganz schwierige Situationen eines vielleicht würdelosen Siechtums geben kann, wenn zu einem Zeitpunkt, zu dem man sich noch damit befassen kann, für die Situation der Entscheidungsunfähigkeit nicht Vorkehrungen getroffen worden sind und die eigene Vorstellung zu diesem schwierigen Prozess eines zeitlich nicht vorhersehbaren Siechtums nicht näher bestimmt worden ist. Professor Borasio sagt zu Recht: Im Moment, ohne ein Gesetz, ist die Rechtsunsicherheit riesengroß, vor allem bei den Menschen, die durch öffentliche Berichterstattung, etwa in Form von Zeitungsberichten, aber auch im eigenen Umfeld immer stärker erleben, mit welch großen Schwierigkeiten es verbunden sein kann, den Willen eines Menschen, der sich nicht mehr äußern kann, in dieser schwierigen Phase durchzusetzen. Professor Borasio weiß, dass auch Ärzte in einer schwierigen und unsicheren Lage sind. Sie können nicht die gesamte BGH-Rechtsprechung in ihren Verästelungen kennen, was die Frage angeht, wie sich Ärzte zu entscheiden haben. Von daher ist es in meinen Augen notwendig, dass wir nach guter Orientierungsdebatte vor einiger Zeit jetzt in Gesetzesberatungen eintreten. Dazu liegt ein Entwurf vor, der ganz konkrete Formulierungen zum Betreuungsrecht im Bürgerlichen Gesetzbuch enthält. ({0}) Alle, die sagen, wir machten es uns zu einfach, sollten zur Kenntnis nehmen: Unser Gesetzentwurf baut auf der höchstrichterlichen Rechtsprechung der letzten Jahre auf. Das war unser Maßstab. ({1}) Wir alle haben aber nicht jeden Tag das Grundgesetz oder diese Rechtsprechung unter dem Arm. Wir können auch nicht erwarten, dass alle anderen diese Vorschriften kennen. Deshalb müssen wir Regelungen schaffen. In § 1901 a BGB - das steht in Art. 1 des Gesetzentwurfs - regeln wir in sorgfältiger Form, dass die Patientenverfügung eine sicherere Grundlage - im Hinblick auf Verbindlichkeit und Durchsetzbarkeit bekommt. Wir haben es uns nicht leicht gemacht und nicht mal eben so eine einfache Regelung hingeschrieben, sondern wir machen ganz deutlich, welche Aufgabe der Betreuer oder der Bevollmächtigte - wir nennen beide - hat. Denn wir wissen: Eine Patientenverfügung kann noch so sorgfältig überlegt sein - es können Situationen eintreten, die davon nicht erfasst sind; es ist auch möglich, dass man keine klare Meinung herauslesen kann. Genau da liegt die Aufgabe des Betreuers. Er sieht, wo die Verfügung nicht greift. Wir legen hiermit fest: Wenn die Voraussetzungen, die wir benennen, nicht vorliegen, muss der Wille durch den Betreuer oder durch andere ermittelt werden. Das ist ein ganz großer, ein ganz wichtiger Schritt. Er wird erwartet. Große Teile der Bevölkerung hoffen darauf, dass wir uns dieser Erwartungshaltung mutig stellen. Deshalb unterstützen wir, die große Mehrheit der FDP-Fraktion, den Entwurf und freuen uns auf konstruktive Beratungen nach der Sommerpause. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Julia Klöckner, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was ist der Grund der heutigen Auseinandersetzung? Dass wir alle sterben müssen? Wohl kaum; denn keiner von uns wird so vermessen sein, zu meinen, das verhindern zu können. Es geht aber darum, wie wir sterben werden. Vorab: Eines ist ganz klar, nämlich dass wir nicht alle möglichen Eventualitäten des Lebens und Sterbens in ein Gesetz fassen können. Machen wir uns auch nichts vor: Den Tod können wir überhaupt nicht regeln. Das den Bürgerinnen und Bürgern zu versprechen, wäre sicherlich nicht lauter. ({0}) Klar ist: Leiden will keiner am Lebensende und auch nicht Opfer einer nicht enden wollenden Apparatemedizin sein. Es ist auch verständlich, warum zum Beispiel eine Frau in ihre Patientenverfügung schrieb - ich zitiere -: „Ich möchte nie an Schläuchen liegen und nie eine PEGSonde bekommen.“ Ich hielt diese Patientenverfügung einer 70-jährigen Frau in meiner Sprechstunde in den Händen. Sie sagte noch einmal zu mir: „Ich will nicht auf einer Intensivstation an diesen piependen Apparaten mit diesen ganzen Schläuchen liegen. Ich möchte auch nicht künstlich durch eine PEG-Sonde ernährt werden müssen, sondern sterben können.“ Man kann mitfühlen, wovor sich diese Dame fürchtete, welche Angst und welche Sorgen sie hatte. Sie betonte in diesem Gespräch auch noch einmal: „Frau Klöckner, ich lege Wert darauf, dass mein Wille umgesetzt wird, der dort drinsteht.“ Das war, liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor sie erfuhr, dass man auch bei einer einfachen Blinddarmoperation an Schläuchen liegt. Das war, bevor sie erfuhr, dass eine PEG-Sonde auch vorübergehend gelegt werden kann, um notwendige Arzneien besser verabreichen zu können. Die Dame hat diese Patientenverfügung zerrissen, weil, wie sie selber sagte, sie fürchtete, dass ihr eigenes schriftliches Wort lebensbedrohlich sein könnte. ({1}) Sollte der Stünker-Entwurf Gesetz werden, sollte der schriftliche Wille des Patienten grundsätzlich unter allen Umständen gelten, sollte dieser niedergeschriebene Wille unabhängig von Art, Umfang und Stadium der Erkrankung Wirkung erhalten, dann wäre diese Dame, hätte sie an Schläuchen liegen müssen, hätte sie eine PEG-Sonde erhalten müssen ({2}) und wäre sie nicht mehr ansprechbar gewesen, vielleicht schon tot. ({3}) Solche Irrtümer möchten wir verhindern. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Jochimsen?

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, sie war ja eben dran, und ich möchte gerne weitermachen. ({0}) - Ich gehe aber gerne auf den Zwischenruf ein: Sie hat sie deshalb zerrissen, weil wir darüber gesprochen hatten und sie auch mit ihrem Hausarzt darüber gesprochen hatte. ({1}) Hätte diese Dame aber nicht den Weg in die Sprechstunde gefunden und nicht daraufhin mit einem Arzt gesprochen, sondern diese Patientenverfügung als solche bei sich gehabt, dann wäre ihr genau dieser gerade beschriebene Irrtum unterlaufen. Das ist kein Irrtum, den man einfach vom Tisch wischen kann, sondern ein solcher Irrtum kann tödlich sein. ({2}) Bedenke das Ende und auch, was ein Gesetz im schlimmsten Falle anrichten kann. Allein was im Gesetz steht, ist nämlich entscheidend, und nicht, was darüber Schönes gesagt worden ist. Zurück zu meiner eben erwähnten Dame: Wenn sie bei Bewusstsein ist, kann sie mit dem Arzt reden und sich beraten und auch aufklären lassen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schieder?

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich würde jetzt gerne meine Rede zu Ende bringen. ({0}) Deshalb halte ich es für ziemlich haarig, unberaten einen vermeintlichen Willen zum Lebensabbruch durchzusetzen - den Willen eines Patienten, der gar nicht wusste, was in einer bestimmten Krankheitssituation wirklich Sache ist. Herr Stünker sagte einmal - ich habe das dem Pressespiegel entnommen -, wenn das so ist, dann habe der Patient eben Pech gehabt. ({1}) Pech zu haben - ({2}) - Ich zitiere ja nur das, was im Internet gestanden hat. Wenn er es nicht so gesagt hat - ({3}) - Ich habe es aus dem Internet herausgeholt. Wenn Sie nach den Begriffen „Stünker“ und „Pech“ googeln, dann finden Sie das. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Klöckner, jetzt würde der Herr Kollege Stünker gerne eine Zwischenfrage stellen.

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Stünker, Sie dürfen.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Kollegin Klöckner, ich glaube, wir sollten dieses Thema weiter sachlich behandeln. ({0}) Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich eine solche Äußerung, wo immer sie gestanden haben mag und wer das auch geschrieben haben mag, nie gemacht habe? Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis!

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn Sie das so sagen, dann wird das wohl stimmen.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Allein der Wortgebrauch, Frau Kollegin, wäre nicht mein Niveau. Danke schön. ({0})

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Stünker, eine Vertreterin Ihres Gesetzentwurfs hat eben gesagt: Es ist ein Lebensrisiko, es kann passieren, und dann soll man das auch hinnehmen. Das geht etwa in die gleiche Richtung. ({0}) Wenn Sie behaupten, Sie hätten das nicht gesagt, dann nehme ich das zurück. Ich verweise nur darauf, dass es im Internet so steht. Wir können uns nachher gern noch einmal darüber unterhalten. Herr Stünker, ein zentraler Konstruktionsfehler und meiner Meinung nach der ethische Schwachpunkt in diesem Gesetzentwurf ist, dass eine Patientenverfügung, die auf Behandlungsabbruch zielt, unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung verbindlich sein soll. Damit wird der Bereich erlaubter Sterbehilfe überschritten. Wenn es auf die Art und das Stadium einer Erkrankung gar nicht mehr ankommt, dann ist das meiner Meinung nach der Grund, warum wir einen anderen Gesetzentwurf und einen neuen Kompromiss brauchen. Wir möchten die Sterbehilfe auf Sterbende beschränken. Die meisten von uns denken bei Sterbehilfe eigentlich an unheilbar Krebskranke, an hochbetagte Menschen, denen unnötige Operationen erspart werden sollen. Wenn die Patientenverfügung über Sterbehilfesituationen hinaus dazu dienen soll, jederzeit den eigenen Tod anordnen zu können, ({1}) dann kommt das der verbotenen aktiven Sterbehilfe und auch dem Töten auf Verlangen bedenklich nahe. Vertreter dieses Gesetzentwurfes haben gesagt, dass natürlich kein dummes Zeug, das in einer solchen PaJulia Klöckner tientenverfügung steht, umgesetzt werden soll. Aber wer bestimmt denn, was dummes Zeug ist und was nicht? Wir schulden meiner Meinung nach den Betroffenen, den Betreuern, den Angehörigen und den Ärzten - auch Sie sagen dies - Rechtsklarheit über die Wirkung einer gültigen Patientenverfügung. Eine gesetzliche Regelung sollte sicherstellen, dass das Selbstbestimmungsrecht der Patienten gestärkt wird, aber ohne dass bei der Umsetzung einer Verfügung das Wohl der Patienten völlig belanglos wird. Insofern halten wir es auch für unverständlich oder nicht nachvollziehbar, dass zum Beispiel im Stünker-Entwurf die Angehörigen keine Rolle spielen, dass sie nicht automatisch gehört werden sollen. ({2}) Das Problem beim Stünker-Entwurf ist: Im Begründungsteil ist vieles sehr sensibel formuliert; aber letztlich gilt das, was im Gesetz steht. Das Gesetz ist das Entscheidende und nicht das, was in der Begründung steht oder was Sie über Ihr Gesetz sagen. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Klöckner, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern. Ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir sind der Meinung, dass wir beides im Blick haben sollten: Selbstbestimmung, aber auch die Schutzfunktion des Staates. Das sind Mindeststandards einer humanen Gesellschaft. Leben braucht Liebe, und auch Sterben braucht Liebe und deshalb eine menschenwürdige Begleitung. Dazu kann es keine Alternative geben. Besten Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort der Kollegin Katrin GöringEckardt, Bündnis 90/Die Grünen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Verurteilt zum Leben“ und „Sterben verboten“ sind die Überschriften dieser Tage. Wahrscheinlich sind es nicht umsonst zwei juristische Begriffe. Man hat in Deutschland heute keine Angst vor dem Tod. Man hat Angst vor dem Sterben - es ist darüber gesprochen worden -; man hat Angst vor würdelosem Sterben, vor Schläuchen, Neonlicht, Beatmungsmaschinen und ganz besonders vor künstlicher Ernährung. Es ist die Angst, ohne eine Hand zu sein, ohne den Blick, der den Menschen wirklich meint, der fragt: Was will er oder sie tatsächlich? Die zusammengekniffenen Lippen sind wahrscheinlich das allerbeste Zeichen für das, was jemand möchte, wenn er nicht künstlich ernährt werden will. Dafür braucht es in erster Linie den Blick, das Hinsehen, in zweiter Linie vielleicht eine Patientenverfügung. Können wir wirklich sagen, dass all das, wovor diese Menschen Angst haben, mit dem Gesetzentwurf über die Patientenverfügung, der heute hier vorliegt, anders wird? ({0}) Helfen Paragrafen, einige Blätter Papier, das zu definieren, was hier Selbstbestimmung genannt wird? Nach unserer letzten Debatte hier im Plenum haben viele Kolleginnen und Kollegen sehr zweifelnd gefragt: Was können wir an dieser Stelle eigentlich überhaupt regeln? Auch mich hat diese Frage sehr umgetrieben. Sterben ist eben kein Wenn-dann-Schema. Irgendetwas ankreuzen, was dann Sicherheit, ja Rechtssicherheit versprechen soll, Planbarkeit suggeriert, die niemals zu erlangen ist wird das dem Sterben gerecht? Nein, es geht nicht darum, Menschen vor sich selbst zu schützen. Das würde meinem Begriff, meiner Vorstellung von Freiheit völlig widersprechen. ({1}) Es geht darum, zu Selbstbestimmung zu verhelfen, auch wenn man dieser Selbstbestimmung in diesem Augenblick selbst keinen Ausdruck geben kann. ({2}) Selbstbestimmung bedeutet immer auch Selbstverfügbarkeit. Ehrlich gesagt: Die Vorstellung, ich müsste mich im Leben immer an das halten, was ich einmal für mich beschlossen habe, erschreckt mich schon morgens beim Aufstehen. ({3}) Etwas Neues, etwas anderes zu denken, ein ungekanntes Gefühl plötzlich und ganz ohne Erwartung - all das sind doch Dinge, die wir im Alltag normal, sogar spannend und wünschenswert finden. Und trotzdem: Es bleibt die sehr verständliche Angst, ausgeliefert zu sein. Wie entsteht die Sicherheit, dass mit mir nicht geschieht, was ich ganz bestimmt nicht wollte und auch nicht wollen würde? Ich bin überzeugt, diese Sicherheit entsteht auch mit Patientenverfügungen, aber vor allem mit dem Gespräch, mit dem Eingebettetsein in die Menschen und in die Vorgänge, die im Leben eine Rolle gespielt haben. Dieses sollten wir nicht ausschließen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ({4}) sondern fördern, indem wir die Vertrauensperson stärken. Dieser Vertrag, um den es hier geht, ist kein Vertrag, der widerrufbar ist. ({5}) Genau deswegen geht es eben nicht um Paternalismus. Dieser Vertrag ist einer, bei dem das Kleingedruckte erst danach entsteht. ({6}) Die Frage danach, ob man jemandem zur Last fällt, wird viele Menschen, die Patientenverfügungen schreiben, umtreiben und treibt sie schon heute um. Nein, es muss niemand eine Patientenverfügung unterschreiben; ({7}) aber auch wenn dies niemand muss, fühlen sich heute viele dazu getrieben, gezwungen oder zumindest implizit aufgefordert. ({8}) Ich finde, das sollten wir berücksichtigen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, auch Sie muss ich an die Zeit erinnern.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Ich will an dieser Stelle sagen: Nein, es geht nicht darum, jemanden vor sich selbst zu bewahren. Es geht nicht darum, liebe Birgitt Bender, die Freiheit einzuschränken, sondern es geht darum, die Freiheit auch in dem Augenblick zu bewahren, in dem ich ihr nicht mehr selber mit den eigenen und normalen Mitteln zum Ausdruck verhelfen kann. Um diese Freiheit und um diese Art von Empathie in unserer Gesellschaft geht es. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Christoph Strässer, SPD-Fraktion. ({0})

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir sind nach drei, vier, fünf Jahren sehr intensiver Diskussion zu diesem Thema in einem Stadium der Gesetzesberatung, das viele Beiträge, die ich heute hier gehört habe, nicht angemessen erscheinen lässt. Das möchte ich vorab sagen. ({0}) Frau Göring-Eckardt, ich meine, Sie haben eine sehr zutreffende Definition des Begriffes „Selbstbestimmung“ vorgenommen. Allerdings glaube ich, dass Sie diese mit Ihrer letzten Bemerkung gleich wieder zerstört haben. Denn es geht hier nicht darum, dass irgendjemand gezwungen werden soll, irgendetwas anzukreuzen, dass irgendjemand getrieben wird, irgendetwas zu machen. ({1}) Das ist absolut nicht der Fall. Ich definiere allerdings Selbstbestimmung so - ich glaube, das ist die zutreffende Definition -: Für denjenigen, der, ohne von irgendjemandem dazu gezwungen worden zu sein, beschreiben will, wie er sich sein Leben am Lebensende vorstellt, muss ich gesicherte Rahmenbedingungen schaffen, damit er dies kann, und ich muss gewährleisten, dass dieser Wille auch eingehalten wird. ({2}) Das ist Selbstbestimmung, und dafür treten wir in dieser Auseinandersetzung ein. ({3}) - Lesen Sie einmal alle Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 2 nach! Lesen Sie einmal alle Urteile des XII. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs in diesem Zusammenhang nach! Dann bekommen Sie vielleicht einen anderen Eindruck. Ich will auch zur Frage der Notwendigkeit einer Regelung etwas sagen. Nach meiner Wahrnehmung gibt es keinen anderen Bereich oder nur sehr wenige Bereiche, in denen aus der Mitte der Gesellschaft Ansprüche an den Gesetzgeber so gestellt worden sind wie zur Regelung dieses Sachverhalts. Wir tun gut daran, dies zur Kenntnis zu nehmen und hier eine Regelung zu schaffen, die transparent und nachvollziehbar ist und die letztendlich die Rechtssicherheit schafft, die wir in diesen Fragen brauchen. ({4}) Ich wehre mich ganz massiv dagegen, dass hier so getan wird, als bestehe ein Gegensatz zwischen der gesetzlichen Regelung einer Verfügung eines einzelnen Menschen einerseits und der Betreuung sowie der Verbesserung der Palliativmedizin andererseits. Das ist genau nicht der Fall. ({5}) Wir wollen Klarheit schaffen. Deutschland - das war in den letzten Jahren immer wieder ein Thema - liegt an letzter Stelle, was den Bereich Palliativmedizin angeht. Wir haben Nachholbedarf bei den Hospizbewegungen. Für die Ärzte, für die Pflegerinnen und Pfleger und für all die Menschen, die tagtäglich mit dem Sterben zu tun haben und die Angst haben, zu handeln, weil sie nach ihrer Meinung mit einem Bein im Gefängnis stehen, wollen wir Rechtssicherheit schaffen. Sie sollen keine Sorge um ihre persönliche Integrität haben und nicht Handlungen durchführen müssen, die ihnen zum Nachteil gereichen. Genau das wollen wir. ({6}) Die zentrale Frage, um die es geht, ist: Was darf und muss in einer Patientenverfügung verbindlich für den Fall geregelt werden, dass ein Patient entscheidungsunfähig wird? Wir haben hier schon Beispiele gehört, die aus meiner Sicht sehr klar sind. Wenn jemand, der entscheidungsfähig ist, formuliert, dass er keine lebenserhaltenden Maßnahmen will, dann ist jeder Eingriff, den der Arzt vornimmt, eine Körperverletzung. Ich kann nicht akzeptieren - damit komme ich auf mein Verständnis des Begriffes „Selbstbestimmung“ zurück; ich glaube, das ist das vorherrschende Verständnis -, dass diesem Patienten gesagt wird, dass der in einer bestimmten Situation von ihm geäußerte und schriftlich niedergelegte Wille in dem Augenblick endet, in dem er nicht mehr entscheidungsfähig ist. Das ist nach meiner Meinung das Ende der Selbstbestimmung eines Patienten, was die Regelung eines ganz konkreten Sachverhaltes angeht. ({7}) Ich will noch auf einen Punkt eingehen, den man rechtlich vielleicht schärfer formulieren müsste. Es ist der mutmaßliche Wille angesprochen worden, der zu ermitteln ist. Es ist zum Teil gesagt worden - das halte ich auch rechtlich für falsch -, wir können es deshalb nicht schärfer formulieren, weil der Wille des Betreuers im Zentrum steht. Nein, es geht darum - das gilt schon seit mehr als 120 Jahren; überall wird es praktiziert -, den Willen des Betreuten zu ermitteln. ({8}) Es geht nicht um den Willen des Betreuers oder des Bevollmächtigten, sondern um den Willen desjenigen, der sich nicht mehr äußern kann. Das Betreuungsrecht ist das maßgebliche Recht, wenn es um die Regelung geht, was ein Betreuer oder ein Bevollmächtigter in einer solchen Situation tun darf bzw. tun muss. Damit komme ich noch einmal auf das Selbstbestimmungsrecht zurück. ({9}) - Nein, ich lasse jetzt keine Zwischenfrage zu. - Was von den beiden großen Kirchen formuliert worden ist, ist aus meiner Sicht eine Fehlinterpretation. Wir sagen nicht, dass es nur um das Selbstbestimmungsrecht geht. Wir sind allerdings der Meinung, dass das Selbstbestimmungsrecht die zentrale Auslegungsrichtlinie für die Erforschung des Willens eines Patienten ist. Es ist nicht das einzige, aber das wesentliche Instrument, mit dem der Wille des Patienten erforscht werden kann, damit der Arzt oder der Betreuer zu einer entsprechenden Entscheidung kommen kann. Ich glaube, das ist eine zumutbare Entscheidung - auch unter ethischen Aspekten. Ich hoffe - ich wäre sehr froh darüber -, dass wir in dieser Diskussion in Zusammenarbeit mit Sachverständigen zu einer verantwortbaren Entscheidung kommen, die letztendlich das Leben des Menschen in den Mittelpunkt stellt. Denn in Deutschland ist Folgendes noch unterentwickelt: Der Tod und das Sterben sind Bestandteile des Lebens. Jeder Mensch hat letztendlich darüber zu entscheiden, wie er dies gestalten will. Dafür sollten wir eine vernünftige Regelung finden, und das ist im Moment der Stünker-Entwurf. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Hans Georg Faust, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Hans Georg Faust (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003114, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Diskussion über eine Patientenverfügung macht deutlich, dass wir uns an der Grenze dessen befinden, was gesetzlich normierbar ist. Deshalb muss man in einer gesetzlichen Regelung behutsam vorgehen. Sie muss der Vielfalt der Situationen am Ende des Lebens Rechnung tragen, und man muss sich in ihr klar zu dem Grundsatz bekennen, dass jedes Leben seinen Wert hat. Die Förderung der Hospizbewegungen und der Palliativmedizin ist Ausdruck dieser Erkenntnis. Im Ringen um eine gesetzliche Regelung müssen wir den Patientenwillen, Fürsorge und Schutz sorgsam austarieren. Für die Vielfalt der Lebens- und Sterbensformen - das ist ungleich schwieriger - müssen wir dann ein verantwortungsvolles Vorgehen zulassen. Sterben ist eben, wie der Präsident der Bundesärztekammer, Professor Hoppe, sagt, nicht normierbar. Ich bin dem Kollegen Stünker und den anderen Autoren des vorgelegten Gesetzentwurfes dankbar - dankbar dafür, dass sie Stellung bezogen haben. Ich begegne dieser Position mit Respekt und begrüße ausdrücklich, dass sie, wie dies auch in allen anderen Entwürfen aus diesem Hause, die ich kenne, der Fall ist, die aktive Sterbehilfe ablehnen. Dennoch scheint mir der Ansatz dieses Gesetzentwurfs nicht tragfähig zu sein; denn er berücksichtigt nicht die Vielfalt der individuellen Situationen am Lebensende. Jedes Leben ist einzigartig - vom Anfang bis zum Ende. Das bedeutet, dass auch jeder Krankheitsverlauf individuell ist ebenso wie die persönliche Einstellung und das persönliche Empfinden. Gerade für den nichteinwilligungsfähigen Patienten muss eine Lösung geschaffen werden, die das Arzt-Patienten-Verhältnis in seinem Wert belässt, eine Lösung, die die Vertrauensperson des Patienten und, wenn es nicht anders geht, auch das Vormundschaftsgericht mit einbezieht. ({0}) Dieser Individualität wird der heute debattierte Entwurf nicht gerecht. Die einseitige Konzentration auf das vorab Verfügte lässt keinen ausreichenden Raum für alle Beteiligten, individuell, sorgfältig und fürsorglich den aktuellen Willen des einwilligungsunfähigen Patienten zu ermitteln und entsprechend zu handeln. Ich betone: Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass durch eine Patientenverfügung kein Automatismus in Gang gesetzt wird. ({1}) Jeder Einzelfall muss individuell und gründlich bewertet und auch der Stand des medizinisch-technischen Fortschritts muss berücksichtigt werden. Ärzte, Betreuer oder Bevollmächtigte müssen sich mit jeder einzelnen Patientenverfügung intensiv auseinandersetzen. Sie alle haben die Pflicht, beim Entscheidungsunfähigen sorgfältig zu ermitteln, ob der in der Patientenverfügung geäußerte Wille mit der aktuellen Gesamtsituation übereinstimmt. Nehmen wir einen Patienten auf der Intensivstation, der nach einem Unfall bewusstlos ist und aufgrund eines Schockzustandes sowohl ein Lungen- wie auch ein Nierenversagen hat. Er wird beatmet und mit der künstlichen Niere behandelt. Dies ist eine lebensbedrohliche, aber nicht unumkehrbar zum Tode führende Situation. Jede weitere hinzutretende Komplikation, wie zum Beispiel ein Versagen des Gerinnungssystems, mindert die Überlebenschancen dieses Patienten. Wie konkret muss die Situation beschrieben sein, damit der Wille des Patienten zum Abbruch der Intensivbehandlung umgesetzt wird? Die kurze Formulierung „Ich möchte nie an Schläuchen hängen“ wird hier sicher nicht genügen können. ({2}) Dennoch scheint der Wille des Patienten, bei zunehmend geringeren Überlebenschancen diese Behandlung nicht mehr erfahren zu müssen, so verständlich zu sein, dass man auch als Arzt an eine Umsetzung denken muss. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden diese Fragen lösen müssen. Wir werden auch tagtäglich auftretende Fragen, wie zum Beispiel die Entscheidung, ob eine PEG-Sonde bei einem nichteinwilligungsfähigen, dementen Patienten gelegt wird oder nicht, regeln müssen; denn mit dem Legen einer PEG-Sonde nimmt die Krankheit eines Menschen schlagartig einen ganz anderen, verlängerten und manchmal sehr unwürdigen Verlauf. Ich gehe davon aus, dass wir im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens zu einer von der Gesellschaft akzeptierten Lösung kommen werden. Eine Frage, die in jedem Fall geklärt werden muss, ist die nach der Rolle des Vormundschaftsgerichtes und den Voraussetzungen, unter denen es angerufen werden kann. Ich bin der Auffassung, dass das Vormundschaftsgericht nur dann, wenn Arzt und Betreuer oder Bevollmächtigter unterschiedlicher Auffassung sind, den Inhalt der Patientenverfügung klären und festlegen sollte, ob eine Behandlung durchzuführen oder abzubrechen ist. ({3}) Erst die moderne Medizin hat uns die Möglichkeit gegeben, auch im hohen Alter oder bei schweren Erkrankungen Leben zu erhalten. Diese Fähigkeit kann dazu führen, dass das Sterben nicht mehr als ein natürlicher Prozess, sondern als eine Kette von Entscheidungen über die Beendigung von lebensverlängernden medizinischen Maßnahmen bis hin zum Verzicht auf solche Maßnahmen empfunden wird. Es ist uns aber gegeben, durch einen klugen gesetzlichen Rahmen und individuelle, von mitmenschlicher Verantwortung geprägter Sorge einem vorab verfügten Willen am Lebensende die Geltung und Umsetzung zu verschaffen, die sich der Verfasser gewünscht hat. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 16/8442 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Flexibler Eintritt in die Rente bei Wegfall der Zuverdienstgrenzen - Drucksache 16/8542 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kurs halten bei der Erwerbsintegration von älteren Beschäftigten - Teilrenten erleichtern - Drucksache 16/9748 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb, FDP-Fraktion. ({2})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Spätestens seit der Erhöhung der starren Regelaltersgrenze für den Renteneintritt auf 67 Jahre gibt es eine Diskussion darüber, wie der Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand flexibler gestaltet werden kann, um den Interessen der Menschen besser gerecht zu werden. Die einen setzen auf mehr Altersteilzeit - darüber werden wir später unter einem anderen Tagesordnungspunkt diskutieren -, die anderen - das gilt für die FDP von Beginn an - setzen auf die Möglichkeit eines flexiblen Renteneintritts ab dem 60. Lebensjahr. Mit dem heute in erster Lesung zu beratenden Antrag auf Drucksache 16/8542, den die FDP inhaltlich weitgehend deckungsgleich bereits am 7. März 2007 - damals unter der Drucksache 16/4618 - eingebracht hatte, wiederholen wir unser Angebot an die Fraktionen des Deutschen Bundestages, mit breiter Zustimmung eine Lösung für das Problem der angemessenen Beschäftigungsteilhabe im Alter zu finden. Grundgedanke des FDP-Konzepts ist ein Paradigmenwechsel, also ein grundlegend neuer Ansatz bei der Gestaltung der politisch gesetzten Rahmenbedingungen hinsichtlich des Übergangs von der Arbeit zur Rente. Nicht mehr ein möglichst frühes Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess, sondern eine möglichst lange Teilhabe am Erwerbsleben muss zum neuen Leitbild werden. Wer aber lange Teilhabe will, muss auch Flexibilität bieten. Das Anheben des Rentenzugangsalters auf 67 Jahre entspricht zwar der steigenden Lebenserwartung; es entspricht aber nicht der Realität, dass viele Menschen im Alter nur noch eingeschränkt arbeiten können oder wollen, aus Gesundheitsgründen, aufgrund der Arbeitsmarktlage oder einfach aufgrund eigener Präferenzen. Wir kommen den Wünschen der Menschen entgegen. Nach den Ergebnissen einer Bertelsmann-Studie wünschen sich zwei Drittel der Befragten, den Übergang vom Erwerbsleben in die Rente flexibel gestalten zu können. Letztlich geht es darum, das Rentenrecht von dem bevormundenden Denken zu befreien und den Wünschen der Menschen Vorrang vor willkürlichen Festlegungen, wann und wie sie ihre eigenen Rentenanwartschaften abrufen können, zu geben. Hier unser Vorschlag im Einzelnen: Erstens. Nach unserem Konzept soll für alle Versicherten der Rentenzugang ab 60 Jahren möglich sein, wobei die Versicherten wählen können, ob sie eine Vollrente oder eine Teilrente aus den bis zu diesem Zeitpunkt erworbenen Entgeltpunkten beziehen wollen. ({0}) - Aus den Entgeltpunkten ergibt sich die Höhe. Voraussetzung für diesen flexiblen Rentenzugang ist allein die Grundsicherungsfreiheit, also der Umstand, dass die Summe der gesetzlichen, betrieblichen und privaten Altersversorgungsansprüche des Versicherten - unter Berücksichtigung von Abschlägen für einen vorzeitigen Versorgungsbezug - ab dem Zeitpunkt des Renteneintritts über dem Niveau der Grundsicherung liegt. ({1}) Die Prüfung erfolgt für die Bedarfsgemeinschaft, Herr Kollege Schneider, sodass beispielsweise ebenfalls für Frauen regelmäßig der flexible Rentenzugang möglich wird. Wir gehen davon aus, dass 90 Prozent der Versicherten diese Möglichkeit werden nutzen können. Wir gehen auch davon aus, dass die Entscheidung für eine Teilrente der Normalfall sein wird. Aber es gibt keinen Grund, nicht auch die Möglichkeit zur Entscheidung für eine Vollrente zu eröffnen. Zweitens. Die Grenzen für den Zuverdienst neben dem Rentenbezug werden aufgehoben. Es gibt für solche Grenzen keine stichhaltige Begründung mehr. Die Versicherten können selbst entscheiden, ob und in welchem Umfang sie neben einem Rentenbezug noch erwerbstätig sein wollen. Dadurch wird es möglich, den Lebensstandard auch bei einem vorzeitigen Rentenbezug zu halten. Wichtig ist: Für den Zuverdienst sind Sozialversicherungsbeiträge - mit Ausnahme der Arbeitslosenversicherung - zu zahlen. Die durch die Rentenversicherungsbeiträge aus dem Zuverdienst neu erworbenen Entgeltpunkte können vom versicherten Arbeitnehmer zu einem von ihm wählbaren späteren Zeitpunkt zur Erhöhung der eigenen Rente und damit auch zur teilweisen Schließung von aus Abschlägen entstehenden Versorgungslücken eingesetzt werden. Drittens. Mit einem individuellen Zugangsfaktor wird der Zeitpunkt des Rentenzugangs ab dem 60. Lebensjahr berücksichtigt. Wichtig ist: Je länger der Versicherte arbeitet, desto höher ist der Zugangsfaktor. So werden - von Jahr zu Jahr - Menschen ermutigt, erwerbstätig zu bleiben. Im aktuellen Rentenwert wird zudem für jede Alterskohorte die zu erwartende durchschnittliche Rentenbezugsdauer berücksichtigt. Dadurch wird eine gerechte Verteilung der Lasten der Alterung auf die einzelnen Jahrgänge erreicht. Es erscheint mir als ganz wichtig, Herr Schaaf, zu betonen, dass dieser Ansatz der FDP sehr gut kombiniert werden kann mit Branchentarifvereinbarungen für eine ergänzende Altersvorsorge, die durch Abschläge entstehende Lücken schließen helfen. Gerade in Branchen, in denen es eine hohe Wahrscheinlichkeit für den Wunsch nach einem frühen Renteneintritt gibt, zum Beispiel bei körperlich stark belastender Tätigkeit, sind die Tarifpartner aufgerufen, flankierende Regelungen zu treffen. ({2}) Unser Modell lässt sich auch mit der Nutzung von Guthaben auf Lebensarbeitszeitkonten sehr gut kombinieren. Branchentarifvereinbarungen und die Nutzung von Lebensarbeitszeitkonten stellen sicher, dass der flexible Übergang für breite Teile der Versicherten attraktiv ist und bleibt. Soweit der FDP-Vorschlag. Ich freue mich, dass ich ihn heute einmal ausführlich vorstellen konnte und dass ich feststellen kann, dass über den FDP-Vorschlag, der bei der ersten Vorlage am 9. März 2007 ({3}) von Ihnen noch ablehnend kommentiert wurde, mittlerweile ein Stück weit Konsens hier im Hause besteht. ({4}) Nur die Linke und Teile der CDU/CSU sind noch kritisch. Die SPD, Herr Schaaf, zeigte sich nach erster scharfer Kritik frühzeitig offen. Sie haben den Kern unseres Vorschlages in Ihrem Bundesvorstandsbeschluss „Chancen auf gute Arbeit verbessern - Leistungsgerechtigkeit sichern“ übernommen. Das können Sie nicht bestreiten. ({5}) Dort heißt es unter Punkt 3, dass nach Auslaufen der Altersteilzeitförderung - ich zitiere das hier gern - „ein flexibler Übergang ab dem 60. Lebensjahr in die Rente ermöglicht werden kann.“ Unter Punkt 5 heißt es, dass die Sozialpartner und Tarifparteien zusätzliche Leistungen vereinbaren können, die helfen sollen, Abschläge auszugleichen oder zu vermindern. Herr Schaaf, auf dieser Basis müsste bei den kommenden Beratungen doch eigentlich eine Einigung möglich sein.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, ich hätte gern noch mehr gesagt, zum Beispiel zu dem Verhalten der Grünen, der Linken oder der CDU/CSU.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nein, Herr Kollege Kolb, Sie müssen zum Ende kommen.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Zeit lässt es nicht mehr zu. Ich freue mich darüber, dass mittlerweile Offenheit gegenüber unserem Vorschlag besteht, und auf die Beratungen im Ausschuss. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Ralf Brauksiepe, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Große Koalition hat in dieser Legislaturperiode eine gute Rentenpolitik gemacht. ({0}) Gute Rentenpolitik ist nicht immer populär. Deswegen sind alle Oppositionsfraktionen in die Populismusfalle getappt und haben die Rente mit 67 abgelehnt. Die Anträge, über die wir hier heute diskutieren, sind Ausdruck des schlechten Gewissens, das die Opposition hat. Das ist der untaugliche Versuch, dem Populismus mit diesen Anträgen einen seriösen Anstrich zu geben. Diese Taktik geht nicht auf. ({1}) Lassen Sie mich bei der FDP anfangen. Herr Kollege Kolb, Sie haben von den Wünschen der Menschen und von Flexibilität gesprochen. ({2}) Sie hätten eigentlich nur noch behaupten müssen, dass sich jeder, wenn es nach Ihnen ginge, die Höhe seiner Rente selbst aussuchen dürfte. Das, was Sie betreiben, ist Scharlatanerie. ({3}) Das, was Sie vorschlagen, liefe, sofern es überhaupt von Relevanz wäre, auf einen Teilrückzug der BesserverdieDr. Ralf Brauksiepe nenden aus der Solidargemeinschaft hinaus, auf nichts anderes. ({4}) Sie sagen: Jeder, dessen Rente über dem Grundsicherungsniveau liegt, soll mit 60 in Rente gehen können. ({5}) Auf wen trifft das denn heute zu, und auf wen wird das in Zukunft zutreffen? Sind das die Kollegen von der Fahrbereitschaft des Bundestages? Ist das der Friseur, zu dem Sie gehen? ({6}) Sind das die Briefträger, die Ihnen Ihre Post bringen? Sind das diejenigen, die schon mit 60 so hohe Rentenansprüche haben? ({7}) Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn sich das überhaupt rechnet, dann für die Besserverdienenden. ({8}) Sie wollen, dass sich die Besserverdienenden von der Zahlung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags verabschieden. Die Begründung, die Sie hierfür liefern, lautet, dass auch auf Hinzuverdienste dann keine Arbeitslosenversicherungsbeiträge mehr gezahlt werden müssten. Das ist wirklich interessant. In Ihrem Antrag heißt es: Der Wegfall des Arbeitslosenversicherungsbeitrages bedeutet aus Sicht der Unternehmen einen Kostenvorteil. … Aus Sicht der Arbeitnehmer erhöht sich das verfügbare Einkommen. Wunderbar! Ich frage mich nur: Wieso sollen die Leute dann noch gesetzlich krankenversichert sein? Mit dieser Begründung könnten Sie nämlich genauso gut argumentieren, dass es für die Unternehmen billiger ist und das aktuelle Einkommen erhöht, wenn jemand nicht gesetzlich krankenversichert ist. Das ist aber der falsche Weg. Wir wollen nicht, dass Menschen mit 60 Jahren zum alten Eisen gezählt werden. Wir wollen nicht, dass 60-Jährige Vollzeitbeschäftigte ihre Arbeit ohne den Schutz der Arbeitslosenversicherung verrichten müssen. ({9}) Das ist mit uns nicht zu machen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({10}) Der entscheidende Punkt ist: Sie drücken sich nach wie vor vor der Antwort auf die Frage, wo Ihrer Meinung nach das gesetzliche Renteneintrittsalter liegen soll und welcher Maßstab zur Berechnung der Höhe der Abschläge und der Entgeltpunkte herangezogen werden soll. Wir hingegen sind da ehrlich. Jeder weiß: Wer heute mit 63 Jahren in Rente geht, muss Abschläge von 7,2 Prozent hinnehmen. Wer im Jahr 2029 mit 63 Jahren in Rente geht, wird Abschläge von 14,4 Prozent zu verzeichnen haben. Wir haben klipp und klar gesagt: Wer sieben Jahre früher, also mit 60 Jahren, in Rente gehen will, muss Abschläge von 25,2 Prozent hinnehmen. Das kann sich kein normaler Arbeitnehmer leisten. ({11}) Deswegen reden wir gar nicht mehr davon. Sie reden von der durchschnittlichen Lebenserwartung und vom Renteneintrittsalter, drücken sich aber um die Antwort auf die Frage, was für Sie der Maßstab ist. ({12}) Wollen Sie die Rente mit 67? Akzeptieren Sie, dass die Menschen angesichts der steigenden Lebenserwartung auch länger arbeiten müssen? Sie drücken sich vor den Antworten auf diese Fragen. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ({13}) Im Übrigen haben Sie manchmal offenbar den gleichen Textschreiber wie der Deutsche Gewerkschaftsbund. ({14}) Der DGB hat nämlich ebenfalls ein Papier zur Rentenpolitik vorgelegt, in dem es heißt, dass immer mehr Menschen von längeren Phasen der Arbeitslosigkeit betroffen sind. Auch Sie haben in der Begründung Ihres Antrags geschrieben: Aktuell sind überhaupt nur noch 45 Prozent der über 55-Jährigen … erwerbstätig. Die Realität sieht aber anders aus. Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum spielen Sie eigentlich mit falschen Zahlen? Ausweislich amtlicher Statistiken waren im zweiten Quartal des letzten Jahres 52 Prozent der über 55-Jährigen in Beschäftigung. ({15}) Ich wiederhole: 52 Prozent, Tendenz steigend. Sie behaupten, es seien 45 Prozent, Tendenz sinkend. ({16}) Wer mit falschen Zahlen operiert, kann nur zu falschen Lösungen kommen. Diese Trickserei lassen wir Ihnen nicht durchgehen. So einfach ist das. ({17}) Jetzt komme ich zu dem Antrag, den das Bündnis 90/ Die Grünen vorgelegt hat. Er fängt eigentlich ganz gut an, ({18}) nämlich mit der Überschrift „Kurs halten bei der Erwerbsintegration von älteren Beschäftigten - Teilrenten erleichtern“. Sie haben schließlich allen Grund, Ihr schlechtes Gewissen zu erleichtern. Denn Sie haben den Gesetzentwurf zur Rente mit 67 wegen einer Erleichterung für langjährige Beitragszahler abgelehnt. ({19}) Sie haben damals gesagt, es sei nicht in Ordnung, wenn Menschen, die 45 Versicherungsjahre vorzuweisen haben, mit 65 weiterhin abschlagsfrei in Rente gehen können. Sie haben behauptet, das sei verfassungswidrig. ({20}) Als Sie an diesem Pult standen, haben Sie prognostiziert, der Herr Bundespräsident werde dieses Gesetz nicht unterzeichnen, weil es verfassungswidrig sei. ({21}) Dabei ist aber nichts herausgekommen. Wir haben ein gutes, richtiges und selbstverständlich verfassungskonformes Gesetz auf den Weg gebracht. ({22}) Insofern haben Sie durchaus Nachholbedarf, wenn es darum geht, einen vernünftigen Antrag vorzulegen. Ihr Antrag fängt aber gut an, und zwar mit einem Hinweis - ich zitiere -: Die Altersteilzeit dient dabei als Vorruhestandsmodell und steht dem Ziel der besseren Erwerbsbeteiligung Älterer und der Verlängerung der Lebensarbeitszeit entgegen. ({23}) Sehr richtig. Im weiteren Verlauf nimmt das Leistungsniveau Ihres Antrags jedoch katastrophal ab. So heißt es an anderer Stelle in Ihrem Antrag: Wer seine Arbeitszeit reduzieren will, kann ab dem 60. Lebensjahr eine Teilrente beantragen. ({24}) Wir haben all die Anstrengungen im Hinblick auf Weiterbildung und Qualifizierung Älterer doch nicht unternommen, um sie dann mit 60 in Rente oder Teilrente zu entlassen. ({25}) Die gleiche Frage stellt sich bei dem FDP-Antrag „Flexibler Eintritt in die Rente …“, und zwar mit 60. Warum gerade mit 60? Warum nicht schon mit 50? ({26}) Wenn man argumentiert, dass der 60-Jährige, der eine Rente über Grundsicherungsniveau bekäme, die Möglichkeit erhalten soll, in Rente gehen zu können, warum nicht auch der 50-Jährige? ({27}) Man kann das System der solidarisch finanzierten gesetzlichen Rentenversicherung immer weiter zurückfahren: bis keiner mehr einzahlt und keiner mehr Ansprüche erwirbt. ({28}) Das ist auch gendermäßig korrekt: Kein Mann zahlt ein, keine Frau zahlt ein, kein Mann bekommt etwas raus, keine Frau bekommt etwas raus. Nur, das hat mit einer solidarischen Rentenversicherung nichts zu tun und ist mit uns nicht zu machen, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({29}) Wir sind sehr wohl dafür, dass die Möglichkeiten der Teilrente, die der Gesetzgeber eingeräumt hat, verstärkt genutzt werden. Die CDU/CSU bedauert es, dass die Möglichkeiten, vorzeitig in Rente zu gehen, fast nur in Form des Blockmodells genutzt werden und damit zur Frühverrentung führen. ({30}) Wir würden es uns wünschen, dass die Menschen, wie Norbert Blüm sich das seinerzeit vorgestellt hat, gleitend in den Ruhestand übergehen: erst zwei Drittel arbeiten, dann die Hälfte, dann ein Drittel. Leider ist diese grundsätzlich vernünftige Überlegung an den Wünschen der Menschen gescheitert. Die Menschen wählen nämlich ganz überwiegend das Blockmodell. Ich will deutlich sagen: Wir haben bei unserem Gesetz zur Rente mit 67 auch die Teilrente gestärkt, und zwar indem wir das Alter, ab dem jemand in Vollrente oder in Teilrente gehen kann, bei 63 gelassen haben, auch wenn das gesetzliche Renteneintrittsalter steigen muss. Wir haben einen flexiblen Korridor von vier Jahren vorgesehen. Auch haben wir die Möglichkeit geschaffen, dass besonders langjährig Versicherte weiter ohne Abschläge mit 65 in Rente gehen können. Bei den Gesprächen, die die Koalition geführt hat, haben Überlegungen, eine eigenständige Teilrente einzuführen - eine Teilrente, mit der keine Vollrente korrespondiert -, nie eine Rolle gespielt. Wir haben uns im Koalitionsvertrag darauf verständigt, Frühverrentungsanreize abzubauen und die Erwerbsbeteiligung Älterer zu erhöhen. Ich sage deswegen ganz deutlich: Es gibt keine Vereinbarungen und es gibt auch keine Gespräche oder Verhandlungen mit uns über eine weitere Fortsetzung der Förderung der Altersteilzeit durch die BA auf Kosten der Beitragszahler. Es gibt mit uns auch keine Gespräche oder Verhandlungen darüber, Menschen, die mit 60 noch fit sind, die arbeiten können und die arbeiten wollen, zum alten Eisen zu zählen. Das machen wir nicht mit. Da halten wir Kurs. ({31}) Jeder Koalitionspartner muss wissen, wie er die Erfolge, die gemeinsam erzielt worden sind, herausstellt. Wir sind stolz auf das, was wir im Hinblick auf eine höhere Erwerbsbeteiligung Älterer gemeinsam erreicht haben. Wir wollen diesen Weg weitergehen. Die Älteren werden zunehmend gebraucht. ({32}) Wir wollen sie in Beschäftigung bringen. Wir wollen sie qualifizieren. Wir wollen nicht, dass sie mit 60 in die Teilrente abgeschoben werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn es weiter möglich sein soll, dass diejenigen, die nicht mehr arbeiten können, von der Solidargemeinschaft aufgefangen werden - und das wollen wir -, dann müssen diejenigen, die arbeiten können, entsprechend länger arbeiten, um dies mitzufinanzieren. ({33}) Dafür stehen wir, nicht für das Herausdrängen der Älteren. Herzlichen Dank. ({34})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Volker Schneider, Fraktion Die Linke.

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf den Tribünen! Im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wird der Bundestag aufgefordert, festzustellen, dass „im Jahr 2005 … nur rund 36 Prozent der Frauen und 19 Prozent der Männer aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung in die Regelaltersrente“ gingen. ({0}) Anders gesagt: Zwei Drittel der Frauen und vier von fünf Männern gingen 2005 schon vor dem 65. Lebensjahr in Rente. Ich sage von meiner Seite aus: und das in aller Regel nicht freiwillig, sondern notgedrungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, das braucht der Bundestag aber nicht festzustellen; denn das sind die Fakten. Es wäre schön, wenn der Bundestag diesen unerfreulichen Sachverhalt endlich zur Kenntnis nehmen würde. Sie meinen auch, die Wurzel des Übels entdeckt zu haben, und sagen: Fast jeder fünfte versicherungspflichtig Beschäftigte nimmt die Altersteilzeit in Anspruch. ({1}) Nun können Sie nicht einfach eine Teilmenge, nämlich die der Rentenzugänge in einem Jahr, in einen inhaltlichen Zusammenhang mit einer Gesamtmenge stellen, nämlich mit der Gesamtzahl aller Rentner in Altersteilzeit. ({2}) - Frau Schewe-Gerigk, lassen wir das einfach einmal außen vor und addieren wir die Zahlen der Einfachheit halber, auch wenn es fachlich nicht ganz korrekt ist. Dann stellen wir nämlich fest: Fast 50 Prozent der Frauen und mehr als 60 Prozent der Männer gehen in Rente, ohne die Altersgrenze erreicht zu haben und ohne durch eine Altersteilzeit abgefedert zu werden. Das heißt: Jede zweite Frau und mehr als jeder zweite Mann geht mit Abschlägen von bis zu 7,2 Prozent oder, in 20 Jahren, mit Abschlägen von bis zu 14,4 Prozent in Rente - und das bei einem deutlich sinkenden Rentenniveau. Bei einem Wegfall der Altersteilzeit würde sich diese Zahl weiter erhöhen. Das ist leider nicht mehr und nicht weniger als vorprogrammierte Altersarmut. Darauf gibt es vordringlich nur eine Antwort, die in beiden Anträgen fehlt, nämlich: Weg mit dem Unsinnsprojekt Rente mit 67. ({3}) Was wir wirklich bräuchten, sind flexible Übergänge in den Ruhestand. Dem wollen ja auch beide Fraktionen Volker Schneider ({4}) mit ihren Anträgen Rechnung tragen, allerdings auf eine sehr einseitige und kritisierbare Weise. Nehmen Sie als Beispiel einen 60 Jahre alten Arbeitnehmer aus dem Bauhauptgewerbe. Das wäre schon ungewöhnlich, denn sie verlassen das Arbeitsleben im Schnitt mit 58 Jahren. Herr Kollege Kolb, welche Jobs sollen sie bei Ihrem Modell einer Teilrente denn noch bekommen? Sie sind körperlich am Ende und eher sehr einseitig qualifiziert. Wie sollen sie Ihr Ziel, nämlich das Grundsicherungsniveau, bei einer geringen Teilrente mit zweifelhaften Verdienstmöglichkeiten überhaupt erreichen? Ich komme hier beim besten Willen nicht auf die 90 Prozent, die Sie eben genannt haben. Das sieht aus meiner Sicht sehr viel schlechter aus. ({5}) - Stellen Sie eine Zwischenfrage. Dann gehe ich gerne darauf ein. ({6}) Damit ist dieser Bauarbeiter nicht allein. Geringverdienende und prekär beschäftigte Arbeitnehmer in körperlich und/oder seelisch hoch belastenden Berufen, Frauen mit ihren klassisch niedrigen Rentenansprüchen sie alle werden sowohl von dem Modell der FDP als auch dem der Grünen nicht oder kaum profitieren können. Nur damit wir einmal wissen, um welche Mengen es sich dabei handelt: 360 000 erwerbstätige Ältere zwischen 50 und 65 Jahren üben einen geringfügigen Nebenjob aus. Gut 1,1 Millionen Menschen in diesem Alter haben ausschließlich eine geringfügige Beschäftigung. Hinzu kommen 700 000 Personen im Rentenalter ab 65 Jahren mit Minijobs. Ich kann nur sagen: Zielgruppe verfehlt. Als Vergleich dazu nehme ich einen 60 Jahre alten Bankkaufmann. Er bezieht eine deutlich höhere Teilrente und hat bessere Chancen auf einen Nebenjob, etwa eine Beratertätigkeit. Der Mann kann sich freuen. Nach dem FDP-Modell darf er in der Summe sogar mehr haben, als er vorher verdient hat. Das wenigstens schließen die Grünen in ihrem Modell aus. Letztlich wäre das ein Privileg für Besserverdienende. Dazu sagen wir als Linke deutlich Nein. Auch und gerade für uns Linke gilt - das sage ich insbesondere in Richtung von Herrn Brauksiepe -: Arbeit ist mehr als die Erzielung von Arbeitseinkommen. Sie sichert auch die soziale Teilhabe und gesellschaftliche Anerkennung. Deshalb muss die Politik die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Menschen, solange sie dies wollen und können, im Arbeitsleben verbleiben können. Das sagen nicht nur wir.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Schneider, Ihre Redezeit ist zu Ende. ({0})

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich komme zum Schluss. Dennoch brauchen wir Möglichkeiten des gleitenden Übergangs in die Rente. Dafür bietet Ihr Modell vielleicht einen Teilaspekt. Es ist aber nicht - wie Sie es von der FDP unterstellen - das allein selig machende Allheilmittel. Besten Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Anton Schaaf, SPDFraktion. ({0})

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einem Punkt beginnen, der zwar später noch eine Rolle spielen wird, aber schon in dieser Debatte als herausragendes Argument vorgebracht wurde. Die Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land ist deutlich gestiegen, und zwar von 37 Prozent auf 52 Prozent. Das ist uns trotz der gesetzlich geförderten Altersteilzeit gelungen. ({0}) Das Argument, dass die Beschäftigungsquote Älterer durch die Altersteilzeit nicht steigt oder gar sinkt, ist völlig falsch. Das ist anhand der Zahlen nicht belegbar. Das ist übrigens auch die Begründung dafür, warum die Sozialdemokraten den in Teilen richtigen Antrag der Grünen nicht unterstützen werden. Denn die Teilrentenfrage ist vernünftig beantwortet, aber den Ausschluss der Altersteilzeit als Möglichkeit des flexiblen Übergangs halten wir überwiegend für falsch. Ich sage ausdrücklich: Die SPD-Bundestagsfraktion steht an der Seite der IG Metall, die gerade für einen vernünftigen Tarifabschluss im Zusammenhang mit der Altersteilzeit kämpft. ({1}) Sehr geehrter Herr Kolb, es ist schon mehrfach gesagt worden, und auch Sie haben sich eben entsprechend geäußert, dass Ihr Modell gerade für diejenigen, die in ihrem Arbeitsleben schwer belastet sind, ein vernünftiger Ansatz wäre. ({2}) Man muss dabei aber berücksichtigen, welche Ansprüche ein Durchschnittsverdiener mit Erreichen des 60. Lebensjahres hat und welche Risiken damit einhergehen, wenn er vorzeitig aus dem Berufsleben ausscheidet. Ihre Antwort darauf lautet, dass die Einkommen in der Zeit danach über dem Grundsicherungsniveau liegen müssen, ({3}) und Sie führen in diesem Zusammenhang den Begriff der Bedarfsgemeinschaft an. ({4}) - Nein, Herr Kolb, jetzt nicht. Abgesehen von dem damit verbundenen Bürokratieaufwand stellt sich die Frage, wie sich die Lage darstellt, wenn in einer solchen Lebenssituation die Bedarfsgemeinschaft auseinanderfällt, aus welchen Gründen auch immer. Muss dann der Betroffene Frührente beantragen, oder erhält er vielleicht Arbeitslosengeld I oder II? Das ist nicht geregelt. Es wird auch nirgendwo geregelt, wie in einer solchen Situation zu verfahren ist. Es ist aber keineswegs lebensfremd, dass eine Bedarfsgemeinschaft auseinanderfällt, aus welchen Gründen auch immer. Besonders spannend fand ich an Ihrem Konzept, dass es sich auf Regelungen im Rentenrecht beruft, aus denen hervorgeht, wie sich was aufeinander bezieht. Dabei geht es zum Beispiel um die Frage, wie viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - also Beitragszahlerinnen und Beitragszahler - wir im Verhältnis zu Rentnerinnen und Rentner haben. Danach berechnet sich der Rentenwert. Das ist völlig richtig. In Ihrem Modell gehen Sie aber von etwas völlig anderem aus. Das ist sehr spannend; dabei wird die Verteilungswirkung deutlich. Sie gehen von Alterskohorten aus und berechnen, wie alt sie im Durchschnitt werden. ({5}) Dann ermitteln Sie, wann eine Alterskohorte im Durchschnitt in Rente geht und setzen das ins Verhältnis zueinander. Jetzt eröffnen Sie aber den Menschen die Möglichkeit, frei zu wählen, ob sie mit 60, 63 oder 65 Jahren in Rente gehen wollen. Es gibt gegenwärtig Korridore. Gesetzlich vorgesehen ist der Rentenzugang mit 63 bzw. - wie angestrebt - mit 67 Jahren. Die Rentenversicherung und alle anderen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, können modellhaft ausrechnen, wie sich das auf die Beiträge und das Leistungsniveau - also auf den Rentenwert - auswirkt. ({6}) Das ist relativ einfach. Man nimmt einen niedrigeren Wert - die Menschen gehen früher in Rente -, einen mittleren und einen späteren Wert an. Bei Ihrem Modell kann man nicht mehr absehen, wer wann in Rente geht. Das ist nicht mehr in Durchschnittswerten zu berechnen. Man wird dessen erst gewahr, wenn es so weit ist. Dann kommt es zu folgender Situation: Diejenigen, die gut verdient haben und es sich leisten können, gehen massenhaft sehr früh in Rente. ({7}) Das führt dazu, dass der Rentenwert einer Alterskohorte sinkt. Diejenigen, die es sich nicht leisten können, früher aus dem Erwerbsleben auszuscheiden, haben dadurch eine niedrigere Rente. Das ist unsolidarisch und trifft genau die Menschen, um die es uns geht, nämlich diejenigen, die ihr Leben lang schwer gearbeitet haben. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Schaaf, der Kollege Kolb möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Kollege Kolb hat berechtigterweise darauf hingewiesen, dass wir das noch ausführlich in den Ausschüssen diskutieren müssen. Deswegen sollten wir das nicht hier fortsetzen, sondern dort. ({0}) Die Kohortenregelung ist besonders spannend. Sie macht die Rentenversicherung für all diejenigen, die sich mit der zukünftigen Planung auseinandersetzen, schlicht unplanbar. Wenn es um den Sozialstaat oder die solidarischen Sicherungssysteme geht, verfolgen Sie immer denselben Ansatz: Sie wollen die Risiken der Menschen individualisieren und in diesem Punkt sogar noch ein Stück weit privatisieren. Das gilt nicht nur für die Altersvorsorge, sondern auch für alles andere. Ich nenne Ihnen ein Beispiel, weil Sie in den letzten Wochen vor dem Hintergrund steigender Preise, die die Menschen sicherlich sehr belasten - das ist keine Frage -, in eine Steuersenkungshysterie verfallen sind. Wenn man die Steuern senkt, muss man sehen, wer steuerpflichtig ist und die meisten Steuern zahlt. Eine Familie mit zwei Kindern und einem Einkommen in Höhe von bis zu 38 000 Euro zum Beispiel ist es nicht; denn diese zahlt keine Steuern, zumindest keine Einkommensteuer. Wenn man weiß, dass Niedrigverdiener wenig oder gar keine Steuern zahlen, ist einem klar, dass Steuersenkungen im Wesentlichen denjenigen nutzen, die hohe Steuern zahlen. Gleichzeitig hat der Staat dann weniger Einnahmen. Ich sage Ihnen: Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten, Arme können das nicht. ({1}) Deswegen haben wir unsere solidarischen Sicherungssysteme. Dafür gibt es Solidarität und Parität in den Systemen. Sie wollen ganz andere Systeme haben. Ihr Antrag, meine Damen und Herren von der FDP, macht das deutlich. Es handelt sich um eine Umverteilung im Alter von unten nach oben, um nichts anderes. ({2}) Mehr Freiheit für diejenigen, die es sich leisten können, und weniger Freiheit für diejenigen, die es sich eben nicht leisten können! Auf die Frage, was wir mit denjenigen machen sollen, die tatsächlich nicht mehr können, geben Sie in Ihrem Konzept keine Antwort. Es gibt aber Mechanismen des flexiblen Übergangs, die Erwerbsminderungsrente, die tatsächlich absichert, die Möglichkeit, eine Teilrente in Anspruch zu nehmen - diese Regelung muss sicherlich verbessert werden, ermöglicht aber bereits einen flexiblen Übergang -, die Altersteilzeitregelung - nur die Regelung zur geförderten Altersteilzeit läuft 2009 aus - und die Möglichkeit, zwischen 63 und 67 Jahren in Rente zu gehen, mit dem Vorteil, dass der Einzelne selber entscheiden kann, ob er Abschläge hinnehmen will, und dass die Abschläge nicht auf die Allgemeinheit oder auf diejenigen verlagert werden, die es sich nicht leisten können. Die vorhandenen Regelungen unterscheiden sich in Planbarkeit, Sicherheit, Solidarität und Parität ausdrücklich von dem, was Sie vorschlagen. Deswegen werden wir Ihren Weg auf keinen Fall mitgehen. ({3}) Herr Schneider, ich will noch ganz kurz auf die Rente mit 67 eingehen. Man kann sicherlich über einzelne Instrumente, die als Antwort auf den demografischen Wandel gedacht sind, streiten. Wenn man aber kein alternatives Modell vorschlägt, aus dem hervorgeht, wie mit dem demografischen Wandel umgegangen werden soll, sollte man sich nicht beschweren und die Menschen verrückt machen. Man muss klipp und klar sagen, was man alternativ will, wie man Wohlstand in einer alternden Gesellschaft - es ist absehbar, dass es immer weniger Menschen in diesem Land geben wird - erhalten will. Sie wollen permanent Wohlstand verteilen. Aber Wohlstand muss zuerst erwirtschaftet werden, und zwar von Menschen, die Arbeit haben. Erste Priorität muss sein: Die Menschen müssen gute Arbeit haben und so lange wie möglich arbeiten können. Das ist die erste Grundvoraussetzung. Wenn Menschen alt werden, brauchen sie Solidarität und Unterstützung, also einen starken Staat und solidarische Sicherungssysteme. Daran werden zumindest wir festhalten. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist jede vierte Person im erwerbsfähigen Alter über 50 Jahre alt. Bis zum Jahre 2020 wird der Anteil dieser Gruppe auf ein Drittel anwachsen. Herr Schneider, deshalb müssen wir uns fragen: Wollen wir mit dieser Herausforderung offensiv umgehen, oder stecken wir den Kopf in den Sand und kehren zu den alten Strategien zurück - dabei schaue ich in Richtung SPDFraktion -, die sich als falsch erwiesen haben? Meine Damen und Herren von der SPD, Sie machen mit ihrem Konzept zur Verlängerung der Gültigkeitsdauer der Regelung betreffend die geförderte Altersteilzeit eine Rolle rückwärts. Sie wollen die Fortschreibung der Stilllegungsprämie für ältere, gutverdienende Beschäftigte. ({0}) Die Altersteilzeitregelung wird nämlich nicht in erster Linie von den Personen in Anspruch genommen, die belastende Berufe ausüben, sondern sehr stark von gutverdienenden Menschen aus dem öffentlichen Dienst. ({1}) Die Analyse der Deutschen Rentenversicherung macht eindeutig klar: Andere Optionen wie die Teilrente und die normale Teilzeitarbeit werden kaum genutzt, solange es vermeintlich attraktivere Wege gibt. Die Vorschläge der SPD und der Linken folgen dem bekannten Muster der Besitzstandswahrung. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von der Linken, Sie müssen sich aber schon die Frage stellen lassen, welche Antwort Sie der Kellnerin, der Pflegehelferin oder dem Arbeiter am Band geben, wenn sie fragen, warum sie mit ihren Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung den Vorruhestand von gutsituierten Beschäftigten mitfinanzieren sollen. ({2}) Die am Arbeitsmarkt benachteiligten Gruppen haben diese Möglichkeit nämlich nicht, müssen sie aber mitfinanzieren. Das nenne ich unsozial. ({3}) Die Fortsetzung der Vorruhestandspolitik ist ein Irrweg. Wir müssen stattdessen alles dafür tun, dass ältere Beschäftigte möglichst lange, möglichst bis zum Rentenalter, erwerbstätig bleiben können. Betriebe und Gewerkschaften müssen branchenspezifische Lösungen entwickeln. Wir können es uns aber auch nicht so leicht machen wie die Union, die glaubt, die Hände in den Schoß legen zu können. ({4}) Es wird auch zukünftig Beschäftigte geben, denen es schwerfällt, bis zum Rentenalter durchzustehen. Herr Brauksiepe, was sagen Sie denen denn? Empfehlen Sie, einen Arzt zu suchen, der ein Attest schreibt, damit Erwerbsminderungsrente gezahlt wird, die dann aber viel zu früh eingestellt wird? Wir brauchen Zwischenlösungen für Beschäftigte, die nicht bis zum Rentenalter arbeiten können, aber noch nicht in die Erwerbsminderungsrente aufgenommen werden können. ({5}) Wer sich für eine Vollzeitstelle nicht mehr fit genug fühlt, muss ab 60 kürzer treten können und die Möglichkeit erhalten, eine Teilzeittätigkeit mit einer Teilrente zu kombinieren. ({6}) Jetzt zur FDP. Sie betreibt Klientelpolitik - das wissen wir ja schon -, wenn sie einen flexiblen Rentenzugang ab dem 60. Lebensjahr fordert. ({7}) Sie wissen genau, dass dies nur für Gutverdienende eine Option ist; nur sie können das nutzen. ({8}) - Gut, jetzt habe ich recht. - Wir Grüne sehen Handlungsbedarf vor allem bei Menschen, deren Tätigkeit körperlich oder auch mental belastend ist, die aber aufgrund ihres Erwerbsverlaufs bis zum Rentenalter arbeiten müssen oder auch wollen. Sie sollen die Möglichkeit haben, ihre Arbeitszeit zu reduzieren und ab dem 60. Lebensjahr ergänzend dazu eine Teilrente zu beziehen. ({9}) Die Möglichkeit zum unbegrenzten Zuverdienst - Sie fordern das - halten wir für falsch. ({10}) Wenn die Kombination aus Teilrente und Verdienst über dem Einkommen aus einer Vollzeittätigkeit liegt, wird es doch attraktiv, vorzeitig in Rente zu gehen. ({11}) Das nehmen diejenigen in Anspruch, die gut verdienen; die machen dann zusätzlich Kasse. Wir wollen, dass die Menschen so lange wie möglich in der Erwerbsarbeit bleiben, aber die Chance haben, zusätzlich eine Teilrente zu bekommen. ({12}) Es ist verräterisch, dass Sie fordern, für den Zuverdienst keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu erheben. Herr Kolb, Ihr Konzept enthält keine Absicherung des Risikos, erwerbslos zu werden. Sie gehen davon aus, wenn das jemand mache, dann mache er das auf ewige Zeit. ({13}) Die Fortsetzung der geförderten Altersteilzeit ist der falsche Weg. Wir brauchen aber gangbare Lösungen für Menschen, die nicht bis zum Rentenalter voll durchhalten können. Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen. ({14}) Vielen Dank. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/8542 und 16/9748 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung ({0}) - Drucksache 16/9154 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1}) - Drucksache 16/9788 Berichterstattung: Abgeordneter Gerald Weiß ({2}) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({3}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die gesetzliche Unfallversicherung fit für die Dienstleistungsgesellschaft machen - zu dem Antrag der Abgeordneten Heinz-Peter Haustein, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Mehr Wettbewerb und Kapitaldeckung in der Unfallversicherung - zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Schneider ({4}), Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine Leistungskürzungen bei der gesetzlichen Unfallversicherung - Drucksachen 16/9312, 16/6645, 16/5616, 16/9788 Berichterstattung: Abgeordneter Gerald Weiß ({5}) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Klaus Brandner für die Bundesregierung. ({6})

Klaus Brandner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003053

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Im Reigen der altehrwürdigen Sozialversicherung ist die gesetzliche Unfallversicherung die stille Versicherung. Über Jahrzehnte hinweg hat sie geräuschlos, zuverlässig, wirkungsvoll funktioniert und sich als Garant bei der Absicherung gesundheitlicher Risiken des Arbeitslebens bestens bewährt. Wir wollen dieser Erfolgsgeschichte ein neues Kapitel hinzufügen. Dafür müssen wir die organisatorischen Strukturen der gesetzlichen Unfallversicherung dem wirtschaftlichen Strukturwandel anpassen, Bewährtes also modernisieren. Genau das verfolgen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf. Für seine Erarbeitung galt, dass die Politik die Inhalte nicht diktiert, sondern gemeinsam mit der Selbstverwaltung nach dem Prinzip „Vorfahrt für die Selbstverwaltung“ erarbeitet. In dem Zusammenhang ist sehr deutlich geworden, dass wir der Selbstverwaltung gerade in der Sozialversicherung eine ganz hohe Verantwortung übertragen. Hierdurch wird die Eigenverantwortung der Beteiligten gestärkt. Die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme wird durch die Politik anerkannt. Es wird deutlich, dass die Praktiker in die Erarbeitung einer Gesetzesvorlage rechtzeitig einbezogen werden. Ich habe dabei ganz besonders den Berichterstattern der Koalitionsfraktionen, Wolfgang Grotthaus und Gerald Weiß, zu danken, die in vorbildlicher Art und Weise in Zusammenarbeit mit dem Ministerium an der Erstellung dieses Gesetzentwurfs mitgearbeitet haben. Das war ein mustergültiger Prozess. Dies sollte an dieser Stelle erwähnt werden. ({0}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich die Kernpunkte dieser Reform zusammenfassen: Wir werden die Zahl der gewerblichen Berufsgenossenschaften von 23 auf neun reduzieren. Das ist ein wesentlicher Schritt zu mehr Effizienz und Wirtschaftlichkeit im System. Flankierend zu den Fusionen werden wir den Lastenausgleich zwischen den gewerblichen Berufsgenossenschaften neu regeln. Mehr Solidarität als bisher - das ist unser Ziel. Die alten Rentenlasten müssen auf breitere Schultern verteilt werden. Auch an der Spitze ändert sich einiges. Der Zusammenschluss der beiden bestehenden Spitzenverbände wurde bereits vollzogen. Der neugegründete Spitzenverband wird durch Beleihung auf eine feste rechtliche Grundlage gestellt und seine Koordinierungsfunktion gegenüber den einzelnen Unfallversicherungsträgern deutlich gestärkt. Das schafft, wie ich meine, mehr Verbindlichkeit und reduziert den Abstimmungsaufwand der Beteiligten. Damit ist ein weiterer Schritt getan, um mit Entbürokratisierung und einer besseren Organisation die Effizienz dieses Versicherungssystems zu stärken. Drei weitere wichtige Punkte sind hinzuzufügen: Mit den Regelungen zum Betriebsprüfdienst erreichen wir einheitliche und effizientere Prüfungen und entlasten damit die Arbeitgeber. Das war immer Anstoß der Kritik in den letzten Jahren. Durch die Neugestaltung des Vermögensrechts schaffen wir mehr Transparenz bei den Betriebsmitteln, Rücklagen und beim Verwaltungsvermögen. Die Verpflichtung zur Bildung von Altersrückstellungen bei den Unfallversicherungsträgern ist ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit. Die Debatte zuvor hat ja im Kern Ähnliches deutlich gemacht, worauf wir in Zukunft stärker hinarbeiten müssen. ({1}) Last, not least - diesen Punkt setze ich zur Betonung bewusst ans Ende dieser kursorischen Zusammenfassung -: Es ist ganz wichtig, dass wir zu einer gemeinsamen Arbeitsschutzstrategie kommen. Bund, Länder und Unfallversicherungsträger verpflichten sich auf eine intensive Zusammenarbeit auf Basis gemeinsam festgelegter Arbeitsschutzziele. Weitere Elemente sind eine verbesserte Kooperation der Aufsichtsdienste bei der Beratung und Überwachung der Betriebe sowie die Optimierung des Vorschriften- und Regelwerks. Auch dieser Gesetzgebungsprozess macht deutlich, wie wichtig wir den Präventionsgedanken nehmen. Der Präventionsgedanke wird am ehesten mit einer gemeinsamen effektiven Strategie zur Minimierung der zukünftigen Lasten in diesem Sicherungssystem verfolgt. Meine Damen und Herren, bei der Anhörung der Sachverständigen sind diese Reformmaßnahmen ganz überwiegend auf Zustimmung gestoßen. Das zeigt: Wir sind auf dem richtigen Weg. Dort, wo Änderungsbedarf erkennbar wurde, haben wir nachgesteuert. Ich will auch hier einige Punkte kurz ansprechen: Die Aufsicht über den Spitzenverband, die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e. V., wird auf die Rechtsaufsicht beschränkt. Das war der eindringliche Wunsch der Selbstverwaltung. Es liegt nun in der Hand - das will ich ganz klar sagen - der Selbstverwaltung, eigenverantwortlich die notwendigen Effizienzgewinne zu erzielen. Es war einhelliger Wunsch der beiden Koalitionsfraktionen, diesen Weg zu beschreiten. Das möchte ich an dieser Stelle deutlich anmerken. In Sachen „Prüfrecht durch den Bundesrechnungshof“ haben wir zugesagt, dass wir die gerichtliche Klärung abwarten. Der nächste Punkt, den ich ansprechen möchte, ist, dass die beratende Mitwirkung der Sozialpartner an der Nationalen Arbeitsschutzkonferenz, dem BeschlussgreParl. Staatssekretär Klaus Brandner mium der gemeinsamen deutschen Arbeitsschutzstrategie, auf das Aufgabenfeld des Vorschriften- und Regelwerks erweitert wird. Auch in diesem Bereich wird also die Teilhabe der Selbstverwaltung erweitert. Weiterhin wird im Zuge der Regelungen zum Prüfdienst der Lohnnachweis zur Unfallversicherung abgeschafft und in das Meldeverfahren zur Sozialversicherung integriert. Hierdurch werden Doppelmeldungen vermieden. Über die Konsequenzen, die daraus im Melderecht zu ziehen sind, wurde intensiv und kritisch, auch gestern in der Ausschusssitzung, diskutiert. Was machen wir wirklich? Wir führen keine neuen Meldungen ein, sondern wir führen bestehende Meldungen zusammen. Wir führen also keine Stechuhr für Manager ein, wie es in einigen Zeitungen heute Morgen zu lesen war. ({2}) Ein Meldeweg, nämlich der von den Arbeitgebern zur Unfallversicherung, wird abgeschafft. Die Arbeitgeber werden hierdurch von Kosten in zweistelliger Millionenhöhe entlastet und nicht - das sage ich ganz deutlich -, wie in sicherlich interessengeleiteten Meldungen unterstellt worden ist, belastet. Ich will das ganz ausdrücklich sagen, weil ein Ziel dieses Gesetzes natürlich auch die Entbürokratisierung ist, ohne dass die Leistungsfähigkeit der Unfallversicherung in irgendeiner Weise infrage gestellt wird. Lassen Sie mich schließlich noch vier weitere Änderungen gegenüber dem ursprünglichen Gesetzentwurf kurz ansprechen: Erstens. Der Übergangszeitraum beim Lastenausgleich wird von drei auf sechs Jahre verlängert. Damit wird unter anderem auch erreicht, dass die Steinkohlebranche zusätzlich entlastet wird. Zweitens. Die Frist für den Aufbau von Altersrückstellungen bei den Unfallversicherungsträgern wird um zehn Jahre verlängert. Drittens. Das Moratorium zur Abgrenzung zwischen öffentlicher und gewerblicher Unfallversicherung wird nicht Dauerlösung, sondern um zwei Jahre verlängert. In diesem Zeitraum muss abschließend geprüft werden, ob die Regelung sachgerecht ist. Viertens. Der Spitzenverband wirkt auf Einsparungen bei den Verwaltungs- und Verfahrenskosten im gewerblichen Bereich hin und hat jährlich darüber zu berichten. Insofern ist das ein Stück Transparenz in unserer Arbeit. All diese Punkte machen eines deutlich: Konstruktive Kritik ist uns willkommen. Wir greifen sie auf und setzen Verbesserungen im Gesetzgebungsverfahren um. Die Anträge der Opposition, die in dem Zusammenhang zu behandeln waren, vermögen dagegen aus unserer Sicht nicht zu überzeugen. Die Linke wendet sich gegen Leistungskürzungen, die hier überhaupt nicht zur Diskussion stehen. Sie fordert etwas, was in diesem Gesetzentwurf überhaupt nicht thematisiert ist. Ich will an diesem Punkt sagen, dass es in dem Verfahren durchaus Auseinandersetzungen über Dinge gab, über die diskutiert und polemisiert worden ist, die aber in diesem Gesetzesverfahren überhaupt keine Rolle spielten. Ich habe das sehr bedauert, weil das eine sachbezogene Diskussion stark behindert hat. Die FDP forderte die Privatisierung der Unfallversicherung, ({3}) was wir aus bekannten Gründen ablehnen. Den Forderungen des Bündnisses 90/Die Grünen zum Arbeitsschutz trägt der Gesetzentwurf überwiegend Rechnung, insbesondere durch die gemeinsame Arbeitsschutzstrategie. ({4}) Insofern ist der Antrag aus unserer Sicht in weiten Teilen erledigt. Ich will aber auch ganz klar sagen, dass wir zu dem Prinzip stehen, dass die Effizienz der Leistungserbringung verbessert werden muss und dass Effizienz für uns nicht heißt, dass wir die Leistungen kürzen müssen. Wir wollen vielmehr leistungsfähige Strukturen, wir wollen Entbürokratisierung, und wir wollen der Prävention eine ganz besondere Bedeutung beimessen, weil durch Prävention Berufskrankheiten erst gar nicht entstehen und Leid und Krankheiten verhindert werden können. Das muss im Fokus einer leistungsfähigen Unfallversicherung in unserem Land stehen. Den Wandel erkennen und aktiv gestalten - das ist es, was verantwortungsvolle Politik auszeichnet. Mit dem Unfallversicherungsmodernisierungsgesetz leisten wir dazu einen entscheidenden Beitrag. Ich bitte um breite Zustimmung. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz-Peter Haustein von der FDP-Fraktion. ({0})

Heinz Peter Haustein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003765, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sicher haben auch Sie gestern das Fußballspiel gesehen und sich genauso wie ich gefreut, dass wir gewonnen haben. ({0}) Es tut übrigens auch gut, diese vielen schwarz-rot-goldenen Fahnen zu sehen. Auch das nur nebenbei. Aber jetzt stellen Sie sich einmal vor, Sie würden eine Karte für ein Fußballspiel erwerben, das erst ein Dreivierteljahr später angepfiffen wird. Dann kommen Sie zu diesem Spiel, und es ist kein Ball da. Was würden Sie dazu sagen? ({1}) Daran habe ich gedacht, als ich mir Ihr Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung angeschaut habe. ({2}) In wesentlichen Teilen hat dieses Gesetz den Namen „Reform“ nicht verdient. Dabei fing alles so hoffnungsvoll an. Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag, dessen Titel das Wort „Mut“ beinhaltet, Folgendes geschrieben: Wir werden den Auftrag des Deutschen Bundestags aus der letzten Legislaturperiode aufgreifen und in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe ein Konzept für eine Reform der Unfallversicherung entwickeln, um das System auf Dauer zukunftssicher zu machen. Wesentliche Ziele sind eine Straffung der Organisation, die Schaffung leistungsfähiger Unfallversicherungsträger und ein zielgenaueres Leistungsrecht. Genau da liegt der Hund begraben. Denn das Leistungsrecht ist in diesem Gesetzentwurf überhaupt nicht berücksichtigt worden, obwohl es 90 Prozent der Kosten ausmacht. ({3}) Außerdem haben Sie bei den Verwaltungskosten, welche die übrigen 10 Prozent ausmachen, das von Ihnen festgelegte Einsparziel von 20 Prozent nicht erreicht. Das Entscheidende ist aber, dass Sie das Leistungsrecht ausklammern. Deshalb ist es kein gutes Gesetz. ({4}) Erschwerend kommt hinzu, dass Sie den Unternehmen zusätzliche Bürokratie aufbürden. Es sind die Unternehmer, die diese Versicherungssäule allein bezahlen. ({5}) Herr Brandner hat recht. In der Öffentlichkeit ist das zwar nicht so bekannt, aber die Unternehmer geben immerhin 9,6 Milliarden Euro für die gesetzliche Unfallversicherung aus. ({6}) Das ist eine stattliche Summe. Wenn Sie aber die Bürokratiekosten erhöhen, werden die Unternehmer einen noch dickeren Hals bekommen als bisher. Laut einer Umfrage unter Unternehmern wollen 88 Prozent der Unternehmer die Berufsgenossenschaften privatisieren oder abschaffen. Wir haben gesagt, dass das so leicht nicht geht. Aber man wird doch wohl fordern können, dass der Grundsatz, dass Wettbewerb besser ist als ein Monopol, auch einmal auf die Berufsgenossenschaften angewendet wird. Das ist eine Forderung, die auch in unserem Antrag enthalten ist. Wir könnten die Versicherung von Arbeitsunfällen ohne große Probleme dem Wettbewerb zugänglich machen; wir haben entsprechende Gespräche mit dem GDV und der Münchner Rück geführt. Das wäre ein Punkt, an dem man Kosten sparen könnte. Wenn es nur eine Autoversicherung gäbe, würden Sie auch auf die Barrikaden gehen. Bei der Autoversicherung wählen Sie auch den besten Anbieter aus. Trotzdem möchte ich sagen, dass Dr. Joachim Breuer und sein Team gute Arbeit leisten. Aber auch gute Arbeit kann man noch verbessern. Das wäre möglich, indem man in diesem Bereich Wettbewerb zulässt. Außerdem haben wir uns in unserem Antrag erlaubt - einige Ausschussmitglieder waren da ganz beleidigt -, eine Forderung der Bund-Länder-Arbeitsgruppe aufzugreifen und einmal die Wegeunfälle zu beleuchten. ({7}) Die Kosten für Wegeunfälle machen bereits einen Anteil von 15 Prozent an den besagten 9,6 Milliarden Euro aus. Wir wollen, dass die Wegeunfälle weiter versichert bleiben, aber nicht in diesem, sondern in einem paritätisch finanzierten System, eventuell im Rahmen der Krankenversicherung. Das wäre fair. Denn der Weg zur Arbeit ({8}) gehört zum allgemeinen Lebensrisiko, auf das der Arbeitgeber kaum Einfluss hat. ({9}) Auch dies sprechen wir in unserem Antrag an. Schließlich fordern wir in unserem Antrag, dass die Altersrente Vorrang vor der Unfallrente haben sollte und dass das Leistungsrecht zielgenauer sein muss. Das Geld darf nicht nach dem Gießkannenprinzip gleichmäßig über alle verteilt werden, sondern wir brauchen es für die schweren Unfälle. Wir stellen hier einen Antrag vor, der die Unternehmer entlastet. Das ist gut für uns alle. Denn wenn es den Unternehmen gutgeht, geht es auch den Arbeitnehmern gut. Wir sitzen doch zusammen in einem Boot. ({10}) Das wird immer verkannt. Insbesondere auf der linken Seite des Hauses wird immer wieder die alte Klassenkampfkeule herausgeholt. Begreifen Sie doch endlich, dass der Arbeitgeber an hochmotivierten guten Arbeitnehmern und nicht am Ausquetschen von Arbeitskraft interessiert ist, was immer behauptet wird. ({11}) Das Sozialste, was es gibt, ist, Arbeitsplätze zu schaffen, Leute auszubilden und ordentlich zu bezahlen. Dafür stehen wir als FDP. Dafür wäre es gut gewesen, wenn man bei dieser Reform ein Gesetz verabschiedet hätte, das die Unternehmen entlastet und nicht, wie es jetzt geschieht, weiter - das ist das Schlimme - mit Bürokratie belastet. ({12}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ({13}) ein herzliches Glückauf aus dem Erzgebirge! ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Gerald Weiß von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Struck’sche Gesetz kommt heute sozusagen verschärft zur Anwendung: ({0}) Die Reform der gesetzlichen Unfallversicherung hat im parlamentarischen Prozess, gemessen am Entwurf der Bundesregierung, in wesentlichen Punkten Verbesserungen erfahren. Der Kollege Kurth von den Grünen hat gestern im Ausschuss gesagt: Sie haben schon schlechtere Gesetze gemacht. - Das ist das größtmögliche Lob aus Oppositionsmund. ({1}) Ich war lange genug, viel zu lange Oppositionsabgeordneter. Ich weiß, wo das Limit ist. Übersetzt heißt das: Ihr habt es gut gemacht. ({2}) Es ist gut gemacht, und daran haben viele Anteil; ich komme noch darauf zu sprechen. Der Grundsatz, den Staatssekretär Brandner noch einmal hervorgehoben hat, war zentrale Zielvorgabe: Vorfahrt für die Selbstverwaltung. Ob dieses Prinzip im Gesetz durchgehalten würde, war für die Union der entscheidende Maßstab. Wir können heute mit großer Zufriedenheit sagen: Das Gesetz in seiner endgültigen Form ist vor allem ein Sieg der Selbstverwaltungsidee. In diesem Zusammenhang ist eine weichenstellende Entscheidung der Großen Koalition die, dass die im Regierungsentwurf vorgesehene Fachaufsicht über die gesetzliche Unfallversicherung entfällt. Wir begnügen uns mit der Rechtsaufsicht. Wir wollen Freiraum und Selbstverantwortung in der gesetzlichen Unfallversicherung. Wir wollen keine staatliche Gängelei. Am Anfang hatte man vorgesehen, die neue Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung als öffentlich-rechtliche Körperschaft, gespannt als gemeinsames Dach über die gewerblichen Berufsgenossenschaften und die Unfallkassen, der Fachaufsicht des Bundesarbeitsministeriums zu unterstellen. Das war der Union zu staatsnah - und nicht nur ihr. Selbstverwaltung braucht Freiraum. Fachaufsichtliche Weisungen passen da nicht. Aus ihrer betrieblichen Erfahrung heraus können Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Versichertenvertreter in der Selbstverwaltung am besten beurteilen, wo im Arbeitsschutz der Schuh drückt. Es genügt, wenn im Rahmen der Rechtsaufsicht überprüft wird, ob alles nach Recht und Gesetz verläuft. Fachaufsichtliche Weisungen sind nicht notwendig. Nach gründlicher Prüfung haben wir die von der Selbstverwaltung erarbeiteten Bausteine in den heute vorliegenden Entwurf übernommen. Die Vorgaben kamen von der Politik. Das hatte heilsamen Druck ausgelöst und die Bemühungen in der Selbstverwaltung - sagen wir es einmal so - beflügelt. Baustein eins ist die neue Organisationsstruktur. Die Anzahl der gewerblichen Berufsgenossenschaften wird von heute 23 auf 9 zurückgeführt. Durch Fusionen sollen tragfähige und zukunftsfähige Einheiten entstehen. Synergien sollen genutzt werden. Effizienz und Effektivität sollen gesteigert werden. Die Organisation der Unfallversicherung - das gilt für die Berufsgenossenschaften wie für die Unfallkassen - soll die Wirtschaftsstruktur von heute und von morgen abbilden. Hier hat die Selbstverwaltung ein respektables Ergebnis vorgelegt. Jetzt geht es an die Umsetzung. Das wird nicht leichter, aber wir haben das getan, was man gemäß dem Prinzip „Vorfahrt für die Selbstverwaltung“ tun muss. Wir haben dieses Konzept der neuen zukunftsfähigen Berufsgenossenschaften unverändert in das Gesetz hineingenommen. Baustein zwei: Wir haben die Selbstverwaltungslösung in Form des Vereins, den die Träger der Unfallversicherung gebildet haben, in das Gesetz übernommen. Baustein drei: Der neue solidarische Lastenausgleich ist ein Konzept, das ebenfalls von der Selbstverwaltung entwickelt wurde. Wir helfen den von Strukturkrisen gebeutelten Branchen, zum Beispiel der Bauwirtschaft, nachhaltiger als jemals zuvor. Wir versetzen sie in die Lage, die aus Strukturkrisen herrührenden Lasten zu tragen. Einen gordischen Knoten musste die Politik durchschlagen: Hier ging es um den Verteilungsschlüssel. Angesichts extrem widerstreitender Interessen wäre die Selbstverwaltung überfordert gewesen, selbst zu entscheiden, nach welchem Schlüssel die Faktoren Entgelte und Neurenten zu gewichten gewesen wären. Wir sind nach reiflicher Überlegung dabei geblieben, den Verteilungsschlüssel bei 70 zu 30 - 70 Prozent nach Entgelten und 30 Prozent nach Neurenten - zu belassen. Wir haben allerdings - der Staatssekretär hat es bereits gesagt - eine wesentliche Änderung im Ausschuss beschlossen, die sicherlich nachher auch hier eine Mehrheit finden wird. Der stufenweise Umstieg in den neuen Lastenausgleich wird nicht schon bis 2010, sondern erst bis 2013 erfolgen. Mit dieser längeren Umstiegsfrist, das heißt kleinere Stufen bei längerer Zeitspanne, helfen wir den Branchen, die im solidarischen Lastenausgleichssystem die Gebenden sind, deren Solidarität im solidarischen Lastenausgleich gefordert ist. Wir wollen sie fordern, aber nicht überfordern. Zwischen Solidarität und Gerald Weiß ({3}) Selbstverantwortung muss eine vernünftige Balance herrschen. Der Staatssekretär hat auch schon über die Altersrückstellungen gesprochen. Auch hier haben wir die Frist verlängert, um nicht unnötigen Druck auf die Beiträge zu erzeugen. Er hat auch vom Moratorium gesprochen: Dass früher rein öffentliche Unternehmen, die heute börsennotiert sind und am Wettbewerb teilnehmen, ad calendas graecas den Unfallkassen zugeordnet bleiben sollen und damit nicht am solidarischen Lastenausgleichsverfahren teilnehmen, ist für uns nicht ohne Weiteres einzusehen gewesen. Die Entfristung, die noch im Entwurf stand, wollen wir jetzt durch eine neue Frist ersetzen, bis zu der eine scharfe Evaluierung über die Frage stattgefunden haben muss, wie eine richtige Zuordnung in Zukunft auszusehen hätte. Wir wollen auch nicht, dass der Bundesrechnungshof den Dachverband der Unfallversicherung prüft. Es geht um Geld der Arbeitgeber. Es ist klar, Herr Kollege Haustein, warum das Geld alleine von den Arbeitgebern kommt. Es handelt sich hier um ein abgeleitetes, individuelles Haftungsrecht. Das ist die Begründung für dieses System. ({4}) In dem Moment, wo es das nicht gäbe, müsste der Arbeitgeber die Versicherungsprämien privat tragen oder, wenn er es überhaupt könnte, unmittelbar privat für Unfälle haften. Das jetzige Vorgehen ist schon systemgerecht. ({5}) Da es sich nun aber nicht um Steuergelder, sondern um Beitragsgelder der Arbeitgeber, und zwar nur um solche handelt, hat auch der Bundesrechnungshof nicht zu prüfen. Insoweit haben wir auch hier eine Änderung vorgeschlagen. Ich will ganz kurz auf einen Aspekt eingehen, der zu im Grunde nicht zu akzeptierender Polemik in den letzten Stunden und Tagen geführt hat. Künftig wird die Lohn- und Arbeitszeitmeldung an die Unfallversicherung wegfallen. Das spart den Unternehmen 50 Millionen Euro. Ich möchte das hervorheben und daran erinnern.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Weiß, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich Kolb?

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Kolb. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, Herr Kollege Müller, wir sitzen schon lange hier herum, wir werden auch noch länger hier sitzen; aber diese Frage muss wirklich gestellt werden, weil mich heute noch einmal ein Alarmruf von einem großen Wirtschaftsverband erreicht hat. Wir haben gestern im Ausschuss eine Falschinformation erhalten. Das möchte ich hier sehr deutlich sagen. Zum einen hat der Kollege Brauksiepe mit dem gedruckten Gesetzeswerk in der Hand gesagt, die Meldepflichten würden bei der Überführung von § 165 SGB VII in § 28 a SGB IV nicht erweitert werden. Er hat, wie gesagt, aus der geltenden Fassung zitiert. Das ist aber sehr wohl der Fall. Es kommt die Pflicht zur Meldung folgender Daten hinzu: das in der Unfallversicherung beitragspflichtige Arbeitsentgelt - das ist etwas anderes als das in der Rentenversicherung beitragspflichtige Arbeitsentgelt -, der Zeitraum, in dem das angegebene Arbeitsentgelt erzielt werden muss, und die anzuwendende Gefahrtarifstelle. Das ist eine erhebliche materielle Veränderung des geltenden Rechts. ({0}) - Nein, das wird bisher nicht gemeldet. Ich habe extra nachgeschaut. Der Verband, der mich heute angerufen hat, hat mich in dieser Auffassung ausdrücklich bestätigt: Das ist eine erhebliche Ausweitung. Zum anderen war die Information falsch, dass diese Neuregelung, die Erweiterung der Meldepflichten, erst am 1. Januar 2012 in Kraft tritt. Sie ist vielmehr schon ab 1. Januar 2009 gültig. ({1}) Können Sie mir bestätigen, dass meine Auffassung, die ich hier vorgetragen habe, richtig ist, und welche Konsequenzen ziehen die Unionsfraktion und die Regierung insgesamt aus der Tatsache, dass mit dieser Änderung, mit der Überführung vom SGB VII in das SGB IV, ganz offensichtlich erheblich mehr Bürokratie verbunden ist?

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dieser Meinung kann ich mich nicht anschließen. ({0}) Zukünftig erfolgt nicht mehr die Meldung der Arbeitszeit an die Unfallversicherung. Im Grunde genommen machen wir aus zwei Vorgängen einen Vorgang. Ich stelle es einmal ganz plastisch dar - wie schön, dass ich darauf dank Ihrer Frage aufmerksam machen kann -: Ein Unternehmer hat drei Mitarbeiter: Max Müller, 1 750 Stunden, Hugo Meier, 1 600 Stunden, Maximilian Huber, 1 500 Stunden. Was ist bisher passiert? Der Unternehmer hat die Arbeitsstunden seiner Mitarbeiter zusammengezählt und seiner Berufsgenossenschaft gemeldet. Künftig wird der gleiche Unternehmer der Rentenversicherung - das ist das Neue; wie ich vorhin gesagt habe, wird dadurch eine Ersparnis erzielt: Aus zwei Vorgängen wird einer gemacht - die ihm vorGerald Weiß ({1}) liegenden Daten melden. Deshalb ist auch das frühe Inkrafttreten dieser Regelung gar kein Problem. Bei dieser Gelegenheit will ich sagen: Kein Mensch fordert oder erwartet die flächendeckende Einführung von Stechuhren. Schon gar nicht interessiert eine minutengenaue Auflistung der täglichen Arbeitszeiten der Arbeitnehmer. Wer diese Dinge bisher korrekt gemacht hat, wird keinen materiellen Mehraufwand haben. ({2}) Man hat unter der Überschrift „Stechuhren für alle“ einen Popanz geschaffen. Wie manche Funktionäre und Journalisten hier arbeiten, das ist ihrer Verantwortung überlassen. Es ist auf jeden Fall übel; das muss man schon sagen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Weiß, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Kolb?

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Weiß, ich bedanke mich für die Gelegenheit zur Nachfrage. Ich bitte die Kollegen um Verständnis. Das ist wirklich ein essenzieller Punkt, der mir heute von einem großen Wirtschaftsverband in sehr ernster Form vorgetragen wurde. Nachdem ich das selbst geprüft habe, teile ich diese Auffassung. § 165 SGB VII sieht bisher pauschale Meldungen vor. Außerdem sieht er die Möglichkeit vor, dass der Umfang der Meldepflicht durch die Satzung der Berufsgenossenschaft modifiziert wird. Das wird künftig im Rahmen der individualisierten Meldung nach § 28 a SGB IV vollkommen anders sein. Man muss dann genau ermitteln, was man für den einzelnen Arbeitnehmer meldet. Bisher gibt es Mitarbeiter mit Vertrauensarbeitszeiten, das heißt Mitarbeiter, deren Arbeitszeiten nicht erfasst werden. Ich frage Sie: Wie sollen deren Arbeitszeiten denn künftig erfasst und gemeldet werden? ({0}) Man ist bisher nicht verpflichtet, für Arbeitnehmer, die weniger als acht Stunden am Tag arbeiten, Aufzeichnungen zu machen; das Arbeitszeitgesetz verpflichtet zu solchen Aufzeichnungen erst bei Arbeitszeiten ab acht Stunden. Wie soll man mit solchen Fällen künftig umgehen? Die entscheidende Frage ist: Was meldet man, wenn man eine individuelle Gefahrklasse melden muss? Seit einem Jahr ist die Situation so, dass zum Beispiel von einem metallverarbeitenden Unternehmen eine einheitliche Tarifziffer über alle Entgelte gemeldet wird. In dem künftig geltenden individualisierten Verfahren müsste man wohl für jede Tätigkeit - für die der Sekretärin, des Manns an der Presse oder des Staplerfahrers - unterschiedliche Gefahrklassen melden. Das schreit doch wirklich nach Mehraufwand. Das können Sie doch nicht übersehen. ({1})

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Um aggregierte Zahlen melden zu können, müssen die Unternehmen doch Daten zusammenzählen, die individualisiert vorhanden sind. Wenn sie also die Arbeitsverträge von Max Müller, Hugo Meier und Maximilian Huber, die 38 oder 40 Stunden pro Woche arbeiten, nebeneinanderlegen, können sie die Jahresstunden berechnen. Sie haben diese Daten doch in ihrem Betrieb erfasst. Zukünftig gibt es nur noch einen Vorgang: Sie brauchen sie nicht mehr zusammenzuzählen. Sie geben sie nur an die Rentenversicherung. Nun zu Ihrer Frage zu den Gefahrklassen. Die Selbstverwaltung hat hier viele Steuerungsmöglichkeiten und Gestaltungsraum. ({0}) - Auch in Zukunft; daran ändern sich gar nichts. Vielleicht kann mein lieber Freund Grotthaus nachher noch darauf eingehen. Eines muss ich dazu aber noch sagen: Wir haben in der Unfallversicherung nicht nur ein branchengegliedertes System, sondern auch ein nach Risiken gegliedertes System, ({1}) und zwar aus guten Gründen. Derjenige, der im Betrieb mit Stahlträgern hantiert, unterliegt anderen Risiken als derjenige, der in der Cafeteria mit Kaffeetassen hantiert. Das abzubilden, lohnt sich schon. Wenn sich ein Unternehmen in der Prävention anstrengt und den die Stahlträger schleppenden Mitarbeiter besser schützt, dann lohnt sich das im Beitrag. Diese Steuerungswirkung wollen wir auch weiterhin haben. Dafür werden aber die Daten gebraucht. Sie müssen doch wissen, was der Mitarbeiter macht. Diese Grundlagen wie bisher unbürokratisch bereitzustellen, sollte doch möglich sein. Es ist eine Mär, von der flächendeckenden Einführung von Stechuhren zu sprechen. ({2}) Wenn das das Niveau der Diskussion in Deutschland ist, dann sage ich nur: Gute Nacht! Das ist Polemik, sonst nichts. ({3}) - Ja, gerne. - Gewisse Daten braucht man - übertreiben darf man es nicht -; das erfordert gerade die Steuerung nach Risiken. Gerald Weiß ({4}) Ich möchte noch kurz das Leistungsrecht ansprechen. Wenn mir persönlich der Kollege Haustein nicht so sympathisch wäre - der Kollege Kolb sowieso -, ({5}) würde ich nicht darauf eingehen. - Wir haben die Reform doch mit gutem Recht gesplittet. Die Arbeitgeber wenden ein, dass sie 500 Millionen Euro mehr im langen Zeitstrahl bezahlen. Die Einwendungen der Arbeitnehmer sind, dass sie weniger Leistungsabsicherungen haben. Hier gibt es mindestens ein Kommunikationsproblem, wahrscheinlich auch ein paar Probleme in der Sache. Ich persönlich meine, die verwaltungskonzeptionellen Überlegungen waren noch nicht ausgereift. Wenn es aber so ist, dann lässt man es eben, bevor man etwas Schlechtes macht. Mit der Organisationsstrukturreform machen wir etwas Notwendiges, Gutes und Ausgereiftes. ({6}) Im Leistungsrecht hätten wir etwas Unausgereiftes. Es wäre zwar im Modell schön; aber auf der Straße wäre es nicht gefahren. Das sollten wir nicht machen. - Hinsichtlich der Wegeunfälle ist bei der Union nichts drin. Das will ich der guten Ordnung halber noch einmal sagen. ({7}) Sie haben auch gesagt: Die 20 Prozent an Kosteneinsparungen als Zielvorgabe habt ihr nicht geschafft. - Da kann ich mich wirklich nur wundern, Heinz-Peter. Wenn wir Freiraum und Selbstverantwortung möchten, dann kontrollieren die Selbstverwalter, Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Die Arbeitgeber gucken ganz scharf hin, weil es ihr Geld ist; sie kontrollieren die Finanzflüsse und die Kosten. Wenn wir allerdings 20 Prozent als Ziel festschreiben, dann verlassen wir diesen Weg, Freiraum zu geben. Dann können wir auch gleich wieder Fachaufsichten vorsehen. Diesen Weg wollten wir nicht gehen. Wir haben allerdings ein allgemeines Kosteneinsparungsziel und eine Berichtspflicht verankert. Das ist ein Hinweis des Gesetzgebers nach dem Motto: Strengt euch an, damit aus den Synergien, die wir hier erreichen wollen, in Zukunft auch wirklich etwas wird. Insgesamt sind wir mit diesem Gesetzentwurf auf einem sehr guten Weg. Es ist ein großes Gemeinschaftswerk. Ich wollte eigentlich noch einigen Damen und Herren ein Dankeschön sagen, aber die Redezeit ist um. Bei einem will ich mich trotzdem bedanken, nämlich bei meinem Ko-Berichterstatter Wolfgang Grotthaus. Es wird immer über eine Krise der Großen Koalition geschrieben. Aber an dieser Stelle hat sie sehr gut funktioniert. Es war eine freundschaftliche und kollegiale Zusammenarbeit. Herzlichen Dank, Wolfgang, für diese gemeinsame Arbeit. Ich bedanke mich. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Volker Schneider von der Fraktion Die Linke. ({0})

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär Brandner hat es schon angesprochen: Wir beraten heute auch einen Antrag meiner Fraktion. Er hat es angekündigt - wir wissen es schon aus dem Ausschuss -: Sie werden diesen Antrag ablehnen. Nichtsdestotrotz lassen wir uns an diesem Tag die gute Laune nicht versauen. Was haben wir in unserem Antrag gefordert? Wir haben erstens gefordert, die Reform des Leistungsrechts von der Organisationsreform abzukoppeln. Das haben Sie gemacht. Danke schön. ({0}) Wir haben zweitens perspektivisch gefordert, dass im Rahmen der Reform des Leistungsrechts, die es nun in der nächsten Legislaturperiode geben soll, nicht reflexartig Leistungen gekürzt werden, sondern dass sie optimiert werden. Wir sollten vor allen Dingen im Blick haben, dass wir eine verbesserte Anerkennungspraxis von Berufskrankheiten brauchen. Das werden wir als Merkposten in die nächste Legislaturperiode mitnehmen. Wir haben drittens gefordert, die Selbstverwaltung in der gesetzlichen Unfallversicherung zu stärken und insbesondere dem Dachverband der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, DGUV, weitgehende Autonomie einzuräumen. Sie haben, wie von uns gefordert, von der Körperschaftslösung Abstand genommen. Sie haben den Versuch, doch noch über die Fachaufsicht zu viel Einfluss zu nehmen, letzten Endes aufgegeben. Auch hier haben Sie unsere Forderungen erfüllt. Danke schön. ({1}) Wir haben allerdings auch gefordert, auf eine Festschreibung einer bestimmten Anzahl von gewerblichen Berufsgenossenschaften zu verzichten, nicht zuletzt deswegen, weil sich die öffentlichen Berufsgenossenschaften von dem, was die gewerblichen bis heute schon freiwillig erbracht haben, eine dicke Scheibe abschneiden könnten. Diese Forderung haben Sie nun nicht erfüllt. Aber die Mehrheit der Berufsgenossenschaften kann offensichtlich mit den neuen Berufsgenossenschaften leben, sodass wir das nicht als großen Mangel betrachten. Fazit: Sie lehnen unseren Antrag ab, aber Sie setzen ihn in wesentlichen Teilen um. Diese Schizophrenie zu verstehen, überlassen wir Ihnen. Für die Übernahme unserer Vorschläge bedanken wir uns herzlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schneider, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Aber sicher.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede den Eindruck erweckt, als hätten wir im Gesetzgebungsverfahren all das, was Sie gefordert haben, umgesetzt. Saugen Sie so viel Glück aus der Gesetzgebung, wie Sie können. Aber könnte es nicht vielleicht daran liegen, dass Sie möglicherweise in diesem einen Antrag endlich einmal etwas aufgenommen haben, was der Realität nahe kommt? Das wäre vielleicht auch eine Erklärung. ({0})

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Kollege Meckelburg, wir haben mit Sicherheit unterschiedliche Auffassungen darüber, was realistisch ist. ({0}) Ich denke, das sollten wir an dieser Stelle nicht vertiefen. Ich freue mich allerdings, dass Sie einräumen, dass wir tatsächlich einen äußerst realistischen Antrag gestellt haben, aus dem Sie einige Punkte übernehmen konnten. Da herrscht große Freude auf beiden Seiten. Sie lehnen zwar unseren Antrag ab. Aber das ist uns völlig egal. Die Hauptsache ist, dass sich die Erfüllung unserer Forderungen im Gesetz letztendlich wiederfindet. Das ist der zentrale Punkt. Diese Botschaft wollte ich herüberbringen. ({1}) Es bleibt aber auch ein Rest von Kritik. ({2}) Die Frage des Betriebsprüfungs- und Melderechts ist schon angesprochen worden. Es ist für mich immer noch nicht klar, ob es eine Entlastung gibt oder nicht. ({3}) Auch die heutige Debatte hat nicht zur Erhellung beigetragen. Übrigens, Herr Brandner, es sind nicht immer nur die interessierten Kreise, die etwas Falsches sagen. Vor gerade einmal zwei Wochen hat Ihr Staatssekretärskollege Lersch-Mense noch gesagt, die Umstellung werde etwas mehr als 3 Millionen Euro kosten und es sei mit höheren laufenden Kosten von 100 000 Euro zu rechnen. Das wäre aus meiner Sicht vernachlässigbar. Aber es ist eine eindeutig andere Aussage als die, von Einsparungen in Höhe von 54 Millionen Euro zu sprechen. Das irritiert mich schon. Ich frage mich, warum man diesen Punkt trotz aller Unklarheiten so vehement durchsetzen muss. Es fällt uns schon auf, dass Daten statt betriebsbezogen künftig individualisiert bezogen auf die einzelnen Arbeitnehmer erhoben werden. Das könnte die Voraussetzung dafür sein, dass künftig die Unfallversicherung oder Teile der Unfallversicherung paritätisch finanziert werden. Bis heute haben Sie noch nie, wenn ich diese Mutmaßung angestellt habe, energisch dazwischengerufen. Sie tun es auch jetzt wieder nicht. Das bestätigt mich darin. ({4}) Weiter begrüßen wir die gesetzliche Fixierung der gemeinsamen deutschen Arbeitsschutzstrategie und die Einrichtung des Steuerungsgremiums „Nationale Arbeitsschutzkonferenz“ sehr nachhaltig. Aber wir hätten uns an dieser Stelle auch eine stärkere Einbeziehung der Sozialpartner gewünscht, insbesondere ein Stimmrecht für diese beiden Gruppierungen. Nun sind auch diese beiden Gruppierungen damit einverstanden; wir haben nachgefragt. Dann wollen wir jetzt nicht päpstlicher sein als der Papst; das ist dann verzeihbar. Ein anderer Punkt ist das Prüfungsrecht des Bundesrechungshofs bezüglich der Finanzen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Dazu muss ich sagen: Wir haben eine etwas andere Auffassung dazu, was ein Parlament leisten sollte. Wieder einmal ziehen Sie sich auf folgende Position zurück: Wir warten ab, was ein Gericht entscheidet. - Hier ist das Parlament; hier werden die Gesetze gemacht und nicht bei Gerichten. Das zumindest ist die Auffassung der Linken zu diesem Problem. ({5}) Nichtsdestotrotz: Wir werden diesem Gesetzentwurf zustimmen, auch deshalb, weil die Kollegen der Großen Koalition sich nun tatsächlich - dies ist insbesondere von Herrn Weiß angesprochen worden - auf einen ernsthaften Dialog mit allen Beteiligten eingelassen und aufgrund der Hinweise, der Kritik und der Anregungen noch wirklich substanzielle Änderungen an dem ursprünglichen Entwurf vorgenommen haben. Wir verbinden mit dieser Zustimmung die Hoffnung, dass Sie ebenso im Bereich der Reform des Leistungsrechts einen solchen Dialog führen werden. Sie haben es angekündigt und gesagt - darin stimme ich Ihnen nachdrücklich zu -, dass diese Reform nur im Dialog erfolgreich sein kann. Aber ein Dialog ist nicht das, was ich bisweilen auf Staatssekretärsseite erlebt habe, wenn dann etwas oberlehrerhaft gesagt wird: Wir müssen die Leute besser überzeugen. - Das ist kein Dialog. So werden Sie keinen Erfolg haben. Nun hätte ich mir gewünscht, dass Kollege HansPeter Bartels von der SPD heute anwesend ist, der dem Wissenschaftlichen Dienst Erstaunliches entlockt hat, nämlich die Tatsache, dass die Ablehnungsquote meiner Fraktion niedriger als 50 Prozent ist, was Vorlagen der Bundesregierung bzw. der Großen Koalition anbelangt. ({6}) Er sieht sich damit in seinem Ergebnis bestärkt, dass die zivilisatorische Kraft der parlamentarischen Praxis heilsam sei. Er spricht davon, dass der Parlamentarismus erzieht. Ich muss Ihnen sagen: An dieser Stelle möchte ich dem Kollegen Bartels aus zwei Gründen nachhaltig widersprechen. Volker Schneider ({7}) Erstens. Meine Fraktion benötigt an dieser Stelle keine Erziehung; ({8}) denn für uns ist der höchste Souverän der Wähler. Nur an den Interessen der Wähler orientiert werden wir entscheiden, ob wir einem Gesetzentwurf zustimmen oder nicht. ({9}) Dann ist es uns völlig egal, ob dieser letztlich von der Großen Koalition oder von den Kolleginnen und Kollegen von den Grünen oder auch von der FDP kommt. Auch der FDP haben wir schon des Öfteren zugestimmt. Zweitens. Großer Optimismus ist leider für zwei Drittel dieses Hauses überhaupt nicht angebracht. Wir haben einmal die Gegenfrage gestellt, wie oft Sie Vorlagen von uns zugestimmt haben. ({10}) Der Wissenschaftliche Dienst wird auf Ergebnisse kommen, die sich - wenn überhaupt - allenfalls im Promillebereich bewegen werden; denn Sie lehnen ja grundsätzlich alles ab, nur weil es im Zweifelsfalle von uns kommt. ({11}) Vor diesem Hintergrund werden Sie weiter damit leben müssen, dass wir dann, wenn wir es für richtig und für die Wähler für wichtig halten, Ihren Vorlagen zustimmen werden. Herr Weiß wird es verkraften, dass sein Wunschkoalitionspartner das diesmal nicht tut - er hat dies im Ausschuss schon sehr bedauert - und dass wir in diesem Fall einmal einspringen werden. Danke schön. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Markus Kurth vom Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Demokratie lebt vom Streit. Das ist ein wichtiger Nährboden. Aber manchmal ist es auch gut, dass bei wichtigen Grundfragen der sozialen Sicherung fraktionsübergreifend, was die Grundprinzipien anbelangt, ein relativer Konsens herrscht. Den stelle ich, was die gesetzliche Unfallversicherung anbelangt, fest, jedenfalls für fast das gesamte Haus bis auf die FDP-Fraktion, die - ich erlaube mir, den Kollegen Weiß zu zitieren - als Marktsektierer im Bereich der Unfallversicherung allein dasteht. ({0}) Warum das so ist, hat Herr Weiß versucht, Ihnen, Herr Kolb, zu erklären. Ich glaube aber, auch dem Herrn Schneider muss man das noch einmal erklären. Es gibt nämlich einen Grund, warum man keine paritätische Finanzierung der Kosten bei Wegeunfällen vorsehen kann. Die gesetzliche Unfallversicherung bewirkt die Haftungsablösung für die Unternehmer. ({1}) Darum zahlen sie sie alleine, Herr Schneider. Deshalb macht es überhaupt keinen Sinn, die paritätische Finanzierung hier ins Spiel zu bringen. ({2}) Warum machen Sie das? Wollen Sie irgendwen auf dumme Gedanken bringen? Wollen Sie eine gesellschaftliche Debatte anzetteln, an der wir alle - vielleicht mit Ausnahme von Herrn Haustein - kein Interesse haben können? Das ist kurios. ({3}) So viel vorweg. Grundsätzlich ist dieser Gesetzentwurf sinnvoll: erstens weil die Verteilung der 1,3 Milliarden Euro Überaltlast zwingend notwendig ist. Zweitens besteht die Hoffnung, dass die Verringerung der Zahl der Berufsgenossenschaften zumindest mittelfristig Einsparungen im Verwaltungsbereich erbringt. Drittens ist es zu begrüßen, dass mit der gemeinsamen deutschen Arbeitsschutzstrategie und mit der Nationalen Arbeitsschutzkonferenz eine Plattform für die Weiterentwicklung im Bereich der Prävention geschaffen wurde. Wir werden dem Gesetzentwurf allerdings trotzdem nicht zustimmen, sondern uns enthalten; denn wir sind der Auffassung, dass insbesondere im Bereich der Prävention wesentlich mehr hätte getan werden können und auch mehr hätte getan werden müssen. ({4}) Wenn die Regierungsfraktionen es schon nicht geschafft haben, das Leistungsrecht zu reformieren, hätten sie wenigstens das in Angriff nehmen müssen; denn in einem sind wir uns doch wohl einig: Die wirksamsten Möglichkeiten zur Kostenverringerung im Bereich der Unfallversicherung sind ein Arbeitsunfall, zu dem es gar nicht erst kommt, und eine Berufserkrankung, die gar nicht erst auftritt. In diesem Zusammenhang hätten Sie die Erkenntnisse der Expertenkommission „Die Zukunft einer zeitgemäßen betrieblichen Gesundheitspolitik“ zu Rate ziehen können, ja müssen. Diese Kommission hat nämlich bereits im Jahr 2004 festgestellt, dass zunehmend nicht die Mensch-Maschine-Schnittstelle, sondern die MenschMensch-Schnittstelle Ausgangspunkt für arbeitsbedingte Erkrankungen ist. Das heißt konkret: Burn-out-Syndrom, Stresserkrankungen, psychische Erkrankungen und seelische Erkrankungen gewinnen gegenüber klassischen Berufskrankheiten wie Muskel- und SkelettMarkus Kurth erkrankungen an Bedeutung. Das spiegelt die schrumpfende Bedeutung von Branchen wie der Bauindustrie oder des verarbeitenden Gewerbes und die zunehmende Bedeutung des Dienstleistungssektors wider. Wenn zum Beispiel die Mitarbeiter eines Callcenters ihre Line immer mit zehn eingehenden Anrufen voll haben und unter wahnsinnigem Stress stehen und der Inhaber dieser Bude die Beschäftigten unter Druck setzt, gibt es natürlich stressbedingte Erkrankungen. Dieser besonderen Entwicklung schenken wir zurzeit viel zu wenig Aufmerksamkeit. ({5}) Ich will an die Zahlen erinnern, die ich bereits in der ersten Lesung angeführt habe: Laut Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen ist der Anteil psychischer Erkrankungen, gemessen an allen berufsbedingten Erkrankungen, im Jahr 2005 auf 10,5 Prozent gestiegen. Die wohl auch als objektiv zu bezeichnende Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin beziffert den Ausfall an Bruttowertschöpfung durch psychisch bedingte Erkrankungen mit 7,0 Milliarden Euro; das entspricht immerhin 0,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das heißt, wenn wir in diesem Bereich in Präventionsstrategien investieren, dann ist das von volkswirtschaftlichem Nutzen, vom Nutzen für die Personen mal ganz abgesehen. Wenn wir diese Zahlen ernst nehmen würden, hätten wir psychische Erkrankungen in die gemeinsame deutsche Arbeitsschutzstrategie aufnehmen müssen. Das hätte nichts gekostet; das hätte man machen können. Außerdem hätte man im Rahmen der Arbeitsschutzstrategie Strukturziele vorgeben müssen. Man hätte das Leitbild „Gesundheitsfördernde Arbeitssituation“ zum Ziel erheben können. Heutzutage haben berufsbedingte Krankheiten nämlich meistens nicht nur eine, sondern mehrere Ursachen. Was geschieht stattdessen? Es gibt keine Reaktion auf diesen Trend. Das ist wirklich bedauerlich. Die Ziele der gemeinsamen deutschen Arbeitsschutzstrategie sind nicht innovativ; das hat uns ein Sachverständiger bestätigt. Es gibt keine Beteiligung der gesetzlichen Krankenkassen im Rahmen der gesetzlichen Arbeitsschutzstrategie; das haben Sie weit zurückgewiesen. Ich meine, dass die Kooperation zwischen den Sozialversicherungsträgern intensiviert werden müsste; denn die Krankenkassen haben Erfahrungen im Bereich der betrieblichen Gesundheitsvorsorge. Außerdem sind die Sozialpartner in der Nationalen Arbeitsschutzkonferenz nicht stimmberechtigt - darauf hat Herr Schneider schon hingewiesen -, obwohl das für Fortschritte im Bereich der Prävention wichtig gewesen wäre. Das heißt, dass das Ziel der Prävention, auch wenn Herr Brandner es in seiner Rede angesprochen hat, bei Ihnen seinen Platz vorwiegend in Sonntagsreden hat, was bei der Gesundheitspolitik ähnlich ist. Das ist bedauerlich. ({6}) Ich meine, dass wir bei der Anerkennung von Berufskrankheiten in einem weiteren Schritt psychische Erkrankungen berücksichtigen müssen. Wir müssen versuchen, dies in den Gefahrklassen abzubilden; denn wenn sich in den Beiträgen für die Unfallversicherung niederschlägt, welcher Stress am Arbeitsplatz herrscht, wird es Fortschritte in Richtung „guter Arbeit“ geben. Dann wird es nicht mehr so schlechte Arbeitsbedingungen geben, wie ich dies am Beispiel Callcenter deutlich gemacht habe, wo man unter extremem Druck steht. Vielmehr wird es dann Arbeitsumgebungen geben, die die Leistungsfähigkeit erhalten. Das ist übrigens im Interesse der Arbeitgeber. Die Arbeitgeber unterschätzen diesen Bereich extrem. Das Risiko bei psychischen Erkrankungen ist sogar weitaus größer, weil der Arbeitsausfall - anders als zum Beispiel bei Erkrankungen des Bewegungsapparats - nicht sofort eintritt. Die Krankheit tritt schleichend auf; auch die Produktivität sinkt schleichend. Schon vor dem Arbeitsausfall ist die Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz gemindert. Lassen Sie uns also nach Verabschiedung der Organisationsreform in einem weiteren Schritt das Thema „Arbeitssicherheit und Arbeitsschutz“ angehen. Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist Prävention nicht nur ein Wort in Sonntagsreden; wir machen durch unsere Konzepte und unseren Antrag Ernst damit. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Grotthaus von der SPD-Fraktion. ({0})

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte gleich am Anfang festhalten, dass dieser Tag ein guter ist, nicht nur weil wir die gesetzliche Unfallversicherung im Organisationsteil reformieren, sondern auch weil ich hier große Einstimmigkeit festgestellt habe. Das ist in den Jahren, in denen ich im Bundestag bin, sehr selten vorgekommen. Es deutet aber darauf hin, dass die Zielproblematik erkannt worden ist und dass versucht wurde, auf einen Nenner zu kommen. Dies war nur möglich, weil sich die Regierungskoalition beim Referentenentwurf und bei den Überlegungen der BundLänder-Kommission zum Teil quergestellt und immer genau definiert hat, was sie überhaupt will. Kollege Weiß hat mich gerade gelobt. Ich kann nur sagen: Herzlichen Dank! Aber das Kompliment muss ich zurückgeben, Gerald. ({0}) Wir gehen einmal zusammen ein Bier trinken, wenn das Gesetz verabschiedet ist. Wir tragen mit dieser Organisationsreform einer geänderten Wirtschaftsstruktur, dem Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, Rechnung. Wir vollziehen eine Modernisierung der Verwaltungsstrukturen, und wir regeln - das ist ganz wichtig - die Altlastenproblematik. Lassen Sie mich zur Altlastenproblematik eines sagen - das ist schon deutlich geworden -: Wir haben hier keine Lösung gefunden, die alle zufriedenstellt. Es gibt Geber, die sich darüber beschweren, dass die Beträge zu hoch seien. Es gibt Nehmer, Berufsgenossenschaften, die sich darüber beschweren, dass die Beträge zu niedrig seien. Ich sage es einmal in meinem Ruhrgebietsdeutsch: Das Hinterteil ist immer hinten, und es wird sich immer einer finden, der da reintritt. - Wir müssen mit dieser Entscheidung leben. Ich glaube aber, dass diese Entscheidung richtig ist. Wir haben damit den größtmöglichen Nenner, also die größtmögliche Übereinstimmung, gefunden; das wird uns von den Betroffenen signalisiert. Auch die Streckung des Übergangszeitraumes ist auf großes Verständnis und große Zustimmung gestoßen. Ich möchte mich bedanken, als Erstes beim Dachverband der Berufsgenossenschaften und öffentlichen Unfallkassen. Ich will sehr offen sagen: Hier wurde ganz tolle Vorarbeit geleistet. Diese Vorarbeit war nur möglich, weil wir, die Regierungskoalition, von Anfang an gesagt haben: Selbstverwaltung über alles! Wir werden Kurs halten und dies durchziehen, aber ihr müsst bitte schön mitarbeiten. Macht Vorschläge und nehmt eure Mitglieder mit, so wie es bei der Selbstverwaltung üblich ist. - Deswegen konnten wir auf vieles zurückgreifen, was die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung im Vorfeld dieser Gesetzgebung erarbeitet hat. Mein Dank gilt auch dem Ministerium. Wir waren nicht immer einer Meinung; aber das war auch gut so. Denn wenn man von unterschiedlichen Standpunkten ausgeht und strittig diskutiert, führt das letztlich dazu, dass man sich auf einen Kompromiss einigt, der für alle tragbar ist. Auch wir haben uns von unterschiedlichen Standpunkten aus angenähert und eine Kompromisslösung - ich sage bewusst: eine Kompromisslösung - gefunden, mit der wir leben können und mit der das Ministerium leben kann. Das Struck’sche Gesetz ist schon angesprochen worden; Gerald, herzlichen Dank dafür! Das deutet darauf hin, dass dieses Plenum gegenüber der Ministerialbürokratie nicht so machtlos ist, wie es von der Presse oft in die Öffentlichkeit transportiert wird. Ich will einen Punkt ansprechen, der noch ein wenig kritisch ist ({1}) - ich weiß, dass jetzt der eine oder die andere außerhalb des Plenarsaals sehr genau zuhören wird -: die Zahl der Berufsgenossenschaften. Im ersten Entwurf wurden sechs Berufsgenossenschaften genannt. Dann wurde an uns die Bitte herangetragen, diese Zahl zu erhöhen. Daraufhin haben wir die Berufsgenossenschaften aufgefordert, sich zu einigen, allerdings auf jeden Fall auf eine einstellige Zahl. Wie wir wissen, ist die höchste einstellige Zahl neun. Man hat sich bei der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung einstimmig - ich betone: einstimmig - auf neun Berufsgenossenschaften geeinigt. Dann sagte eine kleine Berufsgenossenschaft: Wir wollen nicht. - Meine Damen und Herren, so geht es nicht. Erst fasste das Gremium einen einstimmigen Beschluss, und dann wurde versucht, in die Politik hineinzuwirken, und es wurde gesagt: Ihr müsst uns folgen. - Dazu sagen wir in aller Deutlichkeit: Nein, es bleibt bei neun Berufsgenossenschaften. Wenn sich die Berufsgenossenschaften nicht einigen können, dann wird zu gegebener Zeit der Gesetzgeber tätig werden müssen. Diese Position haben wir auch im Hinblick auf den Ausschussbericht als Formulierungshilfe weitergetragen. Nun will ich auf die Beiträge der Kolleginnen und Kollegen der Opposition eingehen. Herr Kollege Haustein, am besten hat mir Ihr „Glück auf!“ gefallen. Wie Sie hören können, komme ich aus dem Ruhrgebiet. Da Sie sehr oft „Glück auf!“ sagen, fordere ich Sie auf: Setzen Sie sich weiterhin für den Erhalt der Steinkohle ein! Das wäre mir am sympathischsten. ({2}) Sie haben ferner das Stichwort „Fußball“ aufgegriffen. Wir sind im Finale, ob mit Ball oder ohne Ball. ({3}) Ich glaube, wir wären in das Finale auch ohne Ball gekommen, wie Sie formuliert haben. Jetzt sind wir bei der Endabstimmung über die gesetzliche Unfallversicherung ebenfalls im Finale. ({4}) Gestern war das Fußballspiel gut, und heute sind die zweite und dritte Lesung dieses Gesetzentwurfes gut. Ich wäre sehr angetan, wenn Sie diesem Gesetzentwurf zustimmen würden. ({5}) Zum Leistungsrecht. Lassen Sie mich deutlich machen: Wir haben das Leistungsrecht bewusst ausgeklammert; denn es war nicht umsetzbar. Der Kollege Weiß hat bereits zwei Zahlen genannt, die sich widersprechen. Da Sie die Bürokratiekosten kritisiert haben, möchte ich Sie auf Folgendes hinweisen: Stellen Sie sich vor, das jetzige Leistungsrecht bestünde noch 50 Jahre. Ein 18-Jähriger oder eine 18-Jährige, der bzw. die heute verunfallt, würde aufgrund des jetzigen Leistungsrechts bis zum Lebensende alimentiert. Jemand, der in zwei Jahren den gleichen Unfall hat, würde auf der Grundlage eines anderen Leistungsrechts alimentiert. Ich frage Sie: Welche Bürokratiekosten fallen dann an, und wie kann gewährleistet werden, dass dann keine Mehrausgaben entstehen? Erhöhen sich die Bürokratiekosten aufgrund der neuen Meldepflicht? Nein. Der Normenkontrollrat hat gesagt - ich gehe davon aus, dass Sie diese Zahlen verinnerlicht haben; denn sie sind in der Ausschusssitzung genannt worden -, dass durch das neue Meldeverfahren 52 Millionen Euro eingespart werden, und die Bertelsmann-Stiftung geht von 30 bis 40 Millionen Euro aus. Wenn zwei unabhängige Institutionen sagen, dass es für Unternehmer günstiger wird, aber ein Unternehmer sagt, dass es für ihn nicht günstiger wird, dann kommt man normalerweise zu dem Schluss, dass ein anderes Interesse verfolgt wird als das, Kosten einzusparen. Dann wird vermutlich versucht, den Besitzstand zu wahren, die eine oder andere Funktion zu behalten oder Funktionäre zu schützen; das sage ich hier so deutlich. Das kann nicht die Zielsetzung der Reform eines Gesetzes sein. ({6}) Sie sagen, der Weg zur Arbeit müsse privat versichert werden. Ich frage Sie, wie das bei wechselnden Baustellen sein soll. Ich sage auch für unseren Koalitionspartner ganz deutlich: Der Weg zur Arbeit gehört zum Beruf, und das ist deshalb der Berufsunfallversicherung angegliedert. Davon werden wir nicht abgehen. ({7}) Die Zahlen von Herrn Lersch-Mense stimmen, Kollege Schneider: Einmalige Umstellungskosten von 3 Millionen Euro, dann zunächst Mehrkosten von 130 000 Euro im Monat. Ich habe Ihnen aber gerade die Zahlen von der Bertelsmann-Stiftung und vom Normenkontrollrat genannt. Von daher gehen wir davon aus, dass diese Mehrkosten von 130 000 Euro im Monat zwar anfallen werden, dass aber, wenn die Umstellung beendet sein wird, Einsparungen möglich werden, die die Mehrkosten mehr als kompensieren werden. Kollege Schneider, Sie sagen, wir sollten Ihrem Antrag zustimmen. Schon vor zwei Jahren haben der Kollege Weiß und ich auf einer Veranstaltung von Verdi deutlich gesagt, was wir wollen. Dies findet sich in dem Gesetzentwurf, über den wir heute beraten, wieder. Ihr Antrag ist ein Jahr alt. Es ist für uns nicht wichtig, uns darüber zu streiten, wer das Erstgeburtsrecht hat. Wichtiger sind die Inhalte. ({8}) Deswegen ist es mir eigentlich - ich würde einen drastischeren Ausdruck wählen; aber der passt nicht in dieses Hohe Haus - egal, wer das Erstgeburtsrecht hat. Wir wissen, wie wir um das, was jetzt auf dem Tisch liegt, kämpfen mussten. Wenn Sie sagen, wir könnten Ihrem Antrag zustimmen, muss ich Ihnen sagen: Nein, unser Gesetz geht weiter. Es beinhaltet viel mehr Facetten als das, was Sie in den vier, fünf Punkten Ihres Antrags aufgezeigt haben. Von daher werden wir den Antrag der Linken ablehnen, genauso wie wir den Antrag der FDP und den Antrag der Grünen ablehnen werden. Zur Möglichkeit einer paritätischen Finanzierung. ({9}) Natürlich ist eine paritätische Finanzierung möglich genauso wie es möglich ist, dass Sie, Herr Schneider, in zwei Jahren in die CDU eintreten. ({10}) - Nun wehrt euch nicht dagegen! Es ist möglich. ({11}) Man sollte keine Möglichkeit ausschließen! Aber wir sagen in aller Eindeutigkeit: Das System der gesetzlichen Unfallversicherung ist - das ist deutlich geworden - ein anderes System als die anderen Sozialversicherungssysteme. Von daher sagen wir: Mit uns ist so etwas nicht zu machen. ({12}) Ich freue mich, dass wir heute die breitmöglichste Zustimmung des Hauses bekommen werden. Wir sind auf einem guten Weg. Wir werden auch, wenn wir uns dann mit den Leistungen beschäftigen, trefflich über den richtigen Weg streiten. Wenn wir dabei genauso weit kommen, werden wir sagen können: Wir haben toll gearbeitet. Herzlichen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Max Straubinger von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir sind in der Diskussion über das Unfallversicherungsmodernisierungsgesetz auf der Zielgeraden: Wir werden es heute in zweiter und dritter Lesung verabschieden. Ich möchte ausdrücklich betonen: Dieses Gesetz ist entgegen den Behauptungen der Kolleginnen und Kollegen der FDP ein gutes, ja ein wegweisendes Gesetz. ({0}) Wir straffen mit diesem Gesetz die Organisation der Unfallversicherung: statt 23 gewerblichen Berufsgenossenschaften werden es zukünftig nur noch 9 sein. Noch nicht angesprochen worden ist, dass die Zielstellung formuliert worden ist, dass auch die Zahl der Unfallversicherungsträger in unserem Lande zukünftig reduziert wird, und zwar auf höchstens 16. Auch das ist ein entscheidender Beitrag dieses Gesetzes. Ein Zweites ist, dass wir die Altlastenproblematik lösen, und zwar indem wir mehr Solidarität einfordern. Mehr Solidarität - da gebe ich dem Kollegen Grotthaus recht - bedeutet, dass manche Berufsgenossenschaft, die bisher durch einen sehr niedrigen Beitrag glänzen konnte, ihren Beitrag etwas wird anheben müssen, damit die Berufsgenossenschaften, die unter dem Strukturwandel zu leiden haben - etwa die Berufsgenossenschaften von Bergbau und Bauwirtschaft -, entlastet werden. Ich glaube, das ist gelebte Solidarität und Ausdruck unseres Sozialstaatsprinzips. Wir wollen den Überaltlastenausgleich so reformieren, dass er wirkt - gerade auch für die Bauberufsgenossenschaften. Meines Erachtens ist der Schlüssel dafür richtig gewählt. Er wurde im Übrigen vom Gesamtverband der Unfallversicherungsträger errechnet. In diesem Sinne ist das auch eine Lösung der Selbstverwaltung, über die aber die Politik mit zu entscheiden hat. Ich glaube, sie hat richtig entschieden - auch im Sinne der vielen kleinen Unternehmer in unserem Land, weil Unternehmer mit bis zu fünf Beschäftigten von diesem Überaltlastenausgleich ja kaum betroffen sind. Dementsprechend konnte dies meines Erachtens sehr zielführend gelöst werden. Ich glaube, es ist auch wichtig, zu erwähnen, dass damit Maßnahmen der Entbürokratisierung verbunden sind. Das wurde heute ja schon vielfältig dargelegt, und es wurden Befürchtungen geäußert, dass das mehr Bürokratie bedeutet. Hinsichtlich der Meldepflichten möchte ich ausdrücklich verdeutlichen, dass die Neuregelung kaum eine Änderung gegenüber der bisherigen gesetzlichen Regelung bedeutet. Herr Kollege Kolb, in § 165 SGB VII wird nämlich formuliert - wohlgemerkt: das ist bisheriges Recht -: ({1}) Die Unternehmer haben zur Berechnung der Umlage innerhalb von sechs Wochen nach Ablauf eines Kalenderjahres die Arbeitsentgelte der Versicherten und die geleisteten Arbeitsstunden in der vom Unfallversicherungsträger geforderten Aufteilung zu melden … Jetzt ist in § 28 a SGB IV formuliert: Der Arbeitgeber oder ein anderer Meldepflichtiger hat der Einzugsstelle für jeden in der Kranken-, Pflege-, Rentenversicherung oder nach dem Recht der Arbeitsförderung kraft Gesetzes Versicherten … eine Meldung durch gesicherte und verschlüsselte Datenübertragung aus systemgeprüften Programmen oder mittels maschinell erstellter Ausfüllhilfen zu erstatten. Weiter heißt es, dass bei der Abmeldung und bei der Jahresmeldung … das in der Rentenversicherung oder nach dem Recht der Arbeitsförderung beitragspflichtige Arbeitsentgelt in Euro und die geleisteten Arbeitsstunden zu melden sind. Dies ist vergangenes und jetzt neues Recht. Hier gibt es kaum einen Unterschied. ({2}) Herr Kollege Kolb, deshalb kommt der Nationale Normenkontrollrat ja auch zu seiner Einschätzung. Ich zitiere aus seiner Stellungnahme: … auch zu Entlastungseffekten bei den Unternehmen. Die arbeitnehmerbezogene Meldepflicht erhöht die Transparenz und wird künftig den Aufwand für Unternehmen, die von „Vor-OrtPrüfungen“ betroffen sind, reduzieren. Das ist hier letztendlich auch die Botschaft, ({3}) nämlich die Botschaft, dass damit Bürokratie abgebaut wird. Herr Kollege Kolb, das sollten auch Sie zur Kenntnis nehmen. Diese Bundesregierung hat sich ja verpflichtet, für Entbürokratisierung zu sorgen. Erste Erfolge wurden bereits erzielt. Mit diesem Gesetz wird ein weiterer Schritt dazu unternommen. Ich glaube, dass es auch entscheidend ist, darzustellen, dass das Moratorium - sprich: die Nichteinbeziehung von bisher noch öffentlichen Unfallversicherungsträgern, zum Beispiel der Telekom, die jetzt am Markt teilnehmen - nicht unbegrenzt gilt. Ich glaube, das Entscheidende ist, dass bis zum Jahr 2011 eine Evaluation zu erfolgen hat. Im Jahr 2011 wird dann entschieden, ob sie weiterhin selbstständig bleiben oder in die gewerblichen Berufsgenossenschaften eingegliedert werden bzw. zumindest am Überaltlastenausgleich teilzunehmen haben. Wer als Unternehmen am Markt teilnimmt, sollte letztendlich auch zur Solidarität in diesem Bereich verpflichtet werden. Werte Damen und Herren, es wurde heute auch bereits vielfältig dargestellt, dass die FDP eine Privatisierung des Unfallversicherungswesens anstrebt. Ich bin für Wettbewerb und weiß durchaus, was Private leisten können. Ich glaube, dass dort, wo es angezeigt ist, Private auch Vorrang haben sollen. Aber in einem Sozialversicherungsbereich, in dem die Unternehmerhaftung abgegolten wird und zu jedem Zeitpunkt Renten gezahlt werden - unabhängig davon, wann ein Unfall eintritt -, wodurch eine unbegrenzte Haftung besteht und somit eine unbegrenzte Zahlungsfähigkeit gewährleistet sein muss, wird sich eine private Versicherung nicht engagieren können, weil sie das auch nach versicherungsmathematischen Grundsätzen nicht leisten kann. Darin liegen die Grenzen der privaten Versicherung. Fraglich ist auch, wer dann noch in ausreichendem Umfang Prävention betreiben würde. Bislang wird diese Aufgabe von der Berufsgenossenschaft im eigenen Interesse wahrgenommen. Im Falle von Wettbewerb wäre das sicherlich nicht mehr im selben Maße der Fall. In Ihrem Antrag ist vorgesehen, dass Berufskrankheiten weiterhin von der gesetzlichen Unfallversicherung abgesichert werden sollen. Daneben soll ein privates System bestehen. Das würde einen zusätzlichen bürokratischen Aufwand erfordern. Dies geht nicht an. ({4}) Ein letzter Punkt. Es wurde bereits angesprochen, dass das Leistungsrecht leider nicht reformiert worden ist und also noch nicht reformiert wird. Wir werden auf diese Reform drängen. Aber die Wegeunfälle - das sage ich deutlich - sind Bestandteil der gesetzlichen Unfallversicherung. Wenn wir in der Öffentlichkeit und auch jüngst in den Auseinandersetzungen um das Steuerrecht immer darauf hinweisen, dass der Weg zur Arbeit nicht mit dem Weg zum Golfplatz gleichzusetzen ist und steuerlich berücksichtigt werden sollte - wir plädieren schließlich dafür, dass die Entfernungspauschale wieder ab dem ersten Kilometer gelten soll -, ({5}) dann muss das auch für das gesetzliche Unfallversicherungsrecht gelten. Ich glaube, damit ist eine weitere zusätzliche Komponente eingebracht worden. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Moderni- sierung der gesetzlichen Unfallversicherung. Zunächst möchte ich bekanntgeben, dass eine Erklärung nach § 31 Geschäftsordnung der Kollegin Andrea Voßhoff vor- liegt, die wir zu Protokoll nehmen.1) Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt un- ter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 16/9788, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9154 in der Ausschussfassung anzu- nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Ge- setzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und Ent- haltung von Bündnis 90/Die Grünen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- stimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - 1) Anlage 2 Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmverhältnis angenommen. Wir setzen die Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/9788 fort. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9312 mit dem Titel „Die gesetzliche Unfallversicherung fit für die Dienstleistungsgesellschaft machen“. Wer diesem Wunsch auf Ablehnung zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/6645 mit dem Titel „Mehr Wettbewerb und Kapitaldeckung in der Unfallversicherung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Arbeit und Soziales unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5616 mit dem Titel „Keine Leistungskürzungen bei der gesetzlichen Unfallversicherung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen. Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesagentur für Arbeit fortführen - Drucksachen 16/9067, 16/9730 Berichterstattung: Abgeordneter Wolfgang Grotthaus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Gregor Amann von der SPD-Fraktion. ({1})

Gregor Amann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Arbeit ist nicht nur Mühsal und Ausbeutung, sondern hat auch zentrale Bedeutung für Wohlbefinden, das Selbstwertgefühl und den Erhalt unserer geistigen und sozialen Fähigkeiten. Sie bedeutet im positiven Fall also soziale Teilhabe und Integration. Das ist auch ein Grund, warum wir Menschen länger im Erwerbsleben halten wollen, anstatt die Lebensarbeitszeit immer weiter zu verkürzen. Mit dem vorliegenden Antrag wird aber das alleinige Ziel verfolgt, möglichst viele Menschen möglichst früh aus dem Arbeitsleben auszugliedern. ({0}) Ja, 40 Jahre körperliche Arbeit zu verrichten, giftige Dämpfe einzuatmen, eintönige Fließbandarbeit auszuführen oder großen psychischen Belastungen ausgesetzt zu sein, wie es zum Beispiel Menschen in Pflege- und Sozialberufen oft sind, ist zweifellos ungesund und verschleißt Menschen. Wenn aber heutige Arbeitsbedingungen und Arbeitsbelastungen Menschen kaputtmachen, dann kann die Antwort doch nicht sein, Menschen einfach früher aus dem Arbeitsleben hinauszudrängen, als wären die Arbeitsbedingungen sozusagen gottgegeben und unveränderbar. Vielmehr müssen wir uns darum bemühen, diese Arbeitsbedingungen zu verändern oder zu beseitigen. Dort, wo wir nicht verhindern können, dass Menschen ganz oder teilweise arbeitsunfähig werden, müssen wir uns selbstverständlich um diese Menschen kümmern. Altersteilzeit eignet sich sehr gut dazu, einen flexiblen Übergang in die Rente zu organisieren und zu einer schrittweisen Arbeitsentlastung zu gelangen. Im Jahr 2006 haben über 400 000 Beschäftigte davon Gebrauch gemacht. Übrigens wurde nur ein Viertel direkt durch Zuschüsse der Bundesagentur für Arbeit gefördert. Mit dem Auslaufen der BA-Förderung wird also keineswegs die Altersteilzeit an sich abgeschafft. Momentan verhandeln die Tarifparteien in der Elektro- und Metallindustrie über tarifvertragliche Regelungen zur Altersteilzeit. Ich begrüße dies ausdrücklich und wünsche den Verhandlungen viel Erfolg. ({1}) Denn die Unternehmen, die ihren wirtschaftlichen Erfolg in erster Linie der Arbeitskraft und der Leistung der Arbeitnehmer verdanken, sind in der Pflicht, nicht nur für gute Arbeit guten Lohn zu zahlen, sondern auch ihren Arbeitnehmern ein Ausscheiden aus dem Arbeitsleben in Würde und Gesundheit zu ermöglichen, nicht zuletzt durch entsprechende Altersteilzeitmodelle. Mit „ermöglichen“ meine ich vor allem auch das finanzielle Ermöglichen der Inanspruchnahme von Altersteilzeit. Deshalb ist die tarifvertragliche Absicherung der Altersteilzeit der richtige Weg. Es ist in Ordnung, wenn der Staat solche zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern vereinbarten Altersteilzeitmodelle fördert, indem er die Aufstockungsbeiträge steuer- und abgabenfrei macht. Diese staatliche Förderung der Altersteilzeit läuft 2009 ebenfalls nicht aus. Und jetzt möchte ich noch etwas zum Beschluss des SPD-Präsidiums sagen - Frau Pothmer, Sie haben ihn schon angesprochen -: ({2}) Ja, wir Sozialdemokraten treten für eine Verlängerung der direkten Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesagentur für Arbeit über 2009 hinaus ein, aber eben nicht - wie im vorliegenden Antrag der Linken gefordert unverändert. Um jungen Menschen nach der Ausbildung den Weg ins Berufsleben zu erleichtern, wollen wir Altersteilzeit dann und nur dann von der Bundesagentur fördern lassen, wenn für einen ausscheidenden älteren Arbeitnehmer ein junger Mensch nach der Ausbildung in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis übernommen wird ({3}) bzw. wenn in kleineren Betrieben ein Auszubildender eingestellt wird. Das ist nicht einfach eine Fortführung der alten Regelung. Wir werden den sehr fantasielosen Antrag der Linken deshalb nicht unterstützen. ({4}) Ich gehe davon aus, dass unser Modell zielgerichteter als die bisherige Förderung ist und damit weniger Kosten als bisher verursacht. Ich appelliere ausdrücklich an unseren Koalitionspartner, hier gemeinsam mit uns etwas Sinnvolles auf den Weg zu bringen, das älteren und jüngeren Arbeitnehmern zugleich hilft. ({5}) Altersteilzeit ist wichtig, richtig und notwendig. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Amann, Sie haben einen rhetorischen Eiertanz vorgeführt: ({0}) ein bisschen Nein und ein bisschen Ja zur Altersteilzeit. Ich möchte für meine Fraktion gleich am Anfang sehr deutlich sagen: Die Altersteilzeit ist ein sozialpolitischer Irrweg; sie hat sich jedenfalls als solcher erwiesen. ({1}) Es ist ein Irrweg, der nicht weiter beschritten werden darf. Deswegen ist es folgerichtig, dass die FDP dem Antrag der Linken nicht zustimmen wird, weil er dazu führen würde, dass ältere und erfahrene Arbeitnehmer im Wege der Altersteilzeit aus dem Berufsleben herausgedrängt würden. ({2}) Das ist in der Praxis vielfach passiert. Herr Amann, es ist doch nicht in Ordnung, wenn sich ältere Arbeitnehmer fast schon dafür entschuldigen müssen, wenn sie mit 60 Jahren noch einer Vollbeschäftigung nachgehen. Wir können es uns auch nicht leisten, auf die Erfahrungen der älteren Mitarbeiter zu verzichten; im Gegenteil - da stimme ich Ihnen zu -: Wir müssen die Arbeitsbedingungen, auch die sozialpolitischen Rahmenbedingungen, so gestalten - ich habe vorhin schon unser Modell einer flexiblen Rente vorgestellt -, dass die längere Lebensarbeitszeit sinnvoll und attraktiv wird. Wir sollten das nicht nur aus finanziellen Erwägungen, sondern auch vor dem Hintergrund aktueller Studien der Altersforschung tun, die belegen, dass ein zu frühes Ausscheiden aus dem Berufsleben der Gesundheit der Betroffenen sogar schaden kann. Arbeit ist nämlich nicht nur eine Last, die der Einkommenserzielung dient, sondern sie schafft auch soziale Kontakte, gesellschaftliche Anerkennung, einen festen Tagesrhythmus, körperliche und geistige Herausforderungen. Das sind positive Begleitumstände. Der Altersökonom Axel BörschSupan hält die Fortführung der Altersteilzeit, wie sie Linke und die SPD fordern, für „supergefährlich“. Im Spiegel von dieser Woche wird die Leiterin des Zentrums für lebenslanges Lernen an der Jacobs Universität Bremen, Ursula Staudinger, folgendermaßen zitiert: Wer gesunde Menschen, die 90 Jahre alt werden können, dazu verlockt, mit 60 in den Ruhestand zu gehen, schickt sie auf einen gefährlichen Weg. ({3}) - Herr Kollege Schaaf, ich erkläre Ihnen das gern. Stellen Sie eine Zwischenfrage! - Sie plädiert stattdessen dafür, ältere Arbeitnehmer weiterzubilden und so für vernünftige Alternativen zu sorgen. Ursprünglich sollten mit der Altersteilzeit und dem Vorruhestand ältere Arbeitnehmer dazu bewogen werden, ihren Arbeitsplatz zugunsten jüngerer Arbeitnehmer zu räumen; Herr Kollege Amann, da wollen Sie wieder hin. Zu dem angedachten Koppelgeschäft ist es jedoch nur in den allerwenigsten Fällen gekommen. Viele Beschäftigte haben die Frühverrentung bzw. die Altersteilzeit dennoch gerne genutzt, um den sicheren Hafen des Ruhestandes anzusteuern, insbesondere in Zeiten schwieriger Arbeitsmarktverhältnisse, allerdings ohne Aussicht auf eine Rückkehr, auch nicht in Zeiten besserer Konjunktur. Angesichts des in manchen Regionen schon heute herrschenden massiven Fachkräfte- und Nachwuchsmangels ist eine Fortführung dieser Politik anachronistisch und schädlich. Wir können uns schlichtweg nicht leisten, auf das Know-how der älteren und erfahrenen Arbeitnehmer zu verzichten. Das würde mittelfristig zu einer Schwächung des Wirtschaftsstandorts Deutschland führen, und zwar spätestens ab dem Jahr 2012, wenn die geburtenstarken Jahrgänge aus dem Erwerbsleben ausscheiden und vergleichsweise schwache Jahrgänge nachrücken. Dann hätten wir ein massives Problem. Nicht mehr die möglichst frühe Verrentung, sondern eine möglichst lange Teilhabe am Erwerbsleben muss also das neue Leitbild unserer alternden Gesellschaft sein. ({4}) Zudem ist richtig, was Professor Sinn in einer Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales im letzten Jahr sagte - ich zitiere -: ({5}) Ältere Arbeitnehmer verdrängen keine Jüngeren, sondern treten mindestens additiv zu den Jobs für die Jüngeren hinzu, wenn sie nicht sogar Komplemente sind. ({6}) Ältere Arbeitnehmer sind in der Lage, Jüngere anzuleiten, ihnen zu zeigen, wie man arbeitet, die Arbeit zu organisieren. Wenn wir diesen Bereich des Arbeitsmarktes stärken, entstehen zugleich auch zusätzliche Jobs bei den Jüngeren. ({7}) Dem stimme ich zu. Ich möchte noch in Erinnerung rufen, dass besonders die skandinavischen Länder Schweden und Dänemark hier eine Vorbildfunktion haben. ({8}) In Schweden waren im zweiten Quartal 2007, Frau Kollegin Nahles, 69,9 Prozent der 55- bis 64-Jährigen erwerbstätig, in Dänemark immerhin 58,7 Prozent. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum das, was in diesen Ländern möglich ist, nicht auch bei uns möglich sein sollte. ({9}) Ich habe unsere Lösung für einen flexiblen Übergang, die Anreize bietet, lang dabeizubleiben, dargelegt, obwohl man vordergründig, Herr Kollege Schaaf - das war Ihr Zwischenruf -, ein Angebot auf Frühverrentung erhält. Gerade der Wegfall des Zwangs, die Chance, jederzeit ein solches Angebot zu nutzen, wird dazu führen, dass von Jahr zu Jahr der Anreiz ständig erhalten bleibt, so lange es geht in dem möglichen Umfang dabeizubleiben. Wir erwarten nicht, dass die Linken statt ihrer eigenen Ideologie unseren vernünftigen Argumenten folgen. Aber ich appelliere an die Große Koalition, sich den demografischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Anforderungen nicht zu verschließen und der Versuchung zu widerstehen, einen weiteren Stein aus der Agenda 2010 herauszubrechen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Gitta Connemann von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jahrhundertelang suchten die Alchimisten nach dem Stein der Weisen, nach einer Substanz, die Metall in Gold verwandelt, nach einer Medizin, die den Menschen nicht nur heilt, sondern auch verjüngt. Die Suche war vergeblich bis zum Einzug der Linken in den Deutschen Bundestag. ({0}) Sie, meine Damen und Herren von der Linken, haben den Stein der Weisen gefunden, jedenfalls gaukeln Sie es den Bürgern in diesem Land immer wieder vor. Ihr Allheilmittel heißt Umverteilung. ({1}) Auch in diesem Fall. Sie wollen, dass die Altersteilzeit nach 2009 von der Bundesagentur für Arbeit weiter gefördert wird. Das ist Umverteilung, aber von unten nach oben. ({2}) 28 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen weiterhin mit ihren Beiträgen 100 000 Altersteilzeitnehmer finanzieren, ({3}) und zwar mit enormen Summen - 1,4 Milliarden Euro pro Jahr allein aus der Arbeitslosenkasse, Tendenz steigend. Viele subventionieren die Frührenten weniger. Meine Damen und Herren von der Linken, diese Umverteilung ist nicht unsere Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit. ({4}) Wir, die Union, wollen flexible Übergänge in den Ruhestand. Wir wollen diese für Arbeitnehmer in anstrengenden Berufen, auch mit kleinen Gehältern. Aber genau diese Ziele werden mit der Altersteilzeit nicht erreicht. Erstens. Ein gleitender Übergang findet nicht statt; denn die Altersteilzeit wird heute nicht mehr als echte Teilzeit gelebt. Heute wählen 94 Prozent der Altersteilzeitnehmer das sogenannte Blockmodell. Bis zu einem Stichtag wird voll gearbeitet, danach folgt abrupt die Freizeitphase. Wer flexible Übergänge will, müsste das Blockmodell abschaffen. Davon ist aber im Antrag der Linken nicht die Rede, leider auch nicht bei unserem geschätzten Koalitionspartner, Herr Kollege Amann. Der Beschluss des SPD-Präsidiums schweigt sich insoweit aus. Im Umkehrschluss bedeutet das leider: Weiter so mit der subventionierten Frühverrentung. Zweitens. Von dieser Praxis profitieren laut Deutscher Rentenversicherung vor allem Besserverdienende, die kaum arbeitslos gewesen sind. Sie kommen aus der öffentlichen Verwaltung und aus dem Kreditgewerbe, aber aus dem Baugewerbe nur 2 Prozent. Gerade diejenigen also, die körperlich hart gearbeitet haben, aber häufig weniger verdienen - der Bauarbeiter, die Friseurin -, können sich dieses Modell nicht leisten, finanzieren es aber mit ihren Beitrags- und Steuermitteln. Die Kleinen zahlen für die Großen. Jeder Euro für Altersteilzeit verringert den Spielraum für Beitragssenkungen. Das ist unsozial. ({5}) Drittens. Die Altersteilzeit hat nicht zu mehr Ausbildung geführt. Ich habe mich in der letzten Woche bei der Bundesagentur für Arbeit erkundigt, wie viele Ausbildungsplätze durch geförderte Altersteilzeit geschaffen werden. Die Antwort lautete: 4 800. Es sind 4 800 pro Jahr in ganz Deutschland, und das bei einer Förderung von 1,4 Milliarden Euro. Jüngere haben also davon nicht profitiert, ältere Arbeitslose übrigens auch nicht. Denn nur ein Bruchteil der freigewordenen Arbeitsplätze ist wiederbesetzt worden. Eine Förderung der BA setzt eine solche Wiederbesetzung voraus. Es befinden sich - das hat der Kollege Amann vollkommen zutreffend zitiert aber drei- bis fünfmal mehr Arbeitnehmer in der Altersteilzeit als im Bestand der geförderten Fälle der BA. Das heißt, auf sieben freigewordene Plätze kommt ein einziger wiederbesetzter Platz. Viertens. Diese Praxis wird insbesondere von Konzernen genutzt. Laut IAB nutzten 2006 nur 2 Prozent der kleinen Betriebe mit weniger als 20 Arbeitnehmern das Altersteilzeitmodell. In Betrieben dieser Größe arbeitet aber ein Drittel der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland. In den Kleinbetrieben fast Abstinenz, gehört die Altersteilzeit in Großbetrieben zum Standard. Konzerne nutzen die Altersteilzeit, um sich bequem und auf Kosten der Steuerzahler von älteren Arbeitnehmern zu verabschieden. Fünftens. Das ist das vollkommen falsche Signal: Ältere raus aus den Betrieben, subventioniert von der Allgemeinheit, und das bei einem schon jetzt bestehenden Fachkräftemangel. ({6}) Auch angesichts der heutigen Situation am Ausbildungsmarkt muss die Politik Unternehmen nicht mehr für das belohnen, was für diese überlebensnotwendig ist, nämlich die Rekrutierung von qualifiziertem Nachwuchs. Wir brauchen die Älteren ebenso wie die Jüngeren. Es darf keine Konkurrenz erzeugt werden. Es gibt also kein einziges Argument, die Altersteilzeit auch nach 2009 noch mit Mitteln der Arbeitslosenversicherung zu fördern. Wir werden deshalb den Antrag der Linken ablehnen; denn die Altersteilzeit ist unsozial, der Nutzen zweifelhaft, und Mitnahmeeffekte sind vorprogrammiert. Allerdings ficht das die Linke nicht an. Mit Ihrer Forderung versuchen Sie, sich einzuschmeicheln. Meine Damen und Herren von der Linken, das ist ein durchsichtiges Manöver. Zu Ihrer politischen Glaubwürdigkeit trägt das in absolut keiner Weise bei, sofern Sie diese überhaupt noch haben. ({7}) Die öffentliche Meinung ist übrigens eindeutig ablehnend. Ich zitiere nur einige Überschriften aus der Presse der letzten Tage: „Wirklichkeitsfern“, „Von gestern“, „Sackgasse“, „Falsches Signal“, „Vergiftetes Freibier“ oder „Mediziner kritisieren Altersteilzeit“. Eine Überschrift lautete übrigens: „Hin und weg von der Frühverrentung“. Darum geht es eigentlich: Wie lange muss im Leben gearbeitet werden? ({8}) Die simple Wahrheit lautet: Glücklicherweise werden die Menschen in diesem Land immer älter. Wenn dies bei bester Gesundheit geschieht, können wir länger arbeiten. Wir müssen dies zur Sicherung der Sozialsysteme tun; denn - ich zitiere erneut -: Der demografische Wandel wird unser Land verändern ... Deutschland darf es sich nicht leisten, Ältere frühzeitig aus dem Erwerbsleben zu drängen. Dieses Zitat stammt aus einem Papier des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales anlässlich der Vorstellung der Initiative „50 plus“. Es heißt dort weiter, es sei wichtig, Anreize zur Frühverrentung abzubauen. Diese Feststellung aus dem August 2006 ist auch heute noch gültig. ({9}) Deshalb ist es wichtig, dass Union und SPD diesen Weg gemeinsam weitergehen. Unser Ziel war es damals, die Beschäftigungsfähigkeit und die Beschäftigungschancen älterer Menschen in Deutschland zu erhöhen, und zwar durch finanzielle Leistungen, durch Förderung der beruflichen Weiterbildung und durch Modernisierung sowie altersgerechte Gestaltung von Arbeitsbedingungen. Die heutigen Erfolge sprechen für sich. Die Erwerbsbeteiligung Älterer ist signifikant gestiegen. Wir dürfen diesen Erfolgsweg nicht verlassen. Genau das würden wir aber mit einem „Weiter so“ bei der Altersteilzeit tun. Deshalb werden wir den vorliegenden Antrag ablehnen. Gegen ein „Weiter so“ sprechen im Übrigen nicht nur volkswirtschaftliche Gründe, sondern auch die bereits vom Kollegen Dr. Kolb erwähnten persönlichen und gesundheitlichen Gründe. ({10}) Allerdings müssen Sie, Herr Dr. Kolb, auch zur Kenntnis nehmen, dass es Menschen gibt, die nicht mehr fit sind. ({11}) Auch ihnen müssen wir Angebote machen. Sie müssen kürzer treten können. Allerdings kann das nicht nur für den Besserverdiener, sondern muss auch für den viel zitierten Bauarbeiter und die Friseurin gelten. Wenn die Menschen nicht mehr fit sind, brauchen wir Angebote wie Weiterbildung, Gesundheitsvorsorge, die Bereitstellung von weniger belastenden Arbeitsplätzen und Langzeitarbeitskonten. Dies zu organisieren und zu subventionieren ist aber nicht Aufgabe des Staates, ({12}) sondern eine klassische Aufgabe von Gewerkschaften und Arbeitgebern. Die Tarifpartner müssen passgenaue Lösungen in den Betrieben finden. ({13}) Seit Inkrafttreten des ersten Altersteilzeitgesetzes haben sich die Zeiten geändert. Trotzdem ist auch heute niemand gezwungen, bis 67 zu arbeiten. Wer früher aufhören möchte, obwohl er noch arbeiten könnte, muss sich diesen Wunsch aber selbst finanzieren. Jeder nach 2009 für Altersteilzeit ausgegebene Euro aus der Arbeitslosenkasse wäre unsozial. Es ist Subvention genug, wenn der Aufstockungsbetrag steuer- und sozialversicherungsfrei bleibt. Meine Damen und Herren von der Linken, Ihr Stein der Weisen existiert nicht. Dies erkannten übrigens irgendwann auch die Alchimisten. Metall lässt sich nicht in Gold verwandeln, und es gibt keine Universalmedizin. Jeden, der, wie Sie, etwas anderes behauptet, verweise ich auf Ringelnatz: Der Stein der Weisen sieht dem Stein der Narren zum Verwechseln ähnlich. Vielen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Klaus Ernst von der Fraktion Die Linke. ({0})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Connemann, wirklich beeindruckt hat mich an Ihrer Rede, dass Sie sich jetzt plötzlich für Friseurinnen interessieren, und zwar nicht nur persönlich, sondern auch im Hinblick darauf, was sie verdienen. ({0}) Bei den von Ihnen genannten Menschen gibt es das Altersteilzeitproblem überhaupt nur deshalb, weil sie so wenig verdienen, dass sie sich Altersteilzeit nicht leisten können. Wenn Sie mit uns für den Mindestlohn eintreten würden, würde sich das vielleicht ein wenig ändern. Aber das lehnen Sie ja ab. ({1}) Wir reden über die Altersteilzeit und stellen fest, dass die Koalitionsfraktionen darüber streiten wie die Kesselflicker, so wie sie es auch bei anderen Themen tun. ({2}) Es geht um einen flexiblen Ausstieg aus dem Arbeitsleben. Einen flexiblen Ausstieg ermöglicht aber nicht nur eine Teilzeitbeschäftigung, Herr Weiß, sondern auch ein Blockmodell. Warum ist die Altersteilzeit notwendig? Sie ist notwendig, weil schon jetzt ein großer Teil der Arbeitnehmer nicht bis zum 65. Lebensjahr durchhält. Bis zum 67. Lebensjahr, das Sie als Renteneintrittsalter eingeführt haben, halten noch weniger durch; das wissen Sie auch. Weil Sie von der SPD das wissen, eiern Sie hier so herum. Auf der einen Seite wollen Sie, dass die Menschen länger arbeiten. Auf der anderen Seite haben Sie im SPD-Präsidium beschlossen, dass die Altersteilzeit in bei weitem schlechterer Form als bisher erhalten bleiben soll. Das versteht doch kein Mensch mehr. ({3}) Das ist politische Geisterfahrerei, bei der Sie irgendwann von der Polizei angehalten werden. ({4}) Es gibt zurzeit eine ganze Reihe von Leuten, die sich für den Erhalt der Altersteilzeit einsetzen. 350 000 IGMetall-Leute haben dafür gestreikt. Sie wollen aber die alte Altersteilzeit, nicht die neue von der SPD. Sie sagen, aus welchen Gründen auch immer: Die Menschen sollen länger arbeiten. Wissen Sie, was das Problem ist? Die Arbeitswelt muss so verändert werden, dass das auch möglich ist. Aber Sie machen keine Gesetze dazu, dass sich die Arbeitswelt verändert. Dann ist zumindest die Reihenfolge falsch. Sie machen im Prinzip ein Gesetz, nach dem die Menschen vom 10-MeterTurm ins Becken springen sollen, aber machen kein Gesetz, das sicherstellt, dass auch Wasser drin ist. Das ist Ihr Problem bei dieser ganzen Debatte. ({5}) Sie bekommen nun kalte Füße. Eigentlich wollen Sie die Rente mit 67 zurücknehmen. Dann machen Sie es doch! Dann haben Sie auch die Unterstützung der Menschen; denn eine große Mehrheit will das so. Nach Ihrem Präsidiumsbeschluss wollen Sie ein Altersteilzeitgesetz schaffen, das bei weitem schlechter ist als das alte. Sie haben aber dem zugestimmt, dass die Altersteilzeit ausläuft. Sie wollen jetzt also ein Problem lösen, das Sie selbst verursacht haben. ({6}) Das ist ungefähr so, als wenn jemand ein Haus anzündet und dann dafür gelobt werden will, dass er die Feuerwehr holt. Ein solches Lob wird es für Sie nicht geben. Die Menschen begreifen das. ({7}) Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir wollen, dass die Altersteilzeit fortgesetzt wird. Es entzieht sich jeder Logik, dass eine Regelung nicht mehr gefördert werden soll, mit deren Hilfe Arbeitslose eingestellt werden. Das ist doch eine sinnvolle arbeitsmarktpolitische Maßnahme. Es ist sinnvoll, dass Betriebe, die Auszubildende einstellen, gefördert werden. Das streichen Sie. Warum denn? Das hat doch keine Logik. Sie wollen die Altersteilzeit zwei Jahre später beginnen lassen. Ich sage Ihnen, warum: weil Sie mit diesem Gesetz zur Altersteilzeit eigentlich den Einstieg in die Rente um zwei Jahre vorziehen wollen. - Das merken die Menschen. Im Prinzip sind Sie auf dem richtigen Weg - im Gegensatz zu Ihrem Koalitionspartner -, nur müssen Sie in dieser Frage auch konsequent sein. Wenn Sie draußen schon vermitteln, dass Sie für eine Altersteilzeit sind, dann machen Sie es doch einfach und ganz logisch: Stimmen Sie einer Verlängerung zu! Sie haben mit unserem Antrag heute die Möglichkeit dazu. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer von Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte hat gezeigt: Im Streit um die Altersteilzeit geht es um eines mit Sicherheit nicht: Es geht nicht um die Älteren. Den Linken geht es darum, die SPD vorzuführen und am Nasenring durch die Manege zu ziehen. ({0}) Das haben Sie, Herr Ernst, gerade ganz eindrücklich unter Beweis gestellt. Dramatisch und tragisch daran finde ich, Anton Schaaf, dass das auf euch wirkt, dass diese Form des Vorführens zur Folge hat, dass ihr euren arbeitsmarktpolitischen Kompass über Bord werft. ({1}) Alle Erkenntnisse über den demografischen Wandel, alle Erkenntnisse über den Fachkräftemangel sind der Vergessenheit anheimgefallen. Auch wenn ihr immer das Gegenteil behauptet: Die Altersteilzeit - das ist inzwischen bewiesen - ist ein Frühverrentungsmodell in Form einer Stilllegungsprämie. ({2}) Sie wird - das müsst ihr euch zu Gemüte führen - von großen Unternehmen und vom öffentlichen Dienst genutzt. Sie wird von denen genutzt, die gut verdienen. Männliche gut verdienende Arbeitnehmer sind diejenigen, die davon profitieren. 85 Prozent der Betriebe mit über 500 Beschäftigten bieten ein Altersteilzeitmodell an. Bei den Betrieben mit weniger als 50 Beschäftigten sind es nur 4 Prozent. Wollen Sie mir jetzt erzählen, dass in diesen Betrieben die Arbeitsbedingungen so großartig sind, dass es nicht zu Verschleißerscheinungen kommt und deswegen niemand Altersteilzeit in Anspruch nehmen will? Nein, meine lieben Leute, das hat andere Gründe. Hier profitieren die großen Betriebe, und bezahlen müssen es die kleinen; bezahlen müssen es auch die Geringverdiener. An dieser Stelle hat Frau Connemann wirklich recht. ({3}) Wenn das eure Vorstellung von Gerechtigkeit ist, kann ich nur sagen: Gute Nacht, Marie! Ihr von der SPD-Fraktion wisst das alles ganz genau. Die Zahlen sind mehrfach vorgetragen worden. In Plenar- und Ausschussprotokollen kann man nachlesen, dass ihr, was den Erkenntnisgewinn angeht, schon ein Stück weiter gewesen seid. Das alles ist leider vergessen. Trotz all dieser Erkenntnisse habt ihr den Präsidiumsbeschluss gefasst, die BA-geförderte Teilzeit bis 2015 weiterzuführen. ({4}) Herr Amann, wenn Sie mir jetzt erklären wollen, dass der qualitative Fortschritt darin besteht, dass das Ausscheiden von über 60-Jährigen subventioniert werden muss, damit künftig junge, gut ausgebildete Leute eingestellt werden können, kann ich Ihnen darauf nur entgegnen: Die Arbeitsmarktsituation ist in vielen Regionen schon jetzt so, dass junge, gut ausgebildete Kräfte rar sind. In ein paar Jahren - das kann ich Ihnen versichern werden diese jungen und gut ausgebildeten Leute auf Händen in die Betriebe getragen werden. Hier ist keine Subventionierung vonnöten. Wer allerdings nicht profitiert, sind diejenigen, die keine Ausbildung haben. ({5}) Für diese müssen wir wirklich etwas tun. Für diese müssen wir die 1,38 Milliarden Euro, die im letzten Jahr sinnlos für Altersteilzeitregelungen herausgepulvert wurden, einsetzen. ({6}) - Das glaubt ihr doch selber nicht, dass durch die Einführung eines Ausbildungsbonus dieses Problem gelöst werden kann. ({7}) Ich glaube im Übrigen auch nicht, dass ihr den älteren Menschen mit einem Frühverrentungsmodell einen Gefallen tut. Altersforscher kommen zunehmend zu der Erkenntnis, dass das für die älteren Menschen überhaupt keinen Gewinn darstellt. Sie warnen vielmehr auch aus gesundheitlichen Gründen davor. Arbeit ist nämlich ganz zentral für das Wohlbefinden der Menschen. Das ist eine Erkenntnis, die von vielen Seiten gewonnen wird, aber man hat den Eindruck, als würde das für ältere Menschen nicht gelten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Pothmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst?

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Ernst.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Pothmer, Sie haben gerade dargestellt, dass die Älteren zwar sehr qualifiziert seien - das stimmt ja auch -, aber aus den Betrieben gedrängt würden. Ist Ihnen bekannt, dass das nur dann geht, wenn der einzelne Arbeitgeber mit dem Beschäftigten einen entsprechenden Vertrag abschließt? Könnte es vielleicht sein, dass Sie dem Arbeitgeber nicht zutrauen, richtig einzuschätzen, ob der Mensch tatsächlich qualifiziert ist? Wenn das so ist, würde er ja mit ihm gar keinen Vertrag abschließen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dass das sozusagen formal auf freiwilliger Ebene geschieht, ist mir schon bekannt. Es gibt aber viele andere Beispiele. So kommt es etwa vor, dass die Betriebsleitung zu einem Beschäftigten sagt: Ich mache dir jetzt ein gutes Angebot. Überleg es dir ganz genau, ob du das jetzt nicht annimmst. Es gilt nur für eine bestimmte Zeit. ({0}) Insofern ist es in der Sache falsch, das so weiterlaufen zu lassen. ({1}) Anton Schaaf und Wolfgang Grotthaus, beide ehemalige Gewerkschafter, haben im Ausschuss für Arbeit und Soziales einmal sehr eindrücklich vorgetragen, dass sie selber als ehemalige Gewerkschafter auf schlechte und verschleißende Arbeitsbedingungen mit der Forderung nach mehr Geld und Frühverrentung reagiert haben und dass sie das inzwischen als einen grundlegenden Fehler ihrer Arbeit ansehen. ({2}) Die Aufgabe müsse nämlich vielmehr genau darin bestehen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. - Herr Schaaf, Herr Grotthaus, wo sind diese klugen Erkenntnisse geblieben? ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Pothmer, Sie müssen zum Schluss kommen. ({0})

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme sofort zum Schluss. - Lassen Sie mich zum Abschluss nur sagen: Ich glaube, es gibt Arbeitsplätze, die einen so fordern, dass man sie nicht bis zum 67. Lebensjahr Vollzeit ausfüllen kann. Hier brauchen wir Regelungen. Die Gewerkschaften sind auch dabei, hier gute Regelungen durchzusetzen. Da, wo es keine gewerkschaftlichen Strukturen gibt, müssen wir gesetzlich tätig werden. Das jetzige Modell hat aber bewiesen, dass es ungeeignet ist. Ich sage, besser wäre das Modell der Teilrente. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Wolfgang Grotthaus von der SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Diese Diskussion ist von einer gewissen Kuriosität: Die Linken legen einen Antrag vor, aber der Kollege Ernst redet während drei Minuten seiner vierminütigen Redezeit auf uns ein, doch bitte schön seinem Antrag zu folgen; denn wir hätten ja Ähnliches vor. Frau Pothmer versucht, uns deutlich zu machen, dass wir immer falsche Entscheidungen getroffen hätten, während ihre Fraktion der Verlängerung der Altersteilzeitregelung zugestimmt hatte. ({0}) Beim vorletzten Tagesordnungspunkt warb dann sogar der Kollege Kolb ({1}) für die Rente mit 60, sagt aber nun, Altersteilzeit wolle er überhaupt nicht haben. Herr Kolb, diese Diskussion war für jeden Menschen, der das verfolgt hat, entlarvend. ({2}) Für die Menschen, die es sich finanziell erlauben können, in Rente zu gehen, haben Sie etwas übrig. Aber für die Menschen, die sich kaputt malocht haben, haben Sie überhaupt nichts übrig. ({3}) Damit haben Sie nichts zu tun. Gar nichts! Altersteilzeit ist kein Irrweg. Altersteilzeit ist nur dann ein Irrweg, wenn sie nicht richtig ausgefüllt wird. In Ihrem Antrag schlagen Sie ein „Weiter so“ vor. Dazu sagen wir: Nein, nicht weiter so! Der Antrag, den wir demnächst einbringen werden - wir befinden uns noch in Abstimmungsprozessen -, beinhaltet die Teilrente, lebenslanges Lernen, altersgerechte Arbeitsplätze, Schichtpläne, die vernünftig gestaltet werden, und die Zustimmung der Parteien in den Betrieben. Das alles ist zurzeit nicht der Fall. Wie sieht es denn heute aus? Heute entscheidet im Wesentlichen der Arbeitgeber. ({4}) Frau Pothmer, hören Sie genau zu! Ich habe das als Betriebsratsvorsitzender mitgemacht. Der Arbeitgeber wollte sich personell entlasten, hat ältere Kolleginnen und Kollegen aus dem Berufsleben gedrängt und gesagt: Für jeden Zweiten, den wir entlassen, kommt ein Neuer hinein. ({5}) Das haben alle Gewerkschaften mitgemacht. Von daher müssen sich die Linken nicht hier hinstellen und so tun, als sei das die ideale Lösung. ({6}) Man hat gedacht, man könne mit jungen Leuten Olympiamannschaften in den Betrieben rekrutieren. Das war aber nicht der Fall. Deswegen ist das, was von Ihnen gefordert wird, für uns nicht akzeptabel. Daher werden wir Ihren Antrag ablehnen. ({7}) Außerdem gibt es Menschen, die kaputt sind. Was machen wir im Hinblick auf die Altersteilzeit für eine 45-jährige Krankenschwester? Beschäftigen wir sie weiter in ihrem Job? Oder sagen wir: Wir wollen schon vorher versuchen, präventiv tätig zu werden, weil wir wissen, dass diese Berufe gesundheitlich stark belastend sind? ({8}) Wir wollen schon vorher versuchen, ihr durch Weiterbildungsmaßnahmen - auch in dem Bereich der Gesundheitsfürsorge und -vorsorge - zu helfen und ihr einen anderen Arbeitsplatz anzubieten. Das ist der richtige Weg.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Grotthaus, der Herr Kollege Ernst würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie sie zu?

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ach, doch! ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Ernst, bitte schön.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Recht schönen Dank, Herr Kollege Grotthaus. - Ich wollte bezüglich Ihres Vorschlags der Teilrente einmal konkretisiert haben, wie Ihr Vorschlag lautet. Wenn ich es richtig verstanden habe, bedeutet er, dass nur diejenigen die Teilrente bekommen, die im Alter nicht in der Grundsicherung landen. ({0}) Es gibt bereits Untersuchungen, die zeigen, dass im Jahre 2022 die Hälfte aller Menschen, die Rente bezieht, im Alter in der Grundsicherung landet, weil die Rentenzahlungen dann sehr gering sein werden. Wie viele Menschen werden diese Teilrente denn nach Ihrer Schätzung dann noch in Anspruch nehmen können?

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Ernst, das ist eine ähnliche Vermutung wie die des Kollegen Schneider vorhin während der Debatte zur gesetzlichen Unfallversicherung, ganz nach dem Motto: Was würde passieren, wenn? Sie sind die einzige Fraktion in diesem Hause, die genau absehen kann, was im Jahre 2020 passiert, und die sich auf irgendwelche Zahlen beruft, die ich empirisch nicht nachvollziehen kann. Ich muss Ihnen diese Antwort schuldig bleiben, weil ich Ihre Zahlen nicht nachvollziehen und mich nicht auf dubiose Quellen, die mir nicht vorliegen, verlassen kann. ({0}) Ich möchte klarmachen, dass im Zusammenhang mit der Altersteilzeit nicht die Frage zu stellen ist, wie man die Menschen aus dem Berufsleben herausbekommt. Vorrangig sind folgende Fragen zu stellen: Wie können wir die Menschen möglichst lange im Berufsleben halten? Wie können wir dafür Sorge tragen, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen eines Berufes, der körperlich oder geistig sehr anstrengend ist, so sind, dass die Arbeitnehmer tatsächlich bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter im Beruf bleiben? Das ist aus unserer Sicht der Ansatzpunkt. Trotzdem ist es Fakt - das wird so bleiben -, dass es auch in Zukunft Menschen geben wird, die aus gesundheitlichen Gründen aus dem Beruf ausscheiden müssen. Diesen Menschen müssen wir eine Chance geben. Jetzt richte ich mich an unseren Koalitionspartner. Ich muss betonen: Hier stimmen unsere Auffassungen nicht überein. Ich habe vorhin gesagt, dass wir bei der gesetzlichen Unfallversicherung Kompromisse gefunden haben, die für die Betroffenen sehr positiv sind. Insofern fordere ich Sie auf: Lassen Sie uns darüber streiten. Lehnen Sie es nicht von vornherein aus welchen Gründen auch immer ab, nur weil ein Flügel in Ihrer Fraktion meint, das sei dem Wirtschaftsleben nicht dienlich. Lassen Sie uns darüber streiten, wie wir uns um die Menschen kümmern, die gesundheitsbedingt nicht mehr im Job tätig sein können, ({1}) damit wir ihnen die Möglichkeit geben, das dritte Drittel ihres Lebens vernünftig erleben zu können und nicht so kaputt zu sein, dass sie diesen Lebensabschnitt nicht genießen können. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesagentur für Arbeit fortführen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9730, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/9067 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung von Werkunternehmeransprüchen und zur verbesserten Durchsetzung von Forderungen ({0}) - Drucksache 16/511 18306 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1}) - Drucksache 16/9787 Berichterstattung: Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff Dr. Peter Danckert Mechthild Dyckmans Wolfgang Nešković Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dirk Manzewski von der SPD-Fraktion das Wort. ({2})

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe zahlreich anwesenden Freunde der Rechtspolitik! Wir debattieren hier heute in abschließender Lesung das Forderungssicherungsgesetz des Bundesrats. Der Bundesrat möchte mit diesem Gesetzentwurf helfen, Forderungsausfälle zu minimieren und eine Verbesserung der mangelnden Zahlungsmoral in unserem Land zu erreichen. Wie die Rechtspolitiker unter Ihnen wissen, habe ich erhebliche Probleme mit der Thematik Zahlungsmoral. Das hat nichts damit zu tun, dass ich das Problem nicht sehe oder dass ich den Betroffenen nicht helfen will. Mangelnde Zahlungsmoral schadet unserer Wirtschaft und insbesondere unseren Mittelständlern, und vor allem die kleinen und mittleren Handwerksbetriebe haben hierunter erheblich zu leiden. ({0}) Als Richter und aus vielen Besuchen solcher Betriebe in meinem Wahlkreis kenne ich die zum Teil fürchterlichen Konsequenzen, die eine schlechte Zahlungsmoral für diese Betriebe haben kann. Ich meine allerdings, dass wir vorsichtig damit sein sollten, eine Erwartungshaltung zu wecken, der wir mit gesetzgeberischen Maßnahmen überhaupt nicht gerecht werden können. Denn das Problem der mangelnden Zahlungsmoral ist zunächst einmal ein gesellschaftliches Problem, und das Ergebnis hieraus hat in der Regel nichts mit gesetzgeberischen Defiziten zu tun, sondern damit, dass schon bestehende rechtliche Möglichkeiten nicht bekannt sind oder - das kommt leider noch viel häufiger vor - dass diese Möglichkeiten aus den unterschiedlichsten Gründen nicht angewendet werden. All diejenigen, die sich mit der Thematik beschäftigen, wissen es ganz genau: Wie oft kommt es zum Beispiel vor, dass Abschlagszahlungen nicht geltend gemacht oder Sicherheitsleistungen nicht eingefordert werden, weil befürchtet wird, dann den vermeintlichen Folgeauftrag nicht zu erhalten? Mit gesetzgeberischen Mitteln werden wir dies nicht lösen können. Obwohl ich deshalb sehr vorsichtig damit bin, glauben zu machen, mit diesem Gesetz dem Problem der mangelnden Zahlungsmoral abhelfen zu können, hindert es uns natürlich nicht, die in diesem Zusammenhang bestehenden Vorschriften immer wieder einmal genau zu überprüfen und - wenn denn tatsächlich Bedarf besteht zumindest partiell auch zu verbessern, um dem Betroffenen so weiterzuhelfen. Genau das erfolgt hier. So sollen durch das Gesetz insbesondere die Möglichkeit von Abschlagszahlungen ausgeweitet, die Regelung zur Durchgriffsfälligkeit verbessert, die Bauhandwerkersicherheit effektiver ausgestaltet und die Darlegung des Vergütungsanspruchs des Unternehmers bei Kündigung des Bestellers vereinfacht werden. § 632 a BGB hätte ich persönlich anders geregelt - aber nun gut. Nur vernünftig ist es jedenfalls gewesen, die angedachten Veränderungen bei der ZPO zunächst einmal entfallen zu lassen. Dies gilt insbesondere für die sogenannte vorläufige Zahlungsanordnung. Aufgrund einer fundierten Prognose sollte danach das Gericht schon vor Eintritt der Entscheidungsreife einen Zahlungsanspruch titulieren. Angedacht war dies vor allem für die Fälle, in denen zum Beispiel durch eine noch notwendige Beweisaufnahme ein Ende des Verfahrens nicht abzusehen ist. Im Gesetzgebungsverfahren hat sich dann aber ganz schnell herausgestellt, dass es solche Fälle - also Fälle, in denen noch keine Entscheidungsreife, wohl aber eine hohe Erfolgsaussicht vorliegen soll - kaum geben wird und dass vor allem bei einer noch ausstehenden Beweisaufnahme kaum ein Richter eine solche hohe Erfolgsaussicht bejahen dürfte. Gerade weil sich der Richter doch unsicher fühlt, wird externer Sachverstand eines Gutachters eingeholt. Insbesondere in Bausachen sind Mängel und ihre Ursachen durch Richter ohne fachlichen Beistand in der Regel nur sehr schwer einzuschätzen. Feuchtigkeit an der Decke kann ihre Ursache in schlechter Belüftung, aber auch in einer fehlerhaften Dachkonstruktion haben. In einem der letzten Fälle, mit denen ich mich befasst habe, bevor ich in den Bundestag kam, ging es um ein mangelhaftes Parkett. Ich habe mir gedacht, dass das Parkett vielleicht laienhaft verlegt oder der Estrich nicht fachmännisch gelegt sein könnte. Mein Nachfolger im Dezernat hat dann herausgefunden, dass das Fundament nicht winterfest und daher gebrochen war. Dementsprechend war das Haus eine Bauruine. Die Ursache der Mängel richtig einzuschätzen ist ein riesiges Problem. Die Richter werden nicht das Risiko einer Fehlentscheidung eingehen. Nicht ohne Grund hat deshalb einer der Sachverständigen aus dem Richterbereich darauf hingewiesen: Wenn etwas entscheidungsreif ist, wird entschieden. Wenn nicht entschieden wird, dann hat das mit Sicherheit einen triftigen Grund. Man könnte nun argumentieren, dass die Vorschrift zumindest nicht schade und es vielleicht doch in einem von 100 000 Fällen vorkommen könnte, dass sie weiterhilft. Aber die Sachverständigen in den Anhörungen haben deutlich gemacht, dass dies nicht so ganz unproblematisch sei, da die Rechtsanwälte entweder aufgrund des Drucks ihrer Mandantschaft oder aufgrund der Tatsache, dass sie Angst haben, später gegebenenfalls in Regress genommen zu werden, die Anträge auf vorläufige Zahlungsanordnung stellen werden. Das wäre vielleicht nicht schlimm, aber die Sachverständigen haben auch darauf hingewiesen, dass dies in Massen, in einem Verfahren wiederholt und - dies ist für mich entscheidend unabhängig davon erfolgen wird, ob die engen Voraussetzungen für einen solchen Antrag überhaupt vorliegen. Wir haben von den Fachleuten plastisch dargelegt bekommen, wie sich hierdurch die Verfahren, statt beschleunigt zu werden, verzögern würden. Die Regelung wäre also kontraproduktiv im Hinblick auf das Interesse der Gläubiger, so schnell wie möglich an ihr Geld zu gelangen. Um es deutlich zu sagen: Das haben nicht etwa zwei oder drei Sachverständige gesagt, sondern die absolut überwiegende Mehrzahl. Wir diskutieren diesen Entwurf nicht erst in dieser Legislaturperiode, sondern haben uns schon in der letzten damit befasst und verschiedene Fachgespräche geführt. In zwei der stattgefundenen Anhörungen hat sich nicht ein einziger Sachverständiger positiv zu diesem Gesetzentwurf, soweit es die vorläufige Zahlungsanordnung betrifft, geäußert. Wenn gesagt wird, man könne es doch einmal versuchen und die Regelung unter eine Evaluierung stellen, dann will ich nur den Tenor aus den Anhörungen wiedergeben, der da lautete: Die ZPO ist kein Experimentierfeld. Mehr kann man, so glaube ich, als Rechtspolitiker dazu nicht sagen. Soweit es das Teilurteil und auch das Vorbehaltsurteil betrifft, werden wir uns im Herbst noch einmal darüber unterhalten, inwieweit hier noch Änderungen Sinn machen können. Lassen Sie mich abschließend noch zwei Dinge sagen. Erstens. Wir sollten uns langsam wirklich ernsthaft Gedanken darüber machen, ob nicht doch endlich ein eigenständiges Bauvertragsrecht Sinn machen würde, ({1}) schon allein deshalb, weil das Werkvertragsrecht immer mehr mit Regeln verwässert wird, die eigentlich nur Bausachen betreffen. Zweitens. Ich möchte mich bei allen Berichterstattern bedanken, die dazu beigetragen haben, dass wir heute doch zu einem alles in allem vernünftigen Ergebnis kommen werden. Ich danke Ihnen. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Mechthild Dyckmans das Wort. ({0})

Mechthild Dyckmans (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003752, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Dem Forderungssicherungsgesetz haftet das Etikett einer Never Ending Story an; denn der Bundestag hat sich schon in zwei zurückliegenden Legislaturperioden mit diesem Gesetz befasst. Nach einer ausführlichen Sachverständigenanhörung steht heute endlich die abschließende Lesung dieses Gesetzentwurfes, allerdings in einer stark gekürzten Fassung, an. Mit diesem Gesetz sollen vor allem Handwerksbetriebe in die Lage versetzt werden, ihre Werklohnforderungen effektiver zu sichern. Dass es in diesem Bereich Handlungsbedarf gibt, darin sind wir uns, glaube ich, alle einig. ({0}) Allein im Jahr 2007 kam es im Bundesgebiet nach Auskunft des Statistischen Bundesamtes im Baugewerbe zu 3 780 Insolvenzeröffnungsverfahren. Diese hohe Zahl an Insolvenzen vor allem kleiner und mittelständischer Bauhandwerker ist zum wesentlichen Teil auf die schlechte Zahlungsmoral der Auftraggeber zurückzuführen. Man muss sagen: Dies sind im Wesentlichen öffentliche Auftraggeber; gerade bei ihnen ist eine sehr schlechte Zahlungsmoral vorzufinden. ({1}) Aber an der Moral der Menschen lässt sich - das hat Kollege Manzewski zu Recht gesagt - mit einem Gesetz nicht allzu viel ändern. Bei der Sicherung der Werkunternehmeransprüche können allerdings durchaus Verbesserungen durch ein Gesetz erzielt werden. Das wollen wir heute tun. Die Sachverständigenanhörung hat deutlich gemacht - auch das hat Kollege Manzewski schon gesagt -, dass vor allem die Einführung einer vorläufigen Zahlungsanordnung auf massive Bedenken gestoßen ist. Deshalb ist es richtig, dass wir diesen Bereich vollständig herausgenommen haben. Es ist aber genauso richtig, dass wir uns nach der Sommerpause noch einmal zusammensetzen und versuchen sollten, im Bereich Teilurteil und Vorbehaltsurteil doch noch die eine oder andere Lösung zu finden, um den Handwerksbetrieben helfen zu können. ({2}) Neben den heute zu beschließenden Änderungen in Bezug auf die Bauhandwerkersicherung und Abschlagszahlungen möchte ich den einen oder anderen Punkt herausstellen, der für die Bauhandwerker sicher zu einer Verbesserung führen kann. Da ist zum einen der sogenannte Druckzuschlag, das heißt das Leistungsverweigerungsrecht des Bestellers. Wenn der Unternehmer seine Mängelerfüllung noch nicht erbracht hat, so konnte der Besteller bisher mindestens den dreifachen Wert der zu erbringenden Leistungen zurückbehalten. Wir werden das jetzt reduzieren. Wir wollen zu einer flexiblen Lösung kommen und sagen: Er kann in der Regel den doppelten Wert einbehalten. Ich glaube, das ist eine sinnvolle Lösung. Die Reduzierung dieses Druckzuschlags kann die Liquidität der Bauhandwerker verbessern. ({3}) Es ist nur ein erster Schritt, den wir heute gehen. Kollege Manzewski hat schon darauf hingewiesen: Wir brauchen ein eigenständiges Bauvertragsrecht. Wir sollten versuchen - dies werden wir in dieser Legislaturperiode nicht mehr schaffen -, daran zu arbeiten; das müssen wir angehen. ({4}) Neben den vorgesehenen gesetzlichen Lösungen sollte aber auch, wie ich meine, über neue Streitschlichtungswege im Baurecht nachgedacht werden. Die bisherigen Möglichkeiten der Streitbeilegung, nämlich die Gerichtsverfahren, sind zeitaufwendig und kostenintensiv. Man könnte in einer besonderen Form der außergerichtlichen Streitbeilegung für die Bauindustrie, wie dies im angloamerikanischen Raum durchaus schon durchgeführt wird, ({5}) mögliche Regelungen finden, sodass man schneller und kostengünstiger zu Lösungen kommt. Änderungsbedarf besteht aber noch in einem anderen Bereich. Die Bundesländer sind aufgerufen, die Personalsituation an den Gerichten zu verbessern, damit Bauprozesse schneller entschieden werden können. Es muss auch darüber nachgedacht werden, dass man spezielle Baukammern und spezielle Bausenate einrichtet. Auf all dies hat bereits der Baugerichtstag mehrfach hingewiesen und Forderungen gestellt. Ich glaube, wir können den Bauhandwerkern sinnvolle Regelungen anbieten, mit denen sie ihre Forderungen besser eintreiben können. Ich danke Ihnen. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion spricht nun die Kollegin Andrea Voßhoff. ({0})

Andrea Astrid Voßhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003253, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Die Große Koalition schließt in dieser Woche umfassende und richtungsweisende Gesetzesvorhaben im Bereich der Rechtspolitik ab. Heute Morgen haben wir beispielsweise eine große Reform des GmbH-Rechts auf den Weg gebracht, und morgen werden wir eine ebenso große Reform der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf den Weg bringen. Eine so fundamentale Bedeutung hat das Forderungssicherungsgesetz, das wir heute beschließen, ganz sicher nicht. ({0}) - Völlig d’accord. - In aller Bescheidenheit sage ich aber: Für das ständig von Forderungsausfällen bedrohte Bauhandwerk ist der heutige Tag kein ganz so schlechter Tag. Dass alle Fraktionen zustimmen, ist eine Besonderheit und erfreulich. Ich weiß zwar, dass das der Tatsache geschuldet ist, dass wir den prozessualen Teil ausgeklammert haben, aber wenn der verbliebene, nicht unwichtige Rest nicht gut wäre, würden Sie sicher nicht zustimmen, sondern Ihre Kritik anbringen. Frau Kollegin Dyckmans, Sie sagten, dass das Problem der Forderungssicherung im Handwerk ein „Dauerbrenner“ ist. Es ist schon fast ein historischer Dauerbrenner. Mit diesem Thema befasse ich mich - vermutlich ebenso wie der Kollege Manzewski -, seit ich im Bundestag bin, immer wieder und in regelmäßigen Abständen. Bei meinen Recherchen zu diesem Gesetz habe ich Folgendes herausgefunden: In der Gesetzeskommentierung von Stammkötter zum Gesetz zur Sicherung von Bauforderungen ist zu lesen, dass der Reichstag am 22. Januar 1896 - nachzulesen auf Seite 495 des damaligen Stenografischen Berichts „fast einstimmig beschlossen hat, die verbündeten Regierungen zu ersuchen, einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen die Bauhandwerker und Bauarbeiter für ihre aus Arbeiten und Lieferungen an Neu- und Umbauten erwachsenen Forderungen gesichert würden.“ Aber auch außerhalb des Parlaments sind die Juristen in dieser Frage nicht untätig gewesen. Auch dort ist das Problem nahezu historisch. So nahm zum Beispiel der Juristentag in Posen 1898 den folgenden Antrag an: Es empfiehlt sich, zum Schutze der Baugläubiger in Neubaubezirken die Bauerlaubnis von der Eintragung eines Bauvermerks in das Grundbuch abhängig zu machen, an den die Sicherung von Bauforderungen zu knüpfen ist. Die Parlamente - Frau Kollegin Dyckmans, es waren mehr als die von Ihnen genannten - und die Rechtsprechung sind seit dieser Zeit nicht untätig gewesen: So ist mit dem Werkvertragsrecht, das mit dem im Jahr 1900 in Kraft getretenen BGB eingeführt wurde, ein Anfang gemacht worden. Das Gesetz zur Sicherung von Bauforderungen, das wir heute sinnvollerweise aktualisieren und modernisieren, stammt vom 1. Juni 1909. Mit dem Bauhandwerkersicherungsgesetz vom 1. Mai 1993 wurde der § 648 a ins BGB eingeführt. Das Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen aus dem Jahr 2000 korrigieren wir mit dem Forderungssicherungsgesetz heute teilweise. Warum steht das Thema immer wieder auf der parlamentarischen Tagesordnung? Lassen Sie mich auf ein Grundproblem eingehen. Der Kollege Manzewski und die Kollegin von der FDP, Frau Dyckmans, haben es dankenswerterweise schon angesprochen und in der Konsequenz für ein eigenständiges Bauvertragsrecht geworben. ({1}) - So ist es. - Wenn ich an meine ersten Reden zu diesem Thema in den Jahren 1998 und 1999 denke, erinnere ich mich daran, dass ich damals mit dieser Forderung allein auf weiter Flur war. In den vergangenen zehn Jahren haben sich viele überzeugen lassen, was nicht schlecht ist. In der Vielfalt der bestehenden Vertragsarten des Werkvertragsrechts nimmt der Bauvertrag - das wissen wir alle, und das ist, wie ich glaube, ein Spezifikum dieses Problems - eine Sonderstellung ein. Da die Erfüllung des Vertrages von der Herstellung des Baus abhängt und ein Bau naturgemäß ein sehr zeitaufwendiges Projekt ist - je nach Umfang -, haben wir es immer mit einem Vertrag zu tun, der eine langwierige Abwicklung bedingt. Wir wissen außerdem, dass der fertige Bau meistens anders aussieht als geplant, weil im Zuge der Herstellung des Werks vielfache Änderungen vorgenommen werden. Insofern nimmt der Bauvertrag eine Sonderstellung im Bereich des Werkvertrages ein. Im Rahmen der Bauherstellungszeit trägt der Werkunternehmer eine enorm große Vorleistungspflicht. Das ist das nächste Problem. Die Schutzbedürftigkeit der Vertragspartner, die wir als Gesetzgeber im Auge behalten müssen, ist unterschiedlich, sogar gegenläufig. Ist der Vertragspartner des Werkunternehmers ein Verbraucher, ein Häuslebauer, wie es so schön heißt, muss dessen Schutzbedürftigkeit gegenüber dem Bauhandwerker immer besondere Beachtung des Gesetzgebers finden. Ist aber Vertragspartner des Werkunternehmers der Generalunternehmer, der zudem seinerseits von einem Dritten als Besteller des Bauwerks den Werklohn erhält und diesen an den Bauhandwerker weiterzuleiten hat, dieser also als Subunternehmer am Ende der Kette eines Zahlungsflusses steht, muss das Augenmerk des Gesetzgebers in besonderer Weise der Schutzbedürftigkeit des Bauhandwerkers gelten. Denn - damit spreche ich ein weiteres besonders Problem in diesem Zusammenhang an - zu den rechtspolitischen Überlegungen, die wir immer wieder zu bestimmten Themenfeldern anzustellen haben - das haben wir heute Morgen bei der Debatte zum GmbH-Recht schon festgestellt - kommt manches Mal die reale Welt des Marktes hinzu, die einer der Referenten auf dem kürzlich stattgefundenen 2. Baugerichtstag in Hamm wie folgt formulierte - Kollege Gehb mag es mir nachsehen; ich kann es nicht auf Latein sagen -: Cash flow is the lifeblood of the construction industry. So wird auf Englisch beschrieben, dass Bauunternehmen auf fristgerechte Zahlung existenziell angewiesen sind. Fließen Gelder nicht zügig, können Bauunternehmen Löhne, Material und Subunternehmen nicht bezahlen. Das Risiko der Insolvenz ist groß und oft auch bedauerliche Realität. Damit werden wir seit Jahren in Gesprächen mit Verbänden und dem Handwerk selbst konfrontiert. Die Gründe und Ursachen für das zu späte und manchmal ausbleibende Fließen des Geldes sind uns allen hinreichend bekannt. Deshalb muss es Handlungsauftrag des Gesetzgebers sein - da schließt sich der Kreis zu den Forderungen, die Sie aufgestellt haben -, bei Verzögerungen, zum Beispiel durch behauptete Mängel oder sonstige Gründe, dafür zu sorgen, dass das Problem schnell geklärt wird, damit die Zahlung schnell fließen kann. Eine solche schnelle Klärung ist bei materiellen Fragen mit den Instrumenten des Werkvertragsrechts nur begrenzt zu erreichen. Bei circa 80 000 neuen Baustreitigkeiten in jedem Jahr und einer erstinstanzlichen Verfahrensdauer von deutlich über einem Jahr können Gerichte diesem Anspruch ebenfalls nicht gerecht werden. Nicht umsonst hat sich - Kollegin Dyckmans hat es, glaube ich, angesprochen - der 2. Baugerichtstag in diesem Jahr in Hamm ebenfalls mit den Themen außergerichtliche Streitschlichtung und Adjudikation beschäftigt. Ob das der richtige Weg ist, will ich offenlassen. Das Forderungssicherungsgesetz, das wir heute beschließen, will diesem Beschleunigungsversuch auf jeden Fall hinsichtlich des materiellen Teils gerecht werden. Es leistet einen, wie ich finde, sinnvollen Beitrag dazu. Ich muss auf die einzelnen Felder, die wir dort geregelt haben, nicht eingehen. Das haben meine Vorredner bereits getan. Ich denke, auch wenn oder gerade weil wir lange und intensiv beraten haben, wollen wir keine zu hohe Erwartungshaltung bei den Handwerkern schüren. Das wissen sie auch. Viele von ihnen hatten ausreichend Gelegenheit, sich mit den Inhalten zu beschäftigen. Wir bekommen eine überwiegend positive Resonanz darauf - ich denke, das ist festzuhalten -, dass wir mit vielen kleinen Stellschrauben das Gesetz aus dem Jahr 2000 in sinnvoller Weise korrigieren, damit das Geld schneller fließen kann. Demzufolge denke ich, dass dies ein kleiner, bescheidener Erfolg ist und damit ein guter Tag für das Bauhandwerk. ({2}) Ich freue mich, dass wir alle einvernehmlich - so hat es sich jedenfalls im Rechtsausschuss angekündigt - diesem Gesetzentwurf heute zustimmen werden. Einleitend sagte ich, wie lange das Thema schon auf der Tagesordnung ist. Wir, meine Damen und Herren Kollegen, die Sie Mitstreiter bei der Forderung nach einem individuellen, speziellen Bauvertrag sind, wollen hoffen, dass eine Weiterentwicklung nicht wieder hundert Jahre dauert, sondern vielleicht etwas zügiger geht. Das Handwerk hätte es verdient. Ich darf am Schluss allen Beteiligten, den Berichterstattern und insbesondere dem BMJ, ganz herzlich dafür danken, dass sie uns sehr intensiv bei den Beratungen unterstützt haben. Das war sicherlich nicht immer einfach. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Frank Spieth für die Fraktion Die Linke. ({0})

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Es ist gut, dass nach mehr als zwei Jahren heute endlich der Gesetzentwurf des Bundesrates mit der Empfehlung des Rechtsausschusses zur Beratung und Abstimmung gebracht wird. Folgende Anmerkung kann ich Ihnen hier nicht ersparen: Hätte die Linke nicht auf Fortsetzung der Beratungen im Ausschuss gedrängt, ({0}) hätte es die Anhörung mit größter Wahrscheinlichkeit nicht so schnell gegeben ({1}) und würde das Anliegen der kleinen Handwerksbetriebe weiter auf Eis liegen. ({2}) Schauen Sie sich einmal die Obleuterunde an. In der Obleuterunde ist das klar gesagt worden. ({3}) Vertreter des Handwerks und der Kammern aus meinem Wahlkreis haben mir gesagt, dass 90 Prozent der Insolvenzen im Handwerk auf Forderungsausfälle infolge schlechter Zahlungsmoral zurückzuführen sind.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Spieth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Manzewski?

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bitte.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es an allen möglichen Ursachen gelegen hat, mit Sicherheit aber nicht an einer Intervention der Linken, dass dieses Gesetz zum Abschluss gebracht worden ist, und sind Sie des Weiteren bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Vertreter Ihrer Fraktion bis auf letzte Woche nicht an einem einzigen Gespräch teilgenommen haben? ({0})

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich kann Ihnen bestätigen, dass der Obmann meiner Fraktion dieses Thema in der Obleuterunde zur Sprache gebracht und darum gebeten hat, dass dieses Gesetz endlich behandelt und zum Abschluss gebracht wird. ({0}) - Das hat mir mein Kollege Nešković ganz eindeutig gesagt. ({1}) Zweitens kann ich Ihnen bestätigen, dass viele von denen, die jetzt hier im Plenarsaal sitzen und diesem Arbeitskreis angehören, bei der Anhörung am 26. Mai dieses Jahres nicht dabei waren. Ich hingegen war anwesend. So viel zu Ihrer Frage. ({2}) Tatsache ist - darauf will ich hinweisen -, dass Handwerker riesige Probleme mit der schlechten Zahlungsmoral haben. Dies hat gerade in Ostdeutschland zur Vernichtung Tausender Arbeitsplätze geführt und die betroffenen Familienbetriebe in den finanziellen Ruin getrieben. Ein Elektromeister aus meinem Wahlkreis hat einen Auftrag ausgeführt, und er hatte Restforderungen in Höhe von damals 70 000 DM. Der Kunde zahlte nicht, und der Handwerksmeister klagte. Eineinhalb Jahre nach Einreichung der Klage wurde auf Anraten des Richters ein Vergleich über 50 000 DM abgeschlossen. Doch die Zahlung erfolgte nicht. Daraufhin wurde ein Zahlungsbefehl erlassen. Dann gab der Schuldner eine eidesstattliche Erklärung zu seiner Zahlungsunfähigkeit ab und stellte einen Insolvenzantrag. So ist das abgelaufen. ({3}) Der Handwerker hat jetzt nicht nur einen Forderungsausfall von 70 000 DM zu beklagen, sondern er muss neben den Kosten für seinen eigenen Rechtsanwalt die gesamten Gerichtskosten, auch die der Gegenseite, tragen und für diesen Auftrag noch zusätzlich die Mehrwertsteuer entrichten. Den 30 Jahre gültigen Titel kann er auch zukünftig mithilfe der Vollstreckung realisieren. Dies hat er auch versucht. Das hat ihm aber zusätzliche Kosten verursacht. Mittlerweile beträgt sein Gesamtschaden 90 000 DM. Die miese Zahlungsmoral - dies hat auch die Anhörung gezeigt - ist kein Problem der kleinen Häuslebauer, sondern eines der Generalunternehmen und - auch das ist hier schon gesagt worden - der öffentlichen Hand. Die vorliegende Empfehlung des Ausschusses ist deshalb ein Schritt in die richtige Richtung und wird auch von uns unterstützt. Dieses Gesetz - auch das ist bereits gesagt worden - weckt bei den Betrieben Hoffnungen, die mit Sicherheit nicht erfüllt werden können. Außerdem kommen den Linken die Verbraucherinnen und Verbraucher in diesem Gesetz zu kurz. Denn der kleine Häuslebauer ist relativ unerfahren, und bei Pfusch am Bau - auch das ist ein Problem - ist er den Baufachleuten häufig unterlegen. Der Schutz der Verbraucher wird mit diesem Gesetz nicht verbessert. Er bleibt im weiteren parlamentarischen Verfahren im wahrsten Sinne des Wortes eine offene Baustelle. Wir brauchen ein umfassendes Bauvertragsrecht, durch das Unternehmen und Verbraucher gleichermaßen abgesichert werden; auch darauf wurde bereits hingewiesen. Ich verweise auf die Ausführungen von Professor Kniffka vom Bundesgerichtshof, der dies in der Anhörung, wie ich meine, hervorragend dargestellt hat. Er hat aber auch die Länder in die Pflicht genommen und darauf hingewiesen, dass Richter Allroundkönner sein müssen. Er sagte, man müsse um 9.00 Uhr Mietsachen, um 9.05 Uhr Bausachen und um 9.30 Uhr Arzthaftungsrecht verhandeln. ({4}) Es sei deshalb zwingend, Spezialkammern für das Baurecht zu schaffen. ({5}) Dann hätte man Spezialisten zur Verfügung, und die Verfahren würden beschleunigt. Er forderte die Länder außerdem auf, die Fortbildungspflicht auf Landesebene zu regeln, da das Vorhaben, sie im Deutschen Richtergesetz festzuschreiben, gescheitert ist. Dieser Forderung schließen wir uns an. Wir unterstützen auch seine Aussage, dass die Sicherung von Zahlungen unter anderem über Bürgschaftsbanken, wie es in Frankreich gehandhabt wird, eine für beide Seiten vorteilhafte Regelung wäre. Deshalb wird sich die Linke weiterhin für das französische Modell einsetzen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Jerzy Montag das Wort.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Spieth, wir lassen es Ihnen nicht durchgehen, dass Sie den Leuten draußen vorspiegeln, Sie würden hier in Rechtsangelegenheiten konstruktiv mitarbeiten. Das ist ein schlechter Witz. ({0}) Tatsächlich ist es so, dass in den allermeisten Fällen, in denen Sachverstand vonnöten wäre, Sie durch Abwesenheit glänzen - oder durch Tiraden. Das sind die Beiträge Ihrer Fraktion in Debatten über rechtspolitische Themen. ({1}) Frau Kollegin Voßhoff, ich bin 2002 in den Bundestag gewählt worden. Damals lief gerade die Debatte darüber, wie man die Zahlungsmoral heben kann. Auch 2004 und 2006 haben wir über dieses Thema gesprochen. Mir war immer klar: Das wird nichts. Man kann die Moral der Leute nicht mit den Mitteln des Werkvertragsrechts heben und schon gar nicht mit den Mitteln der ZPO. Vielleicht kann man die Zahlungsmoral der Leute heben; aber das geht nicht mit den gesetzlichen Normen, über die wir hier diskutieren. Deswegen hatten wir weder 2002 noch 2004 noch 2006 Erfolg. Zum Glück klappt es jetzt, und zwar weil der unselige § 302 a ZPO jetzt nicht mehr im Gesetzentwurf ist. Kollege Danckert von der SPD, der bei dieser Debatte leider nicht dabei ist, hat diesen Paragrafen noch bei der letzten Diskussion, am 6. April 2006, heiß verteidigt - ich zitiere -: ({2}) Ob wir dies letztlich durch das Gesetz beseitigen können, kann man bezweifeln. Aber ich finde, jeder Versuch ist lohnenswert. Wir haben uns intensiv mit dieser Thematik beschäftigt und sind zu dem Ergebnis gekommen: So sollten wir Rechtspolitik nicht machen. Wir haben § 302 a ZPO aus dem Gesetzentwurf gestrichen. Wir werden nur das unterstützen, was vernünftig und richtig ist. Es gibt durchaus Verbesserungen, zum Beispiel für die Bauhandwerker. So wird die Stellung des Subunternehmers - das ist ein wichtiger Punkt - durch die Durchgriffsfälligkeit verbessert. Forderungen nach Abschlagszahlungen werden erleichtert. Der Mängeleinbehalt wird abgesenkt und flexibilisiert. Die Feststellungsbescheinigung wird gestrichen; sie hat sich nicht bewährt. Die Sicherung der Bauhandwerker wird dadurch, dass Sicherheitsleistungen einklagbar werden, verbessert. Für die Gegenseite, für die Häuslebauer, verbessern wir auch etwas: Es wird die Möglichkeit einer Bestellersicherheit zur Sicherung rechtzeitiger Erfüllung geben. Wir haben ferner dafür gesorgt, dass die Verbraucher nicht mehr durch die VOB/B benachteiligt werden können. Das alles ist gut. Deswegen tragen wir Grünen das mit. Ich habe die herzliche Bitte an Sie, dass wir, wenn wir im Herbst über Änderungen der ZPO nachdenken - Vorbehaltsurteil, Grundurteil, was auch immer -, nicht schon wieder zu § 302 a ZPO greifen, Herr Kollege Dr. Gehb. Das wäre wieder ein Griff daneben. Ich schließe mich den Kolleginnen und Kollegen mit Nachdruck an: Wir brauchen ein Bauvertragsgesetzbuch. ({3}) Wir fordern das seit vielen Jahren. Frau Kollegin Dyckmans, nicht nur wir sollten uns an die Arbeit machen, auch das Bundesjustizministerium sollte endlich einen Gesetzesvorschlag unterbreiten. Das wäre nicht schlecht. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung von Werkunternehmeransprüchen und zur verbesserten Durchsetzung von Forderungen. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9787, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 16/511 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich enthalten? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich enthalten? Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung ebenfalls einstimmig angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Britta Haßelmann, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Statt Kooperative Jobcenter - Grundsicherung für Arbeitssuchende aus einer Hand mit gestärkten kommunalen Kompetenzen organisieren - Drucksache 16/9441 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Brigitte Pothmer das Wort.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wahrscheinlich wissen Sie alle noch genau, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 20. Dezember 2007 festgestellt hat, dass die Arbeitsgemeinschaften in der jetzigen Form nicht mit dem Grundgesetz in Einklang stehen. In der Sache hat es die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und der Sozialhilfe und das Prinzip „Hilfe aus einer Hand“ allerdings ausdrücklich positiv bewertet. Trotzdem müssen wir nun bis Ende 2010 eine Neuregelung finden. Ich finde, bei der Überlegung darüber, welche Neuregelung und Trägerstruktur wir künftig wollen, sollte eines im Vordergrund stehen, nämlich die Frage, welche Lösung die beste Grundlage für eine erfolgreiche Unterstützung der Arbeitssuchenden bietet. Dabei geht es bei den Langzeitarbeitslosen - das will ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betonen eben nicht nur um Arbeitsvermittlung und Qualifizierung, sondern es geht auch um eine umfassende und individuelle Hilfe aus einer Hand. ({0}) Wir sollten alles, aber auch wirklich alles dafür tun, dass es keinen Rückfall in eine alte bürokratische Doppelstruktur geben wird. ({1}) Mit den von Minister Scholz vorgeschlagenen sogenannten kooperativen Jobcentern werden diese von mir gerade formulierten Anforderungen allerdings in keiner Weise erfüllt; denn das kooperative Jobcenter ist wirklich im wahrsten Sinne des Wortes rückwärtsgewandt. Es basiert nämlich auf dem Modell der getrennten Trägerschaft, einem Modell, das es gab, bevor wir die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusammengelegt haben, um gerade diese Hilfe aus einer Hand zu gewährleisten. ({2}) Das kooperative Jobcenter ist Ausdruck eines zentralistischen Modells. Es war mühsam, sich die regionalen Spielräume vor Ort zu erkämpfen. Wenn sich dieses Modell durchsetzt, dann werden die Kommunen an den Katzentisch verbannt. Das ist so klar wie Kloßbrühe. ({3}) Außerdem müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass dieses Modell auch keine Rechtssicherheit bieten wird, weil es eben als untergesetzliche Regelung durchgepaukt werden soll. ({4}) Das heißt, weitere rechtliche Auseinandersetzungen mit denjenigen, die das nicht akzeptieren - das sind viele -, sind vorprogrammiert. Ich prognostiziere Ihnen heute und gehe mit Ihnen jede Wette ein, dass es das kooperative Jobcenter nicht geben wird, ({5}) weil es die Genossen in den eigenen Ländern und in den eigenen Kommunen nicht wollen, weil es der KoaliBrigitte Pothmer tionspartner nicht will, weil es die Arbeits- und Sozialministerkonferenz nicht will und weil es die unterschiedlichsten Verbände und die Fachleute in diesem Bereich mit sehr großer Mehrheit ablehnen. Ich fände es gut, wenn der Minister auf diese wirklich massive Kritik und auf diesen massiven Widerstand reagieren und das Modell zurückziehen würde, um so den Weg für eine sinnvolle Regelung frei zu machen. ({6}) Inzwischen finden sich in den Bundesländern parteiübergreifende Koalitionen, um das Modell zu stoppen. In Niedersachsen haben sich CDU, FDP, Grüne und Ihre SPD zusammengetan ({7}) und fordern neue Rechtsgrundlagen, die sowohl den Argen als auch den Optionskommunen eine Bestandsgarantie geben. Dafür stehen auch wir Grünen im Bundestag. ({8}) Dabei ist allen klar, dass das nur auf dem Weg einer Verfassungsänderung möglich ist. Ich betone aber, dass wir damit nicht in die tiefen Werte der Verfassung eingreifen. Es handelt sich dabei eher um eine technische Korrektur. Die Große Koalition ist seinerzeit mit dem Hinweis darauf angetreten, für große Lösungen zu stehen. Sie haben in diesem Hause eine verfassungsändernde Mehrheit. Auch in den Ländern gibt es große Sympathien für eine Verfassungsänderung in dieser Form. Ich finde, dem Minister sollte es weniger um sich und darum gehen, sein Gesicht zu wahren; er sollte vielmehr den Widerstand aufgeben und den Weg für Vielfalt und Flexibilität im Sinne der Arbeitssuchenden frei machen. Ich danke Ihnen. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Karl Schiewerling. ({0})

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht hat am 20. Dezember letzten Jahres ein unerwartetes Urteil gesprochen. Man mag dieses Urteil je nach Sichtweise bedauern. Ich halte es für eine gute Gelegenheit, nicht nur über die Organisation und Zuständigkeiten, sondern auch über die Aufgaben und Ziele des SGB II nachzudenken. Das BMAS hat sich weitsichtig auf mögliche Urteile eingestellt und konnte so relativ schnell den Vorschlag eines kooperativen Jobcenters unterbreiten. Die Einschätzung des Ministeriums, dass dies ohne Gesetzesänderung möglich ist, war offensichtlich falsch. Wir haben diese Einschätzung nicht geteilt. Sie wird auch von den Bundesländern nicht geteilt. Ich denke, das wird auch im Ministerium mittlerweile so gesehen. Gleichwohl ist das Konzept des kooperativen Jobcenters eine gute Diskussionsgrundlage, indem der Versuch unternommen wird, die Vorgaben des Verfassungsgerichtsurteils umzusetzen. Bis vor kurzem war das der einzige Diskussionsvorschlag. Derzeit ist die Bund-Länder-Arbeitsgruppe dabei, Alternativen auszuarbeiten. Es wird deutlich - das ist auch die Position unserer Fraktion -, dass das kooperative Jobcenter nicht in der vorgesehenen Form umgesetzt werden kann, weil es zu mehr Bürokratie führt und die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtsurteils - nämlich Hilfen aus einer Hand zu gewähren - nicht ohne Weiteres umsetzbar sind. Das Bundesverfassungsgerichtsurteil stellt den Gesetzgeber und uns alle vor die große Herausforderung, mit allen Beteiligten zu sachgerechten Lösungen zu kommen. Es ist gut, dass die Bund-Länder-Arbeitsgruppe Aufträge erteilt hat, um über die unterschiedlichen Modelle zu diskutieren. Zu diesen Modellen gehört die Bundesauftragsverwaltung, wie sie von Bayern, BadenWürttemberg und Sachsen diskutiert wird. Dazu gehört auch die Frage, ob es nicht doch eine Verfassungsänderung geben könnte, um die bisherige Form der Argen umzusetzen. Zur Diskussion gehört auch der Auftrag, zu prüfen, wie das kooperative Jobcenter weiterentwickelt werden kann, um das eigentliche Ziel zu erreichen, Hilfen aus einer Hand zu organisieren. Weil wir uns in diesem Diskussionsprozess befinden und dabei sind, gemeinsam nach Lösungen zu suchen, lehnen wir zum jetzigen Zeitpunkt Ihren Antrag ab. ({0}) Es führt nämlich letztlich nicht weiter, sich schon für ein Modell zu entscheiden, während es in der Politik noch eine breite Palette von Vorschlägen gibt. In der gesamten Diskussion geht es aber nicht nur um die Organisation, sondern auch um andere Fragen. Es geht unter anderem um die Frage, was wir unternehmen müssen, welche Strukturen wir schaffen müssen, um denjenigen, die schon lange ohne Arbeit sind, eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt und die Möglichkeit zu eröffnen, wieder in Arbeit zu kommen. ({1}) Wenn es stimmt, dass wir das Prinzip des Forderns und Förderns im SGB II deswegen eingeführt haben, weil wir es hier mit einer Zielgruppe zu tun haben, die der besonderen, liebevollen und nachhaltigen Hilfe bedarf, um wieder in Erwerbsarbeit zu kommen, dann brauchen wir dazu auch entsprechende Rahmenbedingungen. Das verlangt nach dezentralen Lösungen und der sachgerechten Nutzung der Kenntnisse der Kommunen, die Erfahrungen mit der Sozialhilfe und im Umgang mit den Zielgruppen gesammelt haben. Deswegen hat das Bundesverfassungsgericht recht, wenn es sagt: Wir brauchen Hilfe aus einer Hand und nicht nur unter einem Dach. Aber es will, dass die Verantwortung der Handelnden, also von Bund und Kommunen, erkennbar bleibt. Das Neue an der Grundsicherung ist, dass Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammengeführt wurden, um Langzeitarbeitlose zu aktivieren, sie aus der Grundsicherung herauszuholen. Dank der guten Konjunktur und dank der Tatsache, dass wir viel mehr neue sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse haben, kommen wir nun an den verhärteten Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit heran. Deswegen stehen wir vor der Frage, was wir nun tun müssen, um hier möglichst individuelle und passgenaue Hilfen organisieren und anbieten zu können. ({2}) Es geht um die Frage, wie wir das organisieren. Das setzt Personalkapazitäten und entsprechende Integrationsinstrumente voraus. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es bei der Lösungssuche nach einer verfassungsgemäßen Organisation im Rahmen des SGB II im Kern um die Beantwortung der Frage geht, wer für die Arbeitsmarktpolitik verantwortlich ist: der Bund, die Länder oder die Kommunen. ({3}) Ich sage Ihnen: Es kann nur der Bund sein. Die entscheidende Frage ist, wie er seine Aufgabe wahrnimmt, ob wir zentralistisch oder möglichst dezentral arbeiten, ob wir die Menschen so mitnehmen, dass sie Mut bekommen, vor Ort ihre Aufgaben anzupacken und zu lösen, oder ob wir alles im Detail vorschreiben. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Es kann nur der Weg sein, Freiheiten zu gewähren und dies durch entsprechende Steuerungsinstrumente zu organisieren. ({4}) Natürlich muss die Zuständigkeit klar sein. Aber es geht um das Erreichen des Ziels, Menschen, die arbeitsfähig sind und lange nicht mehr in Erwerbsarbeit gestanden sind, wieder in Erwerbsarbeit zu vermitteln. Damit haben wir mittlerweile viele Erfahrungen gesammelt, sowohl in den Argen als auch in den Optionskommunen. Meine Fraktion ist entschieden dafür, das Optionsmodell zu entfristen, zumindest die vorhandenen Optionen zu erhalten und Ausweitungsmöglichkeiten zu eröffnen. ({5}) Unabhängig davon, wie wir dies organisieren, brauchen wir für die Bekämpfung der verhärteten Langzeitarbeitslosigkeit ein eigenständiges Instrumentarium. Ich sehe darin übrigens den entscheidenden Punkt. Es kann nicht sein, dass wir ausschließlich das Instrumentarium des SGB III, das gerade einmal für 30 Prozent der Arbeitslosen gilt, für die restlichen 70 Prozent übernehmen, die sich im Rechtskreis des SGB II befinden. Wir müssen sehen, dass wir Elemente aus dem SGB III erhalten, aber im Rahmen des SGB II eine eigenständige Organisationsmöglichkeit und eigenständige Hilfsstrukturen schaffen. ({6}) Die Antworten auf die Fragen, ob es uns gelingt, das partnerschaftlich zu organisieren, und ob wir bereit sind, darüber so zu diskutieren, dass es nicht nur um Machtund Zuständigkeitsfragen geht, und die Lebenssituation der Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, werden darüber entscheiden, ob es uns gelingt, ein geeignetes Organisationsmodell zu finden. Es geht nicht nur um die Ermittlung der Kosten der Unterkunft und der Sätze der passiven Leistungen. Es geht um die entscheidende Frage, wie wir die aktiven Leistungen organisieren. Wir werden die organisatorischen Fragen in der Koalition zügig angehen. Wir haben ein Interesse daran, schnell zu Lösungen zu kommen, damit den Betroffenen geholfen werden kann, aber auch daran - vergessen wir das nicht -, dass diejenigen, die zurzeit in diesem Bereich beruflich tätig sind, Klarheit über die gesetzlichen, rechtlichen Rahmenbedingungen erhalten, unter denen sie tätig sind. Die Richtung ist damit klar. ({7}) Die Weisheit eines alten deutschen Sprichworts mit der Taube und dem Spatz lautet: lieber die direkte Hilfe aus einer Hand als das Kompetenzgerangel unter einem Dach. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Jörg Rohde für die FDPFraktion. ({0})

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der heute von den Grünen vorgelegte Antrag zum Thema „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ geht teilweise in die richtige Richtung. Die FDP-Bundestagsfraktion teilt die Kritik der Grünen an den kooperativen Jobcentern, welche vom Bundesarbeitsminister ins Gespräch gebracht wurden. Der Arbeitsminister will anscheinend bei der Auflösung der als verfassungswidrig eingestuften Arbeitsgemeinschaften die parlamentarische Gesetzgebung umgehen. ({0}) Herr Schiewerling, ich hoffe, Sie haben mit Ihren Äußerungen recht. Die kooperativen Jobcenter würden die Chancen für Arbeitsuchende sicher nicht verbessern. Die FDP-Bundestagsfraktion fordert seit Jahren für alle Arbeitsuchenden die Betreuung aus einer Hand in kommunaler Trägerschaft. ({1}) Das erlaubt individuelle, flexible und unbürokratische Lösungen für die Betroffenen. Stattdessen sollen jetzt mit Kommunen und Arbeitsagenturen wieder zwei getrennte Träger tätig werden. Das führt zu doppelter Verwaltung und zu entsprechenden Kosten. Weder wird das Chaos bei der Betreuung der Arbeitsuchenden beseitigt noch ist eine höhere Effektivität zu erwarten. Arbeitsminister Olaf Scholz hat noch immer die Chance, doppelte Verwaltungsstrukturen abzuschaffen. Nutzen Sie diese, Herr Minister! Mit seinem bisherigen Vorschlag läutet der Minister allerdings das Ende des Optionsmodells ein, ohne das zum Jahresende erwartete Ergebnis der schon mehr als zwei Jahre andauernden Evaluation abzuwarten. Die Vorschläge werden von einem neuen Bericht der Bundesagentur für Arbeit flankiert, die sich selbst hervorragende Arbeit bestätigt. Fachlich und methodisch ist dieser Bericht höchst fragwürdig. Dies gilt für den Untersuchungszeitraum, die herangezogenen Merkmale und die zugrunde gelegten Hypothesen. Die angeblichen Erkenntnisse sind als ungesichert und tendenziös anzusehen. Wir schließen uns der Kritik von Landrat Hans Jörg Duppré, dem Präsidenten des Deutschen Landkreistages, an: ({2}) Der Bericht verfolgt einzig und allein den Zweck, in der jetzigen Diskussion um die Neuorganisation der Verwaltung für die Langzeitarbeitslosen die Position der Bundesagentur zu stärken, indem sie eigene Erfolge bei der Arbeitsvermittlung verkündet und die Arbeit der Optionskommunen herabwürdigt. Dem ist nichts hinzuzufügen. ({3}) Auch einer neuen Behörde unter der Kontrolle der zentralistisch organisierten Arbeitsagenturen wird es nicht gelingen, die Chancen für Arbeitsuchende zu verbessern. Alternativen zu den als verfassungswidrig eingestuften Arbeitsgemeinschaften dürfen nicht zur Schaffung eines Bundessozialamts führen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts besteht jetzt die historische Chance, die Bundesagentur für Arbeit aufzulösen und die Aufgaben neu zu ordnen. Wir fordern, dass die Betreuung und Beratung von Arbeitsuchenden unter eigener Verantwortung in kommunalen Jobcentern erfolgt. ({4}) Die finanziellen Grundlagen sind im Grundgesetz festzuschreiben. Die Gewährung aller Leistungen aus einer Hand macht langwierige Abstimmungsprozesse mit den Arbeitsagenturen überflüssig. Sie erlaubt individuelle, flexible und unbürokratische Lösungen für die Betroffenen. Gleichzeitig können die Prinzipien der Arbeitslosenversicherung durch die Einführung von Pflicht- und Wahltarifen gestärkt werden. Die FDP-Bundestagsfraktion hat am 28. Mai 2008, also eine Woche vor den Grünen, auf Drucksache 16/9339 einen eigenen Antrag zu dem Thema in die parlamentarischen Beratungen eingebracht. Wir hätten über das Thema lieber zu einem späteren Zeitpunkt diskutiert; schließlich soll in wenigen Monaten die offizielle Evaluation, das heißt die wissenschaftliche Untersuchung der unterschiedlichen Modelle der Wahrnehmung der Aufgaben nach SGB II folgen. ({5}) Unsere vier Kernforderungen sind: Erstens. Die Arbeit der Optionskommunen und die Verantwortung der Kommunen für die Betreuung Langzeitarbeitsloser müssen nachdrücklich unterstützt werden. Das fordern wir analog zu den Grünen. Zweitens. Die Befristung der Optionsregelung auf den 31. Dezember 2010 muss unverzüglich aufgegeben werden; die Regelung sollte unbefristet - nicht nur bis 2013 - gelten. Drittens. Grundsätzlich sind die Kommunen mit der Aufgabenwahrnehmung nach dem SGB II zu betrauen und die Finanzbeziehungen grundgesetzlich abzusichern. Viertens. Denjenigen Kommunen, die die alleinige Trägerschaft für die Grundsicherung für Arbeitsuchende übernehmen wollen, ist dies zu ermöglichen. Leider gehen die Grünen in ihrem Antrag nicht ganz so weit wie wir, aber in der Zielrichtung haben wir große Übereinstimmung. Mittlerweile steigt auch der Druck aus den Ländern, bei dieser Frage den Kommunen eine Wahlfreiheit einzuräumen. Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt daher ausdrücklich die fraktionsübergreifende Initiative im Niedersächsischen Landtag, die von CDU, SPD, Grünen und FDP verabredet wurde und voraussichtlich nächste Woche im Landtag verabschiedet werden soll. ({6}) Frau Pothmer hat eben schon auf diese Initiative hingewiesen. Die vier Fraktionen stellen übereinstimmend fest, dass die Erfahrungen der Optionskommunen in Niedersachsen gezeigt haben, dass eine dezentrale Arbeitsmarktförderung für Langzeitarbeitslose besser auf deren Belange eingehen kann als eine zentrale Struktur. Gemeinsam fordert man in Hannover unter anderem die entsprechende Wahlfreiheit für die Kommunen. Die Vorstellungen der FDP-Bundestagsfraktion gehen zwar noch weiter, aber auch hier geht die Initiative eindeutig in die richtige Richtung. Der Deutsche Landkreistag erhebt diese Forderung ebenfalls, und die Sozialminister der Länder haben immerhin eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die sich mit diesem Thema befasst. Daher gehe ich davon aus, dass die niedersächsische Initiative auch aus anderen Bundes18316 ländern Unterstützung erhält. Sicher zählen kann man hier auf Hessen; aber auch Bayern sollte sich in dieser Frage klar auf der Seite der Kommunen positionieren. ({7}) Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Die zuständige Ministerin in der Bayerischen Staatsregierung hat zwar vor einigen Monaten schon einmal ihre Sympathie für eine Ausweitung der Anzahl der Optionskommunen ausgedrückt, aber hier in Berlin wurde im Bundesrat noch keine bayerische Initiative gestartet. ({8}) Jetzt wäre ein günstiger Zeitpunkt, wenigstens auf den fahrenden Zug aufzuspringen, werte Kollegen der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion und werte Frau Stewens. ({9}) Falls die Unterstützung aus Bayern vorläufig ausbleibt, können die Wählerinnen und Wähler im Herbst ja noch entscheiden, ob diese zögerliche Staatsregierung nicht doch endlich abgewählt wird. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Klaus Brandner. ({0})

Klaus Brandner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003053

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir reden über einen Teilabschnitt der größten arbeitsmarktpolitischen Reform, die wir in den letzten Jahren durchgeführt haben. Rot-Grün hatte sich seinerzeit zusammengefunden, um Vorschläge zu erarbeiten, wie das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit - die größte Herausforderung auf dem Arbeitsmarkt - gelöst werden könnte. Bevor wir über diese Themen sprechen, möchte ich zunächst sagen, was sich in diesem Land seit dieser Zeit - wir haben das mit der Großen Koalition fortgesetzt - getan hat. Wir haben in gut drei Jahren mehr als 2 Millionen Arbeitslose weniger, fast 1,3 Millionen mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und deutlich weniger Langzeitarbeitslose. ({0}) Das, was wir in den Reden vorher gehört haben, ist überwiegend das, was wir damals in Lagerauseinandersetzungen erlebt haben: Wer kann es besser? Wo soll es hin? Die einen sagen, die BA muss abgeschafft werden. Die Grünen haben gesagt: Um Gottes Willen, keine Optionen. Wir waren uns darüber einig, ein ganz anderes Modell zu fahren. Jetzt loben viele plötzlich die Option über alles. ({1}) Die CDU/CSU war damals überwiegend für die Option. Wir haben eine Situation, wo ich nur warnen kann. Ich möchte deutlich sagen, dass man dieses so bedeutende Thema angesichts der Leistung der Beschäftigten vor Ort in den Arbeitsagenturen und Arbeitsgemeinschaften, die letztlich den Rückgang der Arbeitslosigkeit durch ihre persönliche Arbeit entscheidend vorangebracht haben, nicht in Misskredit ziehen sollte. ({2}) Das ist eine wichtige Angelegenheit, weil die Menschen unter größten Schwierigkeiten genau diesen Erfolg herbeigeführt haben. Alle Erfahrungen in anderen Ländern, in denen solch eine große Reform angegangen worden ist, haben gezeigt: Man hat mindestens fünf Jahre gebraucht, bis dieses komplizierte Geflecht einigermaßen so erfolgreich und effizient lief, ({3}) dass das Ziel, nämlich nicht nur Arbeitsmarktvermittlung und Qualifizierung der Langzeitarbeitslosen, sondern auch das Aufgreifen individueller Problemlagen des Einzelnen und die Unterstützung durch individuelle Hilfen, erreicht werden konnte. ({4}) - Wo denn sonst, wenn nicht vor Ort? Etwa in Berlin? Die Menschen werden doch nicht aus den Wahlkreisen nach Berlin bestellt, lieber Kollege Rohde, um ihnen hier die Hilfen zukommen zu lassen. ({5}) Lassen Sie uns zu dem Antrag der Grünen kommen; auf die Linke komme ich gleich zurück. Ich glaube, dass uns allen die Organisation dieses Arbeitsfeldes am Herzen liegt. Nun hat das Bundesverfassungsgericht, wie von mehreren Rednern angesprochen wurde, die Arbeitsgemeinschaften für unvereinbar mit der Verfassung erklärt. Es hat aber auch ausdrücklich gesagt, dass die Entscheidung, die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusammenzuführen und die Leistungen aus einer Hand anbieten zu können, richtig war und positiv zu bewerten ist. Verfassungsgemäß ist insbesondere - das will ich betonen - die Verantwortung des Bundes für die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen. Das heißt im Kern: Für die Zusammenarbeit der Agenturen für Arbeit und der Kommunen bei der Gewährung der Grundsicherung für Arbeitsuchende müssen wir eine neue Form finden. Alle, die jetzt auspacken und sagen: „Hier ist diese Form!“, sollten sich einmal fragen, ob sie nicht voreilig debattieren; denn es sind eine Menge Aktivitäten in diesem Land notwendig, um diese Form umzusetzen. Bundesminister Scholz, Staatssekretär Scheele und auch ich selbst haben dazu in den letzten Monaten unzählige Gespräche mit den Beteiligten im Bund, in den Ländern und in den Kommunen sowie mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Arbeitsgemeinschaften geführt, um genau über dieser Fragestellung zu brüten und Vorschläge zu erarbeiten. Die Antworten auf die anstehenden Fragen, die die Grünen zuletzt vorgetragen haben, sind - das muss ich mit Bedauern sagen - falsch. Im Übrigen sind in dem Redebeitrag von Frau Pothmer - ich bitte Sie, sich diesen in Erinnerung zu rufen - zig Widersprüche. Sie sagt, die Kommune sitze am Katzentisch. Genau das Gegenteil ist der Fall. Wir wollen, dass die Kommune auf Augenhöhe an diesem Prozess beteiligt ist. Von Katzentisch kann überhaupt keine Rede sein. Wenn man ein solches Vorurteil hat und dieses verbreitet, dann sorgt man dafür, dass ein Teil gar nicht mit ins Boot steigt. Dann war von einem Rückfall in eine bürokratische Doppelstruktur und von „rückwärtsgewandt“ die Rede. Erstens will das keiner, und zweitens: Wie viel getrennte Aufgabenwahrnehmung gibt es gerade in Niedersachsen, ({6}) wobei äußerst erfolgreiche Arbeit geleistet wird? Das heißt doch nicht, dass die Arbeit nicht gemeinsam unter einem Dach geleistet werden kann, liebe Frau Pothmer. Ich bitte Sie: Vermeiden Sie die voreiligen Urteile über das, was geht, und das, was nicht geht. Damit tragen Sie zur Verunsicherung in diesem Land bei. ({7}) Ich will einen weiteren Widerspruch in Ihrer Aussage deutlich machen. Auf der einen Seite sagen Sie, da solle etwas durchgepaukt werden, auf der anderen Seite prophezeien Sie, dass das sowieso nicht komme. Was ist denn jetzt richtig? Soll etwas durchgepaukt werden? Oder kommt es sowieso nicht? ({8}) Gehen Sie sachlich an die Dinge heran, und überlegen Sie einmal, was Sie in Ihrem Antrag geschrieben haben. Ich sage Ihnen, dass das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, dass die Arbeitsgemeinschaften unvereinbar mit dem Grundgesetz sind. Deshalb müssen wir eine alternative Lösung finden. Wie Sie wissen, haben wir dazu etwas vorgeschlagen, nämlich die Form des kooperativen Jobcenters. Der große Irrtum in Ihrem Antrag besteht allein schon darin, dass sich das Bundesverfassungsgericht mit den Optionskommunen überhaupt nicht beschäftigt. Das war zwar überhaupt kein Thema, aber Ihr Antrag behandelt dieses. ({9}) - Entschuldigung, das ist eine ganz andere Ebene, über die wir reden. ({10}) Sie wissen, dass die Optionskommunen auf der Basis einer Experimentierklausel bestehen. Für diese Experimentierklausel haben wir eine klare gesetzliche Grundlage, die überhaupt nicht strittig ist und die bis 2010 gilt. ({11}) Der Bundesminister hat gesagt, dass er fest davon ausgeht - das hat er den Optionskreisen mitgeteilt -, dass sie bis 2013 weiterbestehen werden. Dann muss die politische Entscheidung getroffen werden, nicht früher. Deshalb ist das ein Punkt, der diese Verabredung im Koalitionsvertrag überhaupt nicht infrage stellt. Ich lese in Ihrem Antrag weiter, die Anzahl der Optionskommunen müsse erhöht werden. Ich habe Zweifel - das will ich hier ganz deutlich sagen -, ob dieses Vorhaben mit der Verfassung in Einklang zu bringen ist. ({12}) - Dann muss man nicht nur die Gesetze, sondern dann muss man die Verfassung ändern, lieber Herr Rohde. Aber eine Verfassung ändert man nicht so einfach. ({13}) - Dazu haben Sie keinen Antrag gestellt. Ich kenne weder von den Grünen noch von irgendjemand anderem einen Antrag zur Änderung der Verfassung. Das möchte ich ganz deutlich sagen. Wichtig ist zuallererst, dass man sich bewusst ist, was das bedeutet. ({14}) - Wir reden hier im Bundestag, Frau Pothmer. Hören Sie zu, und wenn Sie ein Anliegen haben, dann stellen Sie eine Zwischenfrage. Ich gehe gerne darauf ein. - Das, was klipp und klar im Grundgesetz steht, ist der Boden, auf dem wir unsere Arbeit hier zu leisten haben, nicht mehr und nicht weniger. Eine solche Änderung stünde in krassem Widerspruch zu dem, was wir vor kurzem in diesem Hause entschieden haben, nämlich die Entflechtung der Verwaltungsebenen von Bund und Ländern und die Schaffung klarer Verantwortlichkeiten gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. In der Föderalismuskommission haben wir beschlossen, dass eine direkte Aufgabenübertragung vom Bund auf die Kommunen nicht möglich ist. Deshalb sage ich Ihnen klipp und klar: Was Sie hier vorschlagen, ist schlichtweg verfassungswidrig und deshalb so nicht machbar. Wie ist der Sachstand bei den politischen Überlegungen, die wir aufgegriffen haben? Die drei denkbaren Modelle, die von Bund und Ländern erarbeitet worden sind, werden geprüft und bewertet. Das erste Modell ist das kooperative Jobcenter. Es ist zu fragen, was zu tun ist, um eine solche Einrichtung funktionsfähig auszugestalten - nicht nur untergesetzlich, sondern auch im Rahmen gesetzlicher Regelungen. Das zweite Modell beinhaltet die Übertragung der passiven Leistungen auf die Kommunen in einer Form der Bundesauftragsverwaltung. Bei dem dritten Modell geht es um die Entwicklung eines Arge-Modells, wofür es allerdings einer Verfassungsänderung bedürfte. Kollege Schiewerling hat bereits gesagt, dass es unter den Ländern derzeit keine ausreichende Mehrheit für eine Verfassungsänderung gibt. Einige Länder beziehen diese Möglichkeit in ihre Erwägungen ein. Aus unserer Sicht gibt es dafür aber, wie gesagt, keine ausreichende Mehrheit. Das, was bisher diskutiert wurde, muss daher kritisch hinterfragt werden. Jedenfalls aus unserer Sicht müssen Finanz- und Durchführungsverantwortung in einer Hand bleiben. Man kann sich kaum vorstellen, dass der Bund zwar bezahlt, dass aber allein auf lokaler Ebene entschieden wird. Das ist ein Problem, über das wir nachdenken müssen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die solidarische Bundesfinanzierung bedingt, dass Mittel aus strukturschwachen und Mittel aus strukturstarken Regionen zusammenfließen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege, achten Sie bitte auf Ihre Zeit.

Klaus Brandner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003053

Dieses System kann nur so lange funktionieren, wie gewährleistet ist, dass in den strukturschwachen Regionen keine besseren Standards gelten als in den strukturstarken Regionen. Ich sage deshalb ganz deutlich: Ein solidarisches Modell, in dem der Bund die Verantwortung für die Finanzierung der Langzeitarbeitslosen behält, setzt voraus, dass Bund und Länder sich darüber verständigen müssen, wie man dem haushalterischen Prinzip Rechnung tragen kann, dass der Bund wissen will, wohin das Geld fließt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Klaus Brandner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003053

Ich danke Ihnen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke spricht nun die Kollegin Katja Kipping. ({0})

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht hat uns in seinem Urteil eine Frist bis Ende 2010 eingeräumt. Wir wären schlecht beraten, wenn wir diese Frist vollständig ausschöpften; denn es häufen sich Berichte, wonach die Unsicherheit bei den Beschäftigten der Argen zunimmt, einzelne Mitarbeiter abgeworben werden oder sich verstärkt nach neuen Jobs umsehen. Ein solches Klima ist nicht wirklich gut für die Qualität der Beratung. ({0}) Insofern wären wir wirklich gut beraten, möglichst bald eine Lösung zu finden. Das wäre sowohl im Sinne der Beschäftigten der Argen als auch im Sinne der Erwerbslosen. ({1}) Aktuell gibt es eine Art Tauziehen zwischen denjenigen, die Kommunalisierung wollen, und denjenigen, die die Bundesagentur für Arbeit stärken wollen. Der Antrag der Grünen versucht, das Tauziehen eher zugunsten der Kommunalisierung zu entscheiden. Im Namen der Linken kann ich dazu nur sagen, dass Erwerbslosigkeit ein gesamtgesellschaftliches Problem ist, das man nicht einfach auf die Kommunen abwälzen kann. Diesbezüglich stehen wir als Bund in der Pflicht. ({2}) - In Ihrem Antrag steht, dass Sie die Anzahl der Optionskommunen erhöhen wollen. Das ist natürlich im Sinne einer Kommunalisierung. Wir haben die möglichen Konsequenzen aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil mit vielen lokalen Akteuren diskutiert. Man hat immer wieder den Eindruck gewonnen, dass die Entscheidung zwischen der real existierenden Optionskommune und der real existierenden Bundesagentur für viele wie eine Wahl zwischen Scylla und Charybdis war. Wenn wir eine Stärkung der Bundeskompetenz wollen, dann muss sich die Bundesagentur zuallererst wieder darauf besinnen, dass sie vor allem einen sozialpolitischen Auftrag hat. Diesem sozialpolitischen Auftrag muss sie sich wieder verstärkt stellen. ({3}) Doch ganz unabhängig davon, wer das Tauziehen gewinnt: Entscheidend ist, dass die Qualität der Beratung verbessert wird. Der Umgang mit Anspruchsberechtigten ist immer noch viel zu oft von dem Geist oder zumindest der unterschwelligen Einstellung geprägt, man habe es mit Untertanen zu tun, die zu erziehen und zu belehren sind. ({4}) Eine moderne Sozialpolitik sollte stattdessen von dem Bewusstsein geprägt sein, dass auf beiden Seiten des Tisches Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sind und dass es sich auch auf der anderen Seite des Tisches um Menschen mit Rechten handelt. ({5}) Es liegt einiges im Argen, was die Beratungsqualität sowohl in den Argen als auch in den Optionskommunen anbelangt. ({6}) Wenn wir als Linke dieses Problem ansprechen, wird uns immer vorgeworfen, wir seien Miesmacher. Deshalb möchte ich an dieser Stelle einfach einmal aus dem Bericht des Bundesrechnungshofs zitieren. Darin heißt es: Bei zwei Dritteln der 1-Euro-Jobs war mindestens eine Fördervoraussetzung nicht erfüllt. - Kurzum: Es muss da noch einiges verbessert werden. Wir als Linke haben hier bereits vor einigen Monaten einen entsprechenden Antrag eingebracht und ganz konkrete Maßnahmen vorgeschlagen. ({7}) Wir sind aufgefordert, uns schnell darüber zu verständigen, wie die zukünftige Struktur aussehen soll. Ich möchte aber schon an dieser Stelle einen ganz konkreten Vorschlag unterbreiten. Liebe Sozialdemokraten, liebe Christdemokraten, ({8}) geben Sie sich bitte einen Ruck ({9}) und ermöglichen Sie, dass Widersprüche aufschiebende Wirkung haben! Bereits jetzt wird jedem dritten Widerspruch in Gänze stattgegeben. Die Ungewissheit, die hinsichtlich der Strukturen besteht, wird die Fehlerquote nicht senken. Im Gegenteil: Sie wird die Fehlerquote womöglich erhöhen. Auch wenn wir eine Zeit der Umstellung haben, wird es Unsicherheiten geben, die die Fehlerquote wiederum eher erhöhen werden. Dieses Problem, das auch durch die Unsicherheit in den Strukturen verursacht worden ist, dürfen wir nicht auf dem Rücken der Erwerbslosen oder der Armen austragen; ({10}) schließlich reden wir hier von Menschen - damit komme ich zum Schluss -, bei denen falsche Bescheide sehr schnell zu existenziellen Problemen führen. Das Mindeste, was wir jetzt tun können, ist, dafür zu sorgen, dass Widersprüche eine aufschiebende Wirkung haben. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9441 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundesministergesetzes - Drucksache 16/5052 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0}) - Drucksache 16/9759 Berichterstattung: Abgeordnete Ralf Göbel Siegmund Ehrmann Petra Pau Silke Stokar von Neuforn - Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/9781 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Michael Luther Bettina Hagedorn Otto Fricke Alexander Bonde Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu nehmen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Ralf Göbel für die Unionsfraktion, Siegmund Ehrmann für die SPD-Fraktion, Dr. Max Stadler für die FDP-Fraktion, Volker Schneider ({2}) für die Fraktion Die Linke und Silke Stokar von Neuforn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.1)

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 16/9759, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/5052 in der Ausschussfassung anzu- nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in 1) Anlage 3 Vizepräsidentin Petra Pau der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich enthalten? Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 15: Beratung des Antrags der Abgeordneten Elke Hoff, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Mehr deutsche und internationale Unterstützung für den Wiederaufbauprozess im Irak - Drucksache 16/9605 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({0}) Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Elke Hoff das Wort. ({1})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben in der vergangenen Sitzungswoche eine sehr intensive und umfassende Debatte zum Thema „Hilfe für irakische Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland“ geführt. Wir alle gemeinsam sind im Grunde genommen der Auffassung gewesen, dass es sehr notwendig ist, den bedrängten Menschen im Irak zu helfen. Wir von der FDP-Fraktion sind darüber hinaus der Auffassung, dass wir noch einen weiteren Schritt gehen sollten und weitere gemeinsame Anstrengungen der Bundesregierung und des Parlamentes auf den Weg bringen sollten, um die Menschen im Irak umfassend beim Wiederaufbau ihres zerstörten Landes zu unterstützen und ihnen vor allen Dingen auch dabei behilflich zu sein, demokratische Strukturen im Irak nachhaltig zu verankern. ({0}) Wir können vor dem Hintergrund der Spannungen zwischen den verschiedenen Ethnien und Religionen, die im Nachgang zur Intervention der US-amerikanischen Streitkräfte und der Koalitionstruppen erneut zum Ausbruch gekommen sind, feststellen, dass einer der wichtigsten Punkte im Irak die nationale Versöhnung ist. Es handelt sich dabei um einen sehr komplexen Vorgang, der an den Grenzen des Iraks nicht haltmachen darf. Wir von der FDP-Fraktion sind zutiefst davon überzeugt, dass eine Stabilisierung des Iraks auch im nationalen Interesse der Bundesrepublik Deutschland liegt. ({1}) Der Krisenherd Irak liegt unmittelbar vor der Haustür der NATO; das NATO-Vollmitglied Türkei ist unmittelbarer Nachbar. Der Konfliktherd liegt damit auch vor unserer Haustür. Wir können uns diesem nicht entziehen. Wir müssen deshalb einen Weg finden, die positive Entwicklung im Land zu begleiten. Wir wissen, dass es in der Vergangenheit schlimme Entwicklungen gegeben hat. Wir haben über die Ursachen schon sehr umfassend und hinreichend diskutiert. Wir sind der Meinung, dass es nun an der Zeit ist, den Blick nach vorne zu richten, statt ihn nach hinten zu wenden. Deswegen schlagen wir in unserem Antrag eine Reihe von Maßnahmen vor, die insbesondere auf die Stabilisierung bzw. den Aufbau der Institutionen und der zivilgesellschaftlichen Strukturen abzielen. Wir wollen natürlich nicht, dass sich die Bundesrepublik Deutschland in irgendeiner Form an militärischen Aktionen beteiligt. Wir wollen auch keine riesigen finanziellen Entwicklungsmaßnahmen auf den Weg bringen, weil die finanzielle Situation des Iraks im Vergleich zu der in Afghanistan relativ gut ist. Wir sind hierbei der Auffassung, dass der jetzige Zeitpunkt richtig ist. Anders als in Afghanistan, wo sich die internationale Gemeinschaft aufgrund des vollständigen Fehlens von staatlichen Strukturen noch sehr lange wird engagieren müssen, können im Irak noch heute gewisse Grundstrukturen von Staatlichkeit wahrgenommen werden; diese müssen wir unterstützen. Jedes Jahr, das vergeht und in dem wir nicht versuchen, diese Stabilisierung herbeizuführen, bringt einen immer stärkeren Verlust dieser Strukturen mit sich. ({2}) Deswegen sind wir trotz der nach wie vor sehr schwierigen Sicherheitslage der Auffassung, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, Maßnahmen zu ergreifen. Wir fordern daher die Bundesregierung auf, sich durch eigene Regierungsvertreter vor Ort ein Bild zu machen und daraus eine Konzeption zu entwickeln - die sie dem Deutschen Bundestag vorzulegen hat -, wie ein Aufbau der Institutionen begleitet werden kann. Es wird dabei sehr wichtig sein, dass auch die Kontakte zwischen den Parlamenten mit Leben erfüllt und entwickelt werden, damit wir unsere irakischen Kolleginnen und Kollegen bei der schwierigen Arbeit unterstützen können, die Wahrnehmbarkeit des Parlamentes zu verbessern. Wir als föderal aufgebautes Land können sicherlich auch einen Beitrag zur sinnvollen Entwicklung von Regionen leisten. Wir können einerseits dazu beitragen, die Wahrnehmbarkeit der Strukturen der Zentralregierung zu verbessern, und andererseits klarmachen, dass Autonomie in bestimmten Bereichen verhindert, dass den Leuten Konflikte, die ihre Ursache in den Schwierigkeiten bei der Bildung der Zentralregierung haben, aufoktroyiert werden, und darüber hinaus die Möglichkeit bietet, Inseln der Entwicklung zu schaffen. Hier können wir sicherlich eine Reihe von wertvollen Anregungen geben. Wir sind allerdings auch der Auffassung, dass andere Bereiche ebenso wichtig sind. Aufgrund des Ausblutens von Kapazitäten durch diese große Flüchtlingsbewegung und des Fehlens von Fachleuten, Ärzten, Ingenieuren, Lehrern und Wissenschaftlern, sollten wir irakischen Studentinnen und Studenten die Möglichkeit geben, eine Ausbildung in Deutschland zu machen. Sie können danach nach Hause zurückkehren und dazu beitragen, ihr Land wieder aufzubauen. Wir sind auch der Auffassung - insbesondere nach einem Besuch einer Gruppe irakischer Journalisten, die ihre wichtige Aufgabe unter größter Lebensgefahr erfüllen -, dass es wichtig ist, unsere Solidarität zu bekunden, indem wir den Kontakt zu Journalistinnen und Journalisten pflegen, mit ihnen kommunizieren und ihnen behilflich sind, ihre Arbeit in Sicherheit verrichten zu können. ({3}) Wir müssen sie dazu ermutigen, den Prozess der Demokratisierung im eigenen Land weiterhin zu begleiten. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dass es spät ist. Ich weiß auch, dass ein Fußballspiel im Rahmen der Europameisterschaft vor der Tür steht. Das kann aber kein Grund dafür sein, dass wir uns als Parlament, als Vertreter einer funktionierenden Demokratie diesem Thema nicht mit aller Ernsthaftigkeit und Hingabe zuwenden. ({5}) Ich hoffe sehr, dass Sie unseren Antrag unterstützen. Ich darf mich ganz herzlich für die Aufmerksamkeit bedanken. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Erich Fritz das Wort. ({0})

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unstrittig ist, dass die Sicherheitslage im Irak nach wie vor sehr kritisch ist - deshalb ist der Antrag der FDP diskussionswürdig -, dass der Wiederaufbau des Landes nicht so vorankommt, wie wir alle das gerne hätten, und dass sich deshalb aller Aufwand lohnt, zur Stabilisierung des Landes beizutragen. Durch einen kurzen Blick auf die Lage im Irak wissen wir, dass wir der Realität in diesem Land nicht gerecht werden. Vielmehr müssen die innere Struktur, die inneren Machtverhältnisse, die Einflüsse von außen, die Bedeutungen der nach wie vor vorhandenen alliierten Truppen und die unterschiedlichen religiösen und kulturellen Einflüsse berücksichtigt werden. Das alles sind Faktoren, die zwar geradezu herausfordern, sich diesem Land zu widmen und Lösungen zu finden, die gleichzeitig aber auch dazu beitragen, dass die Umstände nach wie vor problematisch sind. Ich glaube, dass wir diese Debatte nutzen sollten, um zu zeigen, dass die Bundesrepublik Deutschland schon umfangreich Hilfe leistet und dass wir diese Hilfe beibehalten wollen. Es ist aber sehr genau zu überlegen, welche weitere, stärkere Unterstützung wir gewähren. Unser Schwerpunkt liegt in der Ausbildung irakischer Sicherheitskräfte. Dieser Aufgabe müssen wir uns weiterhin widmen, weil sie von uns besonders gut erfüllt werden kann. Die Herstellung der Sicherheit, der Stabilität staatlicher Strukturen und der Verlässlichkeit von staatlichen Einrichtungen ist eine ganz wesentliche Aufgabe, unabhängig vom Bevölkerungsteil. ({0}) Deutschland leistet nach wie vor Ausbildungs- und Ausstattungshilfe für die irakischen Streitkräfte im Sanitäts-, Transport- und Baupionierwesen; auch da unterstützen wir an der richtigen Stelle. Es gibt weitere Ausbildungskurse in Führung und Logistik. Anfang 2008 gab es weitere Materiallieferungen und Ausbildungshilfen durch das BMVg. Hinzu kommen Ausbildungs- und Ausstattungshilfe für die irakische Polizei. Wir haben im Bereich „Kriminalpolizei, Strafjustiz und -vollzug“ ausgebildet. Die Mission ist gerade bis Juli 2009 verlängert worden. Durch Mittel des Auswärtigen Amtes wird ebenfalls Ausbildung im Bereich „irakische Streit- und Polizeikräfte“ ermöglicht. Wir wissen, dass die humanitäre Situation im Land nach wie vor nicht sehr gut ist. Deshalb tritt die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion für eine humanitäre Flüchtlingspolitik ein. Wir unterstützen die Bemühungen der EU-Minister, die sich erst Anfang Juni für eine europaweite Lösung ausgesprochen haben. Wir stimmen Ihnen zu, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dass das Merkmal für eine Aufnahme die Schwere der individuellen Bedrohung sein muss. Wer am schlimmsten bedroht ist, bekommt als Erster Hilfe. Das sind, wie wir wissen, de facto ganz überwiegend Christen, die im Irak die mit Abstand größte nichtmuslimische Minderheit stellen. Auch alleinstehende Frauen und Kinder sind eine wichtige Gruppe. 1,2 Millionen Christen machten 2003 eine starke Gruppe aus; jetzt sind es noch 400 000, die im Land sind. Viele Familien sind nach Jordanien oder Syrien geflüchtet oder vertrieben worden. Viele Familien dort sind nicht in der Lage, für ihren Erwerb aufzu18322 kommen, sodass häufig die Kinder arbeiten müssen. Nach UNHCR-Schätzungen besuchen nur 25 Prozent dieser Flüchtlingskinder Schulen. Ich glaube, das ist ein Punkt, an dem wir unsere Hilfe verstärken sollten; denn es geht unmittelbar um Menschen. Um die Interessen dieser religiösen Minderheiten - es geht auch um die Jesiden, Mandäer, Sabäer - und um die Situation der unterschiedlichen muslimischen Minderheiten müssen wir uns kümmern. Von einem zurückhaltenden Engagement Deutschlands beim Wiederaufbau des Irak, von dem im FDPAntrag die Rede ist, kann also keine Rede sein. Seit 2003 hat Deutschland den Wiederaufbau im Irak mit fast 5 Milliarden Euro unterstützt. ({1}) - Ja. - Allein im Jahr 2007 hat die Bundesregierung 4,2 Millionen Euro aus Mitteln des Auswärtigen Amtes für Hilfsmaßnahmen für Flüchtlinge zur Verfügung gestellt. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen hat 2 Millionen Euro für die Versorgung von Binnenvertriebenen und von Irak-Flüchtlingen in Syrien und Jordanien bekommen. 1,5 Millionen Euro gingen an das Internationale Rote Kreuz, 205 000 Euro an das Deutsche Rote Kreuz. 10 Millionen US-Dollar stellte die Bundesregierung dem im August 2006 beigetretenen Internationalen Wiederaufbaufonds für den Irak zur Verfügung; diese Mittel werden überwiegend für die Berufsausbildung eingesetzt. Dieser Fonds bleibt bestehen, bis sämtliche Projekte beendet sind. Über GTZ- und InWEnt-Projekte werden die für die Berufsausbildung zuständigen irakischen Institutionen und Ministerien unterstützt. In Ägypten und Deutschland haben wir darüber hinaus irakische Fach- und Lehrkräfte aus dem Bereich der beruflichen Bildung qualifiziert, die mit ihren erworbenen Kenntnissen einen Beitrag zum zivilen Wiederaufbau im Irak leisten können. Wir agieren also in einer Weise, die dadurch gekennzeichnet ist, dass wir uns nicht exponieren, sondern einen wirkungsvollen Beitrag zur Entwicklung innerer Strukturen und innerer Stabilität leisten. ({2}) In Ägypten wurden im Rahmen eines GTZ-Projekts bis Ende April 2008 insgesamt 875 Iraker ausgebildet. Geplant ist, dieses Projekt bis 2011 fortzusetzen; das ist durchaus eine langfristige Perspektive. Wir unterstützen das Land bei der wirtschaftlichen Transformation zu einem marktwirtschaftlichen System, beispielsweise im Bereich der Investitionsförderung durch Projekte wie „Wirtschaftspolitisches Management im Irak“. Wir unterstützen das Land darüber hinaus im Bereich der Universitäten und der Infrastruktur. Diese Aufzählung könnte man fortsetzen. Ich glaube, dass wir sehr gut daran tun, uns jetzt stärker darauf zu konzentrieren, dort, wo sich die Situation verbessert, den wirtschaftlichen Austausch zu fördern. Noch befindet sich der Handel mit dem Irak auf einem sehr niedrigen Niveau; er bewegt sich so gut wie gar nicht. Mittlerweile ist klar, dass die Deutsch-Irakische Wirtschaftskommission - sie unterbrach lange Zeit ihre Arbeit - wieder tagen wird. Dass davon Impulse ausgehen, kann man nur hoffen. Die Bundesregierung hat durch die Ausweitung des Außenwirtschaftsförderungsinstrumentariums - Stichwort „Hermesdeckung“ - bereits einige Schritte unternommen. Ein Doppelbesteuerungsabkommen befindet sich in der Pipeline. Ich glaube, dass das Öl- und Gasrahmengesetz für deutsche Investoren, die aufgrund ihrer traditionellen Beziehungen in den Startlöchern stehen, eine wichtige Rolle spielen wird. Sobald sich die Situation verbessert, wird die Zusammenarbeit intensiver werden. ({3}) Wir alle tun gut daran, die Iraker zu ermuntern, das neue irakische Investitionsgesetz zu verabschieden und einen transparenten Privatisierungs- und Diversifizierungsweg zu gehen. Das ist die Art von Hilfe, die zum eigenen Wiederaufbau und zur Entwicklung einer eigenen Wirtschaftsstruktur führt. Bundeskanzlerin Merkel wird beim Besuch des irakischen Ministerpräsidenten in Berlin im Juli sowie bei allen weiteren Gesprächen auf internationaler Ebene Deutschlands Unterstützung für den irakischen Demokratisierungsprozess zusagen und gleichzeitig deutlich machen, wie unerlässlich die Verbesserung der Sicherheitslage und eine nationale Versöhnung für den nachhaltigen Wiederaufbau des Staates sind. Ich glaube, dass die Bundesrepublik Deutschland ihrer Verantwortung, was die Verbesserung der Situation im Irak betrifft, mehr als gerecht wird und dass wir auf dem jetzt eingeschlagenen Weg weitermachen sollten. Herzlichen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke spricht nun der Kollege Wolfgang Gehrcke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann seriöserweise über die Lage im Irak nicht diskutieren, ohne tatsächlich einen Blick zurückzuwerfen, und zwar nicht deswegen, weil man sich beim Rückwärtsgewandten aufhalten sollte, sondern weil die Vergangenheit eigentlich die Gegenwart im Irak ist. Um diese Tatsache kann man nicht drum herumreden. Wenn man zurückblickt, muss man ganz nüchtern feststellen: Der Krieg gegen den Irak war wohl die schlimmste Fehlentscheidung des US-Präsidenten Bush. ({0}) Ich will hinzufügen: Es war ein völkerrechtswidriges Verbrechen. ({1}) Das muss im Bundestag einmal ausgesprochen werden, und das, Kollegin Hoff, muss man einmal in einen Antrag hineinschreiben. Die Folgen erlebt die Bevölkerung im Irak heute. 100 000 Menschen sind bislang während des Krieges oder in der Folgezeit gestorben. Es gibt 4 Millionen Flüchtlinge. Die Vernichtung von Kultur und Kulturgütern wie Jahrtausende alte Städte und Raub von Kulturgütern sind Folgen des Krieges. Das ist die Bilanz. Am meisten erschreckt hat mich aber eine Äußerung von Bush und Condoleezza Rice, sie hätten im Irak das Gesicht des neuen Nahen Ostens gesehen. ({2}) Wenn man in das Gesicht des heutigen Irak schaut, dann sieht man Gewalt, Tod, Anarchie und Widersprüche. Wir müssen auch hier klarmachen: Das darf nicht das Gesicht des neuen Nahen Ostens werden. ({3}) Wir wollen zumindest nicht dazu beitragen. Man muss sich auch noch einmal in Erinnerung rufen, wie unverschämt die USA die Weltöffentlichkeit belogen haben. Ich habe die Bilder von Colin Powell vor dem Weltsicherheitsrat noch vor Augen. Eine Weltmacht, die die Welt in dieser dreisten Art und Weise belügt, hat ihre Rolle als Weltmacht verspielt. ({4}) Auch das muss man einmal klar sagen. ({5}) Wenn man ernsthaft über einen neuen Ansatz diskutiert, dann muss man auch ein paar Worte zur Rolle Deutschlands sagen. Ich finde, es ist alles in allem eine beschämende Rolle. Wenn es nach der heutigen Bundeskanzlerin gegangen wäre, dann hätte Deutschland Soldaten in den Irak geschickt. ({6}) Das ist belegbar. Sie müssen sich das einmal klarmachen. Ich fand es auch beschämend, dass die rot-grüne Bundesregierung den USA Überflugrechte gewährt hat und ihnen damit die Gelegenheit gegeben hat, diesen Krieg zu führen. ({7}) Auch das gehört zur Bilanz. Meine Schlussfolgerung ist: Wenn man wirklich Veränderungen will - Kollegin Hoff, ich denke, dass man das hier aussprechen muss -, dann muss man feststellen, dass es ohne einen Abzug der Truppen der USA aus dem Irak keinen zivilen Wiederaufbau geben wird. ({8}) Das ist der entscheidende Punkt. Wir können die USA auffordern, ihre Truppen abzuziehen. Nicht nur von außen, sondern im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf selbst wird dies als eines der zentralen Themen diskutiert. Lassen Sie uns das verstärken. Der Deutsche Bundestag sollte die USA auffordern, ihre Truppen möglichst sofort aus dem Irak abzuziehen, damit ein ziviler Aufbau greifen kann. ({9}) Da wir schon bei Ratschlägen sind, sage ich Folgendes an unsere eigene Adresse: Die Flüchtlingsfrage ist eben nicht geklärt. ({10}) Kollege Fritz hat hier dafür plädiert, Flüchtlinge religiös orientiert aufzunehmen. Ich finde, es ist eine Katastrophe, ({11}) wenn man sagt, die muslimischen Flüchtlinge sollen nach Syrien gehen und wir sollen die Christen aufnehmen. Was machen denn die Atheisten im Irak? ({12}) - Das weiß ich nicht; aber das ist ja auch nicht die Hauptgruppe. ({13}) Ich bin für die Aufnahme von Flüchtlingen unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit. ({14}) Vieles von dem, was Sie vernünftigerweise in Ihren Antrag geschrieben haben, kann greifen, wenn von den USA endlich das Zeichen kommt, dass man dem Irak ein Stück Selbstbestimmung gewährt. Dann können wirtschaftliche Maßnahmen, humanitäre Hilfe und all das, was man leisten muss, greifen. Solange die US-Truppen im Irak sind - fünf oder zehn Jahre oder was weiß ich -, wird das Morden, das Töten in diesem Land kein Ende haben. Das ist leider wahr, und das hat die Vergangenheit belegt. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Den Beitrag des Kollegen Niels Annen für die SPD- Fraktion nehmen wir zu Protokoll.1) 1) Anlage 4 Vizepräsidentin Petra Pau Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße ausdrücklich, dass Kollegin Elke Hoff für die FDP dieses Thema auf die Tagesordnung gebracht hat. In der Tat, die Entwicklung im Irak ist von eminenter Bedeutung für die europäische Sicherheit. Wir müssen uns viel stärker mit der Frage auseinandersetzen, was wir zur Stabilisierung dieses äußerst schwierigen Konfliktherdes beitragen können. Genau aus diesem Grunde waren Claudia Roth und ich vor ungefähr einem Jahr im Nordirak. Wir sind auf die Spuren des Terrors des Saddam-Hussein-Regimes gestoßen. Wir sind aber auch auf eine Insel relativer Stabilität in einem Umfeld wahnsinniger Gewalt gestoßen; hierzulande werden der Nordirak und die kurdischen Teile ja oft mit dem gesamten Irak zusammengeworfen. Im vorliegenden Antrag steht folgende Bemerkung: Die Zeit der kritischen Betrachtung der militärischen Intervention sollte heute auch angesichts des unendlichen Leids innerhalb der irakischen Zivilbevölkerung der Vergangenheit angehören. Es ist ja einerseits richtig, dass man nicht einfach nur in die Vergangenheit schaut und darüber Gegenwart und Zukunft vergisst. Aber andererseits hoffe ich, dass ihr es so nicht meint. Einen Schlussstrich kann es nicht geben, weil die Lehren aus diesem Beispiel einer ideologischen, verantwortungslosen und verheerenden Interventionspolitik in der Tat noch längst nicht zureichend gezogen sind. Deshalb Blick nach vorn, aber ohne Schlussstrich! ({0}) Unumgänglich ist auch - dazu kann ich natürlich in vier Minuten fast gar nichts sagen; ich deute es nur an eine kritische Auseinandersetzung mit der jetzigen USPolitik. Zu Recht wird im Antrag betont, wie vordringlich die innerirakische Versöhnung ist. Dass die USA gerade langfristige Stationierungsabkommen mit der irakischen Regierung ausgehandelt haben und weitreichende Verträge mit Ölfirmen abgeschlossen werden, wobei es innerirakisch noch gar keinen Konsens dazu gibt, steht im Gegensatz zu der notwendigen innerirakischen Versöhnung. Nun zu den konstruktiven Ansätzen. Zum einen kommt es darauf an, die Vereinten Nationen, die nach dem fürchterlichen Anschlag vom August 2003 praktisch hinausgeflogen sind, wieder stärker darin zu unterstützen, eine größere Rolle zu spielen. Die Europäische Union kann eine Rolle spielen, und sie wird das wohl auch tun müssen, spätestens nach der Wahl in den USA. Was zum anderen die militärische und die polizeiliche Ausbildungshilfe angeht: Es ist zwar richtig, was da gemacht wird. Aber ich glaube, viel mehr ist aufgrund der Kapazitäten nicht möglich. Dies ist allerdings wieder ein Hinweis darauf, dass unsere Kapazitäten für die strategisch wichtige Aufgabe, zur Stabilisierung im Inland beizutragen, noch viel zu schwach sind. ({1}) Eine zentrale Rolle spielt einerseits natürlich insbesondere die Flüchtlingshilfe. In der Tat, bereits am 5. Juni haben wir hier eine Debatte über einen diesbezüglichen Antrag der Grünen geführt. Da sind unsere Positionen im Grunde deckungsgleich. Leider ist dieser Antrag abgelehnt worden. Andererseits sind jetzt auch Beiträge zur Stabilisierung möglich. Gerade die bessere Sicherheitslage im Norden bietet mehr Spielräume, den wirtschaftlichen Aufbau und die Zivilgesellschaft zu fördern. Die genannten Maßnahmen wie Journalistenausbildung, Studierendenaustausch und Parlamentarieraustausch sind ausgesprochen sinnvoll. Wir haben mit Parlamentariern gesprochen und wissen, dass es ausgezeichnete Gesprächs- und Austauschmöglichkeiten gibt. Im vorigen Jahr war das deutsche Engagement im Norden des Irak noch ausgesprochen gering. Mittlerweile hat die Bundesregierung immerhin ein Verbindungsbüro in Erbil aufgebaut. Dazu, wie sich das Irak-Engagement der Bundesrepublik in Zukunft gestalten soll, haben wir von der Bundesregierung aber noch nichts gehört. Deshalb ist es richtig, ein Konzept einzufordern. Es ist notwendig und absehbar: In Zukunft wird sich der Deutsche Bundestag verstärkt um die Stabilisierung des Irak, um Aufbauhilfen kümmern müssen. Und das wird er auch tun. Danke schön. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9605 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 16 a bis 16 c auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Michaela Noll, Antje Blumenthal, Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Angelika Graf ({1}), Renate Gradistanac, Kerstin Griese, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Wirksame Bekämpfung der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen - Drucksachen 16/9420, 16/9694 Berichterstattung: Abgeordnete Michaela Noll Angelika Graf ({2}) Diana Golze Vizepräsidentin Petra Pau b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Marieluise Beck ({4}), Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mädchen und Frauen vor Genitalverstümmelung schützen - zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle Laurischk, Dr. Karl Addicks, Burkhardt Müller-Sönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen ächten und bekämpfen - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Monika Knoche, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Weibliche Genitalverstümmelung verhindern - Menschenrechte durchsetzen - Drucksachen 16/3542, 16/3842, 16/4152, 16/8657 Berichterstattung: Abgeordnete Michaela Noll Angelika Graf ({5}) Jörn Wunderlich c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({6}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Michaela Noll, Antje Blumenthal, Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Renate Gradistanac, Clemens Bollen, Angelika Graf ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Häusliche Gewalt gegen Frauen konsequent weiter bekämpfen - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Aktionsplan II der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen - Drucksachen 16/6429, 16/6584, 16/9367 Berichterstattung: Abgeordnete Michaela Noll Ina Lenke Irmingard Schewe-Gerigk Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Michaela Noll für die Unionsfraktion. ({8})

Michaela Tadjadod (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der gefährlichste Ort für Frauen in Deutschland ist nach wie vor ihr Zuhause. Dort werden Frauen bedroht, zum Teil geschlagen, zum Teil beleidigt und im schlimmsten Fall sogar getötet. Genau das habe ich schon vor einem Jahr an dieser Stelle gesagt. Ich muss leider feststellen: Bis heute hat sich wenig geändert. Da wir in Berlin sind, habe ich mir die Zahlen vom Juni 2008 für Berlin angesehen. Für Berlin gilt genau das Gleiche: Jede vierte Frau in Berlin leidet unter häuslicher Gewalt und braucht im Durchschnitt sieben Anläufe, um sich von ihrem schlagenden Ehemann zu trennen. 75 Prozent der Opfer haben Scheu, sich irgendjemandem anzuvertrauen, sich zu offenbaren. Ich hoffe, dass es uns gelingt, diesen Frauen ihre Scheu zu nehmen. Sie müssen wissen, dass sie mit ihren Ängsten und Problemen nicht allein sind. Es darf keine Toleranz für Gewalt in den eigenen vier Wänden geben. ({0}) Häusliche Gewalt ist keine Privatsache und muss rechtlich verfolgt werden. Auf das Thema Genitalverstümmelung wird gleich meine Kollegin Sibylle Pfeiffer eingehen. Unseren Antrag zur häuslichen Gewalt habe ich bereits beim letzten Mal vorgestellt. Da die sichere Finanzierung von Frauenhäusern eine unserer Baustellen ist, war ich sehr froh darüber, dass wir uns heute auf Berichterstatterebene zusammengesetzt haben, um eine Lösung für dieses Problem zu finden. Da ich Mitglied der Kinderkommission bin, möchte ich heute ein Thema ansprechen, das mir besonders am Herzen liegt: die alarmierend hohe Zahl minderjähriger Opfer. Gewalt trifft die Mütter und damit meistens auch die Kinder. Viele Opfer sagen uns: Die Kinder haben die Gewaltsituation gesehen und gehört; zum Teil sind sie auch hineingeraten. Denn nicht wenige Kinder versuchen, sich schützend vor ihre Mütter zu stellen. Jedes zehnte Kind wird dabei tätlich angegriffen. Was bedeutet es für ein Kind, wenn es so etwas miterleben muss? Ich glaube, für viele Kinder bricht eine Welt zusammen. Der Vater, den sie lieben, wird zum schlagenden Vater, zum verletzenden Vater. Deshalb bin ich dankbar dafür, dass die Bundesregierung den neuen Ansatz der verstärkten Täterarbeit in den Mittelpunkt rückt und diese Arbeit für wichtig und richtig hält. Welche Folgen hat diese Erfahrung für die Kinder? Es gibt eine gute Studie vom Deutschen Jugendinstitut, die besagt, dass diese Kinder zum Teil verhaltensauffällig, aggressiv oder ängstlich sind und zum größten Teil Lernschwierig18326 keiten haben. Das sind sichtbare Folgen. Aber die Folgen, die sich im Inneren abspielen, können wir oftmals gar nicht richtig feststellen. Viele Kinder sind an ihrer kindlichen Seele verletzt. Sie können zum Teil nicht darüber sprechen, auch weil sie Angst um den Ruf ihrer Familie haben. Und was noch schlimmer ist: Sie geben sich zum Teil selbst die Schuld. Sie glauben, dass sie die Ursache dafür sind, dass ihre Mutter geschlagen wird. Das ist das eine. Noch viel schlimmer ist aber, dass Kinder - das halte ich für sehr bedenklich -, die so aufwachsen, ein erhöhtes Risiko tragen, im Erwachsenenalter erneut zum Opfer zu werden. Und was noch viel trauriger ist: Sie können sich sogar zum Täter entwickeln. Diese Erfahrung während der Kindheit prägt ein Leben lang. Deshalb ist es wichtig, dass wir diese Gewaltspirale relativ früh und rechtzeitig unterbrechen. Wir haben das Nationale Zentrum Frühe Hilfen geschaffen. Wir haben den Nationalen Aktionsplan für ein kindergerechtes Deutschland 2005 - 2010 auf den Weg gebracht. Gerade diesen Aspekt hat die Bundesregierung jetzt noch einmal in ihrem Aktionsplan II der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen aufgegriffen. Dort heißt es: „Rechtzeitig an die Kinder denken - Prävention so früh wie möglich“. Ich glaube, damit sind grundlegende Strukturen für einen besseren Schutz des Kindeswohls auf den Weg gebracht worden. Ich war vor kurzem hier in Berlin auf einer Fachkonferenz. Dort ging es um Prävention an den Schulen. Ich glaube, jeder, der hier sitzt, weiß, dass die Schulen in dem Punkt eine Schlüsselrolle haben; denn sie erreichen alle Kinder. Dort habe ich gehört, dass die Lehrerinnen und Lehrer sagen, sie seien verunsichert. Sie fragen: Wie sollen wir mit dem Wissen um Gewalt in einer Familie umgehen? - Die Lehrer brauchen Hilfestellung. Wir müssen sie stärken. Damit helfen wir auch den Kindern. ({1}) Ich glaube, in einigen Bundesländern sind bereits einige gute Ansätze auf den Weg gebracht worden. Der Anfang ist gemacht. Wenn es uns wirklich gelingt, die Maßnahmen komplett zu vernetzen, werden wir diese Gewaltspirale rechtzeitig unterbrechen können. Die Kinder brauchen unsere Hilfe, damit sie im Erwachsenenalter nicht erneut zum Opfer werden. Wir müssen es vor allem schaffen, dass sie nicht zum Täter werden. Auch hier gilt unsere Devise - ich glaube, da besteht Konsens im ganzen Haus -: Uns darf kein Kind verloren gehen. Daran sollten wir gemeinsam weiterarbeiten. Danke schön. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Nun hat die Kollegin Sibylle Laurischk das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch wenn jetzt vielleicht Fußball angesagt ist und damit eher ein Männerthema, befassen wir uns zu dieser Stunde mit einem gravierenden Thema für Frauen, und zwar mit dem Thema Gewalt gegen Frauen. Wir haben einen Antrag zum Thema Genitalverstümmelung an Frauen vorliegen. Darin wird eine der schwersten Menschenrechtsverletzungen thematisiert, die weltweit an Frauen und Mädchen begangen werden. Wenn wir heute gemeinsam darüber diskutieren, bedauere ich es, Frau Noll, dass wir uns nicht in einem gemeinsamen Antrag zu diesem Thema zusammenfinden können. ({0}) Wir haben uns in einer sehr eindrucksvollen Anhörung im Ausschuss im vergangenen Dezember mit dem Thema Genitalverstümmelung befasst. Wir haben dort ein Opfer angehört. Es war eine der eindrucksvollsten Schilderungen, die ich im Rahmen meiner Arbeit im Bundestag erlebt habe. Es ist sicherlich sinnvoll, dass aufgrund dieser Anhörung die Thematik der Verjährung neu angesetzt wurde und im vorliegenden Antrag der Regierungsfraktionen aufgegriffen worden ist. Die Verjährungsfrist soll für Mädchen, die von Genitalverstümmelung betroffen sind und die zum Tatzeitpunkt noch nicht volljährig waren, verlängert werden, damit sie als Erwachsene die Möglichkeit haben, Strafanzeige zu stellen, sodass sie tatsächlich ihr Trauma bearbeiten und im Rahmen eines möglichen Strafprozesses ihre Erfahrung und ihr Leid bewältigen können. Dazu brauchen sie flankierende Maßnahmen und unsere Hilfe. Deswegen ist es wichtig, dass wir auch außerhalb des Strafrechts an diesem Thema arbeiten. Insbesondere diejenigen, die mit diesen Fragen und möglicherweise mit betroffenen jungen Mädchen und Frauen zu tun haben, müssen wir informieren, aufklären und schulen. Dies sind Erzieher und Erzieherinnen, Lehrer und Lehrerinnen, Ärzte und Ärztinnen, Mitarbeiter der Polizei und der Beratungsstellen, Mitarbeiter der Jugendämter und der Ausländerbehörden. Sie alle müssen über diese Problematik informiert werden, damit sie, wenn ihnen solche Fälle hierzulande bekannt werden, frühzeitig eingreifen können. Eine solche Vernetzung und Schulung ist auch auf internationaler Ebene notwendig. Ich denke, es ist eine wichtige Aufgabe insbesondere der Entwicklungszusammenarbeit und der Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen, deutlich zu machen, dass die Genitalverstümmelung, die vor allem in afrikanischen Staaten ein Problem darstellt, auf keinen Fall toleriert werden darf. Wir müssen uns vor Augen führen, dass nach einer Schätzung von UNICEF weltweit circa 140 Millionen genitalverstümmelte Frauen leben und dass jedes Jahr circa 3 Millionen hinzukommen. Für uns in Deutschland ist das unvorstellbar. Aufgrund der Migration gewinnt dieses Problem aber weltweit an Bedeutung. Deswegen ist es wichtig, unter dem Stichwort „Verjährung“ tatsächlich einen neuen Weg zu beschreiten. Darüber hinaus muss sich der Bundestag in den nächsten Monaten mit allen Formen von Gewalt gegen Frauen befassen. Ich möchte, dass im Zusammenhang mit diesem Thema auch die Situation bzw. die Finanzierung der Frauenhäuser behandelt wird. Frau Noll hat gerade eindrücklich dargestellt, dass die Traumatisierung von Kindern infolge häuslicher Gewalt ein großes Problem ist. Daher ist es wichtig, dass Kinder, die nach Gewalterfahrungen gemeinsam mit ihren Müttern in ein Frauenhaus gehen, dort Hilfe bekommen und, was ihre Traumatisierung betrifft, aufgefangen werden. Bei diesem sehr ernsten Thema haben wir noch sehr viel Arbeit vor uns. Ich hoffe, dass wir in dieser Frage auch in Zukunft konstruktiv und sachgerecht zusammenarbeiten. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Angelika Graf das Wort. ({0})

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Kollegin Renate Gradistanac wird den zweiten Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen vorstellen. Ich möchte mich in meiner Rede einer ganz besonders brutalen Form der Gewalt widmen, nämlich der Genitalverstümmelung. Ich denke, das ist eine besonders schwere Menschenrechtsverletzung und, wie gesagt, eine besonders brutale Form von Gewalt gegen Frauen. Trotz internationaler Ächtung, zahlreicher Konventionen, langfristigen politischen Engagements, umfangreicher Projekte in den Entwicklungsländern und einer Fatwa in Kairo aus dem Jahre 2006 ist Genitalverstümmelung immer noch ein gravierendes und hochaktuelles Problem. Die Zahl genitalverstümmelter Frauen steigt von Tag zu Tag; Frau Laurischk hat darauf hingewiesen. Durch Migration und Flucht bedingt wurde die Genitalverstümmelung weltweit zu einem Thema. Schätzungen zufolge sind etwa 30 000 Frauen und Mädchen hier bei uns von Genitalverstümmelung betroffen oder bedroht. Unsere Strategien im Kampf gegen diese frauenverachtende Praxis dürfen aufgrund der weltweiten Relevanz dieses Themas nicht an unserer Landesgrenze oder an den Grenzen Europas haltmachen. Nach langen Verhandlungen innerhalb der Koalition - sie haben ein bisschen länger gedauert als erwartet ({0}) ist es uns doch noch gelungen, einen Antrag zu formulieren, der Ihnen heute vorliegt. Dabei handelt es sich um einen umfassenden Maßnahmenkatalog, der, wie ich denke, all die Maßnahmen beinhaltet, die wir im Augenblick gegen die Praxis der Genitalverstümmelung ergreifen können und ergreifen müssen. ({1}) Es geht um Maßnahmen in den Bereichen Strafrecht, Forschung, Aufklärung, Beratung, Fortbildung, Prävention und Entwicklungszusammenarbeit. Ich denke, mit diesem Antrag begegnen wir adäquat und zielgruppengerecht den komplexen soziokulturellen innerdeutschen und internationalen Herausforderungen im Kampf gegen Genitalverstümmelung. Dabei wollen wir auch die für die Opferbetreuung zuständigen Stellen in den Bundesländern in die Pflicht nehmen. Zur Bekämpfung von Genitalverstümmelung brauchen wir einen integrativen Ansatz, bei dem die Eltern von Anfang an in Aufklärung, Prävention und - selbst wenn es zu spät ist - in Beratung und Betreuung einbezogen werden. Eltern lassen ihre Töchter - das hat die Anhörung gezeigt - ja nicht aus Böswilligkeit verstümmeln, sondern - auch wenn nichts diese Praxis in irgendeiner Form rechtfertigen kann - wegen sozialem Druck. Deshalb muss das Thema bei den Betroffenen aus der Tabuecke geholt werden. Dies fordern wir mit unserem Antrag genauso wie die Sensibilisierung der Berufsgruppen, die von Amts wegen - Polizei, Justiz, Lehrkräfte, Ärzteschaft, Angestellte von Sozial- und Jugendämtern - mit Opfern von Genitalverstümmelung oder mit von Genitalverstümmelung bedrohten Mädchen und Frauen zu tun haben bzw. haben können. ({2}) Besonders wichtig war es uns von der SPD, dass wir die in der Anhörung von vielen Nichtregierungsorganisationen und wissenschaftlichen Instituten formulierten offenen Forschungsfragen in unserem Antrag berücksichtigen. Wir benötigen noch mehr Informationen im Bereich der Prävention von Genitalverstümmelung. Wir müssen herausfinden, wie wir die in Deutschland lebenden Familien, in denen das potenziell praktiziert wird oder die bereits davon betroffen sind, mit unseren Angeboten am effektivsten erreichen. Neben der Arbeit der NGOs ist, wie schon erwähnt, der ressortübergreifende Ansatz sehr wichtig. Deshalb haben wir auf die Einrichtung einer interministeriellen Bund-Länder-NGO-Arbeitsgruppe unter der Federführung und Koordination des BMZ gedrängt. Diese Arbeitsgruppe soll sich an der Struktur und Arbeitsweise der beiden Bund-Länder-Arbeitsgruppen „Häusliche Gewalt“ und „Frauenhandel“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend orientieren. Mit diesen Arbeitsgruppen haben wir nämlich gute Erfahrungen gemacht. Einige bedauern, dass wir keinen eigenen Straftatbestand fordern. Die derzeitige Rechtslage ist, denke ich, Angelika Graf ({3}) dass Genitalverstümmelung als sittenwidrige und schwere Körperverletzung ({4}) in Deutschland natürlich bereits verboten ist und infolgedessen keine irgendwie geartete Lücke besteht. Ein eigener Straftatbestand wäre meines Erachtens reine Symbolik, über deren Sinn und Zweck man sicherlich streiten kann. In der Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend haben einige dafür plädiert, einen eigenen Straftatbestand zu formulieren, ({5}) andere haben ein höheres Strafmaß gefordert. Bis man mir nicht das Gegenteil beweist, will ich sagen: Mit dem Strafrecht allein kann man kein Mädchen vor Genitalverstümmelung retten. Da hilft die Verjährung, die Frau Laurischk angesprochen hat, eher. Sie hilft, den Opfern den Rücken zu stärken. ({6}) Es muss darum gehen, in der Community die Einsicht zu fördern, dass es sich bei Genitalverstümmelung um eine schwere Menschenrechtsverletzung handelt. Deshalb fordern wir in unserem Antrag die Bundesländer auf, die Betreuungs- und Beratungsmöglichkeiten weiter zu erhalten. Zwangsuntersuchungen, wie sie von manchen Organisationen gefordert werden, lehnen wir definitiv ab.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Graf, achten Sie bitte auf die Zeit.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Wir haben durchgesetzt, dass Länder wie Senegal und Ghana bei der nächsten Gelegenheit bezüglich ihrer Einstufung als sichere Herkunftsländer noch einmal überprüft werden. ({0}) Keine junge Frau darf von Deutschland aus in ein Land abgeschoben werden, in dem Mädchen oder Frauen von Genitalverstümmelung bedroht sind; das war uns extrem wichtig. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann das Wort. ({0})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Dass heute zum Thema weibliche Genitalverstümmelung Anträge von allen Fraktionen vorliegen, zeigt die Bedeutung dieses Themas. Es zeigt aber auch, dass wir uns leider nicht auf einen gemeinsamen Antrag einigen konnten. Die Anträge der anderen Fraktionen haben ein anderes Grundverständnis. Auch wenn wir einzelne Forderungen durchaus unterstützen, werden wir uns bei der Abstimmung über die anderen Anträge enthalten. Der Ruf nach dem Strafrecht kann aus Sicht der Linken immer nur ein Teil der Lösung sein. Die Erfahrung lehrt: Der Glaube an die Wirksamkeit von Abschreckung erweist sich meist als Illusion. Natürlich ist Genitalverstümmelung ein Verbrechen und muss bestraft werden; das ist völlig unstrittig. ({0}) Uns sind aber zwei weitere Ansatzpunkte wichtig: Erstens. Der soziale Status der Frau muss nachhaltig gestärkt werden, um eine der Ursachen weiblicher Genitalverstümmelungen anzugehen. Zweitens. Wir müssen einen Zugang zu den Gemeinschaften bekommen. Das gelingt eher mit sensiblen Beratungsangeboten als mit Repression. Das sind aus unserer Sicht die Voraussetzungen für ein gesellschaftliches Umfeld, in denen Genitalverstümmelungen nicht nur nicht toleriert, sondern auch verhindert werden. Das ist ja unser gemeinsames Ziel. Meine Fraktion Die Linke greift in ihrem Antrag in diesem Zusammenhang noch zwei sehr konkrete Probleme auf: die geschlechtsspezifische Verfolgung als Asylgrund und den Umgang mit weiblichen Asylbewerberinnen. Wir fordern nachdrücklich: erstens eine unabhängige, geschlechtssensible Beratung durch erfahrene Beratungsstellen oder Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, und zwar noch vor der Erstanhörung im Asylverfahren, ({1}) zweitens, dass bei Anhörungen von Asylbewerberinnen aus Ländern, aus denen weibliche Genitalverstümmelungen bekannt sind, diese Problematik besonders berücksichtigt wird, wozu speziell geschulte weibliche Mitarbeiterinnen des Asyl-Bundesamtes inklusive weibliche Sprachmittlerinnen notwendig sind, und drittens, dass es nicht als verspätetes und damit gesteigertes Vorbringen gewertet werden darf, wenn der Fluchtgrund Genitalverstümmelung erst im Verlaufe des Asylverfahrens vorgebracht wird, was oft der Fall ist. ({2}) Hinsichtlich des Themas häusliche Gewalt lobt die Regierungskoalition das eigene Handeln. Das ist angesichts der realen Situation, zum Beispiel der finanziellen und personellen Notlage vieler Zufluchtstätten und Beratungsstellen, aber unangebracht. Statt sich auf die eigene Schulter zu klopfen, sind wirkliche Handlungsstrategien notwendig. Wie können diese Strukturen erhalten werden, und wie kann vor allem endlich die 30 Jahre alte Forderung erfüllt werden, allen Frauen Zuflucht zu gewähren, unabhängig von ihrer sozialen Lebenslage? Im Aktionsplan II bilanziert die Bundesregierung vor allen Dingen bestehende Projekte, statt neue Handlungsansätze wenigstens zu skizzieren. Einzelne, zumeist regional begrenzte Projekte werden benannt, die sich den Migrantinnen - vor allem vor dem Hintergrund der Zwangsheirat - und behinderten Frauen zuwenden. Natürlich ist das wichtig, angesichts der aktuellen Problemlage aber völlig unzureichend. Folgendes fehlt aus Sicht der Linken im Aktionsplan II völlig: der Ausbau von Beratungsstellen, die Entwicklung von sozialen Programmen für Migrantinnen, die weit über die sprachliche Förderung hinausgehen und auf die eigenständige Existenzsicherung abzielen, und eine bundesweit einheitliche Absicherung des Zugangs zu Frauenhäusern unabhängig vom SGB II. Davon war heute schon einmal die Rede. ({3}) Solange diese Hausaufgaben nicht gemacht und die Opfer häuslicher Gewalt noch viel zu oft auf sich allein gestellt sind, gibt es aus unserer Sicht eigentlich keinen Grund dafür, dass sich die Koalition selbstgefällig auf die Schultern klopft. Ich denke, wir müssen dringend an diesem Thema dranbleiben. Gerade heute haben wir eine Anhörung zum Thema Finanzierung von Frauenhäusern vereinbart und inhaltlich besprochen. Es ist für uns ein ganz wichtiges Thema, dass auch sozial benachteiligte Frauen Zugang zu diesen Zufluchtsstätten erhalten. Ich denke, hier sind wir sogar einer Meinung. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk das Wort.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Den Stellenwert von politischen Initiativen erkennt man an der Tageszeit, zu der sie diskutiert werden. Dass die Frauenpolitik bei der Großen Koalition keinen großen Stellenwert hat, haben wir schon in der letzten Woche bei der Behandlung des Themas Lohndiskriminierung gesehen, und das zeigt sich auch heute Abend beim Thema Frauenrechte als Menschenrechte. ({0}) In Ihren Vorlagen, über die wir hier diskutieren, haben Sie zahlreiche Zeilen mit warmen Worten gefüllt. Sie haben ihnen ein hübsches Make-up aufgelegt. Wenn wir aber die Farbe abnehmen, dann bleibt nur wenig Substanz übrig. Nach der von den Grünen initiierten Anhörung im Bundestag zur Genitalverstümmelung haben Sie ein weiteres Jahr gebraucht, um sich auf einen Antrag zu einigen. Vollmundig haben Sie von der CDU/CSU und der SPD in der Presse angekündigt - ich zitiere -: Wir reden nicht nur, sondern handeln. - Na, das wäre bei Ihrer Frauenpolitik ja eine wirkliche Neuheit. ({1}) Es hätte dem Ansehen dieses Hauses nicht geschadet, gerade zu diesem Thema einen fraktionsübergreifenden Antrag zu verabschieden. ({2}) Ich sehe einige gute Ansätze. Zum Beispiel sollen Bund und Länder Fortbildungen und eine Sensibilisierung für Polizei und Justiz anbieten. Diese Forderung haben Sie direkt von uns übernommen. Auch die Bund-LänderNGO-Arbeitsgruppe zur zielgruppensensiblen Aufklärung sowie zur fachlichen Unterstützung von Projekten ist ein guter Ansatzpunkt. An dieser Stelle möchte ich der Ministerin Wieczorek-Zeul ausdrücklich danken, die großes Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit zu diesem Thema bewiesen hat. ({3}) Wie von uns vorgeschlagen, wollen Sie auch sicherstellen, dass Länder, in denen Genitalverstümmelungen nicht verboten sind und nicht verfolgt werden, nicht als sichere Herkunftsländer eingestuft werden. Aber den Status von Ghana und Senegal wollen Sie deshalb noch einmal prüfen. An dieser Stelle wird das Make-up wirklich bröckelig. Sie müssen das doch nicht prüfen. Sagten Sie nicht, Sie handeln, statt nur zu reden? Wo bleibt denn Ihr Antrag, zum Beispiel Ghana von der Liste der sicheren Herkunftsländer zu streichen? Unsere Zustimmung wäre Ihnen gewiss. ({4}) Die Verlängerung der Verjährungsfrist zu fordern, ist ein richtiger Schritt. Aber Sie gehen damit den zweiten vor dem ersten. Denn zunächst muss die weibliche Genitalverstümmelung ausdrücklich ins Strafgesetzbuch aufgenommen werden. Nur so würde das klare Signal an Ärztinnen, Eltern und Opfern gesendet, dass eine solche Menschenrechtsverletzung vom Staat nicht geduldet wird. Zahlreiche europäische Länder haben das bereits getan, ({5}) zum Beispiel Großbritannien, Schweden, Spanien und Italien. Die UNO empfiehlt es ihren Mitgliedstaaten. ({6}) Ich weise ausdrücklich darauf hin, Frau Noll, dass das auch in der Anhörung zu diesem Thema alle Experten und Expertinnen gefordert haben. Niemand hat gesagt, die Aufnahme ins Strafgesetzbuch sei keine geeignete Lösung. Wenn Sie nun plötzlich einwenden, bei einer Verurteilung käme es zu einer Ausweisung der Eltern und damit zu einem Auseinanderreißen der Familie, dann ist das aus dem Munde einer CDU-Abgeordneten wirklich Zynismus. So viel Empathie für die Familien bei ausländerrechtlichen Bestimmungen wünschen wir uns von der Union schon sehr lange. ({7}) Sehen wir der ungeschminkten Wahrheit ins Gesicht: Das Thema ist Ihnen für eine Änderung im Strafgesetzbuch nicht wichtig genug. Sie akzeptieren lieber, dass diese grausame Menschenrechtsverletzung, der Verlust eines wichtigen Körperteils, mit einer Ohrfeige gleichgesetzt wird. So kommen wir nicht zusammen. Die Kollegin Graf hat vorhin festgestellt, die Genitalverstümmelung gelte als schwere Körperverletzung. Das ist mitnichten der Fall. Wir möchten es ausdrücklich als schwere Körperverletzung ins Strafgesetzbuch aufnehmen. Ich resümiere: Weniger Schminke und mehr Substanz wären die Voraussetzung für eine Zusammenarbeit gewesen. Mit einer Vielzahl an schwammigen Forderungen für den internationalen Bereich können Sie nicht übertünchen, dass Sie für die Frauen hier kaum etwas unternehmen werden. Wegen einiger vernünftiger Ansätze werden wir uns Ihrem Antrag enthalten. Eine Aufnahme ins Strafgesetzbuch und ein echter Schutz vor der Abschiebung in vermeintlich sichere Herkunftsländer bleiben für uns die zentralen Forderungen. Ich danke Ihnen. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion spricht nun die Kollegin Sibylle Pfeiffer. ({0})

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Schewe-Gerigk, ich möchte zunächst kurz auf Ihre Rede eingehen. Unsere Sympathie für das Thema erkennen Sie daran, wie sorgfältig wir damit umgegangen sind. Dass letztendlich kein gemeinsamer Antrag formuliert werden konnte, lag daran, dass Sie keine Zeit hatten. ({0}) - Ja; denn dabei ist etwas herausgekommen, das Sie wunderbar verwenden könnten, nämlich die interministerielle Arbeitsgruppe und die Verlängerung der Verjährungsfrist. Das ist wirklich wichtig; denn damit können wir den Frauen noch im Nachhinein die Möglichkeit geben, wenigstens ein kleines bisschen Genugtuung zu erreichen. Denn die Verletzungen - das muss ich Ihnen nicht näher erläutern - bleiben für die Ewigkeit. Entwicklungsprojekte zu unterstützen, liebe Frau Kollegin Schewe-Gerigk, ist Job der Entwicklungspolitiker. Das machen wir seit Jahren. Ich berichte Ihnen aus der Praxis für die Praxis. Ich war vor kurzem in Äthiopien und habe dort ein Projekt besucht, das vom EED betreut wird. Dort haben sich 5 000 Menschen, darunter auch Männer und Dorfälteste, zu einer Community zusammengeschlossen und haben beschlossen, diverse Themen anzugehen, zum Beispiel Family-Planning und Nourishing, aber auch das Thema Beschneidung. Ich habe eine Frau, die dort saß und ein Baby auf dem Arm hatte, gefragt: Ist das ein Mädchen? Sie hat geantwortet: Jawohl, das ist ein Mädchen. Dann habe ich sie gefragt: Würden Sie jemals zulassen, dass dieses Kind beschnitten wird? Sie hat geantwortet: Nein, nie. Dann habe ich sie gefragt: Woher nehmen Sie Ihren Mut? Darauf hat sie geantwortet: Die Community steht hinter mir. - Genau das ist das Thema. Es gibt mittlerweile in ganz vielen Entwicklungsländern Gesetze, die Genitalverstümmelung verbieten. ({1}) Wir können uns aber kaum vorstellen, was es heißt und welcher maximale politische Wille sich dahinter verbergen muss - wir reden hier von Traditionen -, gesellschaftliche Veränderungen vorzunehmen. Dieser massive politische Wille ist im Übrigen im Bereich des Good Governance anzusiedeln. Für Regierungen ist das sehr schwierig, weil langwierig. Traditionen aufzubrechen, ist das Langwierigste, was wir uns vorstellen können. Wenn es uns aber gelingt, in den Entwicklungsländern à la longue etwas zu erreichen wie der EED in Äthiopien, hat das auch Auswirkungen bei uns. Ich bin ziemlich froh, dass ich in Deutschland geboren bin und hier aufwachsen durfte; denn wir Frauen wissen, was es bedeutet - ich glaube, wir alle spüren das sogar -, mit dreckigen Glasscherben und stumpfen Rasierklingen genital verstümmelt zu werden, und das alles ohne Betäubung. Wenn es uns gelingt, dies in den Entwicklungsländern mittel- und langfristig auszumerzen, dann müssen wir darüber hoffentlich nicht mehr reden. Maßnahmen sind getroffen worden. Mit unserem fraktionsübergreifenden Antrag decken wir alles ab, was abzudecken ist. Ich denke, es ist ein guter Antrag. Sie alle können ihm zustimmen. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Renate Gradistanac.

Renate Gradistanac (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003134, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zwangsverheiratung, Zwangsprostitution und Genitalverstümmelung, jede Form von Gewalt gegen Frauen, ob sexuell, körperlich oder seelisch, zeigen die lange Geschichte der Diskriminierung gegen die Selbstbestimmung und Selbstachtung der Frauen auf. Deshalb setzen sich die Vereinten Nationen, die europäische Ebene, zum Beispiel der Europarat mit seinem Beschluss „Stoppt häusliche Gewalt gegen Frauen“, und der Deutsche Bundestag gegen Gewalt gegen Frauen ein. Gewalt gegen Frauen drückt sich in allen Sprachen der Welt aus. Aus Rumänien stammt das Sprichwort: „Weiber sind wie Wildbret, je mehr Schläge, je besser sind sie.“ Aus Ungarn kommt: „Einen Knochen für meinen Hund, einen Stock für mein Weib.“ Ein deutsches Sprichwort lautet: „Eine nicht geschlagene Frau ist wie ein ungesalzener Kohl.“ Bis 1928 gab es das Züchtigungsrecht des Ehemanns. Fast 70 Jahre später, im Jahr 1997, wurde endlich die Vergewaltigung in der Ehe strafbar. ({0}) Im Jahr 2002 machte das Gewaltschutzgesetz klar: Wer schlägt, muss gehen. Wir sehen hier einen Paradigmenwechsel. Die Geschlagene kann bleiben, der Schläger geht. Die Frauen haben nun die Wahl: Sie können zu Hause bleiben oder in ein Frauen- und Kinderhaus gehen. Gewaltschutz braucht Gesetze. Gewaltschutz braucht aber auch eine Gesellschaft, die Gewalt gegen Frauen konsequent ächtet und bekämpft. Das zu erreichen, ist das Ziel der beiden schwarz-roten Anträge und des zweiten Aktionsprogramms. ({1}) Das umfassende Gesamtkonzept des ersten rot-grünen Aktionsplans aus dem Jahre 1999 wurde erfolgreich umgesetzt. Der zweite Aktionsplan setzt mit seinen ehrgeizigen Maßnahmen da an, wo noch besonderer Handlungsbedarf besteht. Präventionsarbeit muss möglichst früh ansetzen; Frau Noll hat schon berichtet. Die erste repräsentative Studie zur Gewalt gegen Frauen belegt, dass jedes vierte Kind in Vorfälle häuslicher Gewalt involviert wurde und jedes zehnte Kind selbst körperlich angegriffen wurde. Gewalterfahrungen in der Kindheit prägen das Erwachsenenleben. Um diesen Gewaltkreislauf zu durchbrechen, sind die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, Kinderschutzhäuser und Frauenhäuser von zentraler Bedeutung. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten fordern insbesondere die Länder und Kommunen auf, die Beratungsangebote nicht weiter abzubauen, sondern auszubauen, und die Vernetzung - das geht nicht kostenneutral - zu befördern. Es ist an der Zeit, Gewalt gegen ältere Frauen und Frauen mit Behinderung verstärkt in den Blick zu nehmen. Diese Frauen können sich vielfach nicht aus eigener Kraft vor Gewalt schützen. Frauen mit Migrationshintergrund werden besonders oft Opfer von Gewalt. Überdurchschnittlich oft sind türkische Frauen betroffen: Fast die Hälfte von ihnen - das ist wirklich dramatisch - hat bereits körperliche Gewalt im häuslichen Umfeld erlebt. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten fordern den Ausbau von niedrigschwelligen und mehrsprachigen Beratungs- und Informationsangeboten. ({2}) Die Bundesregierung hat sich mit dem zweiten Aktionsplan verpflichtet, 133 Maßnahmen in zehn Handlungsfeldern umzusetzen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten werden die Umsetzung aktiv unterstützen ({3}) und fordern an dieser Stelle das CDU-geführte Familienministerium auf, auch im eigenen Haushalt Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. Vielen Dank. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Wirksame Bekämpfung der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9694, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/9420 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf Drucksache 16/8657. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/3542 mit dem Titel „Mädchen und Frauen vor Genitalverstümmelung schützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke angenommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3842 mit dem Titel „Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen ächten und bekämpfen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer Vizepräsidentin Petra Pau enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8657 die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4152 mit dem Titel „Weibliche Genitalverstümmelung verhindern - Menschenrechte durchsetzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Stimmenthaltung der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel „Häusliche Gewalt gegen Frauen konsequent weiter bekämpfen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9367, in Kenntnis des Aktionsplans II der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen auf Drucksache 16/6584 den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/6429 anzunehmen. Wer stimmt für dieses Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 sowie Zusatzpunkt 7 auf: 17 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hüseyin-Kenan Aydin, Heike Hänsel, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Anerkennung und Wiedergutmachung der deutschen Kolonialverbrechen im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika - Drucksachen 16/4649, 16/8418 Berichterstattung: Abgeordnete Anke Eymer ({1}) Marina Schuster Kerstin Müller ({2}) ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Müller ({3}), Dr. Uschi Eid, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Angebot an die namibische Nationalversammlung für einen Parlamentarierdialog zur Versöhnungsfrage - Drucksache 16/9708 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({4}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Staatsminister Günter Gloser.

Not found (Gast)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Deutschland ist sich seiner historischen und moralischen Verantwortung für Namibia bewusst. Der Deutsche Bundestag hat dies in seinen wegweisenden Entschließungen im März 1989 und Juni 2004 bekräftigt. Wir können das Geschehene nicht ungeschehen machen, aber wir können Namibia auf seinem Weg in die Zukunft unterstützend begleiten. Dies tun wir eingedenk der gemeinsamen Vergangenheit mehr als in jedem anderen afrikanischen Land. Bereits auf dem Weg in die Unabhängigkeit 1990 hat Deutschland als Mitglied der Fünfergruppe Namibia ganz wesentlich unterstützt. Wir pflegen besondere Beziehungen, die sich auf vielfältiger Ebene widerspiegeln. Der bilaterale Dialog ist umfassend und dicht. Dies gilt nicht nur für die Regierung und die Parlamente, die Bundesländer und die Kommunalebene. Auch auf privater und zivilgesellschaftlicher Ebene wurde ein engmaschiges Netz geflochten. Die deutschstämmige Minderheit ist als integraler Bestandteil der namibischen Gesellschaft akzeptiert. Sie ist einer der namibischen Stämme, so die Wortwahl des namibischen Staatspräsidenten Pohamba. ({0}) Unsere Entwicklungshilfe für Namibia ist pro Kopf deutlich höher als für jedes andere afrikanische Land. Für 2007 bis 2008 haben wir 56 Millionen Euro zugesagt und damit unsere Pro-Kopf-Zahlungen für die knapp unter 2 Millionen Einwohner verdoppelt. Auch das sollte unterstrichen werden. ({1}) Auch bei der Entwicklungszusammenarbeit legen wir im Einklang mit den namibischen Partnern Wert auf eine zukunftsgerichtete Gestaltung, die der namibischen Bevölkerung als Ganzem zugute kommt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Beschluss des namibischen Parlaments vom Oktober 2006 unterstützt die von der Herero-Partei aufgestellte Forderung nach Entschädigungen. Die namibische Regierung hat sich bis heute nicht offiziell zu diesem Beschluss geStaatsminister Günter Gloser äußert. Sie hat lediglich mehr als ein Jahr nach dem Parlamentsbeschluss diesen Text kommentarlos übermittelt. Der namibische Parlamentspräsident hat Ende 2007 einen Parlamentarierdialog angeboten, in dem auch dieser Themenkomplex behandelt werden soll. Die Bundesregierung unterstützt selbstverständlich Gespräche zwischen Parlamentariern. Wir wollen aber den Eindruck vermeiden, dass durch einen institutionalisierten Dialog mit dem namibischen Parlament eine Anerkennung etwaiger Entschädigungsforderungen verbunden ist. Wir haben gegenüber der namibischen Seite deutlich gemacht, dass unsere Zusammenarbeit zukunftsgerichtet ist. Dabei tragen wir den speziellen Bedürfnissen vor allem solcher Volksgruppen Rechnung, deren Vorfahren unter deutscher Kolonialherrschaft in besonderem Maße gelitten haben. So haben die Bundesregierung und die namibische Regierung im November 2007 diese Absichtserklärung über eine Sonderinitiative in den Siedlungsgebieten der Herero, Nama und Damara unterzeichnet. Diese Initiative hat einen Umfang von 20 Millionen Euro und soll die Lebensbedingungen in den betroffenen Gebieten verbessern. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Kommunalentwicklung. Die Projekte verfolgen einen regionalspezifischen Ansatz und werden allen Bewohnern der Region zugute kommen. ({2}) Der namibischen Regierung liegen das sozialpolitische Gleichgewicht und die nationale Versöhnung im Vielvölkerstaat Namibia am Herzen. Mit unserem regionalspezifischen Ansatz der Sonderinitiative entsprechen wir diesem besonderen Anliegen der namibischen Regierung. Die Deutsche Botschaft Windhuk steht in regelmäßigem Kontakt mit den traditionellen Herero-Königshäusern, aber auch mit Repräsentanten und zivilgesellschaftlichen Vertretern der Herero. Gleiches gilt für Vertreter anderer Bevölkerungsteile. Hauptgesprächspartner der Bundesregierung ist aber die namibische Regierung. Im Bewusstsein der gemeinsamen Vergangenheit und im Kontext der Gegenwart wollen wir zur Zukunft Namibias und all seiner Menschen beitragen. Ansätze, die die Vergangenheit in den Mittelpunkt unseres Handelns stellen wollen, verkennen die Erfolge unserer mit der namibischen Regierung eng abgestimmten Politik für die heute in Namibia lebenden Menschen. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat nun die Kollegin Marina Schuster für die FDP-Fraktion. ({0})

Marina Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003845, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden hier und heute über den Umgang mit den Greueltaten, die in deutschem Namen vor mehr als 100 Jahren verübt wurden. Das ist kein einfaches Thema; ganz im Gegenteil. Das liegt an dem unendlichen Leid, das deutsche Kolonialtruppen im heutigen Namibia an den Volksstämmen der Herero und Nama damals angerichtet haben. Wer die Berichte von damals liest, ist auch heute noch tief erschüttert und tief betroffen über die Menschenverachtung, mit der die Kolonialtruppen gegen Teile der Bevölkerung, insbesondere gegen Herero und Nama, vorgingen. Es ist nicht das erste Mal, dass wir hier im Deutschen Bundestag darüber reden. Es ist bereits zu unterschiedlichen Zeitpunkten - der Herr Staatsminister hat es schon erwähnt - hier debattiert worden. Es ist richtig, dass wir uns wieder an die blutige Niederschlagung der Aufstände erinnern; denn die Erinnerung an diese Ereignisse darf nicht verblassen. ({0}) Der Kern der Debatte zum Umgang mit der deutschen Kolonialvergangenheit konzentriert sich auf folgende Frage: Wie können wir unserer historischen Verantwortung am besten gerecht werden? Mehr als 100 Jahre nach den für uns so beschämenden Vorgängen der deutsch-kaiserlichen Kolonialherrschaft kann man diese Frage nicht so beantworten, als wäre diese Zeit erst gestern gewesen. Wir müssen für uns heute die Frage beantworten, wie wir am besten das heutige Namibia als Ganzes in seiner Entwicklung unterstützen. Wir wollen die Gesellschaft in Namibia nicht spalten. Das ist der ganzheitliche Ansatz für die Zukunft, für den sich meine Fraktion einsetzt, und das ist auch der geeignete Weg. Denn dass es gelungen ist, eine deutsch-namibische Freundschaft zu entwickeln, ist eine der großen kulturellen und auch politischen Leistungen unserer beiden Nationen und auch der jeweiligen Regierungen. ({1}) Die FDP hat sich in diesem Sinne immer für Namibia und ein gutes deutsch-namibisches Verhältnis eingesetzt. Namibia ist der jüngste Staat Afrikas, 1990 gegründet, und Deutschland spielte - der Herr Staatsminister hat es angesprochen - eine entscheidende Rolle bei dem Prozess der Unabhängigkeit, der fast elf Jahre gedauert hat. Die Resolution 435, die durch die intensive Unterstützung des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher zustande kam und nach langwierigen Verhandlungen von den Vereinten Nationen verabschiedet worden ist, hat die Grundlage hierfür gelegt. 1989 verabschiedete der Bundestag eine Erklärung, mit der die Bundesregierung aufgefordert wurde, ihrer besonderen Verantwortung für Namibia dadurch gerecht zu werden, dass sie es zu einem Modellfall deutscher Entwicklungszusammenarbeit macht. Wir bekräftigen heute diese besondere Verantwortung für die Geschichte, aber auch die besondere Verantwortung für die Gegenwart und die zukünftige Entwicklung Namibias. In der Tat gibt es sehr viele Probleme zu bewältigen, mit denen Namibia zu kämpfen hat. Die Ursache hierfür einzig in der Kolonialvergangenheit zu sehen, wäre aber sicherlich zu kurz gesprungen. Eine HIV-Infektionsrate von 20 Prozent und der Rückgang der Lebenserwartung von 60 auf 38 Jahre sprechen eine deutliche Sprache. Welche Risiken und welche Bedeutung das für die Entwicklung Namibias hat, ist uns allen klar. Noch ein Wort zu den vorliegenden Anträgen: Den Antrag der Linken werden wir ablehnen. Der Antrag der Grünen wird an den Auswärtigen Ausschuss überwiesen werden. Aber auch diesen Antrag sieht die FDP-Fraktion mit sehr großer Skepsis, weil er am Ende in eine ähnliche Richtung geht. ({2}) Deutschland bekennt sich zu seiner besonderen Verantwortung für Namibia. Das muss auch so bleiben. Deshalb müssen wir bei der Bewältigung der heutigen und der kommenden Aufgaben unsere Unterstützung anbieten. Aber auch unsere historische Verantwortung entbindet uns nicht davon, klug abzuwägen, wie wir dieser im Sinne eines integrativen Ansatzes am besten gerecht werden können. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat jetzt die Kollegin Anke Eymer das Wort. ({0})

Anke Eymer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000509, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der vorliegende Antrag legt wieder einmal den Fokus auf ein Thema, das wir in diesem Hause schon öfter besprochen haben. Es geht um die Frage der deutschen Verantwortung im heutigen Namibia. Noch konkreter: Es geht um die Geschehnisse in den drei Jahren von 1904 bis 1907. Wir reden also über das Vorgehen des Deutschen Kaiserreiches gegen die Herero, die Nama und die Damara vor 104 Jahren. Seitdem hat sich doch manches bewegt und verändert. Die kurze deutsche Kolonialzeit ging mit dem Kaiserreich 1918 zu Ende. Die Folgen der europäischen Kolonialzeit, die bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts reichten, sind bis heute für viele aktuelle Probleme zahlreicher afrikanischer Länder mitverantwortlich. Das alles ist bekannt, und zwar nicht erst seitdem die vorliegenden Anträge geschrieben wurden. Wir wissen sehr wohl um unsere koloniale Vergangenheit. Aus diesem Wissen heraus erkennen wir die Verantwortung besonders in der Zusammenarbeit mit Namibia. Denn es geht darum, eine zukunftsgewandte bilaterale Politik mit Namibia fortzuentwickeln. Es geht darum, an den guten und freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia weiterzuarbeiten. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass auch die Regierung in Namibia das so sieht. Daher hat die Entschließung des Deutschen Bundestages von 1989 bis heute nichts an Bedeutung und Aktualität verloren. Schon zu diesem Zeitpunkt hat Deutschland die Bereitschaft zu einem besonderen Engagement deutlich gemacht. Das entsprach und entspricht der historischen Verbindung unserer Länder. Es entspricht außerdem der ausgezeichneten bilateralen und partnerschaftlichen Zusammenarbeit, die wir pflegen. Erinnern möchte ich an die Debatte, die wir hier im Deutschen Bundestag anlässlich des 100. Gedenktages der Schlacht am Waterberg geführt haben. Wenn also der Eindruck erweckt werden sollte, über die deutschen Verbrechen an den Herero und Nama würde offiziell nicht gesprochen, so ist das absoluter Humbug. ({0}) Natürlich wurde darüber gesprochen und wird darüber gesprochen. Es wird auch debattiert. Es wird verhandelt. Hier im Bundestag war das, wie schon erwähnt, mehrfach der Fall. Öffentlicher geht es wohl kaum. Die zuständige Bundesministerin, Frau WieczorekZeul, hat in Namibia im Jahr 2004 ebenfalls ganz eindeutig dazu Stellung bezogen. Es ist nicht bei einer Aussage geblieben. Auch wenn Sie von der Linken 1989 noch nicht in diesem Haus vertreten waren ({1}) - ich beachte die Zwischenrufe: das war schön; das waren noch Zeiten -, so können Sie in den Protokollen des Bundestages doch nachlesen, was zwischen der Bundesrepublik und Namibia im Besonderen schon ganz offiziell besprochen wurde. Bis zu dem vorliegenden Antrag der Linken ist wohl niemand so schnell und unkritisch bereit gewesen, sich einer Argumentation anzuschließen, ohne den viel größeren eigentlichen Zusammenhang sehen zu wollen. Es ist auffällig, dass die Verantwortlichen der Herero eine auf ihre Bevölkerungsgruppe besonders konzentrierte Entwicklungszusammenarbeit ablehnen und nach 104 Jahren auf Ausgleichszahlungen bestehen. Die Forderung nach einseitiger Aufarbeitung deutscher Geschichte ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Es geht, so möchte ich vermuten, nicht nur um die Forderungen einzelner Bevölkerungsgruppen nach massiver finanzieller Wiedergutmachung; es geht vor allem auch um ein drängendes Problem der namibischen Innenpolitik. Den Hintergrund bildet die gesellschaftliche Krise, die droht, wenn Namibia seine Landreform nicht zügig und erfolgreich umsetzen kann. Es ist das Interesse vieler Beteiligter, sich hierbei gut zu positionieren. Es geht wohl auch um die Frage: Wem gehört das Herero-Land heute, und wem soll es zukünftig gehören? Wer kann es sich leisten, den Grund und Boden heute zu Anke Eymer ({2}) kaufen, Herero, Nama, San oder Ovambo oder Weiße oder andere? Das ist der Hintergrund, vor dem auch die Entscheidung der Nationalversammlung im Oktober 2006 und die geänderte Position der Regierung beleuchtet werden kann. Sich für diesen Prozess der Landreform mit ordentlichen Finanzmitteln auszustatten, ist etwas ganz anderes als die geforderte moralische Aufarbeitung deutscher Geschichte. Diese aktuellen Hintergründe in Namibia in einem Antrag und einer Debatte nicht zu nennen, wäre dumm und kurzsichtig. Die Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern sollte nicht so einseitig und kurzsichtig sein. Wenn überhaupt, dann geht es um eine Entwicklungszusammenarbeit mit dem Ziel, die Zukunftschancen der namibischen Bevölkerung insgesamt zu verbessern. ({3}) Partikularinteressen zu bedienen, ist nicht verantwortbar. Hier einen Versöhnungsdialog voranzubringen, in dem alle Beteiligten zu Wort kommen, das arbeitet Geschichte sinnvoll auf. Hier Entwicklungszusammenarbeit auszuweiten, Berufschancen und Infrastruktur zu fördern, gemeinsame Strategien gegen die drohende Aidspandemie voranzutreiben, das sichert Zukunftschancen. Das ist der große Rahmen, in den die heutige Debatte eigentlich gehört. Das ist ein Feld, in dem die Bundesrepublik Gesprächs- und Handlungsangebote gemacht hat und weiterhin macht. Sich einseitig zu einem Zahlmeister für wenige machen zu lassen und deutsche Geschichte nicht in einem größeren Zusammenhang europäischer Kolonialgeschichte und deren Aufarbeitung zu sehen, das ist der falsche Ansatz. Bei den afrikanischen Partnern - nicht nur in Namibia - gibt es einen wichtigen Konsens. Für eine gleichberechtigte Zusammenarbeit und für ein erstarkendes afrikanisches Selbstbewusstsein ist das offene Eingestehen von Fehlern wichtig und unverzichtbar. Dazu zählen auch die grausamen Verbrechen deutscher Truppen in den wenigen Jahren deutscher Kolonialzeit ebenso wie die der anderen europäischen Länder. Dabei wird von afrikanischer Seite diesem offenen Eingestehen von Fehlern weit mehr Bedeutung beigemessen als partiellen materiellen Forderungen. Ich bin überzeugt, Deutschland wird sich auch weiterhin seiner Verantwortung gegenüber Namibia bewusst sein. Ich zweifle nicht daran, dass die Frage einer gemeinsamen Geschichtsaufarbeitung auch vor dem Hintergrund der Entscheidung der namibischen Nationalversammlung vom 26. Oktober 2006 in einem partnerschaftlichen Dialog zu lösen sein wird. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Hüseyin Aydin ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Hüseyin Kenan Aydin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003733, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Australien, in Kanada und gestern in Neuseeland haben sich die Regierungschefs bei den Ureinwohnern ihres Landes für erlittenes Unrecht entschuldigt. Das wurde in den deutschen Medien weithin berichtet. Nur eines bekommen wir nicht zu hören, nämlich dass sich die Bundesregierung zu den Kolonialverbrechen bekennt, die im deutschen Namen verübt worden sind. Keine Regierung von Adenauer bis Merkel hat bis heute anerkannt, dass an den Völkern der Herero und Nama in den Jahren 1904 bis 1908 ein Völkermord verübt wurde. ({0}) Völkermord ist ein Verbrechen, das die gemeinsame Aufarbeitung aller Demokraten erfordert. Deshalb haben wir im November 2006 allen anderen Fraktionen vorgeschlagen, einen gemeinsamen Antrag zur Aufarbeitung der Kolonialverbrechen einzubringen. Keine Fraktion hat darauf reagiert. Das zeigt Ihre Ignoranz gegenüber der deutschen Geschichte. ({1}) Es ist gut, dass sich nun die Grünen bewegen und einen Antrag zur Aufnahme eines deutsch-namibischen Parlamentsdialogs eingebracht haben. Das unterstützen wir. Allerdings ist es schon etwas peinlich, wenn Frau Eid darin als diejenige hochstilisiert wird, die als Leiterin der SADC-Parlamentariergruppe bereits 1995 den Völkermord anerkannt habe. Tatsächlich findet sich im Protokoll ihres damaligen Namibia-Besuches kein Wort vom Genozid. Stattdessen heißt es dort, Wiedergutmachungsforderungen seien - Zitat - „nicht akzeptabel“. Im April hielt sich Bundestagspräsident Lammert in Namibia auf. Selbst auf Nachfrage mochte auch er das Wort „Völkermord“ nicht einmal aussprechen. Warum verleugnen Bundestagspräsident, Bundesregierung und Bundestag die historische Wahrheit? Sie haben Angst, dass daraus rechtliche Wiedergutmachungsforderungen abgeleitet werden könnten. Das zeigt doch nur eines, nämlich dass diese Forderungen berechtigt sind. Warum sollten Sie sich sonst weigern, über etwas zu sprechen, das längst historisch bewiesen ist? ({2}) Unser Antrag zwingt Sie, sich im Bundestag zu äußern. In der ersten Lesung hatten die Regierungsparteien nur die üblichen Ausreden wie heute parat. Angeblich habe sich der Bundestag 1989 und 2004 in einstimmig angenommenen Anträgen mit dem Thema beschäftigt. ({3}) Das ist falsch. In beiden Anträgen wurde zwar die besondere Verantwortung für Namibia bekräftigt. Nur dazu, woraus sich diese Verantwortung ableitet, sagten Sie nichts. Von einem Völkermord ist darin nicht die Rede. Auch der Vernichtungsbefehl des Generals von Trotha wurde verschwiegen. Ich sage: Diese Anträge sind kein Beitrag zur Aufarbeitung der Kolonialverbrechen, sondern eine Beleidigung der Völker der Nama und Herero. Schließlich gibt es die Legende, die Herero seien in dieser Frage selbst zerstritten und Chief Riruako sei isoliert. Auch das ist falsch. Die Deutsche Botschaft in Windhuk wies die Bundesregierung im letzten Herbst ausdrücklich darauf hin, dass sich der im Diplomatendeutsch als gemäßigt bezeichnete Chief Maharero offen hinter die Forderung nach Wiedergutmachung gestellt hat - ebenso wie die Vertreter der Nama. Seit Dezember 2007 gibt es dazu ein gemeinsames Positionspapier der Repräsentanten beider Völker. Kurzum: Die Taktik der Bundesregierung, die Opfer des deutschen Kolonial- und Vernichtungskrieges gegeneinander auszuspielen, ist am Ende. Nama-Chief Frederick klagte im vergangenen Monat öffentlich an Zitat -: „Meine Großmutter wurde erschossen, als sie ihr Baby an sich drückte. Auch das Baby wurde von den Deutschen ermordet.“ Ich sage Ihnen: Die Nachfahren der Opfer dieser Verbrechen werden nicht ruhen, bevor sie aus dem Mund einer Kanzlerin oder eines Kanzlers oder des Bundestages hören: „Ich bitte im Namen des deutschen Volkes um Verzeihung.“ ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Kerstin Müller gibt ihre Rede zu Pro- tokoll1). Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Brunhilde Irber für die SPD-Fraktion.

Brunhilde Irber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mehr als 100 Jahre sind seit der blutigen Niederschlagung der Aufstände im damaligen Deutsch-Südwestafrika vergangen. Die Ereignisse von damals bestimmen nach wie vor unsere Beziehungen zur heutigen Republik Namibia. Dass sich die Beziehungen zwischen Deutschland und Namibia seit der namibischen Unabhängigkeit im Jahre 1990 trotzdem so freundschaftlich und umfassend entwickelt haben, liegt unter anderem daran, dass sich Deutschland stets zu seiner historischen Verantwortung bekannt hat. ({0}) Umso ärgerlicher ist es, dass die Linke heute versucht, aus der Vergangenheit politisches Kapital zu schlagen. Herr Kollege, ich finde es nicht in Ordnung, wie Sie das hier vorgetragen haben. ({1}) Ich möchte daher heute Abend die Gelegenheit nutzen, um das deutsche Engagement für Namibia zu würdigen und offensichtliche Missverständnisse auszuräumen. 1) Anlage 5 Grundstein für die positive Entwicklung des deutschnamibischen Verhältnisses ist die Namibia-Entschließung des Deutschen Bundestages von 1989. Der Bundestag forderte die Bundesregierung also bereits vor der nominellen Unabhängigkeit Namibias auf, mit dem neuen Staat eine Sonderbeziehung zu entwickeln und zu pflegen. Ergänzt wurde diese Entschließung im Jahre 2004 durch eine Vereinbarung, in der die besondere Verantwortung Deutschlands gegenüber Namibia ausdrücklich anerkannt wird. Deutschland hat somit seiner kolonialen Vergangenheit im Einverständnis mit der namibischen Regierung Rechnung getragen. ({2}) Dieses Einverständnis findet seinen Ausdruck in der Form einer besonders intensiven Entwicklungszusammenarbeit. So hat Namibia seit seiner Unabhängigkeit im Vergleich zu anderen afrikanischen Partnerländern sehr hohe finanzielle Zuwendungen erhalten. Die Bundesrepublik ist seit der Unabhängigkeit im Jahre 1990 der größte bilaterale Geber des Landes. Pro Kopf erhält Namibia die meisten deutschen Entwicklungshilfemittel von allen Ländern in Afrika. ({3}) Kennzeichnend für das deutsche Engagement ist aber nicht nur die staatliche Entwicklungshilfe, sondern auch eine Vielfalt privater Initiativen und Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen. Das Gesamtvolumen aller deutschen finanziellen Zusagen an Namibia seit der Unabhängigkeit beträgt mehr als 500 Millionen Euro. Darüber hinaus leistet Deutschland als maßgeblicher Finanzier der Gemeinschaftshilfe der EU sowie den multilateralen Entwicklungsorganisationen indirekt weitere finanzielle Unterstützung. Deutschland hat es nicht bei der finanziellen Unterstützung belassen. Wohl wissend, dass Geld allein das während der Kolonialzeit erlittene Unrecht nicht ungeschehen machen kann, hat die Bundesregierung gemeinsam mit dem Deutschen Bundestag bereits vor vier Jahren eine Versöhnungsinitiative auf den Weg gebracht. Anlässlich der Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag des Herero-Aufstands im Jahre 2004 bat Bundesministerin Wieczorek-Zeul im Namen der Bundesregierung die Opfer offiziell um Vergebung: ({4}) Die damaligen Gräueltaten waren das, was heute als Völkermord bezeichnet würde … Wir Deutschen bekennen uns zu unserer historisch-politischen, moralisch-ethischen Verantwortung und zu der Schuld, die Deutsche damals auf sich geladen haben. Ich bitte Sie im Sinne des gemeinsamen „Vater unser“ um Vergebung unserer Schuld. Ohne bewusste Erinnerung, ohne tiefe Trauer kann es keine Versöhnung geben. So damals die Bundesministerin. ({5}) Dies könnte man mit dem Kniefall Willy Brandts in Warschau vergleichen. Es war eine Verneigung vor dem namibischen Volk. ({6}) Die SPD hat diese Initiative zur Versöhnung von Anfang an unterstützt. Bereits im Juni 2004 brachte sie in der bereits erwähnten Entschließung ihr tiefes Bedauern und ihre Trauer gegenüber den Nachkommen der Opfer zum Ausdruck. Deshalb befürworten wir konsequent die Bereitstellung von 20 Millionen Euro für die deutsche Versöhnungsinitiative. Diese Mittel werden - wie Herr Staatsminister Gloser bereits ausgeführt hat - allen Volksgruppen zugutekommen, vor allem denen, die einst in besonderem Maße von der deutschen Kolonialherrschaft betroffen waren. Die Fraktion Die Linke blendet diese positiven Zeichen offensichtlich aus. So wirft die Linke der Bundesregierung unter anderem vor, dass die von den Herero vorgebrachten Klagen gegen deutsche Unternehmen, die an der kolonialen Ausbeutung beteiligt waren, ohne Folgen blieben. Tatsächlich haben im September 2001 200 Herero auf der Grundlage des Alien Tort Claims Act vor dem Bezirksgericht in Columbia, USA, drei deutsche Unternehmen verklagt. Allerdings vergisst die Linke, dass alle Klagen entweder zurückgenommen oder rechtskräftig abgewiesen wurden. Anstatt auf das uns Trennende zu verweisen, wäre es mir ein besonderes Anliegen, unsere Verbindungen mit Namibia zu stärken. Ich wünsche mir daher für die Zukunft einen intensiven Dialog zwischen dem Deutschen Bundestag und unseren Kollegen im namibischen Parlament. Ein solcher parlamentarischer Dialog, der auch Vertreter der damals betroffenen Bevölkerungsgruppen einbeziehen muss, wäre ein wichtiger Impuls zu einem umfassenden gesellschaftlichen Dialog zwischen Deutschen und Namibiern. Wir von der SPD sind hierzu bereit. Herzlichen Dank! Herr Präsident, auch Ihnen herzlichen Dank! ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Da der Kollege Aydin vorhin ausdrücklich auf meinen Besuch in Namibia vor wenigen Wochen Bezug genommen hat, erlaube ich mir den Hinweis, dass die gerade zitierten damaligen Äußerungen der Bundesministerin Wieczorek-Zeul in Namibia auf alle führenden Repräsentanten dieses Staates offenkundig mehr Eindruck hinterlassen haben als auf Sie, Herr Kollege Aydin. ({0}) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Anerkennung und Wiedergutmachung der deutschen Kolonialverbrechen im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8418, den Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 16/4649 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wir kommen zu Zusatzpunkt 7. Hier wird interfraktionell die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9708 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie hiermit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({1}) - zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2006 - Vorlage der Haushalts- und Vermögensrechnung des Bundes ({2}) - zu der Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 2007 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes ({3}) - Drucksachen 16/4995, 16/7100, 16/7376 Nr. 3, 16/9640 Berichterstattung: Abgeordneter Bernhard Brinkmann ({4}) Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Kolleginnen und Kollegen Steffen Kampeter, Bernhard Brinkmann, Dr. Claudia Winterstein, Dr. Gesine Lötzsch und Alexander Bonde.

Steffen Kampeter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001062, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Beratung zur Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2006, die heute auf der Tagesordnung steht, erfolgt in einem gut eingespielten Verfahren. Der Bundesrechnungshof hat wie bisher auch umfangreiche Prüfungen durchgeführt und zahlreiche Bemerkungen erarbeitet. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle bedanken. Über die Details der Prüfungsergebnisse haben wir in den Ausschüssen intensiv beraten. Ingesamt sind wir zu der Auffassung gelangt, dass keinerlei Bedenken bestehen und daher die Entlastung der Bundesregierung für 2006 erfolgen kann. Auf zwei wesentliche Aspekte, die der Bundesrechnungshof im Rahmen seiner Prüfungen angesprochen hat, möchte ich zunächst kurz eingehen. So hat er erneut die sogenannte Fifo-Methode bei der Inanspruchnahme der Kreditermächtigung kritisiert, nach der bei der Kreditaufnahme zuerst die noch nicht beanspruchten Ermächtigungen des Vorjahrs in Anspruch genommen werden. Die Koalition hat diesen Bedenken Rechnung getragen und mit dem Haushalt 2008 eine Neuregelung im Sinne des Bundesrechnungshofs umgesetzt. Dies mag auf den ersten Blick als eine rein bürokratische Fragestellung angesehen werden; jedoch zeigt die Neuregelung eine neue Qualität in der Haushaltspolitik: Die Neuregelung lässt noch nicht in Anspruch genommene Kreditermächtigungen aus früheren Haushaltsjahren schneller verfallen und stärkt daher das Budgetrecht des Parlaments in besonderer Weise. Weiterhin hat uns der Bundesrechnungshof auf die unbefriedigende Praxis bei der Anwendung des Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit hingewiesen. Die von ihm aufgezeigten Mängel können so nicht hingenommen werden. In allen Bereichen der Bundesverwaltung muss ein wirtschaftlicher Umgang mit Haushaltsmitteln durch die Anwendung entsprechender Methoden der Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen sichergestellt sein. Daher müssen Maßnahmen zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit eingeleitet werden. Der Bürger muss sich darauf verlassen können, dass wir wirtschaftlich mit seinen Steuergeldern umgehen. Die Bundesregierung ist hier gefordert, die Voraussetzungen für die uneingeschränkte Beachtung des Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit in allen Bundesbehörden und -einrichtungen zu verschaffen. 2006 war das Jahr, in dem Deutschland - erstmals seit 2001 - mit 1,6 Prozent Anteil des gesamtstaatlichen Defizits am Bruttoinlandprodukt unterhalb der 3-ProzentGrenze des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts lag. Die Schuldenstandsquote hatte sich bei 68 Prozent des Bruttoinlandprodukts stabilisiert. Im Juni 2007 - also erst vor einem Jahr - hat daraufhin die EU das seit 2002 laufende Defizitverfahren gegen Deutschland eingestellt. Gesamtwirtschaftlich hat Deutschland dann für 2007 eine Null als Defizit an die EU melden können. Und auch für dieses Jahr stehen die Chancen gut, diesen Wert zu erreichen. In dieser kurzen Zeit ist es der Regierung gelungen, vom Defizitsünder zum Musterknaben zu werden. Wir setzen hier europaweit „Benchmarks“! Das ist die Erfolgsstory der unionsgeführten Großen Koalition. Letztlich haben die Konsolidierungsanstrengungen der letzten Jahre dazu geführt, dass wir endlich Licht am Ende des Tunnels sehen: Bis spätestens 2011 wollen wir einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorlegen, den ersten seit 1969. Dies wurde 2006 noch nicht für möglich gehalten. Damit legen wir auch den Grundstein für eine tragfähige Lösung und den Erfolg der Föderalismusreform. Wir brauchen dringend eine wirksame Schuldenbremse, um dauerhaft eine nachhaltige Haushalts- und Finanzpolitik umzusetzen. Dies hat uns das Bundesverfassungsgericht in seinem letztjährigen Urteil zum Bundeshaushalt 2004 bestätigt. Konsolidierung ist aber kein Selbstzweck. Das hat etwas mit Generationengerechtigkeit zu tun. Schulden heute bedeuten Belastungen morgen. Statt unsere Kinder mit Zins- und Tilgungslasten auf einem riesigen Schuldenberg sitzen zu lassen, müssen wir gegensteuern. Nur so schaffen wir die notwendigen Freiräume, um zukunftsgerichtete Investitionen zu ermöglichen und unsere Bürger bei der Abgaben- und Steuerlast wirksam zu entlasten. Von den im letzten Jahr geschätzten Steuermehreinnahmen für die Jahre 2007 bis 2011 in Höhe von etwa 100 Milliarden Euro haben wir rund 60 Prozent zur Konsolidierung genutzt. Jedoch gehören zum politischen Dreiklang der Großen Koalition auch das Investieren und das Reformieren. Daher haben wir auch einen Teil der Steuermehreinnahmen investiert, zum Beispiel zur Stabilisierung der Beitragssätze bei der gesetzlichen Krankenversicherung und damit zur Senkung der Lohnnebenkosten. Aber auch andere zukunftsgerichtete Investitionen haben wir angestoßen, wie in Forschung und Bildung, für die Betreuung der unter Dreijährigen oder in entwicklungs- und klimapolitische Leistungen. Insgesamt haben wir so die Investitionen gegenüber dem Jahr 2006 um rund 10 Prozent steigern können. Auch finanzieren wir aus den genannten Steuermehreinnahmen die bereits beschlossenen Ausgaben wie BAföG- oder Wehrsolderhöhungen oder die Tarifanhebungen im öffentlichen Dienst. Die Unternehmensteuerreform 2008 und andere Reformvorhaben der Großen Koalition der jüngsten Zeit tragen dazu bei, die Grundlage für das insgesamt günstige Wirtschaftswachstum zu legen. Die Konjunktur hat sich überraschend robust gezeigt und bisher die Turbulenzen um Finanzmarktkrise, Energiepreiserhöhung und starken Euro erfreulich gut gemeistert. Dank unserer Politik ist die Wirtschaft gut aufgestellt. Insgesamt ist die Entlastung von Unternehmen und Beschäftigten seit 2006 deutlich vorangeschritten. So wurde auch der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung von ursprünglich 6,5 Prozent auf jetzt 3,3 Prozent nahezu halbiert. Weitere Senkungen streben wir an. Dies alles trägt zur Verbesserung der Nachhaltigkeit unserer Finanzen bei. Das ist auch dringend notwendig, wollen wir unseren Kindern und Enkeln nicht einen Trümmerhaufen hinterlassen. Der Nachhaltigkeitsbericht des Bundesfinanzministers, der Anfang Juni veröffentlicht wurde, bestätigt dies. Er zeigt aber auch auf, dass wir begonnene Reformen nicht einfach zurückschrauben dürfen, wenn wir unseren Erfolg nicht gefährden wollen. Vielmehr bestätigt dies, dass Reformen greifen und wir an dieser Stelle nicht stehen bleiben dürfen.

Bernhard Brinkmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003057, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Obwohl wir uns heute mit dem Jahr - genauer gesagt dem Haushaltsjahr 2006 - befassen, sind die Bemerkungen des Bundesrechnungshofes und die Beratungen des Rechnungsprüfungsausschusses hierzu keineswegs rückwärtsgewandt, geht es doch darum, Maßnahmen einzuleiten, die in der Zukunft ihre positive Wirkung entfalten sollen. Nach der entsprechenden Beschlussfassung im Ausschuss wird es in einer Vielzahl von Fällen dazu kommen, dass Organisationsstrukturen verbessert, Konzepte überprüft, Verfahren gestrafft und überarbeitet, Ansatzpunkte der Fachaufsicht geschärft, finanzielle Rückforderungen Zu Protokoll gegebene Reden Bernhard Brinkmann ({0}) des Bundes eingeleitet oder Arbeitsgruppen zur Lösung komplexer Sachverhalte eingerichtet werden. Neben solchen konkreten Einzelfällen, die ein Ressort oder auch das Handeln einer bestimmten Behörde betreffen, finden sich stets übergreifende Aspekte. In seinen aktuellen Bemerkungen hat der Bundesrechnungshof erneut die Verpflichtung zu angemessenen Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen für alle finanzwirksamen Maßnahmen hervorgehoben. Diese Verpflichtung folgt aus dem Gebot der Wirtschaftlichkeit, das mit seiner Nennung in Art. 114 Abs. 2 des Grundgesetzes Verfassungsrang hat. Hier haben die Prüfungen manchen Mangel ans Licht gebracht. Die Beratung im Ausschuss hat jedoch nicht nur zu dem Ergebnis geführt, dass alle Bundesministerien aufgefordert werden, für noch sachgerechtere und nachvollziehbarere Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen bezüglich jeder finanzwirksamen Maßnahme in ihrem Geschäftsbereich zu sorgen. Vielmehr wurde auch festgestellt, dass Mängel bei den Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen ihre Ursachen auch darin haben, dass Regelungen und Anforderungen unklar, zu kompliziert, nicht eingeübt oder schlicht nicht bekannt sind. Daher ist die Bundesregierung aufgefordert, hier ressortübergreifend Verbesserungsansätze aufzuzeigen. Dies können Eckpunkte im Verfahren, eine verbesserte Methodik oder auch Überlegungen zu einem IT-gestützten Verfahren sein. Gefordert sind in diesem Kontext betriebswirtschaftliche Qualifikationen in der Verwaltung und ein gezielter Einsatz gebündelten Wissens über Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen. Die Beschlüsse, die im Rechnungsprüfungsausschuss zu diesem Punkt und auch in der weit überwiegenden Zahl der übrigen Fälle gefasst wurden, erfolgten einvernehmlich. Auch wenn in Einzelfällen - insbesondere wenn es um gesetzgeberische Maßnahmen ging, die der Bundesrechnungshof angeregt hatte - politische Grundsatzpositionen der Fraktionen ein solches Einvernehmen nicht erlaubten, ist doch die vielfach erzielte Einigkeit ein Beleg dafür, dass hier tatsächlich parlamentarische Kontrolle des Regierungshandelns stattfindet. Von übergreifender Bedeutung ist stets auch die Analyse der finanzwirtschaftlichen Entwicklung, die die Bemerkungen des Bundesrechnungshofes liefern. Positiv ist hier zunächst der weitere Rückgang der Nettokreditaufnahme zu verzeichnen. Im Rahmen der laufenden Finanzplanung soll - und an diesem Ziel gilt es festzuhalten - bis 2011 erstmals wieder ein ausgeglichener Bundeshaushalt ohne weitere neue Schulden erreicht werden. Auch im Hinblick auf die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion entwickeln sich die Kennzahlen positiv. Die Quote für das Verhältnis zwischen dem öffentlichen Defizit und dem Bruttoinlandsprodukt lag mit 1,6 Prozent erstmals seit 2001 wieder deutlich unter dem Referenzwert von 3 Prozent. Das Verhältnis zwischen dem öffentlichen Schuldenstand und dem Bruttoinlandsprodukt liegt jedoch - obwohl ebenfalls rückläufig - mit 66 Prozent immer noch über dem Referenzwert von 60 Prozent. Diese weitgehend positive Entwicklung kann allerdings über die weiterhin bestehenden strukturellen Probleme des Haushalts nicht hinwegtäuschen. Die konsumtiven Ausgaben übertreffen die Investitionen um ein Mehrfaches. Sozial- und Zinsausgaben sind dabei die beiden größten Ausgabenblöcke. Daher gibt es insbesondere im Bereich der konsumtiven Ausgaben zum Konsolidierungskurs der großen Koalition keine Alternative. 2006 lag die Nettokreditaufnahme immer noch um 5,2 Milliarden Euro über den Investitionsausgaben von 22,7 Milliarden Euro. Dafür lassen sich gute Gründe benennen, die dies als zur Abwehr einer drohenden Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts notwendig erscheinen lassen. Das ist allerdings auch ein weiterer Beleg dafür, dass die Kreditbegrenzungsregel des Grundgesetzes in der Praxis weitgehend wirkungslos bleibt. Dieser Umstand führt unmittelbar zur Arbeit der Föderalismuskommission, die einheitliche Schuldengrenzen für Bund und Länder vorschlagen wird. Nur stringente und überprüfbare Anforderungen werden eine Ausweitung der Neuverschuldung in der Zukunft wirksam eindämmen können. Die von Peter Struck und Ministerpräsident Günther Oettinger vorgelegten Eckpunkte weisen hier in die richtige Richtung. Allerdings sind noch zahlreiche Fragen offen, und die Zeit drängt, um in der laufenden Wahlperiode zu einem Ergebnis zu gelangen. Die Arbeit des Bundesrechnungshofes allein kann eine Konsolidierung des Bundeshaushalts nicht herbeiführen. Auch wenn alle seine Vorschläge für Minderausgaben und Mehreinnahmen realisiert werden könnten, ließen sich Verbesserungen in einer Größenordnung von lediglich 2 bis 3 Milliarden Euro realisieren. Bei den strukturellen Problemen, die weit größer sind, kann der Bundesrechnungshof nur auf die Probleme hinweisen. Die Beratungen in der Föderalismuskommission und im Rechnungsprüfungsausschuss berühren einander auch in einem weiteren zentralen Punkt: Der Bundesrechnungshof stellt bei seinen Prüfungen im Bereich der Allgemeinen Finanzverwaltung immer wieder Mängel und Herausforderungen in der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern bei der Steuererhebung fest. Die Hintergründe sind vielfältig. Kern der Problematik sind jedoch die ausgesprochen verflochtenen Strukturen zwischen Bund und Ländern. Die Länder vollziehen hier die entsprechenden Bundesgesetze. Sie sind auch für den Behördenaufbau und das Personal zuständig und müssen die entstehenden Kosten tragen. Allgemeine Verwaltungsvorschriften kann der Bund nur mit Zustimmung des Bundesrates erlassen. Nach der ersten Stufe der Föderalismusreform ist immerhin klargestellt, dass das Bundesministerium der Finanzen allgemeine fachliche Anweisungen, gemeinsame Vollzugsziele, einheitliche Verwaltungsgrundsätze und Vorgaben zum Einsatz von IT-Programmen erlassen kann. Dies gilt jedoch nur, wenn nicht die Mehrheit der Länder widerspricht. Dadurch sind auch weiterhin komplizierte und langwierige Abstimmungsprozesse erforderlich. Die Länder vertreten dabei - berechtigterweise ihre eigenen Interessen. Der gegenwärtige Länderfinanzausgleich veranlasst sowohl Geber- als auch Nehmerländer, jeweils die eigene Steuerkraft zu schonen. Durch den Vollzug der Steuergesetze soll die Wirtschaft des eigenen Landes möglichst gefördert werden. Sparzwänge haben unter anderem in den Zu Protokoll gegebene Reden Bernhard Brinkmann ({1}) Finanzämtern dazu geführt, dass der Personalbestand seit 2000 um fast 13 Prozent reduziert worden ist, obwohl Aufgaben und Anforderungen nicht gesunken sind. Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich, dass in den Eckpunkten zur zweiten Stufe der Föderalismusreform die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern angegangen wird. Wenn es hier gelingt, Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung klar auf die einzelnen Ebenen zu verteilen, verbindliche sowie einheitliche Standards zu etablieren und Doppelarbeit zu vermeiden, kann bereits eine Menge erreicht werden. Weitergehende Empfehlungen wie die nach der Einrichtung einer Bundessteuerverwaltung beinhalten zwar die Aussicht auf weit bedeutendere Verbesserungen und sollten daher für die weitere Diskussion im Auge bleiben. Eine - auch nur mittelfristige - Umsetzung dieser Pläne würde jedoch weitreichende Einschnitte und Umgestaltungen der etablierten Strukturen erfordern. Wir sollten daher so zeitnah wie möglich umsetzen, was machbar und sachdienlich ist. Denjenigen, die das als Stückwerk kritisieren, sei gesagt, dass große Konzepte, deren Umsetzung dann auf halbem Wege stecken bleiben, weniger bewirken, als kleinere aber in naher Zukunft zu erreichende Fortschritte. Lassen Sie mich abschließend noch festhalten, dass der Bundesrechnungshof bei seiner Prüfung der Jahresrechnung 2006 keine für die Entlastung wesentlichen Abweichungen festgestellt hat und Einnahmen und Ausgaben fast ohne Ausnahme ordnungsgemäß belegt waren. Die Bundesregierung hat zudem versichert, sie werde die gefassten Beschlüsse und die Anregungen des Bundesrechnungshofes mit allen Ressorts gemeinsam umsetzen. Der Rechnungsprüfungsausschuss wird diesen Prozess verfolgen und begleiten. Einer Entlastung der Bundesregierung steht daher nichts entgegen. Ich bitte um Ihre Zustimmung und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Claudia Winterstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Bundesetat für das Jahr 2006 ist ein Sinnbild der grundsätzlich verfehlten Haushaltspolitik der Großen Koalition. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Aufgrund steigender Steuereinnahmen lagen die Einnahmen mit 233 Milliarden Euro fast 10 Milliarden höher als in der Planung veranschlagt. Trotz dieser positiven Entwicklung nahm die Regierung immer noch fast 28 Milliarden Euro neue Schulden auf - und verstieß damit erneut gegen das Grundgesetz. Die Summe der Neuverschuldung darf nach der Verfassung nicht höher als die Ausgaben für Investition liegen. 2006 wurden 22,7 Milliarden Euro investiert - die Neuverschuldung lag also mehr als 5 Milliarden Euro über dem erlaubten Wert. 2006 war damit das fünfte Jahr in Folge, in dem diese Regelkreditgrenze des Art. 115 des Grundgesetzes überschritten wurde! Eigentlich ein Fall für das Bundesverfassungsgericht. Das Gericht hat schon in seiner Entscheidung zur Klage von FDP und Union zum Haushalt 2004 festgestellt: „An der Revisionsbedürftigkeit der geltenden verfassungsrechtlichen Regelungen ist gegenwärtig kaum noch zu zweifeln“: In der Tat hat sich der Art. 115 des Grundgesetzes als völlig zahnloser Tiger zur Begrenzung der Neuverschuldung erwiesen. Die Folge: Der öffentliche Schuldenberg wächst und wächst. Aktuell sind die öffentlichen Haushalte mit rund 1,5 Billionen verschuldet. Das bedeutet, dass jeder Bundesbürger, vom Baby bis zum Greis, mit über 18 000 Euro in der Kreide steht. Diese Schulden, die wir heute aufbauen, müssen zukünftige Generationen über noch höhere Steuern abbezahlen. Schon jetzt werden im Bundeshaushalt über 40 Milliarden Euro nur für Zinszahlungen ausgegeben. Das ist nach den Sozialausgaben der zweitgrößte Ausgabenposten. Diese ständig steigenden Lasten aus der Vergangenheit nehmen uns den Spielraum für Investitionen in die Zukunft, für dringend benötigte Investitionen in Bildung, Infrastruktur oder Klimaschutz. Angesichts dieser Situation ist ein radikales Umdenken in der Schuldenpolitik nötig. Wir müssen endlich aufhören, unsere Ausgaben über immer neue Schulden zu finanzieren. Die Kreditaufnahme darf nicht länger ein normales Instrument zur Finanzierung der Staatsausgaben sein. Die FDP fordert ein striktes Verbot der Neuverschuldung - im Grundgesetz festgeschrieben. So schaffen wir eine klare und unmissverständliche Regel: Der Staat darf nur das ausgeben, was er einnimmt! Umso enttäuschender ist das, was die beiden Vorsitzenden der Föderalismuskommission am Montag vorgelegt haben. Schuldenmachen soll bis zu einem bestimmten Grenzwert der Wirtschaftsleistung erlaubt bleiben. Das heißt: Bessere Wirtschaftsleistung gleich höhere Schulden. Ein völlig untauglicher Vorschlag. Auch für den Staat gilt der alte Satz: Spare in der Zeit, so hast du in der Not. Übrigens: Der von Finanzminister Steinbrück vorgeschlagene Wert von 0,5 Prozent der Wirtschaftsleistung würde bedeuten, dass der Bund immer noch über 14 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen dürfte - ein Fortschritt ist das also nicht. Einen endgültigen Vorschlag soll nun eine Arbeitsgruppe erarbeiten, ganz nach dem Motto: „Wenn ich nicht mehr weiterweiß, dann gründ’ ich einen Arbeitskreis“. Hier zeigt sich, dass Union und SPD kaum mehr die Kraft haben, wichtige Entscheidungen für unser Land gemeinsam zu treffen. Noch aber kann mit Mut und Weitsicht eine Reform für mehr Generationengerechtigkeit geschaffen werden. Die Kommission muss jetzt möglichst schnell einen Gesetzentwurf vorbereiten, in den das von der FDP geforderte Verschuldungsverbot eingearbeitet wird. Nicht nur bei der Verschuldung brauchen wir dringend einen Mentalitätswechsel, auch in der Frage der sparsamen Verwendung von Steuergeldern gibt es noch viel zu tun. In seinen Bemerkungen nennt der Bundesrechnungshof eine Reihe von Beispielen von teilweise verantwortungsloser Geldverschwendung zulasten des Steuerzahlers. 85 Prozent der vom Rechnungshof geprüften Behörden haben keine Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen angestellt, bevor Gelder für Projekte ausgegeben wurden. Die Folge: Überflüssige Millionenausgaben in allen Bereichen. Die Regierung muss Verfahren entwickeln, um die Wirtschaftlichkeit ihrer Ausgaben streng zu Zu Protokoll gegebene Reden überprüfen. Es handelt sich schließlich um das Geld der Steuerzahler. Sparsamkeit bei den Ausgaben und eine grundlegende Reform der Einnahmen - das sind die Eckpfeiler einer soliden Haushaltspolitik.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Bundesregierung ist nicht willens, eine ordnungsgemäße Haushaltsführung zu gewährleisten. Die Bundesregierung organisiert ihre Arbeit nicht effizient und neigt zur Verschwendung von Steuermitteln. Dafür einige Beispiele: Im November 2006 hat der Bundesrechnungshof festgestellt, dass Einkunftsmillionäre in einigen Bundesländern nur alle 30 Jahre geprüft werden. Warum? Sind die Prüfungen so unergiebig? Nein, im Gegenteil. Jede Prüfung bringt im Durchschnitt 135 000 Euro in die Steuerkassen. Man sollte meinen, das wäre für den Bundesfinanzminister und die Länderfinanzminister Anlass, die Prüfungsanstrengungen zu verstärken. Doch weit gefehlt. Der Bundesfinanzminister fürchtete angeblich mehr Bürokratie und lehnte jede Veränderung der Prüfungspraxis ab. Wenn man sich vorstellt, welche bürokratischen Monster diese Regierung hervorgebracht hat, dann ist diese Position schon mehr als anrüchig. Besonders leichtfertig ist die Bundesregierung gegenüber den Wünschen der Bundeswehr. Da ist fast alles möglich, was gegen den gesunden Menschenverstand verstößt. So wurden zum Beispiel Schulungshubschrauber beschafft, die für die Schulung nicht verwendbar sind. Es wurde ein Verwundetentransportsystem gekauft, das für Lufttransporte nicht einsatzfähig ist. Verantwortliche für dieses Desaster konnte und wollte die Bundesregierung nicht ausmachen. Verschwendung blieb wieder folgenlos. Bei manchen Vorgängen kann man einfach nicht glauben, dass nur Verschwendung dahintersteckt. So wurden zum Beispiel für die Abfertigung von Lufttransporten nach Afghanistan von der Bundeswehr in den Jahren 2005 und 2006 insgesamt 2 Millionen Euro an gewerbliche Anbieter gezahlt, obwohl ihre eigene Luftumschlagskapazitäten seit Jahren nicht ausgelastet sind. Der Witz ist, dass die Bundeswehr gar nicht weiß, welchen Bedarf sie an Luftumschlagsleistungen hat. Sie hat nicht einmal ein Konzept, wie die Luftumschlagleistungen mit eigenen und gewerblichen Kapazitäten gedeckt werden können. Das ist unglaublich. Doch nicht nur die Bundeswehr ist verschwenderisch im Umgang mit Steuermitteln. Der Bund gab 29 Millionen Euro für das Kunst- und Kulturprogramm zur Fußballweltmeisterschaft aus. Dafür wurden viele Vereinbarungen geschlossen. Unverständlich ist, dass für 20 nur mündlich abgeschlossene Vereinbarungen eine genaue Dokumentation fehlt. Jeder Vereinskassierer muss für jeden Bleistift, den er kauft, eine Dokumentation anlegen, doch wenn es um 29 Millionen Euro geht, da kann man schon mal ungenaue mündliche Absprachen treffen. Nichts gegen Fußball - alle hatten viel Spaß während der Fußball-WM - doch nach der Party müssen die Rechnungen trotzdem stimmen. Das waren nur einige kleine Beispiele, die exemplarisch zeigen, wie gleichgültig und verschwenderisch die Bundesregierung mit Steuermitteln umgeht. Die Liste solcher Beispiele ist lang und es ist nicht das Bemühen bei der Bundesregierung zu erkennen, diese Liste abzuarbeiten. Die Linke wird deshalb einer Entlastung der Bundesregierung nicht zustimmen.

Alexander Bonde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003509, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Haushaltsausschuss und der Rechnungsprüfungs- ausschuss haben der Bundesregierung für den Bundes- haushalt 2006 die Entlastung erteilt. Formal betrachtet, also nach Bewertung der Ordnungsmäßigkeit der Haus- halts- und Wirtschaftsführung, ist die Entlastung in Ord- nung. Die politisch-inhaltliche Bewertung des Zahlenwerks Haushalt 2006 allerdings muss deutlich kritischer ausfal- len. Die Große Koalition hat mit dem Bundeshaushalt 2006 eine wichtige Chance vertan. Sie hat die positive wirtschaftliche Entwicklung und die steigenden Steuer- einnahmen nicht für eine haushaltspolitische Konsolidie- rungspolitik genutzt. Vor einem Jahr kritisierte der Kollege Fuchtel an die- ser Stelle: „Aus Sicht unserer Enkel dürfte das Haushalts- ergebnis 2005 später einmal als Beitrag zur Belastung der künftigen Generationen eingeordnet werden.“ Rück- blickend gewinnt man den Eindruck, dass dies keine Kri- tik, sondern eine Ankündigung für den Haushalt 2006 war. Denn das Ergebnis des ersten von der Großen Ko- alition verantworteten Haushalts schränkt den Gestal- tungsspielraum zukünftiger Generationen erheblich ein. Die Große Koalition ist mit großen Ankündigungen in der Haushaltspolitik angetreten, doch sie hat die haushalts- politischen Risiken in diesem Bundeshaushalt nicht ent- schärft. Sie verlagert die Risiken vielmehr in die Zukunft. Ausgerechnet in einem Jahr mit positiver Wirtschafts- und Steuerentwicklung lag die Nettokreditaufnahme um 5 Milliarden Euro über den Investitionsausgaben. Der Bundesrechnungshof bezeichnet dies in seinem Bericht zum Haushaltsergebnis 2006 als „Beleg für eine weitge- hende Unwirksamkeit der verfassungsrechtlichen Kredit- begrenzungsregel“. Dieser Satz sollte uns zu denken ge- ben. Eine ehrliche Betrachtung des Haushalts 2006 zeigt: Die 3 Prozentpunkte Erhöhung des allgemeinen Umsatz- steuersatzes und des Regelsatzes der Versicherungsteuer im Haushaltsjahr 2006 sind nahezu komplett in Haus- haltslöcher geflossen. Die Absenkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung wurde durch beschlossene Bei- tragssatzsteigerungen und erhebliche Beitragssatzrisiken in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung wieder aufgezehrt. Diese Politik einer fehlenden Konso- lidierung im Haushalt 2006, einer massiven Ausweitung der Nettokreditaufnahme, einer Mehrwertsteuererhö- hung, die Haushaltslöcher stopft, und eines zu erwarten- den Nullsummenspiels bei den Sozialversicherungsbei- trägen ist keineswegs nachhaltig und zukunftsweisend. Daran ändert auch nichts, dass die Große Koalition ihre Haushalts- und Finanzpolitik regelmäßig als zukunfts- weisend zu verkaufen versucht. Zu Protokoll gegebene Reden Durch gezielte Anstrengungen, konkrete Konsolidie- rung und Haushaltsdisziplin hätten sich durch verschie- dene Maßnahmen in jedem Ministerium in der Summe große Etatverbesserungen realisieren lassen. Kurzfristig umsetzbar im Haushaltjahr 2006 waren Ausgabenkür- zungen in einer Höhe von rund 2,3 Milliarden Euro. Durch den Abbau von Steuervergünstigungen und Sub- ventionen wäre darüber hinaus eine kurzfristige Verbes- serung des Haushaltes 2006 um weitere 2 Milliarden Euro möglich gewesen, aufwachsend auf rund 4,5 Mil- liarden Euro in kommenden Haushaltsjahren. Das durch die Grüne Bundestagsfraktion vorgelegte Zukunftshaus- haltsgesetz unterbreitet der Haushaltspolitik klare Vor- schläge, wie durch konjunkturgerechtes Wirtschaften über einen Konjunkturzyklus hinweg ein Haushaltsaus- gleich möglich ist. Die Lektüre dieses Gesetzentwurfs sei den Politikern der Großen Koalition noch einmal wärms- tens empfohlen. Politisch bequemer für die Koalition ist es aber augenscheinlich, sich am Strohfeuer eines durch unnötig hohe Neuverschuldung positiv erscheinenden Haushalts 2006 zu wärmen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Haus- haltsausschusses auf der Drucksache 16/9640. Unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung schlägt der Haushaltsausschuss die Erteilung der Entlastung für das Haushaltsjahr 2006 vor. Sie finden sie auf den Drucksachen 16/4995 und 16/7100. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Möchte sich hier jemand der Stimme enthalten? - Dann ist das mit großer Mehrheit des Hauses so beschlossen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Haushaltsausschuss, die Bundesregierung aufzufordern, a) bei der Aufstellung und Ausführung der Bundeshaus- haltspläne die Feststellung des Haushaltsausschusses zu den Bemerkungen des Bundesrechnungshofes zu befol- gen, b) Maßnahmen zur Steigerung der Wirtschaftlich- keit unter Berücksichtigung der Entscheidungen des Ausschusses einzuleiten oder fortzuführen und c) die Berichtspflichten fristgerecht zu erfüllen, damit eine zeitnahe Verwertung der Ergebnisse bei den Haushaltsberatungen gewährleistet ist. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Stimmt jemand dagegen? - Möchte sich jemand der Stimme enthalten? - Dann ist bei Stimmenthaltung der Faktion Die Linke diese Beschlussempfehlung im Übrigen mit den Stimmen der anwesenden Kolleginnen und Kollegen angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk, Priska Hinz ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sorgerechtsregelung für Nichtverheiratete reformieren - Drucksache 16/9361 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Dazu stelle ich Einvernehmen fest. Hier handelt es sich um die Beiträge der Kolleginnen und Kollegen Ute Granold, Christine Lambrecht, Sabine Leutheusser- Schnarrenberger, Jörn Wunderlich, Ekin Deligöz und Bundesministerin Brigitte Zypries.1) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9361 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich vermute, Sie sind damit einverstanden. - Das ist der Fall. Dann haben wir so beschlossen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 20 a und 20 b: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette Hübinger, Ilse Aigner, Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Gesine Multhaupt, Jörg Tauss, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Qualitätssicherung im Wissenschaftssystem durch eine differenzierte Gleichstellungspolitik vorantreiben - Drucksache 16/9756 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Frauen auf dem Sprung in die Wissenschaftselite - Drucksache 16/9604 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wie die Tagesordnung bereits ausweist, werden die Reden zu Protokoll genommen, und zwar die Reden von Anette Hübinger, Gesine Multhaupt, Cornelia Pieper, Dr. Petra Sitte und Krista Sager.

Anette Hübinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die zum Thema „Frauenförderung im deutschen Wis- senschaftssystem“ vorliegenden Anträge von allen im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen zeigen mir Folgendes: Erstens, ich nehme erfreut zur Kenntnis, dass ausnahmslos alle Fraktionen dieses Hauses die Wichtig- keit des Themas erkannt haben und durch Ihre Anträge Wege aufzeigen, wie die Förderung von Frauen in der 1) Anlage 6 Wissenschaft zukünftig verbessert werden kann. Zweitens, auf Basis des umfangreichen vorliegenden Datenmaterials ist die Bewertung des Ist-Zustandes in dieser Frage vonseiten der verschiedenen Fraktionen des Deutschen Bundestages nahezu deckungsgleich. Drittens, die Rückschlüsse in Bezug auf das bisher Erreichte und die zukünftig notwendigen Maßnahmen zur Verbesserung der Repräsentanz von Frauen im deutschen Wissenschaftssystem sind dagegen in den wichtigsten Punkten diametral verschieden. Grundsätzlich muss anerkannt werden, dass die kontinuierlichen Bemühungen von Bund, Ländern, Hochschulen sowie Wissenschaftsorganisationen zu messbaren Erfolgen in Bezug auf die Teilhabe von Frauen in verschiedenen akademischen Qualifikationsstufen geführt haben. Besonders erfreulich ist, dass heute unter den Studierenden Frauen und Männer gleich stark vertreten sind. Diese Erkenntnis, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, vermisse ich in allen vorliegenden Anträgen der Oppositionsparteien. Trotz der bisherigen Erfolge ist es aber unstrittig, dass aus dem vorliegenden statistischen Zahlenmaterial zum Ist-Zustand der Beteiligung von Frauen in der Wissenschaft eindeutig Defizite erkennbar sind. Zu Recht wird kritisiert, dass Wissenschaftlerinnen an bestimmten Stellen das Wissenschaftssystem verlassen, leaky pipeline. Des Weiteren kann es uns nicht zufriedenstellen, dass sich zu wenige junge Frauen für einen technologisch bzw. naturwissenschaftlich ausgerichteten Studiengang entscheiden. Allein diese beiden Befunde zeigen deutlich: Die zu bewältigenden Herausforderungen bei der vorliegenden Thematik sind erstens vielfältig und zweitens nur durch eine differenzierte, breit gefächerte Gleichstellungspolitik zu meistern. Diese Auffassung spiegelt sich im Antrag der Großen Koalition wider. Zu kurz greift meines Erachtens in diesem Zusammenhang das immer wieder ins Spiel gebrachte „Allheilmittel“ der Quote. Dem breiten Problemspektrum in Fragen der Gleichstellung im Wissenschaftssystem werden solche Zwangsregelungen in keinster Weise gerecht! Nichts anderes als eine Quote ist auch die Forderung nach der Einführung des sogenannten Kaskadenmodells. Wenn als Bezugsgröße bei der Besetzung von Stellen jeweils mindestens der Anteil von Frauen auf der direkt vorhergehenden Qualifikationsstufe dient, dann ist dies zwar eine flexiblere Quote als es vielleicht noch in den 70er-Jahren diskutiert wurde, aber es bleibt eine Quote unter dem Deckmantel einer neuen Bezeichnung. Dass vonseiten der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen vehement das Kaskadenmodell gefordert wird, überrascht mich nicht; dass allerdings die FDP in die gleichen Denkmuster verfällt, überrascht nicht nur - es enttäuscht. In ihren Anträgen nehmen alle Fraktionen Bezug auf das Kaskadenmodell. Es kommt allerdings entscheidend darauf an - und dies betone ich ausdrücklich - in welcher Form dies geschieht. Die CDU/CSU-Fraktion hält die flächendeckende Einführung des Kaskadenmodells für den falschen Weg. Allerdings kann die Orientierung am Grundprinzip des Kaskadenmodells, zum Beispiel bei Selbstverpflichtungen, sinnvoll sein, und dies befürworten wir. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wann immer Sie an das „Allheilmittel“ Quote oder die flächendeckende Einführung des Kaskadenmodells denken, erinnern Sie sich bitte an die Expertenanhörung, die vom Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages zum Thema „Frauen in der Wissenschaft und Gender in der Forschung“ im Februar 2008 durchgeführt wurde. Bei den Stellungnahmen zum Kaskadenmodell plädierte nur eine Minderheit der eingeladenen Experten für die flächendeckende Einführung. Auch unter den Wissenschaftlerinnen selbst ist das Modell bzw. sind Quotenregelungen mehr als umstritten. Sogar der Vorsitzende des Wissenschaftsrates Professor Dr. Peter Strohschneider, ein Befürworter des Kaskadenmodells, merkte in der Anhörung an: Erst, wenn zukünftig keine signifikanten Verbesserungen durch den Einsatz von anreizorientierten Instrumenten erreicht werden können, sollte auf das Kaskadenmodell zurückgegriffen werden. Es stehen uns noch genügend Alternativen zur Verfügung, welche sich auch in den verschiedenen Anträgen wiederfinden. Bund, Länder, Hochschulen sowie Wissenschaftseinrichtungen stellen sich heute der Verantwortung, alle Potenziale zu nutzen, um in Zukunft im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Frauen zählen in diesem Zusammenhang zu den wichtigsten und bisher noch nicht ausgeschöpften Ressourcen unseres Landes. Als potenzielle Wissenschaftlerinnen bzw. Forscherinnen stellen sie einen wichtigen Wettbewerbs- und Standortfaktor dar. Vonseiten des Bundes sind viele erfolgversprechende Maßnahmen zur Frauenförderung in der jüngsten Vergangenheit auf den Weg gebracht worden, um den Herausforderungen einer globalisierten Welt Rechnung zu tragen. Der Bund nimmt trotz des neuen Aufgabenzuschnitts im Bildungsbereich infolge der Föderalismusreform I seine Verantwortung in Fragen der Frauenförderung im Wissenschaftssystem auch weiterhin verantwortungsvoll wahr und tritt als wichtiger Impulsgeber auf. Bestes und jüngstes Beispiel dafür ist der von Bildungsministerin Dr. Annette Schavan ins Leben gerufene nationale Pakt zur vermehrten Gewinnung von Frauen für Berufe, welche mit Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, die sogenannten MINT-Berufe, zu tun haben. In diesen Bereichen, die für die Zukunft unseres Landes von entscheidender Bedeutung sein werden, fehlen Frauen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen uns nicht von den positiven Schlagzeilen aus der Presse der vergangenen Woche in Bezug auf die zunehmenden Habilitationen von Frauen täuschen lassen, wonach 2007 fast jede vierte Habilitation von einer Frau erlangt wurde. Denn gerade im Bereich der Naturwissenschaften gibt es noch viel zu tun. In den gleichen Meldungen war nämlich auch zu vernehmen, dass beispielsweise in den Naturwissenschaften nur 16 Prozent Frauen habilitiert wurden. Die in den vergangenen Jahrzehnten implementierten Gleichstellungsinstrumente im deutschen Wissenschaftssystem, ergänzt durch die Maßnahmen der jetzigen Zu Protokoll gegebene Reden Bundesregierung in Form des Professorinnenprogramms und der Initiative „Power für Gründerinnen“, bieten eine gute Grundlage für die Weiterentwicklung der Gleichstellungsbemühungen in Wissenschaft und Forschung. Darauf kann aufgebaut werden, und an vielfältigen Ansatzpunkten mangelt es nicht. So fordern wir, zukünftig darauf hinzuwirken, die Vorbildfunktion von Frauen in Spitzenpositionen weiter zu stärken, Förderprogramme zur Steigerung des Frauenanteils zu entwickeln, Forschungsund Institutionenförderung an verbindliche Zielvereinbarungen zu binden, die Anonymisierung von Beurteilungsverfahren, Double-blind-Verfahren, verstärkt einzusetzen, auf verlässliche wissenschaftliche Karrierewege hinzuwirken, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern sowie Coaching- und Mentoringprogramme zu unterstützen. Mit den angestoßenen Maßnahmen der Bundesregierung befinden wir uns auf dem richtigen Weg. Es ist vollkommen richtig, auf anreizorientierte Programme, unterstützende Maßnahmen - wie auf den Kinderbetreuungszuschlag im Rahmen der BAföG-Novelle -, den flankierenden Ausbau der Kinderbetreuung und auf Kooperationen mit den deutschen Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen in Bezug auf konkrete Maßnahmen zur Frauenförderung zu setzen. Wir müssen uns bewusst sein, dass die Förderung von Frauen in Wissenschaft und Forschung als fortlaufender Prozess zu begreifen ist, der differenzierter Antworten bedarf. Die Ursachen der Marginalisierung von Frauen im Wissenschaftssystem sind zahlreich und komplex. Die Antworten der Großen Koalition auf diese Fragestellungen sind deswegen breit gefächert und stehen für eine differenzierte Gleichstellungspolitik, welche die Präsenz von Frauen in unterschiedlichsten Qualifikationsstufen im deutschen Wissenschaftssystem weiter steigern wird.

Gesine Multhaupt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003600, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die wohl bekannteste Wissenschaftlerin auf dem Gebiet der Physik und Chemie könnte heute quasi Patin für viele Frauen in der Wissenschaft stehen - Marie Curie. Sie trat im Mai vor genau 100 Jahren einen Lehrstuhl für Physik an der Sorbonne an. Bis heute ist sie die einzige Frau, der ein Nobelpreis in Physik und Chemie verliehen wurde. Darüber hinaus hat sie trotz ihrer Forschungsarbeit zwei Kinder großgezogen. Bei dieser Lebensleistung lohnt es sich ganz besonders zu überlegen, wie wir heute mehr Frauen in Spitzenpositionen in Wissenschaft und Forschung bringen können. Frauen haben im deutschen Wissenschaftssystem nicht die gleichen Chancen wie Männer. Sie sind deutlich unterrepräsentiert und wir nutzen die Potenziale hochqualifizierter Frauen nicht genügend. Unser Ziel ist klar, wir brauchen mehr Frauen in der Wissenschaft und wir wollen, dass ihre Talente optimal gefördert werden und zum Tragen kommen. Damit erreichen wir Chancengleichheit und stärken die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wissenschaft durch neue Ideen, neue Methoden und Lösungsansätze. Erfreulicherweise ist das Thema Chancengleichheit für Frauen in der Wissenschaft mittlerweile im Bewusstsein der meisten Verantwortlichen in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft angekommen. Wir Sozialdemokraten sind stolz darauf, dass wir in unserer zehnjährigen Regierungsbeteiligung viele Initiativen und Gesetzesänderungen, von denen Frauen in der Wissenschaft profitieren, auf den Weg gebracht haben. An einigen Initiativen zeigt sich, dass wir gehandelt haben: die Exzellenzinitiative, der Pakt für Forschung und Innovation, das Professorinnenprogramm, die verbesserte Kinderbetreuung, das Elterngeld sowie Änderungen beim BAföG und bei der Umstellung der Stipendienförderung bei Studierenden mit Kindern. Hier gibt es gute Ansätze für mehr Chancengleichheit in der Wissenschaft. Dennoch sind die Ergebnisse eindeutig nicht zufriedenstellend: Auf der einen Seite sind wir stolz darauf, dass die Barrieren für den Zugang junger Frauen zu einer akademischen Ausbildung fast abgebaut sind. Nahezu die Hälfte der Erstimmatrikulierten und über die Hälfte, nämlich 52 Prozent, der Erstabsolventen sind Frauen. Auf der anderen Seite nimmt der Anteil der Frauen im weiteren Qualifikationsprozess jedoch dramatisch ab. In der höchsten Besoldungsstufe der Professuren sind Frauen nur noch mit 11 Prozent vertreten. Je höher die Qualifikation, desto weniger Frauen sind also vertreten. Die Zahlen sind eindeutig und Deutschland ist damit eines der Schlusslichter in Fragen der Gleichstellung im Wissenschaftssystem in Europa. Unter den Experten - und unter den meisten Politikerinnen und Politikern - ist daher völlig unstrittig, dass wir im Wissenschaftssystem mehr Chancengleichheit brauchen. Die Sachverständigen stellten während der Anhörung am 18. Februar eindrucksvoll dar, dass die bisherigen Maßnahmen nicht ausreichen und noch sehr viel Handlungsbedarf besteht. Um es mit den Worten des Vorsitzenden des Wissenschaftsrates, Professor Strohschneider, zu sagen: „Wenn man so weitermacht, dann sind wir nicht 2040 bei einem 50 : 50-Verhältnis, sondern erst 2090.“ Wir Sozialdemokraten werden dazu beitragen, dass Professor Strohschneider in einigen Jahren bereits sagen wird, Politik und Wissenschaftseinrichtungen haben aufs Gaspedal gedrückt und endlich genügend Frauen auf die Lehrstühle gesetzt. Damit stellen wir uns den großen Herausforderungen. Wir werden unsere Anstrengungen verstärken, damit der Anteil der Frauen in der Wissenschaft auf allen Qualitätsstufen und insbesondere in den Frauen-untypischen Fachbereichen deutlich wachsen wird. Die Experten weisen insbesondere darauf hin, dass es eine ganze Reihe von Hindernissen gibt, die dazu führen, dass Frauen aus dem Wissenschaftsbetrieb aussteigen. Diese Leckstellen müssen wir schließen. Ich bin froh, dass es unserer Fraktion gelungen ist, gemeinsam mit der Union ein entsprechendes Maßnahmenpaket auf die Füße zu stellen, um die Karrierehemmnisse für junge Frauen aus dem Weg zu räumen. Es gilt, die Barrieren umfassender in den Blick zu nehmen. Die - immer noch - unzureichende Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist da nur ein Problem, welches wir angehen werden. So wollen wir beispielsweise Änderungen bei Beurteilungs- und Rekrutierungsverfahren, die bisher dazu geführt haben, dass Zu Protokoll gegebene Reden Männer vor allem ihre Geschlechtsgenossen auf deren Karriereweg unterstützen. Ich stimme den Gegnern einer Quotenregelung zu, wenn sie sagen, dass exzellente Wissenschaft auf Leistung und nicht auf Geschlecht beruhe. Fakt ist aber, dass bei Einstellungs- und Beurteilungsverfahren genau das stattfindet, eine Auslese aufgrund des Geschlechts meist zugunsten der Männer. Notwendig ist daher ein gerechteres Verfahren, welches wirklich die Leistung bewertet. Ein weiteres Hemmnis sind die noch an vielen Stellen vorhandenen Altersgrenzen. Heute noch an Altersgrenzen festzuhalten ist nicht mehr zeitgemäß. Wenn wir in anderen Zusammenhängen von „Lebenslangem Lernen“ sprechen, dann müssen wir diese willkürlichen Grenzen beseitigen. Wissenschaftliche Karrieren müssen auf vielfältigen Wegen zum Ziel führen und nicht in einer starren Abfolge von Stationen auf dem Weg bis zur Professur. Altersgrenzen werden insbesondere zum Problem, wenn sich Lebenssituationen verändert haben. Damit sind aber nicht nur Kinder gemeint, auch Pflege von Angehörigen, eine andere Ausbildung oder sogar eine Krankheit kann zu einer Abweichung führen, die berücksichtigt werden muss. Frauen steigen auch eher als Männer aus dem Wissenschaftssystem aus, wenn die wissenschaftliche Karriere nicht verlässlich zu sein scheint. Für den hochqualifizierten wissenschaftlichen Nachwuchs gibt es keine ausreichend gesicherte Perspektive für die Karriereplanung. Es muss daher in unserem Interesse sein, für junge Wissenschaftlerinnen verlässliche und stabile Beschäftigungsverhältnisse und Karrierewege aufzuzeigen. Dieses Problem beginnt übrigens schon bei der Studienfinanzierung. Wenn hohe Schulden aufgrund von Studiengebühren anfallen, besteht die Gefahr, dass sich viele Frauen in Zukunft von den Gebühren abschrecken lassen und deswegen kein Studium aufnehmen. Für die Sozialdemokraten kann ich an dieser Stelle nochmals sagen: Wir sprechen uns eindeutig gegen Studiengebühren aus. Ich freue mich darüber, dass wir gemeinsam mit der Union verbindliche Zielvereinbarungen sowie das sogenannte Kaskadenmodell in den Koalitionsantrag einbringen konnten. Wir werden mit verbindlichen Zielvereinbarungen erreichen, dass in den Wissenschaftseinrichtungen verbindlich formuliert wird, welche Maßnahmen und welche Ziele verfolgt werden, um den Anteil von Frauen zu erhöhen. Vor allen Dingen werden wir diesen Prozess mit positiven Anreizen unterstützen. Wir scheuen uns auch nicht mehr, öffentliche Fördermittel davon abhängig zu machen, ob Zielvereinbarungen verabredet und natürlich auch eingehalten werden. Wenn Vereinbarungen nicht eingehalten werden, sollten auch negative Sanktionsmaßnahmen in Betracht gezogen werden. Des Weiteren wollen wir den Hochschulen mit dem Kaskadenmodell eine klare Orientierung vorgeben. Das heißt: Wenn in einer unteren Qualitätsstufe ein bestimmter Anteil an Frauen erreicht wird, muss es Ziel sein, in der darüberliegenden Stufe ebenfalls diesen Anteil zu erreichen. Gerade in den Fachbereichen, in denen mit jeder Qualifikationsstufe der Frauenanteil überproportional abnimmt, kann dieses Instrument sehr wirksam sein. Da der Bund hier keine Entscheidungsbefugnis hat, bleibt es den Hochschulen überlassen, inwieweit sie dieses Instrument durchsetzen können. Fest steht: Wir Sozialdemokraten nehmen zur Kenntnis, dass auf freiwilliger Basis für die Frauen zu wenig erreicht wurde, wie die Stellungnahmen aus der Anhörung, EU-Vergleiche und viele Studien nachhaltig belegen. Deswegen werden wir dazu beitragen, dass all jene Maßnahmen von der Politik fokussiert werden, die mehr Frauen einen Weg in Spitzenpositionen der Wissenschaft eröffnen. Zum Schluss möchte ich noch einmal auf Marie Curie zurückkommen. Sie ist nicht nur Patin für erfolgreiche Frauen in der Wissenschaft insgesamt. Sie war in Disziplinen erfolgreich, für die sich die meisten Mädchen und jungen Frauen noch nicht begeistern können. Mit anderen Worten: Wir brauchen deutlich mehr Frauen, die sich für Mathe, Naturwissenschaften und Technik interessieren. Auch wenn in der letzten Woche die Bildungsministerin den Startschuss für eine entsprechende Initiative gegeben hat, müssen wir in Zukunft intensiver daran arbeiten. Damit verbessern wir nicht nur die aktuell diskutierten Einkommenschancen, sondern federn auch das Problem des Fachkräftemangels etwas ab. Auch wenn wir noch eine Weile brauchen, um Chancengleichheit in der Wissenschaft herzustellen, wir Sozialdemokraten wollen - ganz im Sinne des Hamburger Grundsatzprogramms - gleiche Chancen für Frauen im Erwerbsleben, in der Privatwirtschaft und an dieser Stelle insbesondere in Wissenschaft und Forschung, nicht nur auf dem Papier, sondern im täglichen Leben.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sicherlich haben Sie sich beim ersten Betrachten des Antrages der FDP-Bundestagsfraktion die Frage gestellt: Was bezweckt dieser kurze Titel? Was will die FDP uns damit sagen? Bei näherer Betrachtung haben Sie sicherlich die Kernaussage verstanden: Ja, wir sind auf dem langen Weg zu einer wirklichen Gleichstellung von Frau und Mann in Familie, Gesellschaft und Beruf in den letzten 100 Jahren und insbesondere seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes im Jahr 1949 einen großen Schritt vorangekommen. Vor allem das fast auf den Tag genau vor 50 Jahren in Kraft getretene Gleichberechtigungsgesetz hat die Stellung der Frau in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft grundlegend verändert. Schritt für Schritt haben Frauen ihren Platz im Bildungs- und Wissenschaftssystem, in der Berufsbildung und im Beruf, in Verwaltung und Politik eingenommen. Jeder Schritt musste von den Frauen hart erkämpft werden. Dr. Dorothea Christiane Erxleben war die erste und für eineinhalb Jahrhunderte auch die einzige Ärztin, die in Deutschland promovieren und ihren Beruf offiziell ausüben durfte. Daran erinnert in diesem Sommer eine Ausstellung im Universitätsmuseum der Martin-LutherUniversität in meiner Heimatstadt Halle, die sich dem Zeitgeist der Aufklärung und dem Frauenstudium in Halle zuwendet. Zu Protokoll gegebene Reden An eine andere Frau sei erinnert. Caroline Franziska Elsbeth, genannt Elisabeth, eine Wegbereiterin der evangelischen und katholischen Frauenbewegung, Sozialwissenschaftlerin, Lehrerin, Publizistin, war die erste deutsche Frau, die 1895 eine Sondererlaubnis des preußischen Kultusministers zum Studium der Volkswirtschaftslehre und Staatswissenschaften an der Universität Berlin erhielt. Heute wissen wir: Die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen im deutschen Wissenschaftssystem ist eine grundlegende Voraussetzung dafür, dass Deutschland auch in Zukunft seine Exzellenz und seinen Wettbewerbsvorsprung in den konkurrierenden Wissenschaftssystemen der Welt halten bzw. ausbauen kann. Doch wie gehen wir heute mit dieser Einsicht um? Ich komme jedenfalls zu der Auffassung, dass Staat und Gesellschaft mit ihrer Verantwortung für den wissenschaftlichen Nachwuchs insgesamt eher fahrlässig umgeht. Wir wissen doch alle: Unsere Gesellschaft kann sich eine Zurückhaltung bei der Einbeziehung von Frauen im Wissenschaftssystem nicht mehr leisten. Wir haben uns im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung in einer öffentlichen Anhörung mit dem Thema „Frauen in der Wissenschaft und Gender in der Forschung“ auseinandergesetzt und die Beteiligung, Aufstiegschancen und Repräsentanz sowie vorhandene Barrieren für Frauen in den einzelnen Qualifikations- und Karrierestufen betrachtet. Es hat sich gezeigt, dass trotz aller Anstrengungen es bis heute nicht gelungen ist, die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an allen Stufen des Wissenschaftssystems zu gewährleisten. Auch heute noch sind Frauen in der wissenschaftlichen Forschung unterrepräsentiert. Und das nicht nur in der öffentlichen Forschung und Lehre, nein, auch in den forschenden Unternehmen. Die Wirtschaft trägt rund 70 Prozent der FuE-Ausgaben in Deutschland. Aber nur 10 Prozent der Forscher sind Frauen. Wir sind uns schnell einig darüber, dass der Anteil von Professorinnen in der deutschen Forschungslandschaft nach wie vor zu gering ist. Nur, was nutzt uns der Ruf nach festen Frauenquoten bei Berufungsverfahren? Ihre Position hierzu haben uns die Präsidenten der großen Forschungsgesellschaften, der DFG, der Wissenschaftsakademien und der Generalsekretär des Europäischen Forschungsrates jüngst dargelegt. Ich habe mir die Frage gestellt, ob eine starre Quotenregelung, die keine Abweichungen zulässt, wie sie zum Beispiel in den USA gilt, in Deutschland und Europa überhaupt zulässig ist? Ist es möglich, in unseren Rechtssystemen Verfahrensquoten ohne Öffnungsklauseln einzuführen, bei denen bei gleicher Eignung der weibliche Bewerber ohne Einzelfallbetrachtung den Zuschlag erhält? Oder brauchen wir Verfahrensquoten mit Öffnungsklauseln, durch die eine bevorzugte Einstellung von weiblichen Bewerbern im Grundsatz festgeschrieben ist, im Einzelfall aber eine leistungs- und sozialorientierte Abwägungsentscheidung zugelassen wird, die auch zu ungunsten des weiblichen Bewerbers ausgehen kann? Jetzt kommen wir zurück auf das Grundgesetz und das Gleichstellungsgesetz. Generell gilt für Berufungsentscheidungen - wie für alle Besetzungsverfahren im öffentlichen Dienst -, dass die Auswahlentscheidung bei der Stellenbesetzung sich nach Art. 33 Abs. 2 Grundgesetz ausschließlich an Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung auszurichten hat. Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz verbietet zu dem jede Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Der Bundesgesetzgeber hat sich entschieden, eine aktive Förderungs- und Gleichstellungspolitik im Sinne des Gender-Mainstreaming zuzulassen, § 8 Bundesbeamtengesetz, § 8 Bundesgleichstellungsgesetz. In den §§ 5 und 24 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes werden Handlungsmöglichkeiten zum Ausgleich bestehender Nachteile eingeräumt, die zum Ergreifen positiver Maßnahmen berechtigen, wenn diese verhältnismäßig sind. Eine rechtliche Bewertung der Quotenregelungen aus deutscher Sicht kann auf keine Leitungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts verweisen. Der Europäische Gerichtshof hat Verfahrensquoten ohne Öffnungsklauseln generell verworfen. Bei Verfahrensquoten mit Öffnungsklauseln ist bei gleicher Qualifikation eine Frau zu bevorzugen, wenn nicht im Einzelfall bei vergleichender Betrachtung dienstliche Unterschiede zugunsten des männlichen Bewerbers bestehen oder ein sozialer Härtefall vorliegt. Diese Rechtsprechung wird dem § 5 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes gerecht, der auf die notwendige Verhältnismäßigkeit der Maßnahme und damit auf eine Einzelfallprüfung verweist. Damit wird ein absoluter und unbedingter Vorrang grundsätzlich benachteiligter Gruppen ausgeschlossen. Insofern ist die Wahl eines Kaskadenmodells in der Zukunft eine mögliche Option für Politik und Wissenschaft. Die FDP schlägt Ihnen daher aus gutem Grund ein Kaskadenmodell vor. Eine Kaskade beginnt an der Spitze. Die Übertragung von Verantwortung und Leitungsaufgaben an Frauen ist somit eine Führungsaufgabe ersten Ranges. Es muss sich also auf jeder Stufe der Kaskade die Einsicht durchsetzen, dass Frauen in dem Maße beteiligt werden, wie es ihrem Anteil an der Vorstufe entspricht. In einem Wissenschaftsfreiheitsgesetz muss ein Kaskadensystem verankert werden. Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, dann gelangen wir sehr schnell zu der Einsicht, dass bereits im Kindergarten und in der Schule mit einer zielgerichteten Förderung von Mädchen und jungen Frauen begonnen werden muss. Sehr früh muss ihr Interesse gerade auch auf mathematische, natur- und technikwissenschaftliche Disziplinen, den sogenannten MINT-Disziplinen, gelenkt werden. Ich unterstütze in diesem Zusammenhang den in der letzten Woche von Frau Dr. Schavan verkündeten Nationalen Pakt für mehr Frauen in MINT-Berufen. Mir gefällt die klare Botschaft: Fachkräfte aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik haben vielfältige Arbeitsmöglichkeiten und hervorragende Berufsaussichten. Leider nutzen junge Frauen das Potenzial in diesen Zukunftsberufen bislang nur unzureichend. Mit „Komm, mach MINT!“ zeigen die Verantwortlichen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, dass sie gemeinsam ihr Engagement wesentlich stärker als bisher bündeln wollen. Zu Protokoll gegebene Reden Die Hochschulen etwa wollen ihre naturwissenschaftlichen und technischen Studiengänge attraktiver gestalten und die Studienorientierung für Frauen erleichtern. Unternehmen werden jungen Frauen verstärkt deutlich machen, dass in den MINT-Berufen attraktive Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Durch Berufsorientierungsmaßnahmen bekommen Frauen gute Chancen, in MINTBerufe vermittelt zu werden, wobei sich mir hier die Frage nach einer qualifizierten Berufsberatung der Arbeitsagentur stellt. Ich freue mich besonders, dass die von Dr. Klaus Kinkel geleitete Deutsche-Telekom-Stiftung, aber auch die Fraunhofer-Gesellschaft sich mit einem gemeinsamen Angebot aus Ingenieur-Akademien und Talent Schools an dem Pakt beteiligen. Der eingeschlagene Weg ist richtig, denn bei der Wahl des Studienplatzes entscheiden sich heute junge Frauen immer noch öfter als ihre männlichen Kommilitonen für die geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Studiengänge. Es liegt es an uns, die letzten Hürden niederzureißen. Deshalb appelliere ich an Sie: Stimmen Sie unserem Antrag zu!

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Was lange währt, wird endlich gut, könnte man angesichts der Tatsache, dass ich ziemlich genau vor einem Jahr bereits eine Rede zum heutigen Thema „Geschlechtergerechtigkeit in Wissenschaft und Forschung“ gehalten habe, denken. Seitdem hat der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung eine öffentliche Anhörung dazu durchgeführt, die Grünen und wir haben je einen Antrag vorgelegt, und nun legt gerade noch vor der Sommerpause die Große Koalition ihre Strategie für Gleichstellung in der Wissenschaft vor. Wird also alles gut? Es gibt zunächst einmal einen Erfolg zu verzeichnen: Die Problematik der geringen Repräsentanz von Frauen in der Wissenschaft ist breit in der Politik angekommen. Und - die Koalition hat sich wichtigen Ergebnissen der Anhörung angeschlossen, die auch wir vorgebracht haben. Doch bei zentralen Aspekten hätten wir Ihnen mehr Mut gewünscht. Es freut uns, dass die Koalition verbindliche Zielvereinbarungen zur Gleichstellung mit öffentlich geförderten Forschungseinrichtungen und mit Hochschulen einfordert. Dass die Zielvereinbarungen finanziell sanktioniert werden sollen, ist ein echtes Novum - darauf drängt Die Linke seit langem. Doch da Hochschulen Ländersache sind, hätte man auch die Bund-Länder-Verhandlungen zum Hochschulpakt II zum Anlass nehmen sollen, die Länder auf die Politik geschlechterorientierter Zielvereinbarungen zu verpflichten. Dass das vonnöten ist, zeigt das sehr unterschiedliche Verständnis von Frauenförderung in den einzelnen Ländern heute. Erfreulich ist wiederum die Erkenntnis der Koalition, dass ohne angemessene Vertretung von Frauen in Berufungs- und Gutachtergremien und ohne Geschlechtersensibilisierung durch Schulungen das Vorrücken von Frauen auf Spitzenpositionen nicht erfolgversprechend ist. Transparente Bewerbungsverfahren mit verstärkter weiblicher Mitbestimmung und verbindliche Quoten für Leitungspositionen halten wir für ganz wichtig. Warum dann aber nicht über eine institutionalisierte Nachwuchsförderung insgesamt nachdenken? In der Anhörung haben viele Experten darauf hingewiesen, dass die Ansiedlung von Promotionen und Habilitationen am Lehrstuhl eine persönliche Abhängigkeit von den Betreuenden bedeutet, die sich für Frauen besonders nachteilig auswirkt. Deshalb fordern wir in unserem Antrag den Anstoß als Debatte eine Nachwuchsförderung, die am Fachbereich geregelt und durch Personalverantwortliche professionell betreut wird. Einen Aufschlag dazu könnte der Wissenschaftsrat machen. Der letzte und zugleich wichtigste Punkt, der mir am Herzen liegt, erfordert eine andere Perspektive auf Frauen. Ich finde, man muss nicht nur die aktive Ausgrenzung von Frauen im Blick haben, sondern sich auch fragen, wo sie sehr rational sind und sich trotz Befähigung vielleicht bewusst gegen eine wissenschaftliche Karriere entscheiden. Weil ihre Vorstellungen von einem guten Leben darin nicht unterzubringen sind. Ich spreche hier von der Vereinbarkeit von Karriereplanung, geregeltem Einkommen, Familie und sozialen Kontakten. Damit ist einerseits die noch vielerorts mangelhafte Infrastruktur für Kinderbetreuung gemeint. Doch zu gleich großen persönlichen Belastungen führen auch die immer kürzer befristeten Arbeitsverträge, die keine zumindest mittelfristige Planungssicherheit über Einkommen und den Ort der Beschäftigung geben. Auch die völlige zeitliche Verfügungserwartung ohne Regelungen für Ausgleich macht für viele Frauen die wissenschaftliche Berufung als Beruf unattraktiv. Hier setzen wir auf wissenschaftsspezifische tarifliche Regelungen für Hochschulen und Forschungseinrichtungen, aber auch zum Beispiel auf Tenure-TrackVerfahren für Nachwuchsprofessuren. Die Koalition spricht zwar das Problem fehlender Möglichkeiten für Karriereplanung an, warum aber scheut sie konkrete Lösungsansätze? Das ist nur lediglich gut gemeint. Vom FDP-Antrag schließlich trennen uns zwar nicht Welten, aber doch Grundansichten. Wir lehnen in der Diskussion um Geschlechtergerechtigkeit die Fixierung auf die Elite der Wissenschaft ab. Man kann von Spitzenkräften sprechen, von hervorragenden Individuen - statt von Elite als einer besonderen Schicht. Denn aus unserer Sicht widerspricht diese Redeweise der Anlage unseres Wissenschaftssystems, in dem diejenigen einen Platz finden, die die besondere Eignung für eine weiterführende wissenschaftliche Qualifikation nachweisen. Machen wir uns doch nichts vor: Ein Blick nach ganz oben gaukelt vor, dass lediglich etwas Nachsteuerung notwendig ist. Für Politikerinnen und Politiker ist das immer einfacher, als eine ganze Gruppe - Wissenschaftlerinnen auf unterschiedlichen Positionen - mit eben unterschiedlichen Bedürfnissen in den Blick zu nehmen. Und so macht es sich aus meiner Sicht auch die FDP recht einfach, wenn sie ein „Wünsch dir was“-Konzert in ihrem Antrag einberuft. Für wen hier Politik gemacht werden soll, ist nicht wirklich erkennbar.

Krista Sager (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003622, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Hälfte aller Hochschulabsolvierenden hierzulande sind Frauen. Dieser erfreuliche Befund gilt aber Zu Protokoll gegebene Reden leider noch lange nicht für die nachfolgenden Qualifizierungs- und Karrierestufen des Wissenschaftssystems: Der Anteil der Professorinnen zum Beispiel dümpelt auf international niedrigem Niveau, bei mickrigen 15 Prozent. Umso besorgniserregender ist die schleppende Aufholdynamik der letzten Jahre: Wenn es weiterhin so langsam wie bisher vorangeht, dann ist ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis bei den Spitzenpositionen der Hochschulen laut Wissenschaftsrat erst 2090 erreicht. Von geschlechtergerechter Chancengleichheit im Wissenschaftssystem sind wir derzeit also noch Lichtjahre entfernt. Dies führt zu beruflichen Einbußen für hochqualifizierte Frauen. Dies führt aber auch zu Defiziten bei der Qualität von Forschung und Lehre und zu weniger Effizienz und internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Nun sind sich die meisten Akteure im Wissenschaftssystem über die Diagnose der Unterrepräsentanz von Frauen in der Wissenschaft, zumindest auf der rhetorischen Ebene, weitgehend einig. Es gibt mittlerweile kaum eine wissenschaftliche Institution, die Chancengleichheit nicht als Teil ihres Leitbilds formuliert. An den Verhältnissen ändert sich gleichwohl nicht viel. Wir haben es also vorwiegend mit einem Umsetzungs- und nicht mit einem Erkenntnisproblem zu tun. Bündnis 90/Die Grünen haben diesen Missstand daher in dieser Legislaturperiode aufgegriffen und neben zwei Anträgen auch eine Fachanhörung des Forschungs- und Bildungsausschusses initiiert. Die überaus große Publikumsteilnahme an der öffentlichen Anhörung im Februar gab uns darin recht, hier ein dringliches Problem aufgegriffen zu haben, bei dem trotz aller bestehender Bemühungen hoher Handlungsbedarf besteht. Dabei wurde einmal mehr deutlich: Was wir brauchen, um nachhaltige Veränderungen zu erzielen, ist endlich ein echter qualitativer Sprung, ein turning point. Dies hinzubekommen, ist gleichwohl anspruchsvoller als allgemeine politische Willensbekundungen oder die Neuauflage des einen oder anderen Einzelförderprogramms. Das Problem muss von seinen Voraussetzungen her gelöst werden. Ein System, in dem hochqualifizierte Frauen unterproportional vertreten sind, kann nicht glaubhaft machen, dass es sich durch Auswahl der Besten rekrutiert. Und genau das führt ins Zentrum des Problems: Im Wissenschafts- und Forschungsbereich regiert entgegen dem wissenschaftlichen Selbstverständnis, objektiv Leistung zu beurteilen, eben gerade keine geschlechtsneutrale Bestenauslese. Der Vergleich insbesondere mit der angloamerikanischen Wissenschaftskultur zeigt, dass in Deutschland häufig personen- statt qualitätsorientierte Bewertungskriterien wissenschaftliche Bewerbungs- und Beurteilungsverfahren prägen. Ein fairer Zugang zum Wissenschaftssystem wird offenkundig verhindert, nicht nur durch schlechte Arbeitsbedingungen, sondern maßgeblich durch diskriminierende Strukturen, die den vorurteilsfreien Blick auf wissenschaftliche Leistungen verstellt. Unzureichende Genderkompetenz führt zu verzerrten Urteilen über Wissenschaftsinhalte, bei Bewerbungsverfahren und in der Personalführung. Die Folge: Unsere geschlossene, männerbündische Wissenschafts- und Förderkultur kann mit den Anforderungen einer modernen, globalisierten Wissenschaft, in der zunehmend sozial gemischte Forscherteams multiperspektivisch komplexe Probleme bearbeiten, immer weniger mithalten. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels, der zunehmenden Konkurrenz um gut qualifizierte Arbeitskräfte und der Altersstruktur des Wissenschaftspersonals an den Hochschulen bleibt nur ein schmales Zeitfenster, um den Sprung zu deutlich mehr Frauen in wissenschaftliche Positionen zu vollziehen. Was wir brauchen, sind endlich faire und vorurteilsfreie Wettbewerbsstrukturen, die allen Talenten einen gleichberechtigten Zugang zum Wissenschaftssystem ermöglichen. Dazu sind in Zukunft sicher auch weiterhin Coaching- und Mentoringprogramme, Karriereberatungen und Trainings, Stipendien und Qualifikationsstellen wichtig. Sie haben nicht zu dem von einigen befürchteten Stigmatisierungseffekten für die geförderten Frauen geführt, sondern überhaupt erst zu mehr Sichtbarkeit von Wissenschaftlerinnen im System beigetragen. Um nachhaltige Veränderungen der Strukturen aber schnell und im notwendigen Maße zu bewirken, müssen Politik und Leitungen der wissenschaftlichen Einrichtungen darüber hinaus vor allem den qualitativen Sprung zu mehr Verbindlichkeit schaffen, das heißt hin zu klaren und laufend überprüfbaren quantitativen Steigerungsanteilen und qualitativen Anforderungen. Diese müssen auf die Bedingungen einer zunehmend wettbewerblich organisierten und am Prinzip der Autonomie orientierten Wissenschaftslandschaft hin ausgestaltet werden. Die Schweden machen vor, wie über staatlich vorgegebene Zielquoten und deren fortwährende Kontrolle der Frauenanteil in der Wissenschaft signifikant und schnell gesteigert werden kann. Ein solches Steuerungsmodell mit den Kernelementen „verbindliche Zielvorgaben“ und „Erfolgskontrolle“ sollte sich auch bei uns endlich durchsetzen. Grundsätzlich geht es darum, Gleichstellungsziele spürbar an finanzielle Ressourcen zu knüpfen, indem man positive Anreizmechanismen schafft, die negative Konsequenzen nicht ausschließen für den Fall, dass vereinbarte Ziele nicht erreicht wurden. Jene Institutionen, die Ziele verfehlen, müssen über das Controlling dazu angehalten werden, ihre Misserfolge zu rechtfertigen und ihre Gleichstellungsinstrumente ergebnisorientiert anzupassen. Hierbei ist der Bund in der Pflicht, überall dort Einfluss zu nehmen, wo er selbst Forschungs- und Institutionenförderung betreibt. Bislang hat er diese Aufgabe nur äußerst zögerlich ausgeübt. Bei der Weiterentwicklung der Exzellenzinitiative, einer möglichen Neuauflage des Hochschulpakts, bei der Steuerung des Pakts für Forschung und Innovation, in der Ressortforschung, beim Gender-Budgeting im Forschungshaushalt - überall kann und sollte der Bund entschlossen tätig werden. Nicht zu vergessen: Überall dort, wo der Bund als Geldgeber bzw. als Mitglied in Aufsichtsräten oder Kuratorien Einfluss auf wissenschaftliche Einrichtungen und Forschungsvorhaben hat, kann er dafür sorgen, überprüfbare qualitative und quantitative Vorgaben und Steigerungsquoten zu implementieren, durchzusetzen und zu kontrollieren. Da nun endlich auch CDU/CSU und SPD in ihrem Antrag von mehr Verbindlichkeit in diesem Bereich sprechen, wäre es sehr erfreulich, wenn Sie sich dazu durchringen könnten, das von uns vorgeschlagene Zu Protokoll gegebene Reden Kaskadenmodell nicht nur weiter mit den Ländern zu prüfen, sondern es tatsächlich anzuwenden. Die internationalen Gutachter zeigten sich im Exzellenzwettbewerb über die miserablen Karrierechancen von Frauen an deutschen Hochschulen schockiert. Und auch auf europäischem Parkett werden die Nachteile der Unterrepräsentanz von Frauen im deutschen Wissenschaftssystem offenkundig: Dort kommen bei den streng geschlechterparitätisch besetzten wissenschaftlichen Kommissionen und Entscheidungspanels zunehmend skandinavische oder niederländische Wissenschaftlerinnen zum Zuge. Andere Länder haben es sehr viel besser und vor allem sehr viel schneller geschafft, den Anteil von Frauen in der Wissenschaft zu steigern. Seit Ende der 1990er-Jahre setzt die schwedische Regierung jeder Universität kontinuierlich steigende Zielwerte über die Frauenanteile an den Professuren. Das Ergebnis: Der Frauenanteil an den Professuren stieg in den 11 größten Unis innerhalb von neun Jahren von 9 auf 17 Prozent. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum wir keinen vergleichbar dynamischen Aufholprozess hinbekommen sollten. In diesem Sinne hoffe ich, dass, nachdem die Koalition nun monatelang über ihre Erkenntnisse aus der Fachanhörung im Februar gebrütet hat, wir nach der Sommerpause endlich zu klaren Beschlüssen kommen und dann auch endlich Taten sehen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Auch hier wird interfraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/9756 und 16/9604 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Widerspruch gibt es nicht. Dann haben wir so beschlossen. Ich rufe die Zusatzpunkte 8 und 9 auf: ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Toncar, Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Menschenrechtslage in Tibet verbessern - Drucksache 16/9747 ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({1}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Festnahme des chinesischen Dissidenten Hu Jia Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. Januar 2008 zur Inhaftierung des chinesischen Bürgerrechtlers Hu Jia EuB-EP 1652; P6_TA-PROV ({2}) 0021 - Drucksachen 16/8609 A.9, 16/9822 Berichterstattung: Abgeordnete Erika Steinbach Dr. Herta Däubler-Gmelin Michael Leutert Volker Beck ({3}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Bevor ich dem Kollegen Florian Toncar für die FDPFraktion das Wort erteile, ({4}) bestätige ich den gerade durch Zwischenruf vermittelten Spielstand, der auf der einen Seite sicherlich hochgradig aufschlussreich ist, aber noch keine abschließende Betrachtung über den wahrscheinlichen Endspielgegner der deutschen Nationalmannschaft erlaubt. ({5}) - Frau Kollegin, ist das als Antrag im Sinne der Geschäftsordnung zu verstehen? ({6}) Dann wäre die Durchführung eines Hammelsprungs angesichts dieses Themas von besonderem sportlichem Interesse. ({7}) Das werden die Geschäftsführer jetzt sicherlich als Anregung aufgreifen. Nun hat zum aufgerufenen Tagesordnungspunkt der Kollege Florian Toncar das Wort. ({8})

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Kenntnis der ersten Halbzeit kann ich Ihnen versichern, dass Sie definitiv richtig entschieden haben, hierher zu kommen. ({0}) Das Spiel im Stadion ist nicht das beste.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das hätte für das gestrige Spiel übrigens auch gegolten, Herr Kollege Toncar. ({0})

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das gilt grundsätzlich für diese Art von Veranstaltungen, Herr Präsident. Die Probleme in Tibet bestehen seit längerem. Doch seit den Unruhen im März mit schweren Gewalttaten, die wir allesamt verurteilen - ganz gleich, von wem sie ausgingen -, aber auch vor dem Hintergrund der Olympischen Spiele in Peking im August ist Tibet wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Zudem besteht Hoffnung, seit die chinesische Regierung die Gespräche mit Abgesandten des Dalai-Lama wieder aufgenommen hat. Wir Liberale sehen die Entwicklung Chinas mit großem Respekt. Der enorme wirtschaftliche und soziale Fortschritt, die Überwindung des Hungers, die Modernisierung, auch Fortschritte beim Aufbau des Rechtsstaats nehmen wir wahr und begrüßen es. Wir Liberale wollen China einbinden und nicht eindämmen. Bei seiner Modernisierung muss dieses riesige und vielfältige Land stabil und friedlich bleiben. Das Ein-China-Prinzip war und bleibt deshalb Grundlage der China-Politik der FDP. Allerdings bezweifeln wir als freiheitliche politische Kraft, dass ein Zustand stabil genannt werden kann, wenn Unmut und Kritik wie in Tibet nur durch die geballte Staatsmacht im Zaum zu halten sind. Diese Stabilität ist trügerisch, weil sie nicht auf Überzeugung durch reale Verbesserungen setzt, sondern auf schiere Stärke. ({0}) Zum Schutz der tibetischen Kultur ist noch vieles zu tun. Zwar sieht die chinesische Verfassung Autonomie und Minderheitenrechte für die Provinz Tibet und die Tibeter vor. Auch die Infrastruktur wurde deutlich verbessert. Trotzdem bangen viele Tibeter um ihre Kultur. Das liegt daran, dass ihre Bildungs- und Aufstiegschancen noch nicht gut genug sind, ihre Sprache benachteiligt wird und dass sie durch eine gesteuerte Zuwanderung von Han-Chinesen in Teilen der Provinz Tibet bereits eine Minderheit sind. Besonders besorgniserregend ist die Einschränkung der Religionsfreiheit. Das Oberhaupt des tibetischen Buddhismus, der Dalai-Lama, darf nicht ins Land. Wenn er verstirbt, ist unklar, ob es einen ordnungsgemäß ausgewählten Nachfolger gibt. Der vorliegende Antrag zeigt auf, wie die Bundesregierung auf eine Entspannung des Konflikts hinwirken kann. Er kommt zum richtigen Zeitpunkt, weil die Chinesen und die Tibeter wieder miteinander verhandeln. Die Lebenserwartung des Dalai-Lama ist der Zeitraum, der für eine Lösung im Dialog noch verbleibt. Das heißt, die Zeit drängt. Der vorliegende Antrag ist sachlich und fair. Er ist klar, und er ist nicht polemisch. ({1}) Er ist vom ernsthaften Interesse getragen, einen Beitrag zur Lösung der Probleme in Tibet zu leisten, und soll die Bundesregierung dabei stärken. ({2}) Der Ihnen vorliegende Text war seit Wochen zwischen den Fraktionen abgestimmt. Es hätte selbstverständlich einen gemeinsamen Antrag zu diesem Thema geben können. Ich hätte das für ein starkes Signal gehalten. Mittlerweile wollen die Sozialdemokraten nach der China-Reise des Außenministers von einem gemeinsamen Vorgehen nichts mehr wissen. Mein Eindruck ist, dass es dabei noch nicht einmal so sehr um die Haltung in der Sache selbst geht. Da hätten wir uns geeinigt. Meine Analyse ergibt, dass die Ursache eher ein Kampf zwischen Kanzlerin und Außenminister um die Lufthoheit in der deutschen Außenpolitik ist ({3}) und dass Herr Steinmeier darin einen Erfolg sieht, in China einen besseren Ruf zu haben als die Kanzlerin. Deshalb scheut Herr Steinmeier alles, was diesem Ruf schaden könnte, vor allem kritische Äußerungen zu bestehenden Problemen in China. Es ist kein Zufall, dass die Idee eines gemeinsamen Antrags nicht in der SPDFraktion gestoppt wurde, sondern in der Chefetage des Auswärtigen Amtes. Sie stellen sich damit beim Umgang mit Tibet ins Abseits, liebe Genossinnen und Genossen. ({4}) Ähnliches konnten wir übrigens schon in den vergangenen Wochen beobachten. Wenn eine Ministerin, die Ihrer Partei angehört - sie ist hier im Raum -, einen Termin mit dem Dalai-Lama vereinbart, um ihn zu sprechen, und Ihrem Parteivorsitzenden nichts anderes einfällt, als dass er diesen - Zitat - „Scheiß“ am liebsten unterbunden hätte, bleibt einem wahrlich die Spucke weg. ({5}) Ich wundere mich sehr, dass eine so drastische Sprache gewählt wird. ({6}) Es ist völlig richtig, wenn der Außenminister anmerkt, dass öffentliche Symbolik allein nicht ausreicht und dass effektive Menschenrechtspolitik manchmal auch vertrauliche Dialoge braucht. Dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden; da sind wir ganz beim Außenminister. Aber ich finde es wichtig, dass in unserem Land weiterhin unsere Gepflogenheiten gelten, und das heißt, dass es öffentliche Diskussionen über außenpolitische Fragen geben kann und geben muss. Was Minister und Diplomaten vertraulich tun, kann effektiv sein und kann auch Erfolg haben. Aber es ist der öffentlichen Kontrolle entzogen und darf deshalb nicht alles sein, was wir in diesem Themenbereich tun. Wenn es dann vom Bundesaußenminister heißt, öffentliche Symbolik wie beispielsweise der Empfang des Dalai-Lama durch die Kanzlerin schade anderen Instrumenten wie dem erfolgreichen Rechtsstaatsdialog mit China, dann ist das in dieser pauschalen Aussage nicht richtig. Das Problem an diesem Treffen war doch nicht, dass das Treffen stattgefunden hat. Es ist völlig selbstverständlich, dass deutsche Politiker sprechen können, mit wem sie wollen. Das werden wir nicht preisgeben. ({7}) Warum war die Reaktion der chinesischen Seite gerade im Falle von Frau Merkel so heftig? Warum gab es eigentlich keine Krise, nachdem etwa Alfred Gusenbauer oder Gordon Brown den Dalai-Lama getroffen hatten? Weil Frau Merkel kurz vorher in China war und dieses Treffen dort nicht angekündigt hat, ein Fehler im Übrigen, der dem Auswärtigen Amt in dieser Form nicht passiert wäre, was Anlass sein sollte, zu überprüfen, wie es möglich ist, die Außenpolitik künftig wieder federführend im Auswärtigen Amt und nicht im Kanzleramt anzusiedeln. ({8}) - Selbstverständlich, Herr Kollege. ({9}) Diesen Vertrauensbruch muss man kritisieren. Aber wenn es doch eher die Umstände eines solchen Treffens waren, die die Verstimmung erzeugt haben, dann darf man nicht allgemein davon ausgehen, dass öffentliche Gesten als solche die wichtigen Dialoge, die nötig sind und die wir auch weiterhin wollen, gefährden. Diesen Antrag heute zu beschließen, wäre keine Beeinträchtigung anderer Instrumente wie etwa des Rechtsstaatsdialogs. Dies wäre kein Nachteil für die Dinge, die uns selbstverständlich auch sonst in der Zusammenarbeit mit diesem wichtigen Partner von Bedeutung sind. Ich wünsche mir, dass wir, der Bundestag, es schaffen, auch zukünftig - bei allen Schwierigkeiten, die sich durch die Zustände in der Bundesregierung manchmal ergeben - bei solchen wichtigen Fragen zu gemeinsamen Textgrundlagen und gemeinsamen Entschließungen zu kommen; denn ich glaube, dass öffentliche Signale, Herr Kollege Weisskirchen, in einem völlig einwandfrei, sachlich, objektiv und fair formulierten Antrag, der hier vorliegt und an dem es textlich nichts zu beanstanden gibt, weiterhin möglich sind. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Erika Steinbach ist die nächste Rednerin für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Erika Steinbach-Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002808, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe zwar neun Minuten Redezeit; die benötige ich aber nicht. Herr Toncar, zunächst einmal: Die deutsche Bundeskanzlerin muss nicht in China um Erlaubnis bitten, ehe sie sich mit jemandem trifft. Sie muss auch nicht vorher ankündigen, wenn sie sich mit dem Dalai-Lama trifft. Das ist ihr originäres Recht. ({0}) Im Übrigen muss ich sagen: Der Antrag der Freien Demokraten ist Wort für Wort richtig. Ich bedauere aufrichtig, dass es nicht zu einem gemeinsamen Antrag des Hauses gekommen ist. ({1}) Die CDU/CSU hat einen Koalitionsvertrag mit den Sozialdemokraten geschlossen. Wir sind vertragstreu. Daher werde ich diesen Antrag der Freien Demokraten mit zusammengebissenen Zähnen ablehnen - lieber Kollege Strässer, ich bedauere Sie; Sie würden ja auch gerne zustimmen -; ({2}) aber es fällt mir sehr schwer. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Michael Leutert von der Fraktion Die Linke gibt seine Rede zu Protokoll1), sodass jetzt der Kollege Christoph Strässer für die SPD-Fraktion der nächste Redner ist.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Toncar, ich finde die Einführung in Ihre Rede sehr spannend. Von dem, was Sie gesagt haben, steht aber nicht ein Satz in Ihrem Antrag. ({0}) - Doch. - Sie haben Ihren Antrag nicht in das eingeordnet, worüber wir heute Morgen, wie ich finde, anderthalb Stunden lang auf allerhöchstem Niveau diskutiert haben. Aus Ihrer Fraktion stammt doch die Anmerkung: Wenn man in diesen Tagen über China debattiert, geht es nicht nur darum, Einzelprobleme herauszugreifen, ({1}) sondern dann geht es schlicht und ergreifend darum, das Land in seiner Entwicklung zu betrachten und an dieser Stelle klare Position zu beziehen. Das tun wir in diesem Hohen Hause seit sehr vielen Monaten, lieber Kollege Toncar. ({2}) - Ich komme gleich auf Tibet zu sprechen. Da brauchen Sie keine Sorge zu haben. 1) Anlage 7 Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie mich befördert haben. Es ist ungewöhnlich, dass ein Abgeordneter der Opposition einen Abgeordneten der Koalition in die Spitzenetage des Auswärtigen Amtes befördert. Das finde ich bemerkenswert. Ich wäre froh darüber, wenn es so gelaufen wäre. Leider ist es aber nicht so. ({3}) Dem Journalisten, dem Sie etwas erzählt haben, habe ich an anderer Stelle gesagt: Gehen Sie einfach einmal davon aus, dass in dieser Fraktion Leute sitzen, die einen eigenen Kopf haben, die selbst denken können und die Positionen vertreten, die sie für richtig halten. ({4}) Gestatten Sie mir an dieser Stelle bitte, noch einmal auf das zurückzukommen, worüber heute Morgen nicht zum ersten Mal diskutiert worden ist. Frau Kollegin Steinbach, ich darf daran erinnern, dass wir in der letzten Sitzungswoche in diesem Hohen Hause in einer ganz konkreten Menschenrechtsfrage keine Einigkeit erzielt haben und das an Ihnen gescheitert ist. Deshalb sage ich in aller Deutlichkeit: Hier Krokodilstränen zu vergießen, ist kein angemessener Stil. ({5}) - Das sage ich Ihnen gleich. Warten Sie doch einfach einmal ab! Wir stehen doch erst am Anfang der Diskussion. Herr Hoyer, Ihre Rede hat mich stark beeindruckt. Ich fand, das war eine der besten Reden, die zum Thema China in diesem Hohen Hause gehalten worden sind. ({6}) Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir gestatten würden, aus dem Protokoll des Deutschen Bundestages vom heutigen Tag eine Passage aus Ihrer Rede zu zitieren: Ab nächster Woche ist Tibet wieder für Ausländer geöffnet. Das ist eine gute Nachricht. Ich danke dem Präsidenten dafür, dass er eine Anmerkung zur Reise des Menschenrechtsausschusses gemacht hat. Auch in der Tibet-Frage sind Ehrlichkeit und Realismus angesagt, sowohl was die Historie angeht als auch was die Gegenwart und die Zukunft angeht. Unser Rat an die chinesischen Freunde lautet: Ihr seid gut beraten, den direkten Dialog mit dem Dalai-Lama zu suchen und den Dialog ernsthaft zu führen. An dieser Stelle steht: Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ({7}) Dann geht es weiter: Wer weiß, was nach ihm kommt. Wir erwarten, dass unsere chinesischen Partner die Gesetze zum Schutz der Tibeter tatsächlich umsetzen. Wir müssen allerdings unseren tibetischen Gesprächspartnern gegenüber klarmachen, dass auch Gewalt von ihrer Seite nicht nur nicht zielführend, sondern inakzeptabel ist. ({8}) Das heißt, dass wir in den Gesprächen mit dem religiösen Führer der Tibeter - die wir selbstverständlich führen dürfen - sagen müssen, dass wir um eine präzise Definition von Autonomie nicht herumkommen und dass wir keine Forderung unterstützen - die wird nicht von ihm kommen, aber möglicherweise von anderen -, die auf eine Destabilisierung Chinas hinauslaufen würde. ({9}) Damit ist die Kernposition, die der Deutsche Bundestag vertreten sollte, benannt. All das findet sich leider Gottes in Ihrem Antrag nicht wieder. Nichts davon steht darin. Deshalb dürften Sie eigentlich nicht verwundert sein, dass wir diesem Antrag nicht zustimmen. Ich will Ihnen an dieser Stelle die Punkte Ihres Antrags nennen, die aus meiner Sicht überflüssig sind. Sie sind ja Jurist. Sie wissen aus früheren Klausuren: Was überflüssig ist, ist falsch. Sie sollten einmal - ich finde schade, dass Sie das nicht getan haben - genau nachlesen, was die Bundesregierung, was der Außenminister auf all die Punkte in der Großen Anfrage der Grünen, die Sie zitiert haben, geantwortet hat. Alle Ihre Fragen sind beantwortet; alle Ihre Forderungen sind erfüllt. Ich weiß überhaupt nicht, warum Sie fordern, was die Bundesregierung schon erklärt hat.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Toncar zulassen?

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Natürlich.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön.

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Strässer, ich habe am Freitag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lesen dürfen, dass Sie sich in der letzten Woche noch nicht darüber im Klaren waren, ob die SPD-Fraktion dem Antrag zustimmt oder nicht, dass Sie sich lediglich darüber im Klaren waren, dass Sie nicht als Antragsteller auftreten. Wenn Sie letzte Woche noch der Meinung waren, dass eine Zustimmung zu diesem Antrag nicht ausgeschlossen ist, warum kommen Sie dann heute zu einer so eindeutigen und drastisch negativen Bewertung des Inhalts des Antrags? Können Sie mir das erklären?

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie wissen, wie das mit den Zeitungen ist. Den Satz, mit dem ich dort zitiert werde, habe ich definitiv nicht gesagt. Das habe ich dem Journalisten, der mich angerufen hat und dem Sie bestimmte Dinge erzählt haben, auch so deutlich gesagt. Ich sage es noch einmal, Herr Kollege Toncar: Sie machen mit diesem Antrag etwas, was wir übereinstimmend an dieser Stelle nicht praktizieren wollten. Sie spielen zum Schein Attaché. An diesem Punkt sagen wir alle - jedenfalls unsere Fraktion; soweit ich weiß, auch aus Überzeugung -: Das ist der falsche Weg. Ich sage Ihnen auch, warum. Sie ignorieren all das, was heute angesprochen worden ist, zum Beispiel zur Rücksichtnahme auf die Entwicklung in China. Sie schreiben in Ihrem Antrag nicht einen einzigen Satz über das, was in den letzten 30 Jahren in dieser Volksrepublik passiert ist. Deshalb ist dieser Antrag aus meiner Sicht kontraproduktiv; er wird Ihrem Anliegen nicht gerecht. Im Gegenteil: Ich befürchte, dass er Ihrem Anliegen sogar schadet. Das ist genau der Punkt, um den es uns heute geht. ({0}) Ich finde es auch sehr schade, dass wir diese Diskussion nicht heute Morgen vor etwas besser gefülltem Haus führen konnten; denn dahin hätte es als ein Teilbereich der China-Politik dieser Bundesregierung gehört. Ich will zum Schluss noch etwas dazu sagen, wer wen besuchen und wer mit wem reden darf. Aus meiner Sicht gibt es da gar keine Frage. Natürlich dürfen und sollen deutsche Politiker mit dem Dalai-Lama reden. Warum denn nicht? Aber ich kritisiere - das sollte man, wenn dies angesprochen wird, auch sehr deutlich sagen -, wenn diese Politik das Einzige ist und danach keine menschenrechtlichen Implikationen folgen. Reine Symbolpolitik nutzt den Menschenrechten in der Volksrepublik China nicht. ({1}) - Kollege Fischer, regen Sie sich nicht so auf! Wir haben das doch gesehen. ({2}) Der Kollege Wellmann und die Kollegin Dyckmans waren bei der Reise dabei. Wir haben gemeinsam mit dem Außenminister vor Ort gezeigt, was eine offene und ehrliche Menschenrechtspolitik ist. Man darf sich nicht ducken. Wir haben alle diese Themen angesprochen. Ich weiß gar nicht, wie Sie darauf kommen, dass es einen Linienstreit in der Koalition gibt. ({3}) Der Außenminister hat vor Studenten der Hochschule für Außenpolitik von sich aus das Thema Tibet angesprochen. Er hat öffentlich erklärt, wie die deutsche Bundesregierung zu Tibet steht und was sie von den Chinesen erwartet. Er hat das thematisiert. Das stand zwar nicht in der Zeitung. Aber er hatte großen Erfolg; denn die Menschen dort haben ihm zugehört. Dasselbe gilt für die Gespräche mit Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern. Ich kann nur sagen: Wir sollten an dieser Stelle abrüsten. Ihr Antrag führt aus unserer Sicht nicht weiter. Wir haben mindestens fünf Ihrer Forderungen in diesem Antrag erfüllt. Deshalb führt uns das an dieser Stelle in die Irre. Wir möchten eine vernünftige und richtungweisende Chinapolitik unter Berücksichtigung aller Umstände. Diese werden wir in der Zukunft ganz konsequent verfolgen. Herzlichen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nein, ich lese jetzt keine Rede von Erika Steinbach vor. ({0}) Zunächst einmal möchte ich sagen: Solange nicht im Auswärtigen Amt, sondern noch im Kanzleramt Außenpolitik gemacht werden darf, würde ich eigentlich erwarten, dass das Kanzleramt hier bei solchen Debatten vertreten ist. Das ist leider nicht der Fall. Vielleicht hat das aber ein neues Verhältnis der Ressorts untereinander zur Folge. Nun zum eigentlichen Thema. Im Rahmen der Spiele der Neuzeit verkörpert das Olympische Feuer die positiven Werte, die der Mensch diesem Element von jeher zuschreibt. Die Reinheit des Feuers wird dadurch gewährleistet, dass es auf ganz besondere Art und Weise - mithilfe der Sonnenstrahlen - entzündet wird. … Auf seinem Weg kündigt das Feuer die Olympischen Spiele an und vermittelt eine Botschaft des Friedens und der Verbundenheit der Völker. Diese Sätze findet man in einer Broschüre des Olympischen Museums zur olympischen Bewegung und zur olympischen Idee der Neuzeit. Wenn man sich diese Volker Beck ({1}) Sätze vergegenwärtigt, muss man sagen: Was war der Fackellauf in Lhasa am letzten Wochenende für eine Gespensterveranstaltung! ({2}) Eine Regierung spricht der olympischen Idee Hohn, indem sie jede Beteiligung des Volkes an dieser Veranstaltung verhindert, da sie das Volk fürchten muss, weil sie es unterdrückt und die kulturellen und religiösen Rechte dieser Minderheit verhöhnt. An die olympische Bewegung gerichtet, an das Internationale Olympische Komitee und den Deutschen Olympischen Sportbund, der sich mit seinen Stellungnahmen nicht gerade mit Ruhm bekleckert hat, ({3}) sage ich ganz deutlich: Wer an den olympischen Stätten Widerstand gegen die Verhöhnung der olympischen Idee leistet, dagegen sein Wort erhebt und symbolische Aktionen durchführt, der hat unsere Solidarität verdient, keine Sanktionen. ({4}) Meine Damen und Herren, wir alle sind aufgrund der Situation in Tibet besorgt. Es kam erneut zu einem Aufstand, der nach Angaben der tibetischen Exilregierung mindestens 200 Todesopfer gefordert hat. Die Situation in Tibet ist seit langem problematisch. Wir dürfen die Menschenrechtssituation in China aber nicht, weil die westlichen Medien auf Tibet schauen und weil Tibet mit dem Dalai-Lama einen prominenten Fürsprecher hat, auf die Tibetfrage reduzieren. Das wäre völlig falsch. Deshalb haben wir vor zwei Wochen über die Große Anfrage der Grünen zur Menschenrechtslage vor den Olympischen Spielen diskutiert. Hierbei ging es uns um Tibet, um Xinjiang, aber auch um die Dissidenten und die religiösen Minderheiten in Zentralchina, die um ihre Rechte kämpfen. Wir müssen aufpassen, dass wir unsere Menschenrechtspolitik nicht primär innenpolitisch induziert betreiben und uns nur danach richten, was populär ist. ({5}) Wir müssen uns an den Fragen orientieren: Was ist nachhaltig, was führt in diesem Land tatsächlich zu Konsequenzen, und welche Probleme sind bereits vergessen? Vor diesem Hintergrund haben wir diesem Hohen Hause vor einiger Zeit einen Antrag zur Situation der Uiguren in Xinjiang vorgelegt. Denn der Dalai-Lama hat uns bei seinem Besuch in diesem Hohen Haus gesagt, dass die Situation der Uigurinnen und Uiguren noch weitaus schlimmer ist als die der Tibeterinnen und Tibeter. Ich finde, auch das muss man am heutigen Tag einmal sagen. Wenn wir darüber diskutieren, was für eine China-Politik wir betreiben sollten, müssen wir uns fragen: Ist das, was wir demonstrativ machen, zum Beispiel ein Empfang des Dalai-Lama im Kanzleramt, wirklich von einer politischen Strategie gedeckt, die dazu führt, dass sich die Menschenrechtssituation für die Chinesinnen und Chinesen in Tibet, Xinjiang und Zentralchina verbessert, oder nicht? Frau Steinbach, hierbei geht es auch um die Frage: Ist es klug, den Chinesen diesen Empfang bei einem Besuch nicht anzukündigen, oder hätte es nicht geholfen, es vorher zu sagen, um dadurch den Sprengstoff aus der Situation zu nehmen und den Menschenrechtsdialog, der ein sehr wichtiges Instrument ist, um die Menschenrechtssituation in China zu verbessern, nicht zu gefährden? Das sind die Fragen, die wir uns stellen müssen. Es geht nicht nur darum, was man darf. Entscheidend ist, was Politik bewirken kann. Ich möchte noch einen Satz zu dem zweiten Antrag, den wir heute verabschieden, sagen, obwohl mich der Präsident bereits mahnt. Den Antrag der FDP zur Menschenrechtslage in Tibet werden wir unterstützen, weil er zumindest nicht falsch ist. Ich finde allerdings, man sollte dieses Thema globaler fassen. Das haben wir in unserem Antrag zur Menschenrechtssituation in Gesamtchina, den wir dem Ausschuss vorlegen werden, getan. Heute wird sich der Bundestag einmütig - ich weiß allerdings nicht, ob sich die Linke aus Solidarität zu Peking wieder enthalten wird - für die Freilassung des Bürgerrechtlers und Umweltaktivisten Hu Jia einsetzen. ({6}) Das ist ein richtiges Zeichen. Ich bin allen Fraktionen dankbar, dass sie unserem Vorschlag gefolgt sind, sodass wir diese Entscheidung heute einmütig treffen können. Das nimmt nämlich ein Stück weit das Blamable aus der Situation von vor zwei Wochen, ({7}) als der Bundestag mit Hammelsprung einen Antrag unserer Fraktion abgelehnt hat, mit dem wir erreichen wollten, dass die Bundesregierung die Volksrepublik China auffordert, die politischen Gefangenen von ganz China vor der Olympiade freizulassen. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege!

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich finde, bei Menschenrechten sollten wir nicht auf den Antragsteller schauen, sondern darauf, ob die Forderung richtig ist, und entsprechend zustimmen. Das ist glaubwürdige Menschenrechtspolitik. Gönnen Sie den Oppositionsparteien, wenn sie das Richtige schreiben - und sei es unvollständig - , die Zustimmung! ({0}) Denn in der Sache ist das das richtige Signal. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

In Menschenrechtsfragen, Herr Kollege Beck, pflegt das Präsidium auch bei der Umsetzung angekündigter letzter Sätze besondere Großzügigkeit walten zu lassen. ({0}) Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9747 mit dem Titel „Menschenrechtslage in Tibet verbessern“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist der Antrag mehrheitlich abgelehnt. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe auf Drucksache 16/9822 - das ist der Zusatzpunkt 9 - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung über eine Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. Januar 2008 zur Inhaftierung des chinesischen Bürgerrechtlers Hu Jia. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Dann ist diese Beschlussempfehlung bei Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke mit den übrigen Stimmen des Hauses so angenommen. Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 22: Beratung des Antrags der Abgeordneten Axel E. Fischer ({1}), Ilse Aigner, Katherina Reiche ({2}), weiterer Abgeordneter und Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Andrea Wicklein, René Röspel, Jörg Tauss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Forschung und Entwicklung für die industrielle stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe in Deutschland bündeln und stärken - Drucksache 16/9757 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Axel E. Fischer ({4}), Andrea Wicklein, Cornelia Pieper, Dr. Petra Sitte und Sylvia Kotting-Uhl.

Axel E. Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir alle kennen Vorzüge der stofflichen Nutzung nachwachsender Rohstoffe. Von Beschäftigungseffekten in der Landwirtschaft über die Entlastung der Umwelt, die Entwicklung neuer Forschungs- und Produktionsfelder bis hin zur Einsparung kostbarer Rohstoffe reicht ein breiter Fächer von Effekten, die wir nicht erst in neuester Zeit freudig beobachten können. So können nachwachsende Rohstoffe langfristig einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung der Rohstoffversorgung, zur Importunabhängigkeit sowie zum Umweltschutz leisten. Die Veredelung nachwachsender Rohstoffe in Bioraffinerien trägt dazu bei, dass in den ländlichen Gebieten neue Beschäftigungsalternativen geschaffen werden und der Land- und Forstwirtschaft Produktions- und Einkommensalternativen geboten werden. Darüber hinaus kann die stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe zum Erhalt der biologischen Vielfalt beitragen und die Kulturlandschaft bereichern. Nicht nur für ein Industrieland wie Deutschland ist die stoffliche Nutzung von Biomasse mit Vorteilen verbunden, sondern auch für Entwicklungs- und Schwellenländer: Nachhaltig produzierte und angebaute Biomasse kann zu wünschenswert steigenden Exporterlösen, zur wirtschaftlichen und zur ländlichen Entwicklung in diesen Ländern beitragen. Hierbei müssen mögliche Zielkonflikte in Bezug auf Umweltschutz, Biodiversität, Flächennutzungskonkurrenzen zur Nahrungsmittelproduktion und auf die soziale Situation in den Anbaugebieten beachtet werden. Vor diesem Hintergrund wollen wir versuchen, die vielfältigen Chancen der stofflichen Nutzung nachwachsender Rohstoffe sinnvoll zu nutzen. Es bedarf dazu einer Strategie, in der wir die vielfältigen erfolgversprechenden Ansätze bündeln und fortentwickeln. Ziel dieser breit angelegten Strategie muss es vor allem sein, Verfahren und Methoden zu entwickeln, mit denen nachwachsende Rohstoffe langfristig wirtschaftlich genutzt werden können. Technische Verfahren sind Voraussetzung für jede Nutzung von Biomasse. Viele Ideen zum Einsatz nachwachsender Rohstoffe sind von der konkreten Umsetzung im industriellen Maßstab noch weit entfernt. Welche Verfahren in Zukunft möglich sind, müssen Forschung und Entwicklung aufzeigen. Hier setzt die Forschungsstrategie an. Der Einsatz nachwachsender Rohstoffe unterliegt in allen Wirtschaftsbereichen letztlich den gleichen Kriterien nachhaltigen Wirtschaftens wie Verfahren auf Basis anderer Rohstoffe auch. Neue Produkte und Verfahren müssen in akzeptabler Zeit rentabel sein und sich im internationalen Maßstab bewähren. Sie müssen in Bezug auf Wirtschaftlichkeit und Qualität konkurrenzfähig sein. Letztendlich müssen die Rohstoffe für die Unternehmen zu Weltmarktpreisen zur Verfügung stehen. Das ist beim Einsatz von nachwachsenden Ressourcen heute nicht immer gegeben. Hier müssen unsere Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten ansetzen, hier sind die Grundlagen für eine erfolgreiche Nutzung zu legen. Im Rahmen dieser Strategie muss vor allem die Grundlagenforschung zur stofflichen Nutzung nachwachsender Rohstoffe vorangetrieben werden, damit es uns gelingt, zukunftsträchtige und innovative Konversionsverfahren zu entwickeln. Mit einer deutlich verbesserten Forschungsförderung, mit der Vernetzung aller Glieder der Wertschöpfungskette und mit der Beseitigung von gesetzlichen Hürden sind wichtige Voraussetzungen für den verstärkten Einsatz nachwachsender Rohstoffe geschaffen worden. Wir Axel E. Fischer ({0}) wollen hier einen Schwerpunkt weiter auf Biodiversität, Bodenfruchtbarkeit, Wirkungsgrad, Kaskadennutzung und Ökobilanzierung legen. Wir wollen dazu die Förderung von Forschungs-, Entwicklungs- und Demonstrationsvorhaben fortführen, verstärkt über die Anwendungsmöglichkeiten aufklären sowie eventuell bestehende Hemmnisse für den stofflichen Einsatz nachwachsender Rohstoffe beseitigen. Um den Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen zu erhöhen und ihre Produktion effizient zu gestalten, müssen alle Möglichkeiten, insbesondere auch die der grünen Gentechnologie, ergebnisoffen geprüft und erforscht werden. Wir müssen, wenn wir erfolgreich sein wollen, neue Produktlinien auf Basis nachwachsender Rohstoffe entwickeln. Dazu bedarf es höchstmöglicher Flexibilität bei den verwendeten Technologien. Die notwendigen Rohstoffe müssen ganz bestimmte Eigenschaften aufweisen und hohe Qualitätsstandards erfüllen. Damit sie diese Voraussetzungen erfüllen, müssen alle Möglichkeiten einer nachhaltigen Pflanzenproduktion zur Verfügung stehen. Ein rein ökologischer Landbau wird den Erfordernissen an Menge, Preis und Qualität der Rohstoffe nicht Rechnung tragen können. Die Grüne Gentechnik könnte in Zukunft ganz entscheidend dazu beitragen, Pflanzen als Lieferanten marktfähiger Rohstoffe zu etablieren. Sie bietet neue Möglichkeiten der Bereitstellung von nachwachsenden Rohstoffen. Dabei spielt sowohl die erreichbare Mengensteigerung als auch die gezielte Herstellung von benötigten Rohstoffen eine Rolle. Es kann nicht sein, dass uns hier in Deutschland weiter überzogene ideologische Blockaden daran hindern, am weltumspannenden Fortschritt in diesem Bereich teilzuhaben, und dass damit die Nutzungsmöglichkeiten von nachwachsenden Rohstoffen stark eingeschränkt werden. Wenn wir zu den führenden Wirtschaftsnationen gehören wollen, dann können wir uns nicht systematisch bei einer Spitzentechnologie nach der anderen aus dem internationalen Forschungskonzert verabschieden. Das gilt im Energiebereich für die Kerntechnik genauso wie in der Landwirtschaft für die Grüne Gentechnik. Auch unter humanitären Gesichtspunkten ist in Deutschland ein schnelles Umdenken notwendig: Die Steigerung der energetischen und industriellen Nutzung nachwachsender Rohstoffe führt zu einem verstärkten Wettbewerb um Anbauflächen. Bisher wurden diese vorwiegend für die Nahrungsmittelproduktion genutzt. Um größeren Verwerfungen entgegenzuwirken, um den Hunger in der Welt nachhaltig zu bekämpfen, müssen wir dringend Methoden entwickeln und anwenden, mit denen pflanzliche Abfallstoffe besser als bisher genutzt werden. Hier schafft unter anderem auch die Einführung eines Bioraffinerie-Forschungsnetzwerks, in dem Kompetenzen und Aktivitäten in Forschung, Entwicklung und Demonstrationsanlagen gebündelt werden, den notwendigen Rahmen für spürbare Fortschritte. Es reicht allerdings nicht aus, die Schwerpunkte ausschließlich auf die Forschung zu legen, wir müssen andererseits die Forschung eng mit den Hochschulen vernetzen, damit die gewonnenen Erkenntnisse möglichst schnell und effektiv in die Lehre, in die Ausbildung junger, motivierter Menschen Eingang finden. Im Idealfall wird bei Forschung und Lehre an den entsprechenden Lehrstühlen die stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe in ihrer gesamten Breite berücksichtigt. Deutschland ist ein rohstoffarmes Land. Wir stehen im weltweiten Wettbewerb um die Nutzung knapper Rohstoffe. Wichtig ist ein schonender Umgang mit allen Rohstoffen sowie die Entdeckung, Entwicklung und Nutzung neuer Ressourcen. Mit unserer Forschungsstrategie werden wir die darin liegenden Chancen ergreifen, Innovationen anregen und einen wesentlichen Beitrag für eine erfolgreiche und nachhaltige Entwicklung unserer Rohstoffbasis leisten können.

Andrea Wicklein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003659, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Deutsche Kunststoff-Museum in Düsseldorf klärt über eine Revolution auf, die vor 148 Jahren begann: Die Entwicklung des einmaligen Werkstoffs Celluloid, bestehend aus nitrierter Cellulose und Kampfer. „Anstoß für die Entwicklung des Celluloids war ein Preisausschreiben, bei dem ein neuer Werkstoff gesucht wurde, der das teure Elfenbein der Billardkugeln ersetzen sollte“, so das Düsseldorfer Museum. Doch schon wenig später haben die erdölbasierten Kunststoffe ihren Siegszug angetreten und sind heute fester Bestandteil in unserem Alltag. Angefangen von Brennstoffen über Kraftstoffe bis hin zu hochmodernen Werkstoffen. Die erdölbasierte Chemie hat damit seit vielen Jahrzehnten sehr erfolgreich hochkomplexe und effiziente Nutzungsmöglichkeiten des Erdöls entwickelt. Weltweit wird unser Leben und auch unser Wohlstand davon bestimmt. Beispielsweise nenne ich: Fensterrahmen und Fußbodenbeläge aus PVC ({0}), Schaumstoffe in Polstermöbeln und Matratzen aus Polyurethan, Styropor-Verpackungen aus Polystyrol, Gießkannen, Eimer und Fernsehgehäuse aus Polyethylen ({1}), Armaturen, Folien und Trinkhalme aus Polypropylen ({2}), Synthetikfasern aus Polyamid oder Wasch- und Reinigungsmittel aus Ethylenoxid. Aber das Erdöl ist endlich, wird knapper und immer teurer. Die Zeit ist deshalb reif, auch im Bereich der Kunststoffe und chemischen Produkte über sinnvolle und aussichtsreiche Alternativen zu diskutieren und Lösungsansätze zu entwickeln. Unbestritten ist, dass es bei den chemischen Erzeugnissen zum Erdöl nur eine einzige echte Alternative geben wird: die nachwachsenden Rohstoffe. Denn sie sind die einzige erneuerbare Rohstoffquelle, die die für die Chemie notwendigen Kohlenstoffverbindungen enthält. Dagegen sind Kraftstoffe, Strom und Wärme auch durch andere Alternativen, wie Windkraft, Erdwärme oder Sonnenenergie, ersetzbar. Dies ist ein entscheidender Punkt, der sowohl bei der sinnvollen Nutzung des Erdöls als auch beim sinnvollen Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen berücksichtigt werden muss. Wenn wir also die nachwachsenden Rohstoffe nur für die energetische Nutzung denken, dann greift das zu kurz. Mit diesem Antrag wollen wir deshalb die unausweichliche Rohstoffwende im Bereich der Chemie unterstützen. Wir stehen langfristig vor einer neuen Revolution: der RohZu Protokoll gegebene Reden stoffwende vom Erdöl hin zu den nachwachsenden Rohstoffen. Wie ist die Ausgangssituation? Von den rund 113 Millionen Tonnen Erdöl, die Deutschland Jahr für Jahr verbraucht, benötigt die chemische Industrie derzeit rund 20 Millionen Tonnen für die stofflichen Chemieprodukte. Hinzu kommen etwa 2 Millionen Tonnen Biomasse als weitere Rohstoffbasis. Deutschland hat sich zu einem der weltweit führenden Chemiestandorte entwickelt. Fast 450 000 Beschäftigte zählt diese Branche, die zu 80 Prozent exportabhängig ist und pro Jahr einen Umsatz von 153 Milliarden Euro erwirtschaft. Allein 5,3 Milliarden Euro investiert die Branche pro Jahr in neue Produkte, Technologien und Verfahren. Damit belegt Deutschland in Europa als Chemiestandort den ersten Platz und in der Welt Platz vier. Bei der Wende hin zu den nachwachsenden Rohstoffen stehen wir nicht am Anfang. Bereits seit den 80er-Jahren nimmt das Interesse an Biokunststoffen und Materialien aus nachwachsenden Rohstoffen wieder zu. Aber mit der dramatischen Verteuerung des Erdöls seit etwa 2002 von damals rund 25 auf jetzt etwas über 140 Dollar pro Barrel sind die Bemühungen weltweit rasant gestiegen, das Erdöl durch nachwachsende Alternativen zu ersetzen. Kunststoffe aus Stroh oder Gras können sich so zu einer echten Konkurrenz zum Erdöl entwickeln. Zahlreiche Hochschulen, Forschungsseinrichtungen und Chemieunternehmen widmen sich verstärkt diesem Zukunftsfeld, und es entstehen diverse Forschungsnetzwerke. Auch Bund, Länder und die Europäische Union unterstützen auf vielfältige Weise diesen jungen Bereich; der Bund beispielsweise durch den Förderschwerpunkt „Biokonversion nachwachsender Rohstoffe“, die Förderung der Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe e. V. ({3}), die Etablierung des Deutschen Biomasseforschungszentrums mit Sitz in Leipzig, die Unterstützung des Deutschen Bioraffinerie-Kongresses oder die Clusterinitiative zur Weißen Biotechnologie; die EU vor allem mit dem 7. Forschungsrahmenprogramm, in dem auch Biowissenschaften, Biotechnologie und Biochemie gefördert werden. Doch bis zur industriellen stofflichen Nutzung nachwachsender Rohstoffe ist es noch ein langer Weg. Enorme Anstrengungen vor allem in Forschung und Entwicklung, in Ausbildung und Lehre sowie in Demonstrationsanlagen sind noch notwendig, um die stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe voranzubringen. Dabei wird es entscheidend sein, die Bioraffinerie-Konzepte als Schlüsseltechnologie für den effizienten, Ressourcen schonenden und auch marktwirtschaftlich sinnvollen Einsatz nachwachsender Rohstoffe weiterzuentwickeln. Denn quasi analog zur Erdölraffinerie, in der das Erdöl zu zahlreichen chemischen Grundstoffen veredelt wird, können in einer Bioraffinerie alle Pflanzenteile zur Herstellung entsprechender Plattformchemikalien, aber auch anschließend für Kraftstoffe, Strom oder Wärme verwendet werden. Durch das Prinzip „Erst stoffliche, dann energetische Nutzung“ kann die Wertschöpfung von nachwachsenden Rohstoffen enorm gesteigert werden. Doch auf dem Weg dahin ist es notwendig, schon jetzt die Weichen für strategische Entscheidungen in Forschung, Entwicklung und Demonstration der Bioraffination in Deutschland zu stellen. Deshalb verfolgen wir mit dem Antrag das Ziel, eine ressortübergreifende Strategie für die stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe als Bestandteil einer integrierten Biomasse-Strategie zu erarbeiten und daraus konkrete Zielvorgaben sowie Schwerpunkte für die weitere Forschungsförderung abzuleiten. Darüber hinaus setzen wir auf die Vernetzung der entscheidenden Akteure, von der Landwirtschaft über Wissenschaft und Forschung bis zu den Unternehmen. Durch ein Bioraffinerie-Forschungsnetzwerk können Kompetenzen und Aktivitäten in Forschung und Entwicklung gewinnbringend gebündelt werden. Zu diesem Ergebnis kommt auch der Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag „Industrielle stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe“, das kürzlich feststellte: „Für die stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe ist ein zunehmender Stellenwert in der Forschungsförderung zwar erkennbar, dennoch fehlen konkrete, übergeordnete Zielvorgaben. Daher wäre zum Beispiel eine ‚Roadmap für die stoffliche Nutzung‘ erforderlich, um diese Ziele klarer zu definieren und entsprechende Schwerpunkte, zum Beispiel in Form von Forschungsstrategien, zu formulieren.“ Mit dem vorliegenden Antrag haben wir diese Hinweise aufgenommen und wollen sie politisch umsetzen. Ein weiterer Aspekt ist mir in diesem Zusammenhang sehr wichtig: Die Rohstoffe vom Acker gehen zwar nicht zur Neige. Aber auch die nachwachsenden Rohstoffe werden, je mehr sie von der Industrie nachgefragt sind, zu einem knappen Gut. Uns muss es deshalb ebenso darum gehen, mögliche Zielkonflikte in Bezug auf Klimaschutz, Biodiversität, Flächennutzungskonkurrenzen zur Nahrungsmittelproduktion und auf die soziale Situation in den Anbaugebieten zu achten. Auch das wird im Antrag ausdrücklich berücksichtigt. Für ein technologieintensives Land wie Deutschland wird es wichtig sein, hier im internationalen Vergleich gut aufgestellt zu sein. Im Deutschen Bundestag ist eine breite Unterstützung für eine verstärkte stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe erkennbar. Auch Forschung und Wirtschaft haben die riesigen Potenziale dieser noch relativ jungen Branche entdeckt. Jetzt müssen dafür die richtigen politischen Weichenstellungen vorgenommen werden, damit Forschung und Entwicklung vorankommen können. Dem dient dieser Antrag, für den ich um Unterstützung werben möchte.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ende vergangenen Jahres haben wir im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung den Arbeitsbericht Nr. 114 „Industrielle stoffliche Nutzung nachwachsender Rohstoffe“ des Büros für TechnikfolgenAbschätzung entgegengenommen. Er zeigt uns deutlich, dass die aktuelle Biomasse-Diskussion und ein industriell stoffliches und energetisches Gesamtnutzungskonzept nur vor dem Hintergrund breitangelegter forschungsund technologiepolitischer Prozesse betrachtet werden können. Zu Protokoll gegebene Reden Der Rohstoff- und Energieverbrauch steigt weltweit stark an. Die Verfügbarkeit fossiler Energiereserven ist jedoch endlich und eng mit dem Problem einer starken CO2-Belastung der Umwelt verbunden. Bei 11,9 Milliarden Barrel erkundeten Ölreserven und geschätzten 66 Milliarden Barrel potenziellen Reserven könnte die Verfügbarkeit des Erdöls auf noch 55 Jahre angesetzt werden. Heute beruhen rund 90 Prozent der chemischen Rohstoffbasis auf den fossilen Rohstoffen Erdöl und Erdgas. Doch die nachwachsenden Rohstoffe gewinnen gerade für die chemische Industrie immer mehr an Bedeutung. Aktuell beträgt der Anteil der Biomasse in der chemischen Industrie bereits etwa 10 Prozent. Eine weitere Belastung der Atmosphäre mit klimaschädlichen Gasen aufzuhalten bzw. zu verhindern, stellt heute eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen dar. Die Forschung zur industriell stofflichen und energetischen Nutzung nachwachsender Rohstoffe gewinnt dabei zunehmend an Bedeutung. Sie fühlt sich dem Ziel verpflichtet, einerseits mittelfristig einen Ersatz für die Nutzung fossiler Energiequellen zu schaffen und andererseits eine Flächenkonkurrenz und damit eine Nahrungsmittelverknappung zu verhindern. Es setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass eine einfache Ausweitung der Biokraftstoffproduktion der ersten Generation auf der Grundlage von Zucker- und Stärkepflanzen sowie Ölpflanzen an natürliche Grenzen stößt und dass ein Nutzen für Mensch und die Umwelt nicht mehr auszumachen ist. Auch ein Rückgriff auf Altfette, wie zum Beispiel das Altspeiseöl, ist nur begrenzt möglich. Auch hier sind die Preise allein im vergangenen Jahr von 340 auf 530 Euro je Tonne gestiegen. Biosprit der ersten Generation gilt heute schon als ein Preistreiber für die Lebensmittelpreise. Die Weltmarktpreise für Nahrungsmittel sind in den vergangenen drei Jahren um 83 Prozent gestiegen. Die Preise für Weizen, Mais, Soja und Ölsaaten steigen stetig. Allein der Preis für eine Tonne Weizen ist von 70 Euro im Jahr 2000 auf heute 230 Euro explodiert. Die Verfügbarkeit von Ackerland in der EU ist eine entscheidende Restriktion für eine deutliche Ausweitung der Biokraftstoffproduktion. Zusätzliche geeignete Anbauflächen fehlen weltweit und können heute nur noch durch weitere Rodungen, zum Beispiel in Regenwaldregionen dieser Erde, erweitert werden. Eine nur zehnprozentige Beimischung von Biosprit bedeutet für Deutschland einen Jahresbedarf von 4 Millionen Tonnen. Hierfür werden 5 Millionen Tonnen Rapssaat und 6 Millionen Tonnen Getreide gebraucht. Die hierfür benötigte landwirtschaftliche Nutzfläche von 30 000 Quadratkilometern entspricht in etwa der Größe von Brandenburg. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass aus einem Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche 1 550 Liter Rapsdiesel oder 2 560 Liter Bioethanol, beide erste Generation, oder 4 000 Liter BtL-Diesel, zweite Generation, hergestellt werden können. Treibstoffe der zweiten Generation - hergestellt auf der Basis einer breitangelegten Biomassenutzung - wachsen auf weniger als einem Viertel der Fläche. Das entspräche etwa 65 Prozent der heute 8 000 Quadratkilometer brachliegenden landwirtschaftlichen Nutzflächen. 9 Prozent des weltweiten Primärenergieverbrauchs ist heute auf die Nutzung „traditioneller Biomassen“ wie Brennholz und Holzkohle zurückzuführen. Die Verwendung „moderner Biomassen“ zielt mehr auf den Ersatz konventioneller fossiler Energieträger ab. Die Rohstoffbasis hierfür bilden Energiepflanzen im landwirtschaftlichen Anbau, forstwirtschaftliche Nebenprodukte, Reststoffe aus der Holzverarbeitung sowie organische Nebenprodukte und Abfälle. Das setzt allerdings ihre Konversion zu flüssigen und gasförmigen Sekundärenergieträgern voraus, was landläufig als „Veredlung von Biomasse“ bezeichnet wird. Dabei wird das Ziel verfolgt, die Energiedichte der Biomasse zu erhöhen, ihre Transportfähigkeit zu verbessern und ihre Nutzung mit vorhandenen Technologien der Endenergienutzung zu ermöglichen. Es gibt eine Reihe von Konversionstechnologien, die bereits Stand der Technik sind. Die Konversionsverfahren für Kraftstoffe der ersten Generation, die zucker- und stärkehaltige Samen und Feldfrüchte, wie Zuckerrüben, Zuckerrohr, Mais, Roggen oder Weizen, zum Benzinersatz Bio-Ethanol oder Öl von Pflanzen, wie Raps, Soja oder Palmen, zu Pflanzenöl und Biodiesel umwandeln, sind nicht wirtschaftlich und einer befriedigenden Kraftstoffversorgung schon heute nicht zuträglich. Der Energieaufwand für deren Herstellung ist oftmals größer als der Energiegehalt der Kraftstoffe. Die Belastungen der Ackerböden und der Luft ist allein durch die eingesetzten Düngemittel und Pestizide außerordentlich hoch. Statt auf Feldfrüchte, die eigentlich der Nahrungsmittelproduktion dienen, für die Energiegewinnung zu setzen, muss künftig stärker auf die Verwendung celluloseund ligninhaltiger Pflanzen von schnell wachsendem Holz, ganzer Kulturpflanzen, Reststoffe aus der Waldund Holzwirtschaft gesetzt werden. Darauf konzentrieren sich Forschung und Entwicklung für Kraftstoffe der zweiten Generation. Das Potenzial zur CO2-Einsparung ist bei den Kraftstoffen der zweiten Generation nämlich doppelt so hoch. Bei der Herstellung von Biokraftstoffen der zweiten Generation werden - im Unterschied zu Biokraftstoffen der ersten Generation - nicht nur Teile, sondern die ganzen Pflanzen genutzt. Sie haben in puncto CO2-Effizienz im Vergleich zu allen realistischen Alternativen einen riesigen Vorsprung. Die Produkte der zweiten Generation setzen auf Konversionstechnologien wie Vergasung und Pyrolyse sowie Biomass-to-Liquid-Prozesse. Sie tragen heute schon Markennamen, wie „bioliq“({0}), „Erneuerbare synthetische Kraftstoffe“ ({1}), „Sunfuel“ ({2}) oder „Sundiesel“ ({3}). Vier chemische Verfahren erscheinen aus heutiger Sicht besonders erfolgversprechend: das Karbon-V-Verfahren der Choren-Industries-GmbH, die Direktverflüssigung von Biomasse mittels Katalysatoren der bayerischen Firma Alphakat und der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg und das BioliqVerfahren des Karlruhe Institut of Technology ({4}), einem Verfahren der Schnellpyrolyse von Stroh zu PyroZu Protokoll gegebene Reden lysekoks und Pyrolyseöl zu einem sogenannten „Slurry“. Im Choren-Verfahren wird Biomasse bei 400 bis 500 Grad Celsius in teerhaltiges Schwelgas und Biokoks umgesetzt, in Rohgas umgewandelt und in einem FischerTropsch-Reaktor mit Hilfe von Katalysatoren in flüssigen Kraftstoff umgewandelt. Das Verfahren von Alphakat und der HfaW Hamburg dient der direkten Verflüssigung biologischen Ausgangsmaterials und setzt auf katalytische Reaktionsbeschleuniger, die langkettige Kohlenwasserstoffe in minutenschnelle, bei weniger als 400 Grad Celsius und ohne Umweg über den Fischer-Tropsch-Prozess aufspalten. Mit dieser Direktverflüssigung werden energetische Wirkungsgrade von rund 70 Prozent erreicht. An der Hochschule in Hamburg werden derweil Holz, Stroh und Kunststoffrückstände aus der Automobilindustrie zu Kraftstoffen umgewandelt. Die erste, im industriellen Maßstab nutzbare Anlage zur Katalytischen Drucklosen Verölung hat den Betrieb am 12. April 2007 in Barrie, Kanada, aufgenommen. Die Anlage ist zur Verölung von Reststoffen aus dem Aufbereitungsprozess von Elektronikschrott - Kunststoffgranulat, Kabelisolierungen ausgelegt. Sie wurde nach den technischen Vorgaben des Verfahrensgebers Dr. Christian Koch von der Alphakat Engineering GmbH realisiert und in Betrieb gesetzt. Auch die Forscher am KIT arbeiten am Biosprit 2.0. Hier geht man davon aus, dass aus einer Art Rohöl aus Reststoffen der Landwirtschaft der sogenannte „Slurry“ herstellt wird. Der energiereiche „Slurry“ kann direkt zu Bioraffinerien gebracht werden und dort zu maßgeschneiderten Kraftstoffen veredelt werden. Das ermöglicht, die Pyrolyse in jedem Landkreis in Deutschland zu organisieren und von dort aus den energiereichen „Slurry“ an die Raffinerien im Umkreis von 250 Kilometer zu transportieren. Nicht zuletzt ist das „Butalco-Verfahren“ eines schweizerisch-deutschen Unternehmens zu nennen. Hierbei werden mittels Säuren mehrere Zuckerarten aus Holz herausgelöst. Diese werden dann anschließend mit speziell gentechnisch gezüchteten Hefen in Ethanol oder sogar Butanol umgesetzt. Letzterer kann sowohl Benzin als auch Diesel beigemischt werden. Der Exzellenzcluster „Maßgeschneiderte Kraftstoffe aus Biomasse“ an der RWTH Aachen verfolgt einen interdisziplinären Ansatz zur Erforschung neuer, synthetischer Kraftstoffe auf Basis von Biomasse. Durch die Formulierung neuer Kraftstoffe mit spezifisch zugeschnittenen Eigenschaften soll das Potenzial effizienter und sauberer Niedertemperaturbrennverfahren für Verbrennungsmotoren erforscht werden. Mit dem zu erforschenden neuen selektiven Prozess zur Umwandlung des gesamten Pflanzenmaterials - Lignocellulose - in maßgeschneiderte Kraftstoffkomponenten wird dieser Exzellenzcluster Basis sein für die dritte Generation biogener Kraftstoffe. Diese Kraftstoffe - ganz im Gegensatz zu vielen heutigen Biokraftstoffen - werden dabei nicht im Wettbewerb zur Nahrungsmittelkette stehen! Das Kompetenzzentrum Kraftstoff-Design ({5}) dokumentiert die enge Zusammenarbeit von Wissenschaftlern aus der naturwissenschaftlichen Fakultät und der Fakultät für Maschinenwesen der RWTH sowie den beteiligten Partnerinstitutionen: aus dem Aachener Fraunhofer-Institut für Molekulare Biotechnologie und Angewandte Ökologie sowie dem Max-Planck-Institut für Kohlenforschung in Mühlheim an der Ruhr. Das integrative Forschungsfeld „Molekulare Transformation“ konzentriert sich auf die gezielte Umsetzung biogener Substrate aus den Rohstoffströmen Cellulose, Hemicellulose und Lignin zu molekular definierten Komponenten eines maßgeschneiderten Kraftstoffs. Aber auch am KIT wird im Rahmen der Erweiterung der Schnellpyrolyseanlage gemeinsam mit dem Anlagenbauer Lurgi daran gearbeitet, den „Slurry“ in einer Raffinerie mit Flugstromvergaser in Methanol und anschließend in einen maßgeschneiderten Kraftstoff der dritten Generation zu verarbeiten. Biomasse und Biokraftstoffe sind auch künftig wichtige Forschungsfelder. Wissenschaftler und Ingenieure sind in den nächsten Jahren verstärkt gefragt, damit der Einsatz solcher Kraftstoffe technisch verträglich und zugleich umweltschonend ermöglicht wird. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung ({6}) hat im Rahmen seines Förderkonzepts „Grundlagenforschung Energie 2020+“ die energetische Nutzung von Biomasse zu einem Schwerpunkt gemacht. Dazu hat das Ministerium die Förderinitiative „BioEnergie 2021 - Forschung für die Nutzung von Biomasse“ ausgeschrieben. Für diese Initiative sind 50 Millionen Euro für einen Zeitraum von bis zu fünf Jahren eingeplant. Forscherteams aus Hochschulen, außeruniversitären Einrichtungen und aus der Wirtschaft werden gemeinsam an neuen Prozessen für die Umwandlung von Biomasse arbeiten, damit aus pflanzlichen und sonstigen biologischen Abfällen Kraftstoffe der sogenannten zweiten Generation werden. Ziel ist es, durch ausgewählte Forschung und Entwicklung bereits vorhandene Technologien zur Biomassenutzung zu optimieren, Verfahren miteinander zu verknüpfen - Kaskadennutzung - und neue Verfahren zu entwickeln, um den begrenzt verfügbaren Rohstoff Biomasse so effizient und nachhaltig wie möglich energetisch zu nutzen. Ein besonderes Förderangebot richtet sich an Arbeitsgruppen unter Leitung von jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die langfristig angelegte Forschungsvorhaben mit völlig neuen Ansätzen zur Nutzung von Biomasse verfolgen wollen. Die Arbeiten der BMBFFörderinitiative werden eng verzahnt mit laufenden Aktivitäten in den Forschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft. Das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, UFZ, beschäftigt sich in Forschungsarbeiten auch mit Aspekten einer agrarökonomischen- und ökologischen Betrachtung von Biomasseerzeugung. Auch mit der Gründung des Biomasseforschungszentrums Leipzig sollen künftig die Forschungskapazitäten für die Biomasseforschung koordiniert werden. Forschung und Entwicklung für die umfassende Nutzung der regenerativen Energien ist unverzichtbar; denn die mit der Biomassenutzung verbundenen Spitzentechnologien eröffnen Zukunftschancen für den Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Deutschland. Zu Protokoll gegebene Reden

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der Antrag der Koalitionsfraktionen nimmt eine wichtige Entwicklung zur Kenntnis: Das Ende des fossilen Zeitalters rückt näher. Davon sind nicht nur unsere Systeme der Energieerzeugung, sondern viele Wirtschaftszweige betroffen, deren Produkte sich auf die Verfügbarkeit von Öl, Gas und Kohle stützen. Unsere ganze Wirtschaftsordnung hat sich auf der Grundlage billiger fossiler Ressourcen entwickelt: Sie hat über mehr als 150 Jahre ein enormes Wirtschaftswachstum generiert, Träume von umfassender Mobilität und anhaltender Wohlfahrtssteigerung zumindest für die industriell entwickelten Länder dieser Erde verwirklicht. Nun ist der „Fossilismus“, wie Professor Elmar Altvater von der FU Berlin dieses System bezeichnete, angesichts des Klimawandels, aber auch der Preisexplosion für Rohstoffe an seine Grenze angelangt. Ob heute der „Peak Oil“, also der Scheitelpunkt der Ölförderung, schon überschritten ist oder wir kurz davor stehen, wird heiß diskutiert. Einig ist sich die Wissenschaft jedoch darin, dass die weltweiten Vorräte den ständig steigenden Rohstoffhunger der sich globalisierenden Weltwirtschaft auf lange Frist nicht decken können. Alle Industriezweige, die fossile Rohstoffe benötigen, sehen sich aufgrund von unsicheren Zukunftsprognosen zur Versorgungsstabilität nach Alternativen um. Bisher führten nachwachsende Rohstoffe in der industriellen Produktion eher das Dasein eines Mauerblümchens und deckten Nischen ab: Nennenswerten Umsatz generieren lediglich die Produkte mit biospezifischen Eigenschaften - etwa kompostierbare Müllbeutel, natürliche Dämmaterialien oder selbstauflösende Implantate in der Medizin. Forscher arbeiten derzeit an Technologien, die Biomasse zur weitgehenden Substitution erdölbasierter Basisprodukte und Grundstoffe nutzen. Viele technische Verfahren dieser Bioraffinerien sind im Stadium der absoluten Grundlagenforschung - es wird Jahrzehnte dauern, um sie wirtschaftlich anwenden zu können. Wir begrüßen daher, dass die Koalition sich dieser Basistechnologien frühzeitig annimmt und eine integrierte Strategie mit dem Schwerpunkt der Grundlagenforschung erarbeiten will. Ebenso sinnvoll ist das Agieren auf europäischer Ebene im Rahmen des Aktionsplans für biobasierte Produkte. Hier erscheint besonders die geplante Normung biotechnisch erzeugter Kunststoffe und Chemikalien vordringlich. Die Regierung sollte allerdings nicht ihre Fehler aus laufenden Initiativen ähnlicher Art wiederholen. Anders als bei den Biokraftstoffen darf diesmal Nachhaltigkeit nicht erst nach dem Protest von Experten und Umweltverbänden in den Fokus rücken. Sie muss integraler Bestandteil der Technologieförderung sein. Die Schwierigkeiten mit der Strategie zum Biosprit und bei der Erarbeitung der Biomassenachhaltigkeitsverordnung zeigen: Importe von nachwachsenden Rohstoffen in großem Maßstab lösen unser Rohstoffproblem nicht, auch wenn im Koalitionsantrag gut meinend die Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards angemahnt wird. Deutsche oder europäische Normen lassen sich in Ländern der Dritten Welt kaum sinnvoll kontrollieren. Zudem konkurrieren viele Rohstoffpflanzen trotz aller Bemühungen um eine Kaskaden- und Mehrfachnutzung mit dem Anbau von Nahrungsmitteln. Dazu kommen Überschneidungen der stofflichen mit der energetischen Verwertung, zum Beispiel wegen aggressiver Biospritstrategien, und ökologische Restriktionen wegen der Erhaltung von Fruchtfolge und Biodiversität. Das TAB geht davon aus, dass bei fortschreitender Umstellung auf erneuerbare Energien bereits 2015 die Nachfrage das Angebot an Biomasse aus Reststoffen deutlich übersteigen wird und ein expansiver Anbau an Nutzpflanzen oder Import in großem Maßstab nötig würde. Nachwachsend heißt eben nicht unbegrenzt wachsend. Das Gutachten des Sachverständigenrats für Umweltfragen zeigt: Eine schlichte Substitution des Erdöls durch Biomasse ist auf nachhaltiger Grundlage nicht möglich. Wer heute die Pfade für ein neues Rohstoffregime einschlagen will, darf nicht wieder mit Raubbau an Natur und Menschen planen. Die zu entwickelnden Verfahren stofflicher Biomassenutzung müssen einem umfassenden Nachhaltigkeitsansatz genügen, der Düngemittel- und Energieeinsatz, die CO2- und Humusbilanz genauso berücksichtigt wie Auswirkungen auf Sozial- und Ökosysteme. Der Koalitionsantrag mahnt dies zwar an, Konzepte sind von Ihnen jedoch dazu nicht zu vernehmen. Denn im Mittelpunkt der Biomassestrategie der Bundesregierung insgesamt steht eben nicht ein umfassender Nachhaltigkeitsansatz, sondern die Ermöglichung von Wirtschaftswachstum. Dieser Antrag beweist dies wieder einmal: Es gelte, so der Wortlaut, den Chemiestandort Deutschland durch eine Strategie „Weg vom Öl“ zu unterstützen. Wenn dies gelänge, so die Logik, dann könne man auf die gleiche Weise Wirtschaftswachstum generieren wie bisher. Da liegt jedoch der Denkfehler. Genau dies wird eben nicht möglich sein, denn die nachwachsenden Ressourcen sind endlich. Die Entwicklung neuer Konversionstechnologien kann also nur ein Teil einer nachhaltigen Rohstoffpolitik sein, die auch die „Grenzen des Wachstums“ im Blick hat. Rohstoffeffizienz, Downsizing, Dezentralisierung und Kreislaufwirtschaft müssten zentrale Forschungsthemen sein. Dazu hat diese Koalition keine konkrete Strategie entwickelt, auch dieser Antrag zeigt dies wieder. Wegen der Einseitigkeit dieser Politik wird sich unsere Fraktion enthalten.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Angesichts der bereits spürbaren Erderwärmung und der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen stetig steigender Ölpreise müssen wir unsere Abhängigkeit vom Erdöl schnell und drastisch verringern. Wir Grünen haben immer schon auf die gravierenden wirtschaftlichen, ökologischen und friedenspolitischen Konsequenzen dieser Abhängigkeit gewarnt. Die aktuelle Preisentwicklung auf den weltweiten Ölmärkten verleiht unserer alten Forderung „Weg vom Erdöl“ derzeit eine völlig neue Dynamik. Dass die Große Koalition heute einen Antrag zu diesem Thema vorlegt, ist bezeichnend. Die Alternativen zum Öl sind in Form von erneuerbaren Energien und Biomasse ja längst vorhanden. Wenn wir aber in allen Wirtschaftsbereichen unabhängig vom Erdöl werden wollen, dann kommt vor allem der BioZu Protokoll gegebene Reden masse als einem universellen Energie- und Rohstoffträger eine ganz entscheidende Rolle zu. Denn nicht nur die Bereiche der Wärmeerzeugung und des Verkehrs sind betroffen, gerade auch die Chemie- und Kunststoffindustrie ist massiv abhängig vom Rohstoff Öl. Wollen wir unabhängig vom Erdöl werden, müssen wir vor allem bei der Nutzung der Biomasse den Effizienzgedanken viel stärker als bisher in den Vordergrund stellen, und zwar in zwei Richtungen: Erstens, hin zu niedrigerem Verbrauch, und zweitens, in Richtung einer effizienteren Nutzung der vorhandenen Biomasse. Nur im Zusammenspiel von Effizienz und Substitution wird eine umweltverträgliche und nachhaltige Abkehr vom Erdöl gelingen. In Form von Bioraffinerien erfolgt eine solche hocheffiziente Nutzung von Biomasse. Denn Bioraffinerien erzeugen nicht nur Rohstoffe für die chemische und pharmazeutische Industrie, sondern auch Energie in Form von Bioethanol oder auch Biogas. Sie sind deshalb vor allen Dingen eine Antwort auf die Frage, wie nachwachsende - aber nicht unbegrenzt zur Verfügung stehende - Rohstoffe effizient genutzt werden können. Die Bundesregierung jedoch macht für die zukunftsfähige Technologie der Bioraffinerie einfach viel zu wenig. Auch die von der Bundesregierung aus den Einnahmen aus dem Verkauf von CO2-Zertifikaten geplante Förderung ist letztlich nicht viel mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir vom Bündnis 90/Die Grünen haben deshalb bereits im Mai 2007 einen Antrag in den Bundestag eingebracht, der die Bundesregierung auffordert, Bioraffinerien viel stärker als bislang zu fördern, in Form von entsprechenden Forschungsprogrammen und Demonstrationsanlagen für die überfälligen Impulse zu sorgen, darüber hinaus auch für die stoffliche Nutzung von Biomasse verbindliche und ehrgeizige Ziele zu formulieren und bestehende rechtliche Hemmnisse für Produkte aus nachwachsenden Rohstoffen abzubauen. Auch die Große Koalition ist inzwischen offenbar zu der Ansicht gelangt, dass die Bundesregierung in dieser Hinsicht zu wenig tut und hat einen eigenen Antrag vorgelegt. Es ist durchaus zu begrüßen, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, in Ihrem Antrag die Potenziale und Chancen der Bioraffinerietechnologie grundsätzlich richtig benennen und anerkennen. In Ihren Forderungen aber greifen Sie aus unserer Sicht viel zu kurz. Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist vor allem ein forschungsorientierter Antrag. Natürlich ist es richtig und notwendig, die Forschung zu intensivieren und zu vernetzen; dies ist ja auch Bestandteil unsers eigenen Antrags. Aber angesichts der drängenden Probleme - die Sie ja in Ihrem Antrag selbst benennen - wird es nicht ausreichen, nur auf eine verstärkte Forschung zu setzen oder einen bereits bestehenden - und unverbindlichen - Aktionsplan für biobasierte Produkte der Europäischen Union zu unterstützen. Wir müssen vor allen Dingen handeln. Wir brauchen auf europäischer und nationaler Ebene eine Biomassestrategie, die alle({0}) Bereiche der Biomassenutzung - Verstromung, Wärme, Biokraftstoffe und Nutzung in der Chemie- und Kunststoffindustrie - mit einbezieht und - das ist entscheidend verbindliche Zielvorgaben formuliert und dafür auch die notwendigen Instrumente benennt. Dies ist überfällig. Sonst werden wir noch ewig weiterforschen, Produkte auf der Basis nachwachsender Rohstoffe aber trotzdem nicht in den Regalen stehen. Die Wirtschaft muss endlich auch für den überfälligen Rohstoffwechsel „Weg vom Erdöl“ in die Pflicht genommen werden.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9757 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu stelle ich Einvernehmen fest. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Knoche, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth und der Fraktion DIE LINKE Cannabis zur medizinischen Behandlung freigeben - Drucksache 16/9749 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die Reden der Kollegen Maria Eichhorn, Dr. Marlies Volkmer, Sabine Bätzing, Detlef Parr, Monika Knoche und Dr. Harald Terpe werden zu Protokoll genommen.

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Cannabis ist keine Spaßdroge. Sie ist deutschland- und europaweit die am weitesten verbreitete illegale Droge. Der Konsum hat in den vergangenen 10 bis 15 Jahren stark zugenommen, Während 1993 16 Prozent der 12- bis 25-Jährigen Erfahrungen mit dem Konsum von Cannabis hatten, waren es 2004 schon 32 Prozent. Mittlerweile sind in Deutschland etwa 600 000 vorwiegend junge Menschen Cannabiskonsumenten, 220 000 sind stark abhängig. Die Zahl der Behandlungszugänge hat sich von 2 600 im Jahr 1992 auf 14 700 im Jahr 2002 mehr als verfünffacht. Im vorliegenden Antrag fordert die Fraktion Die Linke nun, die medizinische Anwendung von Cannabis zuzulassen. Für die Zulassung eines Arzneimittels gibt es in Deutschland klare Regelungen. Es liegt in unserem Interesse als Patienten, dass Arzneimittel hierzulande nur auf der Grundlage des Arzneimittelgesetzes und des Betäubungsmittelgesetzes, BtMG, in Verkehr gebracht werden dürfen. Danach müssen insbesondere Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit des Arzneimittels wissenschaftlich nachgewiesen werden. Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, können die entsprechenden Wirkstoffe verschreibungsfähig gemacht und in die Anlage III des BtMG aufgenommen werden. Dies ist bislang aufgrund klinischer Prüfungen nur für die Cannabiswirkstoffe Nabilon und Dronabinol erfolgt. Dagegen sind diese Voraussetzungen bei natürlichen Gemischen wie zum Beispiel dem Cannabisextrakt bisher nicht erfüllt: Zum einen ist der Nutzen der Behandlung nicht erwiesen. Zum anderen sind bei Haschisch, Marihuana und anderen illegalen Hanfzubereitungen derzeit weder der Wirkstoffgehalt noch Art und Umfang schädlicher Beimengungen bekannt. Dazu kommen die Risiken der Einnahme: So weisen Studien auf eine Reihe akuter und langfristiger Beeinträchtigungen durch Cannabiskonsum hin. Diese sind bei chronischem Dauerkonsum mit großen gesundheitlichen Risiken bis hin zur psychischen Abhängigkeit verbunden. Dies gilt auch für die Anwendung zu medizinischen Zwecken. So fand im Jahr 2005 ein Forscherteam des Institut Universitaire de Medicine Legale in der Schweiz heraus, dass Cannabis schädlicher ist als bisher vermutet. Den Probanden wurde eine geringe Dosis des aktiven Bestandteils von Cannabis delta-9-THC verabreicht, bei einem Teil der Testpersonen löste bereits diese geringe Dosis schwerwiegende Angststörungen und in weiterer Folge Realitätsverlust, Entpersonalisierung, Schwindel und paranoide Angststörungen aus. Wissenschaftler der Universität Amsterdam konnten durch eine neue Studie bestätigen: Jugendliche, die Cannabis rauchen, haben ein sechsfach höheres Risiko, später härtere Drogen zu konsumieren, als Jugendliche, die kein Cannabis nehmen. Damit ist erwiesen: Cannabis dient als Einstiegsdroge für den späteren Konsum harter Drogen. Beide Untersuchungen weisen auf die „vielen Unbekannten“, die vielen offenen Fragen in diesem Zusammenhang hin und empfehlen weitere wissenschaftliche Untersuchungen im Hinblick auf den Wirkmechanismus der Inhaltsstoffe von Cannabis. Auch nach Auffassung des Gesundheitsministeriums und des Bundesinstituts für Arzneimittel ist der therapeutische Nutzen der Cannabiseinnahme nicht erwiesen. Seit 2007 besteht durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Möglichkeit, dass Patienten eine Ausnahmegenehmigung zur medizinischen Verwendung von Cannabis beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte beantragen können. Ab 2007 wurden vereinzelt Genehmigungen auf Verschreibung eines standardisierten Cannabisextraktes für ein Jahr erteilt. Zwei Personen erhielten bisher eine Ausnahmegenehmigung. Eine Person brach die Behandlung vorzeitig ab, da die aus dem Cannabisextrakt hergestellte Tropflösung keine Wirkung zeigte. Von der anderen Person liegen keine Auskünfte vor. Ein einzelner Bericht eignet sich nach Aussage des Bundesinstituts für Arzneimittel nicht, um Schlüsse hinsichtlich des therapeutischen Nutzens von Cannabisextrakten zu ziehen. Der Cannabiskonsum hat heute eine andere Dimension als noch zu Flower-Power-Zeiten. Tausende junger Menschen sind abhängig von dieser Droge. Ihr therapeutischer Nutzen ist nicht erwiesen, die Risiken der Einnahme hingegen sind längst bekannt. Vor dem Hintergrund dieser Fakten lehnen wir den Antrag der Linken zur medizinischen Verwendung von Cannabis ab. Stattdessen muss die Präventionsarbeit vor allem an Schulen und in Vereinen ausgebaut werden. Ziel ist es, den Einstieg junger Menschen in die Sucht zu verhindern.

Dr. Marlies Volkmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Auch bei der heute zur Debatte stehenden Vorlage haben wir es mit einem Fall zu tun, bei dem die Fraktion Die Linke auf einen bereits fahrenden Zug aufzuspringen versucht. Denn im Gesundheitsausschuss beraten wir bereits seit über einem Monat über einen ähnlichen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Es ist sogar bereits beschlossen worden, im Oktober eine Expertenanhörung zur medizinischen Anwendung von Cannabis durchzuführen. Die Situation von schwerkranken Patienten, bei denen eine Behandlung mit Cannabis eine Linderung ihrer Leiden bewirken könnte, ist nicht befriedigend. Diese Menschen setzen ihre Hoffnung auf sachgerechte Lösungen in die Politik. Diese Hoffnung enttäuschen Sie mit Ihren Vorschlägen, denn deren Umsetzung ist - was Ihnen klar sein muss - unrealistisch. Der Antrag fordert, dass ein Arzt eine Bescheinigung über Besitz und Anbau von Cannabis für den medizinischen Eigenbedarf ausstellen können soll. Grundsätzlich habe ich natürlich Vertrauen, dass ein Arzt eine korrekte Indikation zu stellen fähig und willens ist. Aber gerade bei einem Betäubungsmittel mit einem erheblichen Suchtpotenzial ist Skepsis angebracht. Ich frage auch: Wie wollen Sie kontrollieren, ob der Patient den Hanf nur für den Eigenbedarf anbaut oder seine Nachbarschaft mitversorgt? Meiner Ansicht nach birgt zudem die Freistellung von der Strafverfolgung einen gefährlichen Anreiz, preiswert illegale Produkte zu erwerben. Diese aber können unter Umständen erhebliche gesundheitliche Gefahren bergen. Wichtiger als diese Bedenken ist jedoch, dass trotz wiederholt vorgetragener Behauptungen der therapeutische Nutzen von Cannabis bis heute nicht eindeutig wissenschaftlich nachgewiesen ist. Es gibt zwar Studien zu bestimmten definierten und standardisierten Cannabisextrakten. Einen eindeutigen Wirksamkeitsnachweis haben diese Studien jedoch nicht erbracht. Bislang werden Ausnahmegenehmigungen durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte ({0}) erteilt. Neben den beschriebenen Gefahren ist es natürlich auch dem fehlenden eindeutigen wissenschaftlichen Beleg der Wirksamkeit geschuldet, dass die Anforderungen an die Antragsteller sehr hoch sind. Vor dem Hintergrund der hohen Hürden, die gerade für schwer kranke Menschen belastend sein können, kann ich verstehen, dass es zum Verfahren und den Entscheidungen der Behörde Erläuterungsbedarf gibt. Vor diesem Hintergrund gehe ich davon aus, dass dieser Aspekt in der Anhörung eine wichtige Rolle spielen wird. Ihre zweite Forderung betrifft dronabinolhaltige Rezepturen. Dronabinol ist ein Derivat, das aus THC-armem Nutzhanf teilsynthetisch hergestellt wird. Es kann zwar als Rezeptursubstanz in jeder Apotheke erworben werden; die Gesetzlichen Krankenkassen ersetzen allerdings derzeit die Kosten nicht, da entsprechende Präparate über keine Zulassung verfügen. Auch an dieser Stelle kommen wir zurück zu den wissenschaftlichen Belegen der Wirksamkeit: Natürlich steht es dem Gemeinsamen Bundesausschuss frei, über dronabinolhaltige Rezepturen zu beraten. Seine Entscheidung darüber, ob die Rezepturen von den Gesetzlichen Krankenkassen bezahlt werden, ist aber wiederum vom Vorliegen solider wissenZu Protokoll gegebene Reden schaftlicher Studien abhängig. Ohne Beleg der Wirksamkeit kann die Solidargemeinschaft die Kosten für keine Therapie übernehmen. Die beste Lösung wäre es sicherlich, wenn ein pharmazeutischer Hersteller eine Zulassung für Dronabinol erwerben würde. Ein zugelassenes Arzneimittel könnten die Kassen ohne Probleme erstatten. Ob mit Dronabinol die gleiche Wirkung bei den Patienten erreicht werden kann wie mit Cannabis, ist dabei eine ganz andere Frage. Auch an dieser Stelle ist die Studienlage eher dürftig. Derzeit sieht die SPD keine Alternative zu den aufwändigen Einzelfallprüfungen durch das BfArM. Wir sind aber gern bereit, mit den Experten der Anhörung zu diskutieren, wie die Situation der unter einem erheblichen Leidensdruck stehenden Patientinnen und Patienten verbessert werden kann.

Sabine Bätzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Niemand von uns hat Zweifel daran, dass für viele Menschen Cannabis als Medizin hilfreich sein kann. Wir haben im Gesundheitsausschuss letzten Monat darüber ausführlich gesprochen und eine Anhörung zu diesem Thema im Herbst 2008 verabredet. Für mich zeigte diese aktuelle Debatte ganz klar: Um die Versorgung von Betroffenen mit Cannabis als Medizin zu gewährleisten, braucht es kein Gesetz, wie es der vorliegende Antrag fordert. Allerdings: Wer Cannabis als Medizin nehmen möchte, der muss wissen, dass der für die Wirkung wichtige THC-Gehalt einer Cannabispflanze sehr stark schwanken kann. Ein Eigenanbau von Cannabis ist deshalb aus medizinischer und pharmazeutischer Sicht nicht ratsam. Er wäre für die Betroffenen mit gesundheitlichen Risiken verbunden. Unter Berücksichtigung individueller Gegebenheiten, besonders zur Vermeidung einer Unteroder Überdosierung, sollten vielmehr Dronabinol oder standardisierte Cannabisextrakte verwendet werden. Dies alles spricht also gegen einen legalisierten Eigenanbau für Patienten. Zu den Forderungen der Fraktion Die Linke im vorliegenden Antrag sind vor allem zwei Sachverhalte von Bedeutung: Zum einen die wissenschaftliche Beurteilung von Cannabis als Medizin. Gebetsmühlenartig wird immer wieder von „wissenschaftliche Studien“ gesprochen, die die Wirksamkeit von Cannabis als Medizin für eine Vielzahl von Krankheiten beweisen würden. Fakt ist aber, dass der therapeutische Nutzen von Cannabis - abgesehen von Dronabinol bei bestimmten Indikationsbereichen bis heute nicht eindeutig wissenschaftlich nachgewiesen ist, auch wenn es zahlreiche Einzelfallbeispiele gibt, in denen Verbesserungen bei bestimmten Krankheitsbildern berichtet werden. Der Bundesregierung sind zwar Studien zu bestimmten definierten und standardisierten Cannabisextrakten bekannt, jedoch haben auch diese Studien bislang keinen endgültigen Wirksamkeitsnachweis erbracht. Deshalb kommt derzeit eine Umstufung von Cannabisprodukten - über Dronabinol hinaus - nicht in Betracht. Ich bin allerdings daran interessiert, dass solide und umfassende Studien durchgeführt werden, die einen Nachweis für die Wirkung liefern, der den heute gültigen Kriterien der Evidenzbasierung bei allen Arzneimitteln entspricht. Denn - und das ist der andere Sachverhalt - auch für den Gemeinsamen Bundessausschuss ({0}) sind nur solide wissenschaftliche Studien relevant, wenn es um eine Entscheidung über eine Finanzierung von Arzneimitteln durch die Krankenkassen geht. Für mich besteht auch bei Cannabis als Arzneimittel kein Grund, die bewährten Verfahrensweisen der Selbstverwaltung mit der exakten Prüfung durch den G-BA hinsichtlich einer Entscheidung über die Finanzierung aus den Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung außer Kraft zu setzen. Ideal wäre die arzneimittelrechtliche Zulassung dronabinolhaltiger und/oder auf Basis standardisierter Cannabisextrakte hergestellter Fertigarzneimittel. Wegen der dann nachgewiesenen Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und pharmazeutischen Qualität wäre eine BtM-rechtliche Umstufung standardisierter Cannabisextrakte auf jeden Fall zu rechtfertigen und es bestünde zudem bei diesen Fertigarzneimitteln ein Leistungsanspruch der Versicherten gegenüber der GKV auf Kostenübernahme zumindest in den zugelassenen Indikationsgebieten. Leider ist diese Situation derzeit nicht gegeben. Würde Cannabis als Medizin von der Strafverfolgung freigestellt oder der Eigenanbau erlaubt, dann wäre ein Missbrauch nur schwer auszuschließen. Unter diesen Umständen wird es deshalb dabei bleiben müssen, dass das BfArM auch weiterhin sorgfältig nicht nur alle Voraussetzungen des Betäubungsmittelgesetzes für die Erteilung einer Ausnahmeerlaubnis nach § 3 Abs. 2, sondern auch die Unbedenklichkeit der therapeutischen Anwendung im konkreten Einzelfall prüft. Dieses Ausnahme-Erlaubnisverfahren wird vom BfArM für alle Beteiligten - Patienten, Ärzte und Behörde - als ungleich aufwendiger eingeschätzt als die für therapeutische Zwecke vorgesehene ärztliche Verschreibung eines Betäubungsmittels. Den in der Regel unter schwerwiegenden Krankheiten leidenden Patienten ist es kaum zuzumuten. Ich bin überzeugt, das BfArM macht das Beste aus dieser Situation und bearbeitet die Anträge zügig. Seit Mai 2005, als das einschlägige Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ergangen ist, sind 93 Patientenanträge beim BfArM eingegangen. 10 Patientenerlaubnisse wurden erteilt, 5 Erlaubnisänderungen vorgenommen, 32 Anträge abgelehnt und 27 Anträge im Verlauf des Antragsverfahrens zurückgenommen. 19 Anträge befinden sich derzeit noch in Bearbeitung. Unter Berücksichtigung aller vorgetragenen Aspekte lehne ich den vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke derzeit ab.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Hanf auf Rezept, legaler Hanfanbau, Entwicklung einer Cannabispille durch eine Pharmafirma, das alles gibt es in den Niederlanden schon. 2007 eröffnete in Groningen die erste Apotheke der Welt, die Hanf als Medizin auf Rezept ausgibt. Eine Firma in der Nähe von Groningen darf Cannabis zu diesem Zweck legal kultivieren. Und in fünf Jahren soll es eine sogenannte Cannabispille geben, die speziell bei Patienten mit Multipler Sklerose Schmerzen lindern soll. Bis wir in Deutschland so weit sind, Cannabis zur medizinischen Behandlung zuzulassen, könnten Zu Protokoll gegebene Reden ebenfalls noch Jahre vergehen, wenn man von den bisherigen Entwicklungen ausgeht. Lassen Sie mich kurz die aktuelle Lage schildern. Seit Mai 2005 sieht ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vor, den Gesundheitszustand Einzelner bei einem möglichen Einsatz von Cannabisextrakten als Medikament zu berücksichtigen. Zuvor wurden Einzelanträge grundsätzlich abgelehnt. Die Hoffnung, dass sich diese Praxis nun ändert zugunsten der Antragsteller, hat sich bis heute nur teilweise erfüllt. Die Bundesopiumstelle, die über die Anträge zu entscheiden hat, hat im August 2007 erstmalig einem Antrag einer an Multipler Sklerose erkrankten Frau zugestimmt. Mit heutigem Stand wurde bei knapp 100 gestellten Anträgen gerade einmal zwölf Anträgen stattgegeben; sechzehn befinden sich momentan noch in Bearbeitung. Für die Betroffenen bedeutet dies, dass sich de facto nicht viel verändert hat. Dronabinol, der synthetisch hergestellte Cannabiswirkstoff, ist nach wie vor so teuer, dass sich viele Betroffene dies schlichtweg nicht leisten können. Von den Krankenkassen werden diese Kosten nicht übernommen. Die schwerstkranken Patienten, die sich diesen Wirkstoff auf eigene Faust besorgen, machen sich damit strafbar, denn er fällt unter das Betäubungsmittelgesetz; der Besitz ist verboten. Bereits Anfang 2004 antwortete die damalige Bundesregierung auf eine Initiative der FDP-Bundestagsfraktion zum Einsatz von Cannabiswirkstoffen in Arzneimitteln, dass „entsprechend der Koalitionsvereinbarungen die Bundesregierung seit geraumer Zeit prüft, ob neben Dronabinol auch natürlicher Cannabisextrakt verschreibungsfähig gemacht werden kann“. Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt deshalb grundsätzlich, dass mit dem heutigen Antrag die medizinische Verwendung von Cannabis erneut auf die Tagesordnung gesetzt worden ist. Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich lang gemachte Versprechungen umzusetzen. Notwendig ist eine sichere Rechtsgrundlage, um schwerstkranke Menschen, die von Cannabisextrakten profitieren, nicht zu kriminalisieren. Es gibt verschiedene wissenschaftliche Studien, die belegen, dass Cannabis Leiden tatsächlich lindert. Wenn ein wissenschaftlicher Nachweis über die Wirksamkeit des Arzneimittels existiert, muss auch verschrieben werden dürfen. Profitieren würden davon schwerstkranke Patienten verschiedener Erkrankungen. Bei Aidskranken und Krebspatienten kann durch die appetitsteigernde Wirkung von Cannabis der fortschreitende Gewichtsverlust gestoppt werden, bei Patienten mit Multipler Sklerose können spastische Lähmungen und Krämpfe sowie Schmerzen gelindert werden. Cannabis hilft auch bei Asthma bronchiale, Glaukom, Epilepsie, Morbus Crohn und dem Tourette-Syndrom. Fragt man die Betroffenen selbst, ist die Antwort eindeutig: Heftige Schmerzen können gelindert werden, und die chronisch Kranken erhalten wieder ein Stück Lebensqualität zurück. Sie greifen zu Cannabis, weil sie keine andere Wahl haben; die Schmerzen werden sonst unerträglich. Alle herkömmlichen Medikamente versagen und bleiben wirkungslos. Wenn auch Cannabis die Schmerzen nicht nehmen kann: Linderung ist möglich, und der Umgang mit der Krankheit kann dadurch um vieles erträglicher gemacht werden. Ich möchte festhalten: Es geht hier nicht um die allgemeine Legalisierung des Konsums oder Besitzes der Droge Cannabis. Das lehnen wir als FDP entschieden ab. Es geht vielmehr darum, in begründeten Einzelfällen schwerkranken Menschen zu helfen, ihr Leben wieder lebenswerter zu gestalten. Auch in der Bevölkerung gibt es breiten Rückhalt, eine Behandlung von Schwerkranken mit Cannabisprodukten zu akzeptieren. In einer 2006 durchgeführten Umfrage des Institutes für Demoskopie in Allensbach sprachen sich 77 Prozent der Deutschen dafür aus, wie auch für die Übernahme dieser Kosten durch die Krankenkassen. Wir müssen den Betroffenen helfen, indem wir rechtliche Klarheit schaffen und die ohnehin durch ihre Krankheit schwer belasteten Menschen nicht noch der Strafverfolgung wegen illegalen Drogenbesitzes aussetzen. Diesem Weg sollten wir uns nicht verschließen.

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es ist historisch betrachtet ausschließlich einer politischen Entscheidung geschuldet, dass Cannabis in Deutschland verboten ist. Waren es einstmals agrarpolitische Gründe, warum die Kulturpflanze Hanf verbannt wurde, ist zwar heute eine Nutzung für naturstoffliche Produktion möglich. Der Gebrauch der psychotropen Substanzanteile jedoch ist unter das Dogma des „Krieges gegen Drogen“ gefallen. Aus diesen Gründen kann in Deutschland nicht nach rationalen und pharmakologisch korrekten Kriterien über den Einsatz von Cannabis in der Medizin entschieden werden. Obgleich die medizinische Wirkung von Cannabis eindeutig positiv zu bewerten ist, steht das restriktive Betäubungsmittelgesetz einer Zulassung nach den Regeln des Arzneimittelgesetzes entgegen. Gleichzeitig ist sogar eine analoge arzneimittelrechtliche Bewertung, wie sie aus Erfahrungswissen bei anderen Naturheilmitteln möglich ist, in diesem Fall nicht gegeben. Aus den USA und den Niederlanden zum Beispiel sind hinlänglich die positiven Verwendungsbereiche des Medikaments Cannabis bekannt. So kann bei Krebserkrankungen, Multipler Sklerose, HIV/Aids, Asthma und anderen chronischen Krankheitsbildern eine beachtenswerte Symptomverbesserung und gute Begleitwirkungsverbesserung der Ursprungskrankheit erreicht werden. Aus diesen Erfahrungen heraus und wegen der fortdauernden Kriminalisierung der Nutzer von Cannabis hat es in Deutschland diverse höchstrichterliche Entscheidungen gegeben. Sie tragen dem Gesetzgeber auf, eine Legalregelung zu finden für Menschen, die mit einem ärztlichen Attest ausgestattet aus therapeutischen Gründen Cannabis besitzen und konsumieren können sollen und dabei straffrei bleiben müssen. Sogar der Eigenanbau für Eigennutzung bei vorliegender ärztlicher Indikation muss erlaubt werden, will man nicht eine bestimmte Therapie ausschließen bzw. bestimmte Erkrankte wegen ihrer Eigenmedikation diskriminieren. Die eindeutig aus suchtstoffpolitischen Gründen illegalisierten Stoffe blieZu Protokoll gegebene Reden ben für den gesundheitlichen Nutzen nicht verwendbar, würden wir als Gesetzgeber und Gesetzgeberinnen hier nicht endlich die Weichen auf Legalisierung stellen. In unserem Antrag wird über die Anliegen der anderen vorliegenden Anträge hinaus bewusst gefordert, bei Vorliegen einer ärztlichen Indikationsbescheinigung den Eigenanbau zum Eigenkonsum ausdrücklich straffrei zu stellen. Mit dieser Forderung gehen wir auf lebenspraktische Bedingungen ein und wollen vor allem erreichen, dass alle Wirkstoffe des Naturheilmittels Cannabis eingenommen werden können und somit dem Recht auf Selbstmedikation auch voll umfänglich nachgekommen wird. Im Weiteren wollen wir, dass in Form der rezeptpflichtigen Verordnung der Weg geöffnet wird, diesen Wirkstoff als Kassenleistung zu bekommen. Denn es ist nicht weiter vertretbar, allein den teuren synthetischen Wirkstoff Dronabinol auf der Basis der Selbstzahlung zur Verfügung zu stellen. In seiner Reinform, in der er nur über Apotheken erhältlich ist, deckt er zudem nicht alle Behandlungsbedarfe ab, die die chronisch Erkrankten haben. Vielen von ihnen machen mit der vollen Substanzwirkung von Cannabis die besseren Erfahrungen. Schlussfolgernd daraus sagen wir Linke, das Arzneimittelgesetz muss geändert werden, damit eine arzneimittelrechtliche Zulassung möglich wird. Ohne diese gesetzliche Regelung hat das BfArM über die Zulassung nur eingeschränkte Entscheidungsmöglichkeiten. Treten wir also in eine fachliche und sachliche Beratung der vorliegenden Anträge ein. Wir wollen dies im Gesundheitsausschuss tun, weil es sich ausschließlich um eine gesundheitliche Frage handelt und weil es an der Zeit ist, Cannabis in der Medizin zu entdämonisieren.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist wichtig, wenn der Gesellschaft von Zeit zu Zeit ein Spiegel vorgehalten wird. Das Thema Cannabis in der Medizin ist eine gute Gelegenheit, über den Stellenwert des Menschen in der Gesundheitspolitik und in der Medizin zu diskutieren. Es gibt Menschen in unserer Gesellschaft, die Cannabis als Medizin gebrauchen, weil ihnen die herkömmlichen Medikamente nicht helfen können. Sie leiden unter schweren Schmerzen, epileptischen Anfällen oder Multipler Sklerose. Cannabis verschafft ihnen Linderung. Mit Dronabinol existiert ein Arzneimittel, das zumindest einem Teil der Patientinnen und Patienten helfen kann. Das Problem: Eine Monatsdosis kostet zwischen 300 und 600 Euro. Die Kosten dafür werden durch die gesetzlichen Kassen in der Regel nicht übernommen, weil Dronabinol arzneimittelrechtlich nicht zugelassen ist. Daher ist dieses Medikament für die meisten Betroffenen unerschwinglich. Seit 2001 blockiert das Bundesgesundheitsministerium mit Ministerin Schmidt und der Parlamentarischen Staatssekretärin Caspers-Merk eine am Menschen orientierte Lösung. Sie haben die noch unter Andrea Fischer und der Drogenbeauftragten Christa Nickels in Auftrag gegebene Rezepturvorschrift für einen Cannabisextrakt unter den Tisch fallen lassen. Sie sind dafür verantwortlich, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte seinerzeit alle Ausnahmegenehmigungen zur medizinischen Verwendung von Cannabis pauschal und ungeprüft abgelehnt hatte. Erst ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes im Mai 2005 hat zumindest diesem Treiben des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte ein Ende gesetzt. Das Bundesgesundheitsministerium und die drogenpolitischen Ideologen an der Hausspitze haben jedoch dafür gesorgt, dass der Versuch der Patienten, eine solche Ausnahmegenehmigung zu erlangen, zu einem selten erfolgreichen bürokratischen Spießrutenlauf wird, bei dem betäubungsmittelrechtliche Fragen im Vordergrund stehen und nicht das Wohl der Patientin oder des Patienten. So hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eine Zeitlang versucht, die Antragstellerinnen und Antragsteller mit völlig überzogenen Auflagen für die Aufbewahrung von Cannabis abzuwimmeln. Patientinnen und Patienten, die Cannabis regelmäßig aus medizinischen Gründen gebrauchen, wird die Genehmigung mit der zynischen Begründung, sie seien cannabisabhängig, verwehrt. Die Patientinnen und Patienten, die einen Antrag stellen, müssen im Übrigen umfangreiche Unterlagen beibringen, Nachweise, dass sie alle anderen Medikamente bereits erfolglos ausprobiert haben, Nutzen-Risiko-Abschätzungen und so weiter. Für mich klingt das alles sehr nach ideologisch motivierter Willkür. Das politische Ziel jedenfalls ist offensichtlich: Die medizinische Verwendung von Cannabis soll um jeden Preis verhindert werden. Fragen wir also vor diesem Hintergrund ganz konkret: Welche andere Möglichkeit, als sich Cannabis auf dem Schwarzmarkt zu besorgen, haben zum Beispiel Schmerzpatienten, denen Cannabis hilft, nicht aber Dronabinol, das zudem vielleicht für sie nicht erschwinglich ist? Antwort: Keine. Das Bundesgesundheitsministerium zwingt diese Menschen faktisch, sich Cannabis auf dem illegalen Markt zu besorgen, weil sie es auf anderem Wege nicht bekommen können. Die Folge ist, dass diese Menschen kriminalisiert und manchmal auch verhaftet werden und Schwierigkeiten am Arbeitsplatz bekommen. Die Bundesregierung hat diesen Menschen bislang nichts anzubieten außer der gebetsmühlenartigen Leier, dass Cannabis abhängig mache und gefährlich sei und es noch keine ausreichenden Nachweise der Wirksamkeit gebe, zuletzt wiederholt von der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau Caspers-Merk. Angesichts von individuellem Leid und umfangreichen Erfahrungen von Ärzten und Patienten über die Wirksamkeit klingt das seltsam herzlos. Der derzeitige Umgang mit diesen Patientinnen und Patienten wirft auch grundsätzliche medizinethische Fragen auf: Können wir diesen Menschen ein Medikament verweigern, nur weil die Gefahr besteht, dass es sie vielleicht abhängig macht? Bei Morphin oder anderen etablierten schmerzlindernden Präparaten spielt dieser Einwand offensichtlich keine Rolle. Haben wir das Recht, von diesen Patientinnen und Patienten zu verlangen, dass sie zunächst alle anderen infrage kommenden Medikamente ausprobieren, um am Ende festzustellen, dass nur Cannabis ihnen helfen kann? Ich halte es medizinethisch jedenfalls nicht für vertretbar, wenn an diesen Menschen aus ideologischen Gründen Zu Protokoll gegebene Reden herumgedoktert wird. Die Position, die medizinische Verwendung von Cannabis zu ermöglichen, ist übrigens beileibe keine Außenseitermeinung spinnerter Grüner oder Linker. Einer Befragung des Allensbacher Instituts für Demoskopie zufolge sprechen sich nämlich 77 Prozent der Deutschen dafür aus, die Behandlung von Schwerkranken mit natürlichen Cannabisprodukten zuzulassen. Wir haben in unserem eigenen Antrag einen praktikablen Vorschlag für eine am Menschen orientierte Lösung gemacht. Die Linken haben diesen Vorschlag dankenswerterweise durch ihren Antrag unterstützt. Wir wollen mit diesem Vorschlag erreichen, dass für die Patientinnen und Patienten eine legale Möglichkeit geschaffen wird, Cannabis zu therapeutischen Zwecken zu nutzen. Wer Cannabis aus medizinischen Gründen benötigt, soll es ohne Angst vor Strafverfolgung besitzen und anbauen dürfen. Voraussetzung hierfür ist das Vorliegen einer ärztlichen Empfehlung anhand einer klaren Indikationsliste. Es gibt eine Vielzahl medizinischer Studien und Fallstudien, die belegen, dass Cannabis und Dronabinol zum Beispiel bei Parkinson, starken Schmerzen, TouretteSyndrom, spastischen Anfällen und Alzheimer helfen können. Im Oktober wird sich der Gesundheitsausschuss in einer Anhörung dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und dem Antrag der Linken widmen. Ich hoffe sehr, dass es dann endlich eine praktikable und humane Lösung geben wird, die zeigt, dass der Mensch das Maß der Dinge in der Gesundheitspolitik ist.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9749 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch hierzu stelle ich Einvernehmen fest. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, Anette Hübinger, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU und der Abgeordneten Dr. Sascha Raabe, Gregor Amann, Elvira Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ute Koczy, Undine Kurth ({0}), Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vorschlag Ecuadors für den globalen Klimaund Biodiversitätsschutz prüfen und weiterentwickeln - Schutz des Yasuní-Nationalparks durch Kompensationszahlungen für entgangene Einnahmen erreichen - Drucksache 16/9758 Die Reden der Kollegen Anette Hübinger, Dr. Sascha Raabe, Angelika Brunkhorst, Monika Knoche und Ute Koczy werden zu Protokoll genommen.

Anette Hübinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vor ein paar Wochen hat in Bonn die 9. Vertragsstaatenkonferenz zur biologischen Vielfalt stattgefunden. Der Bundesregierung als Gastgeber dieser Konferenz ist es gelungen, dem Schutz der biologischen Vielfalt, die die Lebensgrundlage für die gesamte Menschheit ist, den ihm gebührenden Stellenwert in der Öffentlichkeit zu geben. Insbesondere begrüße ich die Zusage der Bundeskanzlerin, in den Jahren 2009 bis 2012 einen zusätzlichen Beitrag von 500 Millionen Euro für den globalen Schutz von Wäldern und bedrohten Ökosystemen bereitzustellen. Deutschland wird für diese Aufgabe ab 2013 dauerhaft eine halbe Milliarde Euro jährlich aufwenden. Das ist ein klares Signal für unser ernst gemeintes Engagement, im Artenschutz endlich eine Trendwende zu vollziehen. Mit diesen Mitteln können wir im Rahmen unserer internationalen Entwicklungszusammenarbeit wesentlich zum Erhalt der Wälder und Schutzgebiete beitragen. Das ist wichtig und richtig, denn sie sind für den Erhalt unseres Klimas und des ökologischen Gleichgewichts und als Quelle für wichtige Forschungsvorhaben von zentraler Bedeutung. Ich hoffe natürlich, dass dieser wichtige Vorstoß von deutscher Seite auch andere dazu bewegt, ihre Finanzzusagen für den internationalen Naturschutz auszuweiten. Jeder zusätzliche Beitrag wird hierbei hilfreich und eine Investition in unsere gemeinsame Zukunft sein. Die Menschen werden jedoch auch weiterhin gerade von Deutschland eine besondere Verantwortung und Führungsrolle bei den internationalen Verhandlungen erwarten, und vor allem auch darauf achten, wie unsere Zusagen und Verabredungen tatsächlich umgesetzt werden. In Bonn haben wir uns ein verbindliches Verhandlungsmandat erteilt, den Arten- und Ökosystemschutz weltweit entscheidend voranzubringen. Für unser großes Ziel, bis 2010 eine deutliche Reduzierung des Artenverlustes zu erreichen, bleiben uns nur noch zwei Jahre. Das heißt, wir müssen dort, wo es am dringendsten ist, schnellstmöglich eingreifen, damit unwiederbringliche Schätze der Natur nicht für immer verloren gehen. Das trifft auch und insbesondere für den Nationalpark Yasuní in Ecuador zu, der in der nordwestlichen Amazonas-Region liegt. Er gehört aufgrund seiner einzigartigen Artenvielfalt zum Weltnaturschutzerbe. 1989 wurde er von der UNESCO ins Biosphärenschutzprogramm aufgenommen. Für Ecuador sind aber die reichen Erdölvorkommen im Amazonas-Gebiet überaus bedeutsam. Deren Förderung bedroht die reich vorhandene Biodiversität. Auch auf dem Gebiet des Nationalpark Yasuní befinden sich große Ölfelder. Der Förderblock mit dem Namen Ishpingo-Tambococha-Tiputini liegt fast zur Gänze auf dem Gebiet des Yasuní-Parks. Eine Erschließung dieses Ölfeldes würde unweigerlich zum Verlust dieses gesamten Ökosystems führen, den Lebensraum vieler einzigartiger Tierarten und vor allem aber den Lebensraum ursprünglicher indigener Völker vernichten. Wenn wir also dieses Gebiet schützen wollen, müssen wir dafür sorgen, dass die Ölförderung in diesem Gebiet nicht begonnen wird. Ich begrüße es daher ausdrücklich, dass Ecuador nach Wegen sucht und Vorschläge unterbreitet, dieses Gebiet trotz seiner reichen Erdölvorkommen zugunsten seiner biologischen Artenvielfalt zu bewahren. Deshalb möchten wir diese Initiative mit unserem gemeinsamen Antrag unterstützen. Ecuador schlägt vor, dass die Hälfte der zu erwartenden Einnahmeausfälle aus der Ölförderung durch internationale Geber als deren Beitrag zum Erhalt des weltweit einmaligen Ökosystems Yasuní kompensiert werden sollen. Diesen Vorschlag unterstützen wir zum Teil. Gerade für Ecuador spielen Einnahmen aus der Ölförderung für sein Wirtschaftswachstum eine entscheidende Rolle. Investitionen in wirtschaftliche Strukturen, bildungs- und sozialpolitische Maßnahmen werden zum großen Teil durch Einnahmen aus dem Ölgeschäft finanziert. So ist es verständlich, dass ein Verzicht auf mögliche Einnahmen, ohne dadurch die Entwicklung zu bremsen, Ecuador vor große Herausforderungen stellt, die es nicht alleine bewältigen kann. Die vorgeschlagene Kompensation entgangener Einnahmen erscheint für dieses spezielle Gebiet des Yasuní-Parkes als geeignet. Wir müssen aber klar herausstellen, dass eine solche Lösung immer nur ein Einzelprojekt sein kann. Wenn wir erfolgreich beim nachhaltigen Schutz von Biodiversität sein wollen, müssen wir nach weitaus umfassenderen Ansätzen suchen. Unser Vorschlag ist daher, zunächst noch genauere Studien über die derzeitige Situation und über mögliche Finanzierungsalternativen zu erstellen. Dabei ist uns wichtig, in erster Linie nach Finanzierungsoptionen für die Erhaltung des Schutzgebietes zu suchen. Dabei muss der Ausfall der Erdöleinnahmen angemessen berücksichtigt werden, kann aber nicht der Ausgangspunkt unserer Überlegungen sein. Entscheidend für den Erfolg wird sein, Regelungen und Mechanismen zu finden, die auch politischen Veränderungen gegenüber standhalten können. Mit dem gefundenen Konsens wollen wir dann gemeinsam mit unseren anderen Partnern in der EU und OECD für eine multilaterale Lösung und entsprechende politische und finanzielle Initiativen werben. Anhand des gefundenen Finanzierungs- und Verteilungsmechanismus werden wir prüfen, ob die gewonnenen Erkenntnisse auch für den Schutz vergleichbarer sensibler Ökosysteme in anderen Entwicklungsländern dienen können. Ich betone aber noch einmal: Es kann uns nur darum gehen, singuläre Fondslösungen höchstens als Überbrückungslösung zu betrachten. Auf Dauer müssen wir es schaffen, internationale marktkonforme Regime zu etablieren. Dieser Vorschlag Ecuadors und das, was wir daraus entwickeln, wird eine große Signalwirkung für den Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen haben. Ich begrüße ausdrücklich, dass Ecuador diesen Vorschlag unterbreitet hat, denn es zeigt, dass auch unsere Partnerländer den Wert der Biodiversität anerkennen und nach Lösungen suchen, um den Schutz der Biodiversität mit nachhaltigem Bewirtschaften in Einklang zu bringen. Diese neue Herangehensweise hat weltweit für viel Aufsehen gesorgt. Für uns wird es daher wichtig sein, dass wir als Geber, aber auch als Verbraucher und Hauptverursacher des Klimawandels und des Verlustes unser biologischen Ökosysteme unserer Verantwortung gerecht werden. Wir können und müssen ein deutliches Zeichen setzen, indem wir uns an den Schutzmaßnahmen unserer Partner beteiligen. Kernbotschaften unseres Antrages sind daher sowohl unsere Anerkennung gegenüber Ecuador für die Suche nach neuen, besseren Lösungsansätzen als auch das Wissen um unsere Verantwortung für den Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlage und Wahrung der Schöpfung. Ich bin der Ansicht, dass wir uns darin alle einig sind und freue mich daher, dass es uns gelungen ist, mit den Grünen zusammen diese Initiative auf den Weg zu bringen.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Über ein Jahr ist es nun her, genauer gesagt am 5. Juni 2007, da wurde der entwicklungspolitisch und ökologisch revolutionäre Vorschlag des damaligen ecuadorianischen Energieministers, Alberto Acosta, auf die Erdölförderung im Yasuní-Nationalpark zu verzichten, falls die internationale Gemeinschaft die Hälfte der zu erwartenden Einnahmen kompensiert, durch den Beschluss des ITTProjektes ins Leben gerufen. Dieses eine Jahr hätte die internationale Weltgemeinschaft fast verschlafen, um gemeinsam nach einer Lösung zur Rettung dieses einmaligen Naturreservats zu streben. Mit unserem heutigen Antrag möchten wir unseren Beitrag leisten, damit das ITTGebiet im Yasuní-Nationalpark durch den Verzicht auf Erdölförderung geschützt bleibt. Der Öl-Block ITT, der seine Abkürzung den indianischen Namen Ishpingo und Tambuccocha sowie dem Fluss Tibutini verdankt, beinhaltet knapp ein Fünftel der Ölreserven Ecuadors unter der Erde. Oberhalb, und das ist die eigentliche Besonderheit, beheimatet der Nationalpark ein einmaliges Biosphärenreservat. Über 200 Säugetierarten leben im Yasuní-Park, darunter der vom Aussterben bedrohte rote Flussdelphin und der Tapir. Auf einem Hektar Land findet sich fast die gleiche Anzahl an Baumarten wie in gesamt Nordamerika, und auf einem Baum sind mehr Käferarten beheimatet als in ganz Europa. Darüber hinaus leben in diesem nordöstlichen Gebiet des Nationalparks indigene Stämme, sogenannte „verborgene Völker“, die bisher noch keinen Kontakt zur Außenwelt hatten. Diese Menschen und die einzigartige Artenvielfalt gilt es zu schützen. Im Februar dieses Jahres konnte ich mich mit einer AWZ-Delegation vor Ort von der Einmaligkeit dieses Naturgebietes überzeugen. Leider jedoch wurde uns auch vor Augen geführt, wie rücksichtslos und unverantwortlich in den Gebieten des Nationalparks die Ölförderung betrieben wird. Unzählige brachliegende und ungesicherte Öltümpel befinden sich in dem von Ölkonzernen ausgebeuteten Teil des Yasuní. Dabei sickert das Öl ungeschützt zurück ins Erdreich, verschmutzt das Trinkwasser von Mensch und Tier und zerstört damit unwiderruflich ein Stück Natur. Das zentrale Problem der Ölförderung im gesamten Amazonasgebiet ist jedoch in den dezentralen Ölförderstationen zu sehen. Man muss sich das einmal vorstellen: Durch den gesamten Urwald schlängeln sich oberirdisch kilometerweit ungeschützte kleine Zuleitungsrohre, die irgendwo auf die Hauptpipeline treffen. Für alle diese Zuleitungsrohre werden Wege und Erschließungsstraßen in den Urwald geschlagen. An diesen Erschließungsstraßen Zu Protokoll gegebene Reden siedeln sich dann wiederum Menschen an, die die Rodung des wertvollen Baumbestandes weiter fortführen. Die lokale indigene Bevölkerung wird zwangsläufig aus ihrem ursprünglichen Lebensraum verdrängt. Eine technisch saubere Lösung der Ölförderung ist somit gar nicht möglich. Vergleicht man dazu den Zustand der jetzt schon erschlossenen Gebiete am Amazonas, dann wird jedem schnell klar, dass durch die infrastrukturelle Erschließung dieses Gebietes die Schäden für den YasuníNationalpark unumkehrbar sind. Viele Leckagen und mangelndes Umweltbewusstsein, verbunden mit Unzuverlässigkeiten, führen zu einer schleichenden Vergiftung des Amazonas. Ölförderung am Amazonas ist unwiderruflich mit der Zerstörung der Natur und damit des Lebensraums von Mensch und Tier verbunden. Dass dieses Naturreservat schützenswert ist und die ecuadorianische Regierung ernsthaft am Erhalt dieses Gebietes interessiert ist, hat sie im Januar durch die Einrichtung eines ITT-Sekretariates und der Berufung eines ITT-Sonderbeauftragten auch institutionell zum Ausdruck gebracht. Man muss der Regierung Ecuadors daher ein großes Kompliment machen. Der ITT-Block, der fast vollständig auf dem Gebiet des Nationalparks liegt, fasst nachweislich mindestens 412 Millionen Barrel Öl. Dass Ecuador auf die Hälfte der Erlöse aus den Erdölvorräten verzichten will, das sind Schätzungen zufolge immerhin rund 4,5 Milliarden US-Dollar, ist daher keine Selbstverständlichkeit. Nicht unerwähnt lassen möchte ich in diesem Zusammenhang, dass die Bundesregierung, allen voran Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul, auch die Chance, die dieses Projekt in sich trägt, erkannt hat. Schon seit längerem stellt daher das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zur Erarbeitung von Lösungsmöglichkeiten für noch offene Fragen Hilfe und Mittel für den Einsatz von Experten bereit. Einen Punkt möchte ich in dieser Diskussion nicht unerwähnt lassen: Entwicklungsländer haben, wie es andere Staaten auch schon immer eingefordert haben, ein Recht auf die Nutzung eigener Bodenschätze. Gleichzeitig sind sie aber auch der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber verpflichtet, diese Schätze so schonend wie möglich zu nutzen, damit sie als globales, öffentliches Gut nicht vernichtet werden. Dieses Bewusstsein war früher nicht vorhanden. Nun hat die neue Regierung unter dem für Umweltschutz stark engagierten Präsidenten Correa entschieden, neue Wege zu beschreiten. Eine einmalige Chance für die Natur, aber auch für uns als Weltgemeinschaft, zu zeigen, dass wir nicht die Augen verschließen, sondern uns gemeinsam um den Erhalt und damit um die Zukunft unseres Planeten sorgen. Wenn wir nicht jetzt anfangen, den Yasuní-Nationalpark zu schützen, wird es schon bald zu spät sein. Das sollten all jene bedenken, die immer noch eher die Bedenken als die Chancen des Projekts sehen. Den Kritikern und Skeptikern sei auch gesagt, dass in diesem Zusammenhang die Forderungen Saudi-Arabiens als völlig abwegig zu sehen sind, ebenfalls Kompensationszahlungen erhalten zu wollen, sollten sie ihr Öl nicht fördern. Das ist Quatsch. Das ITT-Projekt steht für den Erhalt einer einmaligen Artenvielfalt und ist mit dem Gebiet einer Sandwüste nicht zu vergleichen. Hingegen gibt es durchaus Parallelen zur Situation in Indonesien, wo der verbleibende Regenwald auch durch Kompensationszahlungen für die Nichtumwandlung in Ölpalmplantagen geschützt werden sollte. Ecuador ist bereit, über 13 Jahre auf die jährlichen Einnahmen durch die Erdölförderung von circa 700 Millionen US-Dollar zu verzichten, wenn wir als Weltgemeinschaft die Hälfte, also rund 350 Millionen US-Dollar, dieses Einnahmeausfalls tragen würden. Wie diese Gelder Ecuador zur Verfügung gestellt werden, ist noch unklar. Es liegen verschiedene Vorschläge auf dem Tisch. Die Kompensationszahlungen könnten demnach durch Schuldenerlasse, Beiträge von Staaten oder in Rahmen einer Fonds-Einzahlung geleistet werden. Dabei wird auch darauf zu achten sein, dass der Fonds gegebenenfalls auch mit Landtiteln so abgesichert wird, dass auch in Zukunft eine Förderung des Öls in diesem Gebiet durch eine andere Regierung ausgeschlossen werden kann. Welcher Weg auch gegangen wird: Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie sich, nach Findung eines soliden und gerechten Finanzierungsmechanismus, gemeinsam mit anderen Gebern an den Zahlungen finanziell beteiligt. Ich ermutige die Bundesregierung daher, auch weiterhin der Regierung Ecuadors bei der Erarbeitung konkreter Vorschläge zur Einrichtung eines Kompensationsfonds mit all ihrem Erfahrungsschatz zur Seite zu stehen und sie bei der Einbindung anderer bi- und multilateraler Geber zu unterstützen. Sicherlich geht es bei dem Projekt auch um viel Geld. Um die Kosten auf möglichst viele Schultern zu verteilen, wäre es daher wichtig und notwendig, dass die Bundesregierung auf das ITT-Projekt innerhalb der EU und OECD sowie gegenüber vielen Partnerregierungen positiv aufmerksam macht, damit möglichst viele Geber ins Finanzierungsboot mit einsteigen. Deutschland sollte, ähnlich wie bei dem 1992 vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl ins Leben gerufenen PPG7-Projekt zum Schutz des Amazonasregenwaldes in Brasilien, die politische Führungsrolle des ITT-Projektes übernehmen und insbesondere die EU-Mitgliedstaaten zum Mitmachen bewegen. Für Ecuador wie auch für die EU-Mitgliedstaaten und andere Geberstaaten wird wichtig sein, dass es einen Ansprechpartner bzw. einen Sprecher für die Moderation und Koordination des Projektes gibt. Ich könnte mir Deutschland gut in dieser Rolle vorstellen. Natürlich sind die Einnahmeausfälle unter ökonomischen Gesichtspunkten insbesondere ein Verlust für die dort lebende Bevölkerung. Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 3 270 US-Dollar zählt Ecuador zu den ärmeren Staaten Lateinamerikas. Mit über 20 Prozent ist der Erdölsektor immer noch der dominierende Sektor der ecuadorianischen Wirtschaft. Daher müssen wir den Menschen bei der Suche nach alternativen Einnahmequellen unsere Hilfe anbieten. Diese kann nur im Verbund mit einer nachhaltigen Sicherung des Yasuní erfolgen und erfordert daher unsere besondere Aufmerksamkeit. Vor allem wollen wir gemeinsam mit der ecuadorianischen Regierung, dass die Kompensationsmittel insbesondere der lokalen Bevölkerung in und um das Yasuní-Gebiet und dem Schutz der dortigen Natur zugutekommen. Zu Protokoll gegebene Reden Um all diese ambitionierten Vorhaben zu realisieren und damit dieses einzigartige UNESCO-Weltnaturschutzerbe zu erhalten, benötigen wir Zeit. Es ist daher fundamental, dass die Bundesregierung die Regierung Ecuadors um Aufschub der gesetzten Frist bis zum Ende des Jahres 2008 bittet. Diese Zeit sollte genutzt werden, um eine wissenschaftliche Prüfung der vorliegenden Vorschläge als Entscheidungsgrundlage zu haben. Und ich bin zuversichtlich, dass dies auch gelingen wird. Auf der Lateinamerikareise konnte ich Frau Merkel vor den Gesprächen mit dem ecuadorianischen Präsidenten Correa die Vorteile und Wichtigkeit des Projektes erläutern, und sie hat ihm bereits grundsätzlich wohlwollende Unterstützung zugesagt. Nur wenn das ITT-Projekt vorangebracht wird, hat dieses Biosphärenreservat mit seinen dort lebenden indigenen Völkern, Tieren und Pflanzen eine Chance zu überleben. Wir müssen diese Chance mit all unserem Willen, Ernsthaftigkeit und politischer Verantwortung nutzen. Wenn wir nicht jetzt handeln, wird es in wenigen Jahren schon zu spät sein. Dann werden der rote Flussdelphin, der Tapir und viele Käferarten nur noch Legende sein. Viele Pflanzen- und Tierarten, die wir noch gar nicht kennen und die für die Heilung vieler Krankheiten in Zukunft eine große Rolle spielen können, würden unwiderruflich vernichtet werden. Ich bitte Sie daher: Stimmen Sie diesem Antrag zu, damit wir als Weltgemeinschaft beweisen können, dass wir der Verantwortung für unseren Planeten und unsere nachfolgenden Generationen gerecht werden wollen.

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Anfang März 2008 hat der ehemalige Außenminister Ecuadors, Francisco Carrión Mena, in Berlin gegenüber Abgeordneten des Deutschen Bundestages ein Angebot Ecuadors an die internationale Gemeinschaft vorgestellt. Das Angebot betrifft den Yasuní-Nationalpark, ein UNESCO-Biosphärenreservat in Ecuador, im IshpingoTambococha-Tiputini-Gebiet, ITT. Unter diesem Gebiet lagert Öl. Man rechnet mit rund 900 Millionen Barrel. Das wäre ein Fünftel der ecuadorianischen Ölreserven. Der Vorschlag klingt bestechend: Wir erhalten den Regenwald und beuten das Ölvorkommen nicht aus. Als Gegenleistung dafür erhalten wir von euch 13 Jahre lang jeweils die Hälfte des theoretischen Nettogewinns, auf den wir verzichten, weil wir das Ölfeld nicht ausbeuten. Ausgehend von einem Nettogewinn von 700 Millionen USDollar pro Jahr wären das jährlich 350 Millionen USDollar. Das ITT ist ein Biodiversitäts-Hotspot. Es ist allein nach derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen Lebensraum für mehr als 630 Vogelarten, über 540 Fischarten und unzählige seltene Pflanzen. Auf einem Hektar des Yasuní-Nationalparks wurden 664 verschiedene Baumarten identifiziert. Hier findet man auf einem Hektar so viele verschieden Arten wie in den gesamten Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada zusammen. Im ITT leben zudem indigene Völker, die keinen Kontakt zur Außenwelt haben und unter dem Schutz der UNO stehen. Dies allein ist Grund genug dafür, dieses Gebiet zu schützen. Indem Ecuador darauf verzichtet, den Regenwald abzuholzen und das Erdöl zu fördern, werden die biologische Vielfalt und die grüne Lunge der Erde geschützt, aber auch Treibhausgasemissionen vermieden. Von der Sauerstoffproduktion und der biologischen Vielfalt des Urwalds profitiert die ganze Welt. Wenn wir lebensfähige Populationen von wild lebenden Tier- und Pflanzenarten in ihren natürlichen Biotopen - in situ - erhalten wollen, dann müssen wir ihre Lebensräume schützen. Dazu ist es einerseits wichtig, den ökonomischen Nutzen der biologischen Vielfalt gerade für Schwellen- und Entwicklungsländer herauszustellen, um deren Interesse am Schutz der Biodiversität auch wirtschaftlich zu motivieren. Wir brauchen zudem Schutzgebiete. Wir können aber nicht erwarten, dass die mit einer reichen Artenvielfalt gesegneten, aber wirtschaftlich vergleichsweise armen Länder ohne Gegenleistung auf wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten verzichten. Die Einrichtung von speziellen Fonds zur Sicherung der Gebiete ist eine Möglichkeit. In diese Richtung geht der Vorschlag Ecuadors. Er sollte daher wohlwollend geprüft werden. Dabei gilt es insbesondere sicherzustellen, dass der Wert des ITT-Gebiets und das darunter lagernde Ölvorkommen wissenschaftlich valide berechnet und entsprechend angesetzt wird. Unnötiger Zeitdruck darf nicht dazu führen, dass ins Blaue hinein Versprechungen gemacht werden. Finanzmittel dürfen nur konditioniert zur Verfügung gestellt werden, um sicherzugehen, dass das Öl tatsächlich nicht gefördert wird und die Natur erhalten bleibt. Das mit dem Vorschlag dem Grunde nach verbundene „Erpressungspotenzial“ muss bei der Ausgestaltung im Auge behalten werden; sonst riskieren wir, dass ein Präzedenzfall mit negativer Ausstrahlung geschaffen wird. Der Vorschlag kann andererseits gleichwohl ein wichtiges Pilotprojekt sein. Klar ist aber auch: Deutschlands Beitrag kann gegebenenfalls nur ein Baustein in einem Gesamtkonzept sein. Wichtig ist, dass dabei flankierend auf der G-8-Ebene für den Klimaschutz Waldnutzungsprojekte einbezogen und CO2-Minderungsziele nicht nur in langfristiger, sondern auch in mittelfristiger Perspektive vorgesehen werden.

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Zwar ist aus der Sache heraus schwer nachvollziehbar, warum Sie die Unterstützung der Linken für diesen überfraktionellen Antrag ausschlagen, dennoch wird das vertretene Anliegen von uns auch ganz eigenständig unterstützt. Große, neue politische Prozesse gehen in Lateinamerika vonstatten, die wir Linke sehr begrüßen. Dabei sehen wir neben den ökologischen Anstrengungen Boliviens die Verstaatlichungsprozesse in Venezuela, die beide in der breiten Bevölkerung Unterstützung dafür bekommen, endlich die desaströsen Folgen des Neoliberalismus zu überwinden. Bolivien zeichnet sich derzeit durch einen Verfassungsprozess aus, in dem die Mutter Erde als Synonym für ökologisch soziale Politik einen Verfassungsrang erhalten soll. Und nun - das kann ich nur mit Begeisterung aufnehmen - ist die neue Regierung in Ecuador daran, eine historische Zäsur zu vollziehen, was den Umgang mit fossilen Ressourcen angeht. Noch nirgendwo ist in solch emanzipatorischer und verantworZu Protokoll gegebene Reden tungsvoller Weise vonseiten einer Regierung auf den künftigen Umgang mit Bodenschätzen reagiert worden wie hier. Im Jahr 2007 überraschte die Regierung unter Präsident Correa die Weltöffentlichkeit mit einem völlig neuartigen Politikkonzept. Die Erdöllagerstätten, die im Gebiet vom Nationalpark Yasuní - ihr Name lautet IshpingoTambococha-Tibutini - liegen, sollen nicht ausgebeutet werden. Das Ziel ist, den Naturschutz, den Ressourcenschutz mit den Fragen des Klimawandels aufgrund von CO2-Überfrachtung zu verbinden und insbesondere der indigenen Bevölkerung im Dschungel nachhaltig ihren Lebensraum und damit ihre Kultur zu garantieren. Hat man sonst bezüglich des Ressourcenreichtums in Entwicklungsländern auch gerne die Formel vom Ressourcenfluch angewandt, um die katastrophalen Folgen der Ausbeutung zu beschreiben, so zeigt sich in diesem Vorschlag der Regierung Correas eine hochverantwortungsvolle Umgangsweise mit Erdölvorkommen in sensiblen ökologischen Räumen. Diese neue Politik ist eine Innovation, die den Erfordernissen des 21. Jahrhunderts voll entspricht. Mit dieser hoch zu schätzenden Politik ist selbstverständlich auch eine Forderung an die Welt und besonders an die erdölnachfragende westliche Welt verbunden, nämlich den Verzicht auf die Ausbeute mit einer Kompensation der zu erwartenden Einnahmeausfälle zu verbinden. Dieser Forderung müssen Sie nachkommen. Alles andere wäre grundfalsch und kontraproduktiv für den Kampf gegen den Klimawandel. Es ist völlig nachvollziehbar, dass die ecuadorianische Regierung an dieser Kondition festhalten muss, will sie nicht unter ökonomisch begründeten Druck reaktionärer Kräfte geraten, die völlig ignorant gegenüber den herausragenden Anforderungen des Klimawandels sind. Ausdrücklich hat die ecuadorianische Regierung die Frist für die Einrichtung eines Kompensationsfonds auf November 2008 verlängert und ihrerseits ein ITT-Sekretariat eingerichtet. Es ist nun gerade ein Jahr her, dass Bundeskanzlerin Frau Merkel auf dem G-8-Gipfel in Heiligendamm große Klimaschutzziele und Initiativen ankündigte. Bis heute wartet die Weltgemeinschaft auf die Erfüllung dieser. Bei den Vereinten Nationen ist kein deutscher Vorschlag eingegangen. Mit dieser Initiative Ecuadors aber besteht die Möglichkeit, zu einem anspruchsvollen ökologischen Klimaprojekt ganz konkret „Ja“ zu sagen. Es verdient alle Unterstützung, denn es ist ausgesprochen mutig. Es kann Modellcharakter bekommen und ausstrahlen auf OSZE und UN-gestützte neue Wege des Umgangs mit Ressourcen, der den Frieden mit der Natur und keinen Krieg um Öl beinhaltet.

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lasst das Öl im Boden - so lautete im letzten Jahr eine an die Staatengemeinschaft gerichtete Aufforderung aus Ecuador. Wir Grünen haben diese Aufforderung ernst genommen; denn ich konnte mich schon vor Jahren beim Engagement gegen den Bau einer Pipeline in Ecuador davon überzeugen, welche katastrophalen Verseuchungen die Ölförderung im Amazonas hinterlassen hat. Nach der diesjährigen, von uns angeregten Reise nach Ecuador konnte sich eine Delegation des Ausschusses davon überzeugen, dass es sich lohnt, diese Aufforderung ernsthaft zu prüfen. Lasst das Öl im Boden, rettet den Amazonas - mit diesem fast ein Jahr alten Vorschlag, damals noch von Alberto Acosta vorgetragen und dann vom Präsidenten Rafael Correa übernommen, soll ein riesiges Ölfeld im Yasuní-Biosphärenreservat vor der Förderung bewahrt werden. Der entgangene Gewinn soll durch internationale Kompensationszahlungen teilweise gegenfinanziert werden. Wäre es irgendein Ölfeld, so wäre der Vorschlag vermutlich nicht auf die positive Resonanz gestoßen, die er seitdem bekommen hat. Es ist aber nicht irgendein beliebiges Ölfeld, sondern es liegt mitten in der grünen Lunge Amerikas, im Amazonas. Das sogenannte ITT-Ölfeld ist ein Teil des etwa 1 Million Hektar großen Nationalparks Yasuní. Der Nationalpark ist ein wahrer Biodiversitäts-Hotspot: Auf einem Hektar gibt es fast so viele Baumarten wie in Nordamerika zusammen, und auf jedem dieser Bäume tummeln sich mehr Käferarten als in ganz Europa. Aber ich möchte an dieser Stelle auch betonen, dass diese Naturvielfalt eng mit der Lebensweise indigener Völker verbunden ist, die im Amazonas und speziell im Yasuní leben und von denen zwei in freiwilliger Isolation zur Zivilisation leben. Internationales Recht fordert hier Respekt vor diesen Menschen, die seit Jahrhunderten in und mit dem Urwald leben. Der Yasuní und das ITT-Gebiet gehören zu den Schatzkammern der Welt, die nicht kurzfristigen ökonomischen Interessen geopfert werden dürfen. Doch sie sind in höchster Gefahr. Was uns allen bewusst sein muss: Der Yasuní leidet bereits. Es gibt Ölfördergebiete im Grenzgebiet des Yasuní, die in den Nationalpark hineinreichen. Und die Konzessionierung des Ölfeldes im sogenannten Block 31 in direkter Nachbarschaft des ITT-Ölfeldes ist eine echte Bedrohung für das sensible Ökosystem. Dass bereits Ölförderung im Yasuní stattfindet, ist für manche ein scheinbar starkes Argument, den ITT-Vorschlag als Heuchelei abzuwerten. Ich meine, das Gegenteil ist der Fall. Es ist ein starkes Argument, den Vorschlag zu unterstützen und alles zu versuchen, dass er Wirklichkeit werden kann. Ecuador ist ein Entwicklungsland und seine Wirtschaft in hohem Maße abhängig von den Einnahmen aus dem Ölgeschäft. Schafft es die internationale Gemeinschaft, das Gebiet rund um das besagte Ölfeld dauerhaft zu schützen, so setzen wir damit eine Dynamik in Gang, die es auch schaffen kann, den gesamten Nationalpark dauerhaft unter Schutz zu stellen. Ecuador ist bereit, auf die Hälfte der erwarteten Einnahmen aus der Ausbeutung des ITT-Ölfelds zu verzichten. Die andere Hälfte soll die internationale Gemeinschaft kompensieren. Zurzeit rechnet Ecuador mit möglichen Einnahmen von 700 Millionen US-Dollar jährlich über einen Zeitraum von 13 Jahren. Das heißt, die internationale Staatengemeinschaft müsste 13 Jahre lang 350 Millionen US-Dollar pro Jahr zahlen. Das Geld will Ecuador in Sozialprogramme und den Aufbau erneuerbarer Energien investieren. Zu Protokoll gegebene Reden Ich bin der Meinung, wenn es die Welt wirklich ernst meint mit der Bekämpfung des Artensterbens und des Klimawandels sowie mit der Erreichung internationaler Entwicklungsziele, dann sollte es dieses Vorhaben unterstützen. Wir brauchen einen Wandel in der internationalen Rohstoffpolitik. Dieser Wandel muss unserer Umwelt - dem Wald und anderen ökologisch sensiblen Gebieten wieder den Wert beimessen, den sie hat; denn sie ist die Grundlage für unser Dasein auf diesem Planeten. Wir müssen Schluss machen mit einer Wirtschaftweise, in der sich Umwelt- und Klimaschäden nicht im Preis des Produktes niederschlagen. Wäre dies der Fall, so würde sich Erdölförderung im Urwald wahrscheinlich nicht mehr lohnen. Die Unterstützung Ecuadors bei der Umsetzung des Vorschlags wäre ein starkes Symbol der Staatengemeinschaft, dass sie bereit dazu ist, Verantwortung zu übernehmen für ein Weltnaturerbe. Tut sie dies nicht, so vergibt sie die Chance, einen Kontrapunkt zu setzen gegen die allgemeine Praxis, Naturgüter der Erdölförderung unterzuordnen. Noch gibt es viele offene Fragen, die einer wirklichen Umsetzung des ITT-Vorschlags im Wege stehen. Dazu gehört die seriöse Bestimmung des Ölvolumens und eines Berechnungsmodus für Kompensationszahlungen. Dazu gehört aber unter anderem auch die Frage, auf welchem Wege sichergestellt werden kann, dass das Gebiet dauerhaft geschützt wird. Aber dies sind Fragen, die beantwortet werden können. Die Umsetzung von entsprechenden Maßnahmen liegt im Bereich des Möglichen. Verschiedene europäische Staaten, unter anderem auch Deutschland, haben Interesse gezeigt, den Vorschlag grundsätzlich zu unterstützen. Diese Bereitschaft muss sich jetzt konkretisieren und in Taten zeigen. Dass aus dem Anliegen von Bündnis 90/Die Grünen, einen Beitrag zum Wald- und Klimaschutz durch Unterstützung des ITT-Vorschlags zu leisten, ein gemeinsamer Antrag mit den Fraktionen der Regierungskoalition CDU/CSU und SPD geworden ist, verdanken wir einem verstärkten Bewusstsein für umwelt- und klimapolitische Fragen, für das wir Grüne seit langer Zeit gekämpft haben.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Wir stimmen ab über den Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9758. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Dann ist dieser Antrag einvernehmlich angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 sowie den Zusatzpunkt 10 auf: 25 Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ute Koczy, Jürgen Trittin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN G8-Gipfel in Japan für Klimaschutz und nachhaltige Entwicklung nutzen - Drucksache 16/9751 ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, Hellmut Königshaus, Dr. Christel Happach-Kasan, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Glaubwürdigkeit von G8 nicht verspielen Maßnahmen zur Bekämpfung der Nahrungsmittelkrise auf dem Gipfeltreffen in Hokkaido beschließen - Drucksache 16/9750 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) Finanzausschuss Die Reden der Kollegen Erich G. Fritz, Frank Schwabe, Dr. Karl Addicks, Eva Bulling-Schröter und Thilo Hoppe werden zu Protokoll genommen.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der G-8-Gipfel der Staats- und Regierungschefs vom 6. bis 8. Juni 2007 in Heiligendamm unter Vorsitz unserer Bundeskanzlerin war ein großer Erfolg. Unter dem Motto „Wachstum und Verantwortung“ hat die deutsche Präsidentschaft den Nerv der internationalen Problemlage getroffen und weitreichende Beschlüsse in den Schwerpunktthemen Weltwirtschaft und Klimaschutz gefasst. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt es sehr, dass auf dem Gipfel in Japan vom 7. bis 9. Juli 2008 die Schwerpunkte der deutschen G-8-Präsidentschaft fortgeführt werden sollen. Anlässlich der Pressekonferenz zum EU-Japan-Gipfel im Juni 2007 war Bundeskanzlerin Merkel bereits zuversichtlich, dass auf der japanischen Nordinsel Hokkaido das fortgesetzt werden könnte, was in der deutschen Präsidentschaft erreicht wurde. Einigkeit besteht vor allem in drei Punkten: Erstens. Klimawandel ist ein ernstes, weitgehend von Menschen verursachtes Problem, das der politischen Lösung auf globaler Ebene bedarf. Wir Menschen müssen darauf reagieren und dürfen die Augen nicht vor den Auswirkungen des Klimawandels verschließen. Zweitens. Wir stimmen darin überein, dass der weltweite Anstieg der Treibhausgasemissionen gestoppt werden muss. Langfristige Reduktionsziele werden von allen G-8-Partnern angestrebt. Ein globales Ziel zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen wird von allen G-8Partnern angestrebt. Der Gipfel in Heiligendamm unter deutscher Führung hat mit der Formulierung, dass die G 8 mindestens eine Halbierung der weltweiten Emissionen bis zum Jahr 2050 „ernsthaft in Betracht“ ziehen, einen wichtigen Impuls zur Erreichung dieses Ziels gegeben. Japan hat die Diskussion mit „Cool Earth 50“ fortgeführt und sieht sich von der EU und Canada besonders unterstützt. Nach wie vor gibt es aber keine Bereitschaft, sich auf quantitative Ziele festzulegen, und eine Einigung über gemeinsames Vorgehen im Detail mit den USA wird auch auf diesem Gipfel nicht zu erreichen sein. Drittens. Japan und Deutschland sowie die übrigen G-8-Partner bekennen sich geschlossen zu Klimaverhandlungen unter dem Dach der Vereinten Nationen. Dass ein solcher Prozess in ein UN-Rahmenwerk eingebunden sein muss, ist wichtig, weil er nur so bindenden Charakter für die Weltgemeinschaft entwickeln kann. Deshalb sind wir sehr dafür, dass einzelne Initiativen weitgehend berücksichtigt werden sowie die großen und wichtigen Schwellenländer wie Brasilien, China, Indien und Südafrika in den Dialog miteingebunden werden. Der Grundstein für die Zusammenarbeit mit den großen Schwellenländern wurde unter deutscher Präsidentschaft im Rahmen des sogenannten Heiligendamm-Prozesses gelegt. Die G 8 traf hier mit Brasilien, China, Indien und Südafrika die Vereinbarung, gemeinsam mehr ökonomische und politische Verantwortung für globale Herausforderungen zu übernehmen. Auf der Plattform der OECD wurde gemeinsam zwischen G 8 und den benannten Schwellenländern ein Dialog vereinbart zu wichtigen Themen wie Investitionsbedingungen, Förderung von Innovationen, Schutz geistigen Eigentums, Entwicklungszusammenarbeit, Steigerung der Energieeffizienz sowie Technologiekooperation in den Bereichen Kraftwerke und Gebäude. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt sehr, dass auf Grundlage dieses Dialogs eine gemeinsame Erklärung der G-8-Staaten mit den sogenannten Outreach-Staaten verabschiedet wurde. Beim Thema Klima wird in der Erklärung auf die gemeinsame Verantwortung verwiesen. Ich schätze diesen Aspekt sehr, weise aber darauf hin, dass dies nicht genug ist. Die Schwellenländer sollten vielmehr ausdrücklich ihre Bereitschaft erklären, einen ausgewogenen und fairen Anteil zur Stabilisierung der Emissionen beizutragen und an der Entwicklung eines flexiblen, aber wirksamen internationalen klimapolitischen Regimes mitzuwirken. Die japanische Präsidentschaft hat sich im Bereich der Klimapolitik ehrgeizige Zielvorhaben gesetzt. Diese kamen erneut anlässlich des Besuchs des japanischen Premierministers Yasuo Fukuda am 1. Juni im Bundeskanzleramt zur Sprache. Fukuda beabsichtigt, über die in Heiligendamm erklärte Absicht zur Halbierung der Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2050 hinauszugehen. Er verfolgt das Ziel, die CO2-Emissionen bis 2050 um 60 bis 80 Prozent zu reduzieren. Ich schätze dieses Zielvorhaben, da in der vergangenen Zeit wie von der „Financial Times“ zitiert Japans „Klimaschutzweste einen hässlichen Fleck“ bekommen hat. Japan hat sich nicht an die Vereinbarungen im Kioto-Protokoll gehalten und die Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 um sechs Prozent gesenkt, sondern noch erhöht. Es ist daher umso erfreulicher, dass Japan seine G-8-Präsidentschaft nutzt und die Chance ergreift, eine Vorreiterrolle im Klimaschutz zu übernehmen. Noch ist offen, ob in Hokkaido Verbindlichkeiten zur Erreichung der klimapolitischen Ziele getroffen werden können. Insbesondere die USA als weltweit größter Emittent sind bislang nicht bereit, die Ziele mitzutragen. Zuversichtlich stimmen jedoch die gemeinsamen Positionen zwischen Deutschland und Japan, auf die ich anfangs eingegangen bin. Sie zeigen, dass Klimaschutzpolitik nicht das Hobby der Europäer ist. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso sagte vor knapp einem Jahr im Gespräch mit unserer Kanzlerin und dem damaligen japanischen Ministerpräsident Shinzo Abe: „Dort, wo wir eine Führungsrolle aufnehmen und Führungsstärke an den Tag legen sollten, haben wir eine globale Verantwortung im Bereich des Klimawandels.“ In diesem Sinne wünschen wir Japan, besonders dem Premierminister Yasuo Fukuda, viel Erfolg und den Beginn eines dauerhaften Dialogs für eine nachhaltige Klimapolitik in der Zukunft, die für die Menschen verträglich und für das friedliche Zusammenleben der Völker förderlich ist. Klimaschutzpolitik ist in Zukunft mehr als nur Umweltpolitik. Sie wird zur zentralen Aufgabe der Gewährleistung von Sicherheit, Entwicklung und Wohlstand auf der Welt. Auch bei der Afrika-Politik wird die japanische Präsidentschaft für Kontinuität sorgen. Japan selbst hat ein Zeichen gesetzt und wird die Mittel zur Unterstützung Afrikas und zur Erreichung der Millenniumsziele verdoppeln. Der Schwerpunkt, der gewählt wurde - Gesundheit, Wasser und Bildung - zielt in den Kern der Entwicklungserfordernisse und bildet die Grundvoraussetzung für dauerhafte Erfolge auf allen anderen Feldern der Zusammenarbeit mit Afrika. Es ist sehr zu begrüßen, dass sich der Gipfel auch mit den Fragen der Ernährungssicherheit und der Preisentwicklung von Nahrungsmitteln und Rohstoffen beschäftigen wird, ohne allzu viel von dieser Diskussion für aktuelle politische Handlungsmöglichkeiten zu erwarten. Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt, dass der Gipfel erneut auch weltwirtschaftlichen Problemen ausreichenden Raum gibt und die Ziele eines nachhaltigen Wachstums, Fragen von Investitionen, Handel und dem Schutz geistigen Eigentums sowie von Rohstoffproblemen behandeln wird. Auch dass der Gipfel das Thema Nichtverbreitung, insbesondere im Hinblick auf Nordkorea und den Iran, sowie eine Stärkung des Nichtverbreitungsregimes diskutieren wird, ist angesichts der internationalen Lage von großer Bedeutung und hängt auch mit den zukünftigen Fragen der Bekämpfung des Terrorismus zusammen, die ebenfalls erneut aufgegriffen werden. Die erneute Einbeziehung der O 5 und afrikanischer Länder trägt zu einer Verstärkung und zum Ausbau der Kommunikationsfähigkeit der G 8 bei und entwickelt mit der Fortführung des Heiligendamm-Prozesses eine Struktur des Dialogs der wichtigsten Verantwortungsträger, der so in keiner anderen Konstellation geleistet werden kann. G 8 ist deshalb ein wichtiger Baustein der Akzeptanz für die Verantwortung internationaler Problemlösung und etwa in Klimafragen ausdrücklich ein Befürworter von Lösungen innerhalb und durch die Vereinten Nationen und nicht, wie Kritiker häufig mutmaßen, ein Versuch der Schwächung des VN-Systems. Auch bei diesem Gipfel wird es wieder so sein, dass diejenigen Kritiker, die den G 8 eigentlich jede Legitimation absprechen, internationale Probleme zu behandeln, hinterher den Eindruck erwecken, es hätte eigentlich konkrete Beschlüsse geben und die Setzung internationaler Regeln gelingen müssen. G 8 bleibt ein wichtiges internationales Dialogforum zur Angleichung von Standpunkten für langfristig zu lösende Aufgaben. Seine Bedeutung wird durch die Verbindung mit den wichtigen Schwellenländern und afrikanischen Partnern nur noch größer. Zu Protokoll gegebene Reden Die CDU/CSU-Fraktion wünscht der Bundeskanzlerin viel Erfolg auf dem japanischen G-8-Gipfel und erwartet deutliche Signale für die Weltwirtschaft, für eine weltweite Klimaschutzpolitik und zunehmende Sicherheit.

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ein gutes Jahr ist es jetzt her: der G-8-Gipfel in Heiligendamm. Die Erwartungen damals an die Regierungschefs der G-8-Staaten, vor allem an die Bundeskanzlerin Angela Merkel waren hoch. Rückblickend kann man sagen, dass die Verhandlungsergebnisse als Erfolg gewertet werden können. Nach Heiligendamm wurden im Rahmen der Klimakonferenz der Vereinten Nationen erste wichtige Schritte in Richtung Kioto-Nachfolgeabkommen zurückgelegt. Auf der Biodiversitätskonferenz vor wenigen Wochen in Bonn wurden wichtige Zusagen zum Schutz der Urwälder und gleichzeitig zur Unterstützung der Entwicklungsländer gemacht. Es reicht jedoch nicht aus, wenn wir sagen: Die G-8Staaten können nach wie vor wichtige Entscheidungen zum Klimaschutz, zum Schutz der Biodiversität und zur Bekämpfung der weltweiten Armut maßgeblich in der Weltgemeinschaft vorantreiben. Man muss es deutlicher formulieren: Nur wenn die G-8-Staaten sich ihrer Verantwortung bewusst sind und wichtige Entscheidungen wie etwa zum Klimaschutz treffen, dann - und nur dann werden auch Länder wie China, Indien oder Brasilien Verpflichtungen zur CO2-Reduktion, zum Waldschutz und zur Nachhaltigkeit eingehen. Und nur wenn die G-8-Staaten diese Aufgaben verantwortungsvoll bewältigen, werden sie in Zukunft weiterhin über die notwendige Legitimität und Macht in der Weltgemeinschaft verfügen. Deshalb müssen auf dem Gipfel in Japan die Vereinbarungen des G-8-Gipfels vom letzten Jahr in Heiligendamm aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Die Bundesregierung, allen voran die Kanzlerin Angela Merkel, muss vor allem ihrer Vorbildfunktion im Bereich Klimaschutz, Biodiversitätsschutz und Nachhaltigkeit gerecht werden und die anderen Staaten der G8 mit ins Boot holen. Erstens. Es gilt, verbindliche Reduktionsverpflichtungen mittelfristig bis 2020 und langfristig bis 2050 einzugehen. Dabei müssen die G-8-Staaten mit ihren Klimaschutzbemühungen deutlich zeigen, dass sie sich ihrer Verantwortung hinsichtlich der Ursache des Klimawandels bewusst sind. Ich möchte hier betonen, dass man international ganz genau schaut, wie Deutschland sein Ziel, 40 Prozent Reduktion bis 2020, erreichen wird. Wenn wir den Eindruck zulassen, dass wir hier in Deutschland vieles ankündigen, später aber im Gesetzgebungsprozess nachlassen, wird das unsere Position gegenüber China und Indien auf Dauer nicht unbedingt stärken. Wenig hilfreich bei der Debatte sind auch die Pläne der Internationalen Energieagentur, die vorsehen, dass der CO2-Ausstoß durch den Neubau von Atomkraftwerken gestoppt wird. Energieeffizienz und der Ausbau von erneuerbaren Energien wird der Schlüssel zu Halbierung des CO2-Ausstoßes bis 2050 sein. Wir brauchen weltweit einen neuen intelligenten Umgang mit Rohstoffen und keine gefährliche unberechenbare Energiegewinnung, die noch nicht einmal in den modernsten Industrieländern beherrscht wird. Beim Ausbau der erneuerbaren Energien müssen wir noch stärker als bisher den Technologietransfer in den Entwicklungsländer vorantreiben. Der Mechanismus CDM ist ein wichtiger Baustein, vielleicht werden wir demnächst jedoch weitere Bausteine entwickeln müssen. Auf internationaler Ebene müssen wir auch weiterkommen bei dem Thema der Anpassung an den Klimawandel. Die Bundesregierung hat bisher schon finanzielle Zusagen gemacht. Auch die anderen G-8-Staaten müssen nachziehen. Und jetzt gilt es auch langfristig Planungen zur Finanzierung der Anpassung zu machen. Deutschland wird ab 2013 durch die Versteigerung der Emissionszertifikate mehrere Milliarden Euro einnehmen. Ein Teil muss direkt in den Anpassungsfonds für Entwicklungsländer fließen. Der Fonds braucht regelmäßige und zuverlässige Mittel, um die Kosten des Klimawandels abzufedern. Zweitens darf das Signal, was von der Biodiversitätskonferenz vor wenigen Wochen in Bonn ausging, nicht verpuffen. Wir müssen den Entwicklungsländern einen Ausgleich dafür bieten, dass sie darauf verzichten, ihre Wälder auszubeuten. Der Erhalt der Wälder muss zukünftig mehr wert sein als ihre Zerstörung. Auch hier brauchen wir einen zuverlässigen Finanzierungsmechanismus. Die Bundesregierung ist auf der Biodiversitätskonferenz mit der Zusage der Kanzlerin Angela Merkel und des Bundesumweltministers Sigmar Gabriel vorweggegangen. Jetzt müssen auch die anderen Staaten nachziehen. Außerdem müssen Entwicklungsländer weit mehr als bisher von der biologischen Vielfalt profitieren können. Biopiraterie ist ebenfalls ein wichtiges Stichwort. Es kann nicht sein, dass Pharmaunternehmen Profite für neuentwickelte Medikamente einstreichen, und die Menschen vor Ort von den Gewinnen keinen Cent sehen. Drittens müssen wir bei vielen anstehenden Entwicklungen noch stärker in Nachhaltigkeit investieren. Das gilt zum Beispiel für den Anbau von Energiepflanzen und Futtermittel und für den legalen Holzeinschlag. Es muss verhindert werden, dass Nahrungsmittelpreise weiter steigen und das Welthungerproblem sich dadurch verschärft. Globale Finanzmärkte müssen weiter transparent gestaltet und dann eben im Zweifel reguliert werden. Auch das ist eine Aufgabe, die vor allem die G-8-Staaten in Angriff nehmen müssen: Nach wie vor hungert auf der Welt eine Milliarde Menschen. Ein unannehmbarer Zustand. Keine Regierung der Welt wird sich um den Klimaschutz kümmern, wenn ihre Bewohner hungern müssen und keinen gesicherten Zugang zu sauberem Trinkwasser haben. Nur wenn die globale Gerechtigkeit erhöht wird, dann können wir nachhaltige Klimaschutzpolitik betreiben. Gleiches gilt andersherum: Wenn wir die globale Erwärmung nicht begrenzen können, werden mehr Menschen als bisher keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben und sich nicht ausreichend ernähren können. Zu Protokoll gegebene Reden Klimaschutz, saubere und preiswerte Energieversorgung sowie der Kampf gegen Armut hängen zusammen und müssen auch in der Politik zusammen gedacht werden. Eine Institution dafür ist die G8. Diese Staaten müssen die Aufgabe übernehmen und Lösungswege vorantreiben. Sie verfügen über die finanziellen Mittel, die nötige politische Stärke, und - da bin ich mir vollkommen sicher - auch über den Willen, dies umzusetzen.

Dr. Karl Addicks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003713, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

In nur wenigen Wochen treffen sich auf Hokkaido die Staats- und Regierungschefs der acht größten Industriestaaten zu ihrem jährlichen Gipfeltreffen. Noch vor einem Jahr haben wir an dieser Stelle über die Ziele und Vorstellungen der deutschen G-8-Präsidentschaft gesprochen. Die Bundesregierung hatte besonders den afrikanischen Kontinent ganz oben auf ihre Agenda gesetzt. Dies ist grundsätzlich zu begrüßen und muss auch weiterhin so sein; denn die Entwicklungsfortschritte in Afrika sind bei weitem noch nicht auf dem Niveau, wie wir sie nach fast 50 Jahren Entwicklungszusammenarbeit gern hätten. Umso erfreuter zeigte ich mich über das Abschlussdokument von Heiligendamm. Was wollten die G-8-Staaten nicht alles verbessern: die Förderung der Wirtschaft, Investitionen, gute Regierungsführung und die Gesundheitssysteme, insbesondere die Bekämpfung von HIV/ Aids, Malaria, Tuberkulose und anderen Tropenkrankheiten. Hilfszusagen in Milliardenhöhe, insbesondere an den afrikanischen Kontinent, wurden von den G-8-Staaten damals gemacht. Im Hinblick auf das kommende G-8-Treffen auf Hokkaido im Juli dieses Jahres ist eine ehrliche Bilanz des Heiligendamm-Prozesses ebenso geboten wie ein Ausblick auf die anstehenden Themen unter japanischer G-8Präsidentschaft; denn nichts schadet der Glaubwürdigkeit und dem Ansehen der G 8 mehr als nicht eingehaltene Versprechen. Rückblickend auf die Versprechungen der G-8-Staaten und die umgesetzten Verpflichtungen muss klar gesagt werden, dass den Worten nicht entsprechende Taten folgten. Der jüngste Africa-Progess-Panel-Bericht hat uns eindeutig vor Augen geführt, dass die Industrienationen ihren finanziellen Zusagen für Afrika bisher nicht nachkommen. So sind die finanziellen Versprechungen des G-8-Gipfels von Gleneagles, die Hilfen für Afrika bis 2010 zu verdoppeln, nach gegenwärtigem Stand um 40 Milliarden Dollar unterschritten. Die internationalen Herausforderungen und Themen sind seit dem letzten Gipfeltreffen aber nicht weniger geworden. Im Gegenteil. Das größte und dringendste Problem beschäftigt uns seit Anfang des Jahres: die Nahrungsmittelkrise. Während das Thema „Ländliche Entwicklung“ auf dem G-8-Gipfeltreffen in Heiligendamm lediglich am Rande erwähnt wurde, wird es angesichts der aktuellen Ernährungskrise, die insbesondere die Entwicklungs- und Schwellenländer betrifft, ein Schwerpunkt auf dem G-8Gipfeltreffen in Japan sein. Die Bundesregierung hat wie die gesamte internationale Gemeinschaft die ländliche Entwicklung sträflich vernachlässigt. Die Signale für ein frühzeitiges Gegensteuern wurden von allen Seiten schlichtweg übersehen. Seit den 80er-Jahren hat die internationale Gemeinschaft die Förderung der ländlichen Entwicklung kontinuierlich verringert. Seit 1998 hat die Bundesregierung ihre Beiträge zur Ernährungssicherung und ländlichen Entwicklung um 100 Millionen Euro gekürzt. Aber auch die Nehmerländer sind ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen. So haben sich die afrikanischen Staaten im Jahr 2003 dazu verpflichtet, 10 Prozent ihrer nationalen Haushalte für die Landwirtschaft ihres Landes einzusetzen. Derzeit geben die Mehrheit der afrikanischen Partnerländer lediglich 4 Prozent für den Bereich Landwirtschaft aus. Die ländliche Entwicklung trägt aber maßgeblich zur Entwicklung eines Landes bei. Der Weltbankbericht aus dem Jahr 2008 „Agriculture for Development“ hat dies unterstrichen. Investitionen in ländliche Entwicklung erzielen einen viermal größeren Entwicklungseffekt als Investitionen in andere Bereiche. Auf dem Gipfeltreffen in Hokkaido ist umso dringlicher, dass Maßnahmen zur Förderung von Landwirtschaft und Ernährungssicherheit beschlossen werden; denn infolge der rasant gestiegenen Lebensmittelpreise in den letzten Monaten droht ein dramatischer Anstieg der an Hunger leidenden Menschen und damit ein Zunichtemachen der Erfolge der vergangenen Jahre. Schätzungen gehen davon aus, dass die Zahl von gegenwärtig 850 Millionen Hungernden allein bis Ende des Jahres auf 900 Millionen ansteigen wird. Das Ziel der Halbierung der Armut bis 2015 ist in weite Ferne gerückt. Während die Preise für Grundnahrungsmittel jahrelang relativ stabil gewesen sind, stiegen die Preise für Weizen, Reis, Mais und Soja in den vergangenen drei Jahren dramatisch an; vor zwei Monaten explodierten sie regelrecht. Besonders Entwicklungs- und Schwellenländer sind von diesen Preisexplosionen betroffen. Erste hungerbedingte Proteste stellen zudem eine zusätzliche Gefahr für Leben, Frieden und Stabilität in den Entwicklungsländern dar. Bereits heute ist klar, dass es sich bei den steigenden Lebensmittelpreisen und den damit verbundenen Auswirkungen nicht um ein vorübergehendes Phänomen, sondern um eine grundlegende Entwicklung handelt, die es gilt, langfristig anzugehen. Erforderlich sind jetzt Sofortmaßnahmen, um hungerbedingte Katastrophen einzudämmen, vor allem aber mittel- und langfristige Maßnahmen, um die landwirtschaftliche Produktion zu steigern. Die gestiegenen Weltmarktpreise für Grundnahrungsmittel bieten dafür die Gelegenheit, um durch höhere Erzeugerpreise den landwirtschaftlichen Anbau lukrativer zu machen und von der Subsistenzwirtschaft loszukommen. Eine leistungsfähige, effiziente und innovative Landwirtschaft in den entwickelten und weniger entwickelten Ländern ist der entscheidende Schlüssel zur Bekämpfung des weltweiten Hungers. Nur über effiziente landwirtschaftliche Produktionsverfahren, leistungsfähige Agrarforschung auf nationaler und internationale Ebene und intakte und wirtschaftsstarke ländliche Räume lassen sich Hunger und Armut langfristig bekämpfen. Ein erfolgreicher Abschluss der laufenden Welthandelsrunde, WTO, und der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen sind vor allem für die Hungernden in den Entwicklungsländern von zentraler Bedeutung und für die europäische Zu Protokoll gegebene Reden Landwirtschaft eine unternehmerische Chance. Schließlich muss die Erzeugung von Biokraftstoffen und Biomasse nachhaltig erfolgen, und der Lebensmittelproduktion ist Vorrang vor der energetischen Nutzung von Biomasse einzuräumen. Auf dem vom 7. bis 9. Juli 2008 stattfindenden G-8Gipfeltreffen in Hokkaido, welches sich neben den Themen Umwelt und Klimawandel sowie Entwicklung und Afrika auch mit dem Thema der Nahrungsmittelpreise befassen wird, haben die G-8-Staaten jetzt die Chance, klare Maßnahmen zu beschließen. Um nachhaltig die globale Ernährung zu sichern, bedarf es abgestimmter, über den Agrarsektor und die Armutsbekämpfung hinausgehender Konzepte auch für die Bereiche der Umwelt-, Klima- und Wirtschaftspolitik. Aufgabe der Bundesregierung muss es sein, ihr Gewicht bei den Verhandlungen in Japan für ein gemeinsames Vorgehen der G-8-Staaten einzusetzen. Alle jetzt seitens der Bundesregierung beschlossenen Programme und Maßnahmen zur Verbesserung der globalen Nahrungsmittelversorgung sind nicht nachhaltig, wenn sie nicht kohärent abgestimmt und verfolgt werden, sowohl auf nationaler Ebene zwischen den deutschen Ministerien als auch auf europäischer und internationaler Ebene. Angesichts der immer größer werdenden Herausforderungen in der Entwicklungszusammenarbeit ist es umso wichtiger, dass die G-8-Staaten eine verlässliche und glaubwürdige Politik machen.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wie Sie sicher schon im Zusammenhang mit Heiligendamm bemerkt haben, hält die Linke von der alljährlichen exklusiven G-8-Runde nicht allzu viel. Der Club der mächtigen Staaten dieser Welt trifft sich, um an den Vereinten Nationen vorbei globale Politik zu betreiben. Dabei werden auch gelegentlich Zaungäste eingeladen diesmal Vertreter der sogenannten Outreach-Länder aus Asien, Lateinamerika und Afrika. Tatsächlich mitentscheiden dürfen diese aber nicht. Die Meinungen der G-8-Kritikerinnen und -Kritiker gehen bisweilen auseinander, was die Relevanz der Treffen betrifft. Einige meinen, G 8 sei eine unverbindliche Quasselrunde, die nichts Verbindliches entscheiden kann, weil ja im G-8-Prozess im Gegensatz zu vielen UN-Verfahren keine Instrumente zur Umsetzung, Kontrolle und gegebenenfalls Sanktionierung der Beschlüsse existieren. Demgegenüber fürchten andere die G 8 als nichtlegitimiertes Machtzentrum der Weltpolitik jenseits der UN. Ich denke, beide Aspekte sind richtig. Der Großmachtsanspruch der wirtschaftsstarken Industriestaaten, parallel zu den Vereinten Nationen einen neoliberalen Thinktank auf Regierungsebene zu unterhalten, also letztlich Grundlinien der Weltpolitik an der UN vorbei festlegen zu wollen, liegt auf der Hand. Entwicklungsländer und kleinere Industriestaaten bleiben dabei außen vor. Natürlich auch Nichtregierungsorganisationen und von der Politik Betroffene. In gewisser Weise ist das Ganze eine Fortführung neokolonialer Attitüden des vergangenen Jahrhunderts, auch wenn uns immer anderes weisgemacht wird. Gleichzeitig sind viele Beschlüsse oder Erklärungen, beispielsweise zum Klimaschutz, kaum das Papier wert, auf dem sie gedruckt wurden. Die Vertreter der USA, des wichtigsten globalen Players, drücken sie offensichtlich umstandslos in die Mülltonne, wenn sie in Washington aus dem Flugzeug steigen. Natürlich wäre es naiv, zu glauben, internationale Beziehungen ließen sich allein über die Vereinten Nationen regeln. Auf dem Weg zu international verbindlichen Abkommen wird es immer eine Vielzahl formeller und informeller Treffen von Regierungsvertreter und Regierungsvertreterinnen geben. Im Übrigen sind auch die UN kein Hort seligmachender Gerechtigkeit. Gleichwohl unterstützt die Linke die außerparlamentarischen Proteste gegen die dauerhafte Institutionalisierung eines unkontrollierbaren First-Class-Gremiums, wie es G 8 ist. Gleichzeitig wollen wir die Vereinten Nationen demokratischer gestalten und stärken, nicht schwächen. Heute beraten wir nun einen Antrag der Grünen, die sich als Partei im letzten Jahr von den Protesten gegen das G-8-Treffen in Heiligendamm distanziert haben. Natürlich folgt der Antrag darum der Logik, vom G-8-Prozess ein Engagement für mehr Klimaschutz und nachhaltige Entwicklung einzufordern, anstatt G 8 infrage zu stellen. Rein inhaltlich ist gegen die einzelnen Forderungen gar nichts zu sagen, es fragt sich nur, ob die Adresse, an die die Forderungen gerichtet sind, die richtige ist. Ganz wohl ist den Grünen diesbezüglich offensichtlich auch nicht; denn die Fraktion schreibt in ihrem Antrag, die G-8-Staaten könnten nicht für sich in Anspruch nehmen, Entscheidungen zu treffen, die zum Teil erhebliche Folgen für den Rest der Welt hätten. Auf die anschließenden 27 Forderungen möchte ich im Einzelnen in diesem Rahmen nicht eingehen. Hervorheben möchte ich aber, dass bekanntermaßen auch die Linke dafür eintritt, eine Politik zu machen, die weg von Kohle, Öl und Atom führt, weil den Erneuerbaren die Zukunft gehört. In diesem Zusammenhang ist die absurde Forderung der Internationalen Energieagentur, IEA, zurückzuweisen, das Klimaproblem mithilfe von 1 344 neuen Atomkraftwerken zu lösen. Das wäre ein energiepolitischer Amoklauf; nicht nur deshalb, weil das vorhandene Uran für diese Meiler nur wenige Jahre reichen würde, die Strategie also sündhaft teure Kraftwerksruinen produzieren würde. Wer auf die Atomwirtschaft setzt, der setzt auch auf eine unverantwortlich riskante und zentralisierte Form der Energieerzeugung. Sie würde eine Energiewende zu nachhaltigen dezentralen Erzeugungsformen aus Sonne, Wind, Wasser und Biomasse dauerhaft blockieren. Hier sind wir uns also mit den Grünen einig. Was die Agrotreibstoffe betrifft, so warten die Grünen allerdings wieder mit ihrer Idee auf, über die Festlegung von Nachhaltigkeits- und Menschenrechtskriterien ökologische und soziale Verwerfungen beim Anbau in Indonesien, Brasilien oder Kolumbien ausschließen zu wollen. Dazu können wir nur sagen: Träumen Sie weiter. Die Einhaltung dieser Kriterien, sollte es sie denn irgendwann einmal geben, wird nicht zu kontrollieren sein. Es tut mir leid. Aber solange sich die Grünen nicht dazu durchringen können, sich der Forderung nach Zu Protokoll gegebene Reden einem Importmoratorium für Agrotreibstoffe aus dem Süden anzuschließen - wie sie unzählige Umwelt- und Entwicklungsorganisationen formuliert haben - können wir an dieser Stelle das Engagement unserer Kollegen nicht ernst nehmen.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Im letzten Jahr war die G-8-Präsidentschaft ein Topthema und wurde auch im Parlament umfassend diskutiert. Dieses Jahr ist alles anders. Wir haben keine Diskussionen über die vor und die hinter dem Zaun, wie sie im letzten Jahr in Heiligendamm auf dem deutschen G-8Gipfel geführt wurden. Die Koalition macht sich nicht einmal die Mühe, mit einer eigenen parlamentarischen Initiative auf die Bedeutung des G-8-Gipfels in Japan hinzuweisen. Generell scheint der Gipfel unter einem merkwürdigen Stern zu stehen. Der US-amerikanische Präsident gibt seine Abschiedsvorstellung, große Ambitionen der Bundesregierung lassen sich nicht erkennen und die selbst die japanische Regierung versucht schon im Vorfeld des Gipfels, die Erwartungen tief zu hängen. Dabei hätten alle Beteiligten gute Gründe, mit Entschlossenheit zu versuchen, substanzielle Fortschritte beim Gipfel anzustreben. Die zentralen Themen, die die japanische Präsidentschaft platziert hat, reichen von der Klima- und Energiepolitik, über die Stabilisierung der Finanzmärkte, der Zusammenarbeit zwischen der G 8 und Afrika bis zur dramatischen Nahrungsmittel- und Hungerkrise. Über grundsätzliche Fragen, beispielsweise einer Transformation oder möglichen Erweiterung der G 8, wird nicht diskutiert. An dieser Stelle verhält sich die japanische Präsidentschaft wie die Bundesregierung im Jahr zuvor. Aus meiner Sicht gehört diese Diskussion gerade auch wegen der Beteiligung der Schwellenländer, der sogenannten anderen fünf, China, Indien, Brasilien, Mexiko und Südafrika, auf die Tagesordnung. Gleiches gilt für die Reform und Stärkung des UN-Systems; denn nur ein wirklich globales Forum ist in der Lage, Antworten auf globale Probleme zu finden. Gleichwohl bleiben die G 8 ein Machtfaktor. Sie können Dinge zum Besseren oder Schlechteren bewegen. Lassen Sie mich einige Anmerkungen zu den Themen des Gipfels machen: Aus grüner Sicht ist es ein Armutszeugnis, das sich bereits abzeichnet, dass erneut keine verbindlichen CO2-Reduktionsverpflichtungen angestrebt werden. Die japanische Präsidentschaft versäumt es, für eine klare Botschaft an Schwellen- und Entwicklungsländer zu sorgen, die zeigt: Ja, wir sind entschlossen, mit aller Kraft gegen den Klimawandel zu arbeiten! Übrigens wird auch versäumt, Signal zu setzen an die USamerikanische Politik und Gesellschaft nach Bush. Ein Jahr nach Heiligendamm herrscht Stillstand in dieser ungeheuer bedeutenden Frage. Die „Hausnummer“ für verbindliche CO2-Reduktionsziele der G 8 für die Zeit nach 2012 ist klar zu benennen. Deutschland sollte sich zu Reduktionen von 40 Prozent bis 2020 und 80 Prozent bis 2050 bereit erklären, die anderen G 8 Staaten sollten sich mindestens zu einer Reduktion um 30 Prozent bis 2020 und von 60 bis 80 Prozent bis 2050 verpflichten. Auch bei einem zweiten Thema ist offen, was der Gipfel bringt: bei der Reaktion auf die gegenwärtige - und anhaltende - globale Nahrungsmittel- und Agrarkrise. Natürlich können die G 8 diese Krise nicht allein bewältigen, doch sie haben Hebel zur Verringerung der Krise und sollten diese auch nutzen. Unsere Forderung ist hier ein klarer Beschluss der G 8 zum Abbau aller Subventionen, die negative Auswirkungen auf den Agrarsektor in Entwicklungsländern haben, vor allem in Afrika. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Bundesregierung reiht sich in die Phalanx derjenigen ein, die ein doppeltes Spiel spielen. Wer in Brüssel die Finger für die Erhöhung der Exportsubventionen für Schweinefleisch in afrikanische Länder hebt - mit bekannt negativen Folgen -, braucht in anderen Foren keine Lippenbekenntnisse über die negativen Wirkungen von Agrarsubventionen auf Entwicklungsländer loszulassen. Dass Frankreich und die USA dem in nichts nachstehen, macht die Situation nicht besser. Der Gipfel wird sich auch zum Bericht der Task Force „Hunger“ der Vereinten Nationen verhalten müssen, der Forderungen an die G 8 stellt. Diese sollen die grundsätzliche Dimension der Agrarkrise in der Abschlusserklärung zum Ausdruck bringen. Klimawandel, hohe Energiepreise und steigende Weltbevölkerung werden die globale Landwirtschaft grundlegend verändern. Wird nicht gehandelt, wird nach Schätzungen der Weltbank die Zahl der Hungernden in wenigen Jahren von derzeit 850 Millionen auf eine Milliarde ansteigen. Zehn Prozent der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit sollten für die Förderung der ländlichen Entwicklung ausgegeben werden, marktzerstörende Subventionen abgebaut und die Nothilfe durch stärkere Unterstützung des Welternährungsprogramms ausgebaut werden. Aus unserer Sicht ist die Bundesregierung aufgefordert, diese Vorschläge der UN-Experten zu unterstützen. Bezogen auf Afrika hat zumindest Japan angekündigt, die Hilfe bis 2012 schrittweise zu verdoppeln, die Reisproduktion in Afrika zu unterstützen, 100 000 Afrikanerinnen und Afrikaner im Gesundheitsbereich auszubilden und Privatinvestitionen zu fördern. Die europäischen G-8-Staaten sollten die eigenen Beschlüsse umsetzen. Diese sehen vor, die öffentliche Entwicklungshilfe der EU im Jahre 2010 auf mehr als 66 Milliarden Euro zu verdoppeln. Mindestens die Hälfte davon soll Afrika zugute kommen. Der Ausbau der Zusammenarbeit im Wasserbereich, der Anpassung an den Klimawandel und die Erreichung der MDG erfordern ein dringend aufgestocktes Engagement. Afrikaexperten um den ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan stellen im „African Progress Panel Report 2008“ vom Juni dieses Jahres jedoch für die G 8 insgesamt fest, dass die Geber weit hinter ihren bereits gemachten Zusagen zurückliegen. Um noch kurz auf das Thema Finanzmärkte einzugehen: Dass globale Finanzmärkte globale Regeln brauchen, wurde durch die Immobilienkrise in den USA und Zu Protokoll gegebene Reden die Auswirkungen auf das internationale Finanzsystem deutlich. Da sich zentrale Finanzplätze in den G-8-Staaten befinden, tragen diese Staaten eine besondere Verantwortung bei der Aufgabe, den Finanzmärkten ein effektives, verbindliches Regelwerk zu geben. Vor allem die USA und Großbritannien betreiben bislang mit ihrer Weigerung, systematisch ein effektives Regelwerk aufzustellen, Klientel- und Standortpolitik zum Schaden der Weltwirtschaft. Das muss ein Ende haben. Die anderen G-8Staaten sollten im eigenen Interesse auf eine Zusammenarbeit drängen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9751. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich der Stimme? - Der Antrag ist abgelehnt. Interfraktionell wird unter Zusatzpunkt 10 die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9750 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das immerhin ist einvernehmlich. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 26: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die europäische Integration der Republik Moldau unterstützen - Drucksache 16/9755 Hierzu haben die Kollegen Manfred Grund, Markus Meckel, Michael Link ({0}), Dr. Diether Dehm und Rainder Steenblock Reden vorbereitet, die allesamt zu Protokoll genommen werden.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wie kaum ein anderes Land in Europa hat die Republik Moldau nach wie vor unter den Folgen der großen historischen Tragödien des 20. Jahrhunderts zu leiden. Nach Jahrzehnten kommunistischer Diktatur und den Verwerfungen, die dem Zusammenbruch der Sowjetunion folgten, ist die Republik Moldau zum ärmsten Land des Kontinents geworden. Ihre staatliche Einheit ging infolge des Konfliktes um die abtrünnige Region Transnistrien verloren, ein Zustand, der bis heute andauert. Für kaum ein anderes Land westlich von Russland ist die europäische Perspektive von ähnlicher Bedeutung und mit ähnlichen Hoffnungen verbunden. Dabei ist es in erster Linie auf historische Zufälle zurückzuführen, dass die Republik Moldau im bisherigen Erweiterungsprozess der EU außen vor blieb. Wie die Länder des Baltikums fiel das Territorium Moldaus infolge des Zusatzprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt an die Sowjetunion. Doch anders als Litauen, Lettland und Estland vermochte Moldau nach deren Ende schon infolge des andauernden Konflikts um Transnistrien keinen vergleichbar schnellen Anschluss an den Westen zu finden. Während die Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien letztlich als Katalysator des EU-Integrationsprozesses wirkten, war es im Falle Moldaus das frühe Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen, das keine vergleichbare Öffnung der EU nach sich zog. Aufgrund der fortbestehenden Militärpräsenz Russlands in Transnistrien gaben letztlich auch machtpolitische Rücksichten den Ausschlag. So wurde Moldau zwar noch in den Stabilitätspakt für Südosteuropa einbezogen, nicht mehr jedoch in den Erweiterungsprozess, der auf den westlichen Balkan beschränkt blieb. Mit dem vorliegenden Antrag wird der Deutsche Bundestag die europäische Integration der Republik Moldau ausdrücklich unterstützen. Zwar sind die Voraussetzungen für eine formelle Beitrittsperspektive derzeit nicht gegeben. Die EU muss zunächst die notwendigen Reformen durchführen, um ihre Handlungsfähigkeit an ihre neue und künftige Größe anzupassen. Doch auch nach dem Nein der Iren zum Lissabonner Vertrag wird dies nicht das letzte Wort bleiben können. Denn es lässt sich nicht rechtfertigen, dass diejenigen Länder, die am schwersten und längsten unter der Teilung Europas zu leiden hatten, jetzt von den Vorteilen der europäischen Einigung ausgeschlossen bleiben sollen. Die Republik Moldau wird noch einen langen Weg hin zur EU zurückzulegen haben. Heute jedoch sollten wir ihr signalisieren, dass es für sie zumindest eine implizite Beitrittsperspektive geben wird; denn wenn sie künftig die Kriterien erfüllt, wird ihr der Beitritt nicht verwehrt bleiben. Wir wollen mit unserem Eintreten für die europäische Integration der Republik Moldau auch deren eigene Bemühungen um eine Annäherung an die EU würdigen. Aber wir tun dies nicht, weil wir über die Probleme hinwegsehen wollten, die mit dem Transformationsprozess in Moldau noch immer verbunden sind, sondern im Gegenteil, weil wir damit einem Impuls für eine nachdrückliche Stärkung des Reformprozesses gegen wollen. Wir wollen, dass die Republik Moldau ihre Reformen entschieden fortsetzt. Deshalb benennen wir auch die Defizite, die hinsichtlich der Demokratisierung des Landes, der Rechtsstaatlichkeit und der Einhaltung der Menschenrechte noch zu beheben sind. Dass die Zahl der Klagen moldauischer Bürger gegen die eigene Regierung beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in den vergangenen Jahren gestiegen ist, ist zwar vor allem ein Zeichen für die Entwicklung der Zivilgesellschaft, die sich ihrer Rechte mehr und mehr bewusst wird. Festzuhalten ist aber auch, dass diesen Klagen in den vergangenen Jahren in mehr als 100 Fällen stattgegeben wurde. So wird die Meinungsfreiheit noch nicht ausreichend gewährleistet. Die Zustände in Haftanstalten entsprechen zuweilen nicht europäischen Menschenrechtsstandards. Die Unabhängigkeit der Justiz, insbesondere auch von politischen Einflussnahmen, ist nicht hinreichend gesichert. Der Verdacht der politischen Instrumentalisierung von Strafverfahren ist jedenfalls in bestimmten Fällen nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Problematisch sind in dieser Hinsicht auch die Befugnisse der Generalstaatsanwaltschaft. Wir haben große Erwartungen an unsere Freunde in der Republik Moldau. Wir erwarten einen entschiedenen Ausbau der rechtsstaatlichen Garantien, und wir erwarten eine verstärkte, eine wirklich durchgreifende Bekämpfung der Korruption. Wir erkennen ausdrücklich an, welche Fortschritte dabei bereits in der einschlägigen Gesetzgebung gemacht wurden. Probleme bestehen jedoch oft noch darin, dass diese Gesetzgebung nicht oder nicht vollständig umgesetzt wird. Besondere Aufmerksamkeit muss den für 2009 anstehenden Parlamentswahlen gelten. Zu fairen Wahlen wird die Gewährleistung eines gleichberechtigten Zugangs aller Parteien zu den Medien gehören müssen. Ich verhehle nicht, dass die Anhebung der Sperrklausel von 4 auf 6 Prozent und das Verbot von Listenverbindungen bei mir Bedenken hervorrufen. An sich wären diese Änderungen grundsätzlich nicht zu beanstanden. Schließlich gibt es ähnliche Regelungen auch in anderen europäischen Ländern. Dass sie so kurzfristig vor den Wahlen erfolgt sind und den Oppositionsparteien nur wenig Gelegenheit zur Anpassung lassen, muss jedoch die Frage aufwerfen, ob diese Maßnahmen nicht letztlich dem Erhalt bestehender Mehrheitsverhältnisse dienen. Unverhältnismäßig erscheint mir auch die Tatsache, dass Doppelstaatsbürger von bestimmten öffentlichen Ämtern ausgeschlossen werden sollen - obwohl ich durchaus verstehe, dass sich für viele Moldauer damit Sorgen um ihre nationale Identität verbinden. Wir treten gleichwohl für eine schnellstmögliche Aufnahme von Verhandlungen über ein Nachfolgeabkommen des auslaufenden Partnerschafts- und Kooperationsabkommens ein, und zwar für ein Abkommen, das auch den Erwartungen der Republik Moldau gerecht wird und damit substanziell über den bisherigen Rahmen hinausgeht. Die bisherigen Reformbemühungen in Moldau rechtfertigen es nicht, dass das Verhältnis zur Republik Moldau hinter die Verhandlungen mit anderen Partnern zurückfällt. Wir tun dies jedoch in der Hoffnung, dass die Republik Moldau ihrerseits die Wahlgesetzgebung noch einmal überprüft und gegebenenfalls auch Vorschläge der Venedig-Kommission annimmt. Reformbedarf so deutlich zu benennen und gleichzeitig für die europäische Integration der Republik Moldau einzutreten, stellt keinen Widerspruch dar. Im Gegenteil: Nur wer ein klares Bekenntnis zur europäischen Perspektive der Republik Moldau abgibt, wer bereit ist, die Zusammenarbeit zu intensivieren und die Integration voranzubringen, der kann erwarten, mit seiner Kritik als Partner ernst genommen zu werden und eine konstruktive Rolle zu spielen. Kritik und Commitment müssen Hand in Hand gehen. Dieses Bekenntnis zur europäischen Integration der Republik Moldau schließt unsere Bemühungen um eine Lösung des Transnistrienkonflikts ein. Dieser Konflikt darf einer EU-Integration der Republik Moldau auf Dauer nicht im Wege stehen; denn dies würde das Land nur dem Druck anderer Konfliktparteien ausliefern und damit die Chancen für eine vertretbare Konfliktlösung vermindern. Der Konflikt in Transnistrien folgt keinen ethnischen oder religiösen Trennlinien. Seine Lösung hängt nicht von einem Ausgleich zwischen unterschiedlichen Volksgruppen ab. Die Rechte der russischen Minderheit sind in der Republik Moldau umfassend gewährleistet, und Chisinau dürfte auch zur Gewährung eines weitgehenden Autonomiestatus bereit sein. In letzter Konsequenz sind es der Charakter des Regimes in Tiraspol und indirekt die Haltung Russlands, die für eine Lösung ausschlaggebend sind. Denn die Voraussetzung einer Wiedervereinigung muss sein, dass in Transnistrien ein ebensolcher Transformationsprozess stattfindet, wie er sich in der Republik Moldau vollzieht. Die Alternative wäre nur ein Rückschlag in der demokratischen und rechtsstaatlichen Entwicklung Moldaus insgesamt. Das ist der Grund, weshalb die EU das Kozak-Memorandum abgelehnt hat. Hoffnungen auf eine schnelle Lösung des Konflikts haben sich bislang immer wieder zerschlagen. Die Europäische Union hat ihr Engagement in dem Konflikt in den letzten Jahren verstärkt. Aber wir sollten uns auch auf eine langfristigere Strategie einstellen. Und wir sollten dabei auch auf einen Wettbewerb der Systeme setzen. Eine Republik Moldau, in der rechtsstaatliche und demokratische Reformen weiter voranschreiten, in der sich ein wirtschaftlicher Aufbauprozess vollzieht, wird ihre Anziehungskraft gegenüber Transnistrien stärken. Eine konsequente Politik der Westintegration wird über kurz oder lang auch Russlands Wahrnehmung seiner Interessen in der Region beeinflussen und den strategischen Wert des Regimes in Tiraspol infrage stellen. Dafür aber braucht Chisinau eine strategische Perspektive, die nur die EU anbieten kann. Die Republik Moldau wird darauf nicht unendlich lang warten können. Der Abwanderungsdruck gerade der jungen, flexiblen und gut ausgebildeten Menschen ist seit Jahren hoch. Er hat sich durch die jüngste Erweiterung der EU eher noch verstärkt, indem sie Visaschranken an Grenzen schuf, wo vorher keine waren. Heute besteht schätzungsweise ein Drittel des Sozialprodukts in Moldau aus Rücküberweisungen seiner im Ausland lebenden Bürger. Sicher hat Moldau auch in wirtschaftlicher Hinsicht noch wichtige Reformaufgaben vor sich. Nicht zuletzt gilt es, die Rechts- und Investitionssicherheit vor staatlichen Eingriffen deutlich auszubauen. Doch bringen wir nicht zugleich die Perspektiven, die die EU zu bieten hat, nach Moldau, dann droht das Land seine potenziellen Leistungsträger mehr und mehr an das übrige Europa zu verlieren, dann droht Moldau dauerhaft zum Armen- und Altenheim Europas zu werden. Unser Interesse, das Interesse der EU an der Republik Moldau ist abstrakter, aber nicht weniger bedeutsam. Wenn es richtig ist, dass die Ausrichtung der EU weniger auf materiellen Egoismen als auf Prinzipien und Wertvorstellungen beruht, dann ist die Republik Moldau ein Testfall für die Tragfähigkeit europäischer Politik. Die europäische Integration der Republik Moldau zu unterstützen, ist uns ein parteiübergreifendes Anliegen. Ich freue mich, dass dieser Antrag breite Unterstützung auch in die Oppositionsfraktionen hinein gefunden hat. Zu Protokoll gegebene Reden

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In den vergangenen Jahren hat die Republik Moldau große Fortschritte auf ihrem Wege der Annäherung an die Europäische Union gemacht. Das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen von 1998 sowie vor allem das Aktionsprogramm der vergangenen drei Jahre bildeten dazu einen geeigneten Handlungsrahmen. Die 2007 unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ins Leben gerufene Schwarzmeersynergie hat zusätzlich dafür gesorgt, dass dieses vergleichsweise kleine Land in unserer unmittelbaren Nachbarschaft nicht übersehen wird. Dennoch steht die Republik Moldau weiterhin vor einer Reihe von Problemen, zu deren Lösung die EU und damit auch Deutschland beitragen kann. In vielerlei Hinsicht entspricht der Respekt für Menschenrechte und Grundfreiheiten in Moldau noch immer nicht unseren Standards. Auch zur Rechtsstaatlichkeit ist es noch ein weiter Weg. Dabei sieht sich die Republik Moldau insbesondere bei der Umsetzung der Gesetzgebung strukturell bedingten Problemen gegenüber. Die jüngsten Anstrengungen des Landes bei der Reform des Justiz- und Polizeiwesens sowie im Bereich der Korruptionsbekämpfung sollten daher auch künftig konstruktiv begleitet werden. Ein neues Rahmenabkommen kann dabei den Weg freimachen für neue gemeinsame Vorhaben. Im Hinblick auf die Parlamentswahlen Moldaus im kommenden Jahr wird deutlich, dass der Demokratisierungsprozess noch viele Defizite aufweist. Die jüngsten Änderungen der Wahlgesetzgebung und die gegenwärtige Lage von Meinungs- und Pressefreiheit geben dabei durchaus Anlass zur Sorge. Es darf nicht angehen, dass die moldauische Regierung über das Justizministerium die Zusammenschlüsse von Parteien verhindert. Denn in Kombination mit der neuen Sechs-Prozent-Hürde soll damit einzig und allein der Machterhalt der Kommunistischen Partei oder gar ihre absolute Parlamentsmehrheit gesichert werden. Neben der Fortsetzung des kritischen Dialogs und der konstruktiven Zusammenarbeit im Rahmen von OSZE und Europäischer Nachbarschaftspolitik bedarf es deshalb auch und vor allem des Engagements unserer Parteien und politischen Stiftungen, um die demokratische und freie Entwicklung der jungen moldauischen Demokratie zu unterstützen. Dies gilt sowohl mit Blick auf die politischen Parteien als auch auf die Zivilgesellschaft. Wirtschaftlich sieht sich die Republik Moldau ebenfalls zahlreichen Herausforderungen gegenüber. Deren Bewältigung ist für uns als Nachbarn von gleichermaßen außenhandels- und sicherheitspolitischer Relevanz. Insbesondere in den ländlich geprägten Regionen Moldaus verarmt und überaltert die Gesellschaft zusehends. In einer am Montag vorgelegten Studie hat die OECD die dramatischen Auswirkungen skizziert, welche die Doppelbelastung von Transformation und Globalisierung für die Arbeitsmärkte der Schwarzmeerstaaten verdeutlicht. Ohne ausreichend zusätzliche Jobs kann das wirtschaftliche Wachstum auch in der Republik Moldau nicht die Abwanderung von Arbeitskräften verhindern - ob ins Ausland oder in die Schattenwirtschaft. Und diese kommt immerhin in der Republik Moldau für etwa die Hälfte des Bruttonationaleinkommens auf und stärkt lediglich Korruption und organisierte Kriminalität. Das kann nicht in unserem Interesse sein. Der Umfang der Handelsbeziehungen zwischen der Republik Moldau und der EU wächst stetig. Deutschland nimmt dabei eine wichtige Rolle ein: Bei den Importen sind wir nach dem Nachbarland Rumänien bereits der zweitwichtigste EU-Partner und das viertwichtigste Hauptlieferland insgesamt. Zudem gilt es, die Entwicklung der moldauischen Wirtschaft auch weiterhin mit Aufbauhilfen und dem Abbau von Handels- und Visaschranken zu stärken. Nur so können die Bemühungen der Regierung Moldaus zur Verbesserung des Investitionsklimas wirksam unterstützt werden. Des Weiteren würde sich dies positiv auf die Lage am Arbeitsmarkt auswirken und dazu beitragen, dass junge, gut ausgebildete Moldauer nicht ins Ausland abwandern müssen, um das nötige Geld an Ihre Familien zurücküberweisen zu können. Besonders lähmend für die Entwicklung der Republik Moldau und hinderlich für ihren Weg der Annäherung an die EU ist der weiterhin ungeklärte Transnistrien-Konflikt. Immerhin hat Präsident Voronin im April dieses Jahres die Gespräche mit der Führung der abtrünnigen Region wieder aufgenommen. Zudem hat die moldauische Regierung kürzlich Entwürfe für neuerliche Verhandlungen im Rahmen des 5+2-Prozesses ausarbeiten lassen. Sie enthalten unter anderem einen Gesetzesentwurf für ein Autonomiestatut Transnistriens und Fristen zur Umsetzung dieses Gesetzes. Diese Schritte sind ausdrücklich zu begrüßen, ebenso die aus Moskau signalisierte Bereitschaft, zur Stärkung des beiderseitigen Vertrauens beizutragen. Auch die russische Staatsduma hat beschlossen, dass eine Lösung dieses Konfliktes unter Achtung der territorialen Integrität Moldaus erfolgen soll. Es ist wichtig, dass die EU in Fragen der gemeinsamen Nachbarschaft eng mit Russland zusammenarbeitet. Angesichts dieser positiven jüngeren Entwicklungen ist es unerlässlich, dass die Bundesregierung alle Gelegenheiten wahrnimmt, im Rahmen des 5+2-Prozesses über OSZE, EU und die guten Beziehungen zu Russland eine Lösung des Transnistrien-Konfliktes voranzutreiben. Wichtig ist dabei auch, dass die immer noch in Transnistrien lagernden Waffen kontrolliert abgezogen werden und somit deren Proliferation in andere Konfliktgebiete Einhalt geboten werden kann. Gerade im Kontext der instabilen Lage im Nordkaukasus ist dies gewiss auch im Interesse Russlands. Viele Menschen in der Republik Moldau hoffen auf eine europäische Perspektive. Dem hat auch die moldauische Regierung wiederholt Ausdruck verliehen. Der Weg allerdings ist noch weit und das Land hat noch viele herausfordernde Aufgaben vor sich. Eine zügige Fortsetzung der konstruktiven Zusammenarbeit würde dabei beiden Seiten viele Möglichkeiten eröffnen. Denn wenn die Moldauer entschlossen danach streben, ein Teil des in Frieden und Freiheit vereinten, demokratischen Europas zu werden, dann müssen wir dies nach Kräften unterstützen und dem jeweiligen Fortschritt entsprechend beantworten. Zu Protokoll gegebene Reden

Michael Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003802, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission zur Umsetzung der EU-Nachbarschaftspolitik vom 3. April 2008 hat zu unser aller Freude festgestellt, dass die Republik Moldau bedeutsame Schritte auf dem Weg der Annäherung an die EU vollzogen hat. So wurden positive Entwicklungen im Bereich der Menschrechtspolitik und dem Ausbau der Rechtsstaatlichkeit erreicht. Diese Erfolge sind für uns besonders wichtig, ist die Republik Moldau doch durch den Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union ein direktes Nachbarland geworden. Deshalb ist es auch selbstverständlich, dass man sich nicht auf den Erfolgen ausruht. Es ist noch sehr viel zu tun. Das gilt für beide Seiten - für Deutschland und die EU einerseits, aber vor allem für die Republik Moldau selbst. Denn noch immer muss man das Land am Dnjestr als ein „Armenhaus Europas“ bezeichnen - das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen ist mit circa 100 Euro im Monat erschreckend niedrig. Noch immer fristet dieses Land in der öffentlichen Wahrnehmung ein „Schattendasein“. Wann kann man schon mal etwas in den Medien über Moldau erfahren? Noch immer müssen deutliche Fortschritte vor allem bei der Stärkung demokratischer Einrichtungen, der Menschenrechte, der Bekämpfung der Korruption sowie bei der Unabhängigkeit der Justiz erzielt werden. Menschen- und Organhandel sind dabei als bedrückendste Probleme zu nennen. Und noch immer ist die Transnistrien-Frage ungelöst. Russland darf seine Rolle als wichtiger Wirtschaftspartner und Energielieferant dieses Landes nicht ausnutzen, um es zu erpressen, wie es in der Vergangenheit häufig der Fall war. Herr Außenminister, auch das ist eine Frage, in der Russland seiner Rolle im Sinne einer „Modernisierungspartnerschaft“ mit Deutschland und der EU gerecht werden muss. Russland muss sich von seinem ständigen „Njet“ und seiner zu sehr an Macht- und Einflusspolitik ausgerichteten Strategie lösen, um an einer konstruktiven Lösung dieses sogenannten frozen conflict mitzuarbeiten. Wir müssen daran arbeiten, dass Transnistrien entmilitarisiert und entkriminalisiert wird. Es gibt kaum eine Region in Europa mit einem derartig großen Arsenal konventioneller Waffen. Transnistrien gilt auch als Geldwaschanlage, als Drogenumschlagsplatz und als Schmuggelhölle. Umso dringender ist hier gemeinschaftliches Handeln gefordert. Positiv zu erwähnen ist die Arbeit, die die „EUBAM“, die „Border Assistance Mission“ der Europäischen Union, an der ukrainisch-moldauischen Grenze mit 122 Experten aus 22 EU-Mitgliedstaaten leistet. Es bedarf aber eines Mehrs an Anstrengungen. Ich denke, wir alle sind uns einig: Die Republik Moldau ist ein Teil von Europa. Wenn wir uns darüber einig sind, dann müssen wir aber auch entsprechend handeln und die Republik Moldau als solche behandeln. Deshalb braucht sie weiterhin unsere Unterstützung, um die angesprochenen Probleme bewältigen zu können. Die Republik Moldau ist das einzige Land des „Stabilitätspaktes für Südosteuropa“ ohne konkrete EU-Betrittsperspektive. Gleichzeitig ist sie Teilnehmerin der „Europäischen Nachbarschaftspolitik.“ Insofern sitzen die Moldauer zwischen den Stühlen. Was ist nun richtig? Das Beispiel Moldaus zeigt, dass sich Deutschland und die Europäische Union in dieser Frage ihrer außenpolitischen Verantwortung stellen müssen. Dabei ist es auch ganz klar, dass wir in diesem Falle nicht nur einem Land zur Seite stehen. Es ist in unserem ureigenen Interesse, dass Länder, die sich in direkter Nachbarschaft zur EU befinden, ein möglichst hohes Maß an Stabilität erreichen. Deshalb begrüßt und unterstützt die FDP-Bundestagsfraktion diesen interfraktionellen Antrag, der an den Antrag aus der letzten Legislaturperiode anknüpft. Die europäische Integration der Republik Moldau muss unterstützt werden.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Republik Moldau hat in den letzten Jahren eine sehr positive Entwicklung genommen. Dies freut die Fraktion Die Linke umso mehr, als in der Republik Moldau seit 2001 unsere Schwesterpartei, die PCRM, regiert. Wir erinnern uns noch sehr gut an die kritischen Kommentare aus den verschiedenen politischen Familien Europas, als die PCRM in demokratischen Wahlen erstmals mit überwältigender Mehrheit gewählt wurde. Es spricht ganz offensichtlich für politische Zustimmung und Akzeptanz unter den Wählerinnen und Wählern der Republik Moldau, dass ihr Regierungsauftrag bei der letzten Wahl klar bestätigt wurde. Selbst die Unionsfraktion kommt nicht umhin, die gute Zusammenarbeit mit den moldauischen Kommunistinnen und Kommunisten zu würdigen! Über eine solche Realitätseinsicht freut sich Die Linke selbstverständlich, und vielleicht könnte dies, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Union, auch ein Anlass sein, dass Sie einmal über Ihren verkrampften Umgang mit der Linken im Deutschen Bundestag nachdenken. Die Tatsache, dass der heute vorliegende interfraktionelle Antrag zur europäischen Integration Moldaus unter Ausgrenzung der Linken zustande kam, zeigt wieder, dass Vertreter mancher Fraktionen ihre aus dem Kalten Krieg ererbte Wagenburgmentalität offenbar weiter pflegen möchten. Damit erweisen Sie weder sich selbst, noch der Republik Moldau einen Dienst. Denn gerade in der Republik Moldau haben wir durch unsere guten Kontakte dazu beigetragen, dass sich mit der Kommunistischen Partei der Republik Moldawien und ihrem Präsidenten, Vladimir Voronin, ein enger Austausch zwischen der Europäischen Union und der Republik Moldau entwickelt hat. So haben wir bereits vor zwei Jahren bei unserer internationalen Europakonferenz hier im Deutschen Bundestag Vertreter der Kommunistischen Partei als Gäste und Referenten willkommen heißen können. Wirtschaftspolitisch stellt sich die Entwicklung in der Republik Moldau noch immer als schwierig dar. Ein wesentlicher Grund hierfür ist nicht zuletzt auch der ungeklärte Konflikt in Transnistrien. Wir bekräftigen in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Forderung des interfraktionellen Antrags, dass eine Lösung des Transnistrien-Konflikts die volle Souveränität und territoriale Integrität der Republik Moldau sichern muss. Zu Protokoll gegebene Reden Trotz der schwierigen Situation in der Region konnte in der Republik Moldau ein Wirtschaftswachstum von 4 bis 7 Prozent erreicht werden. Die Armut im Land hat sich von fast 80 Prozent auf zwischenzeitlich etwa 30 Prozent reduziert. Die offizielle Arbeitslosenquote ist von 8 auf 2,1 Prozent gefallen. Dabei dürfen wir jedoch nicht vergessen, dass viele moldawische Bürger ihr Land verlassen mussten, um in anderen Staaten Arbeit zu finden. Die Industrieproduktion konnte sich bei einem zwischenzeitlich konsolidierten Wachstum von circa 6 Prozent erholen. Deutschland ist für die Republik Moldau einer der wichtigsten Handelspartner: 12,2 Prozent aller Exporte und 8,7 Prozent aller Importe des Landes werden mit Deutschland abgewickelt. Trotzdem sollten wir nicht verkennen, dass aufgrund der geografischen Nähe und der traditionellen Handelsbeziehungen nach wie vor Russland der Haupthandelspartner für die Republik Moldau ist. Über 20 Prozent des gesamten Handelsvolumens der Republik entfallen auf den moldauisch-russischen Handel. Auch aus diesem Grund ist eine friedliche und einvernehmliche Zusammenarbeit der Republik Moldau mit Russland von großem Gewicht für die weitere wirtschaftliche Entwicklung. Alle Versuche der EU, durch ihre asymmetrische Nachbarschaftspolitik eine geostrategische Veränderung zulasten Russlands durchzusetzen, werden so die Entwicklung und Befriedung der Region spürbar erschweren. Die Fraktion Die Linke begrüßt den vorgelegten interfraktionellen Antrag grundsätzlich, wird sich in der Abstimmung jedoch enthalten, da wir meinen, dass der Antrag einige problematische Aspekte beinhaltet, die zu vermeiden gewesen wären, wenn es zu einem echten interfraktionellen Antrag - unter Einbeziehung der Fraktion Die Linke - gekommen wäre. Für problematisch halten wir die positive Bezugnahme auf die von der EU als Grundlage für Visaerleichterung vorgeschriebenen Rückführungsabkommen. Die EU nutzt die Visaerleichterungen für die Menschen in den Partnerländern dazu, ihre eigene, höchst restriktive Flüchtlingspolitik durch Druck auf diese Staaten durchzusetzen und ihnen auch gleich noch die Rückführungskosten aufzubürden. Die Fraktion Die Linke tritt dafür ein, dass mit der Republik Moldau schnellstmöglich ein Abkommen zur vollständigen Visabefreiung abgeschlossen wird. Wir sind davon überzeugt, dass dies auch eine wichtige Voraussetzung zur Stärkung der Souveränitat und territorialen Integrität ist, um panrumänische Begehrlichkeit einzudämmen. Viele Moldauer, die als zweite Staatsbürgerschaft die rumänische angenommen haben, taten dies vor allem wegen der diskriminierenden Visapraxis und um Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt zu bekommen. Die Fraktion Die Linke unterstützt eine partnerschaftliche und gleichberechtigte Zusammenarbeit der EU mit ihren Nachbarn. Die bisherige Europäische Nachbarschaftspolitik, die in weiten Teilen primär für die einseitige Durchsetzung von EU-Handelsinteressen genutzt wird, halten wir für falsch. Sie muss dringend korrigiert werden. Wir treten zwar für eine Öffnung der Märkte der Nachbarschaftsstaaten für die Waren in der EU ein, sehen aber die Notwendigkeit, diesen Staaten eigenständige Entwicklungsperspektiven zu belassen. Hierzu gehört vor allem die Förderung der binnenwirtschaftlichen Entwicklung mit öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur. Es kann deshalb nicht angehen, dass die EU die Partnerschaftsländer mit mehr oder minder sanftem Druck dazu zwingt, ihre vorhandenen oder weiter aufzubauenden Infrastrukturen rigoros zu privatisieren und die öffentliche Daseinsvorsorge immer weiter abzubauen. Die Kommunistische Partei der Republik Moldau hat ihren ersten großen Wahlerfolg vor dem Hintergrund einer extremen Armutssituation errungen und seither wichtige Erfolge bei der Bekämpfung der Armut erreicht. Gerade dieses neugewonnene Fundament zwischen ökonomischem Wiederaufbau und sozialem Ausgleich würde durch neoliberalen Privatisierungszwang wieder gefährdet. Des Weiteren beurteilen wir die im Antrag erwähnte Schwarzmeer-Synergie deutlich differenzierter und kritischer als die antragstellenden Fraktionen. In der Mitteilung der Kommission zur Schwarzmeer-Synergie wird explizit sofort darauf hingewiesen, dass die Schwarzmeer-Region einen eigenen geografischen Raum bilde: reich an natürlichen Ressourcen und an der strategischen Schnittstelle zwischen Europa, Nahost und Innerasien liegend. Die Schwarzmeer-Synergie wird von EU-Seite primär aufgrund eigener imperialer Ambitionen forciert. Die Interessen der Anrainerstaaten der Schwarzmeer-Region geraten hierdurch ins Hintertreffen. Ein zentraler Punkt der Schwarzmeer-Synergie ist nicht zuletzt die Steuerung der Migration durch eine Verbesserung der Grenzsicherung. Damit wird - wie auch in der EU-Mittelmeer-Strategie - die vermeintliche Sicherung der EUAußengrenze in die Nachbarregionen der Europäischen Union vorverlegt. Soziale, wirtschaftliche und infrastrukturelle Hilfe wird an die Erfüllung der Forderungen der EU geknüpft. Das halten wir für inakzeptabel. Positiv sind dagegen die gemeinsamen Projekte zur Verbesserung der Umweltsituation. Hier wünscht sich Die Linke jedoch noch ein weitaus größeres Engagement der EU und Deutschlands. Positiv ist im Antrag außerdem zu bewerten, dass der politische Dialog mit der Republik Moldau intensiviert und ein neues konsolidiertes Partnerschafts- und Kooperationsabkommen geschlossen werden soll. Die Linke unterstützt die Forderung, schnellstmöglich Verhandlungen zu einem Nachfolgeabkommen aufzunehmen. Gleichzeitig erwarten wir ein größeres Entgegenkommen gegenüber den berechtigten Forderungen der Republik Moldau. Summa summarum unterstützt Die Linke jegliche Bemühung für eine bessere und sozial gerechtere Nachbarschaftspolitik mit der Republik Moldau. Aufgrund der vorgetragenen Argumente wird sie sich jedoch der Stimme enthalten. Zu Protokoll gegebene Reden

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Republik Moldova ist seit dem 1. Januar 2007 unser unmittelbarer Nachbarstaat der EU. Sie liegt mit nur knapp 4 Millionen Einwohnern an der Schnittstelle zwischen der EU und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Sie strebt nach der europäischen Integration, nach einer Annäherung an die EU mit dem Ziel der Mitgliedschaft und der gleichzeitigen Wahrung ihrer bündnispolitischen Neutralität. Das unterstützen wir natürlich. Ein jedes Land muss für sich entscheiden können, wie es sich entwickeln möchte. Und wenn es nach unseren Spielregeln spielen möchte, dann ist das für uns nur gut. Wie durch den Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission vom 3. April 2008 zur Umsetzung der EUNachbarschaftspolitik in Moldova bestätigt, ist Moldova auf dem richtigen Weg der Annäherung. Zu den Fortschritten zählen beispielsweise die Annahme einer umfangreichen Strategie zur Reform des Justizsystems, die Ratifizierung der Konvention der Vereinten Nationen gegen Korruption, die gesetzliche Heranführung an VNStandards und Fortschritte bei der Wahrung der Menschenrechte. Autonome Handelspräferenzen und das Visaerleichterungs- und Rückführungsabkommen mit der EU sind Erfolge, die die Republik schrittweise erzielen konnte. Jedoch muss zur weiteren Annäherung an EUStandards und internationale Menschenrechtsstandards noch dringend die Umsetzung der Gesetzgebung bezüglich der Gewährleistung der Meinungs- und Pressefreiheit, der Unabhängigkeit der Justiz und der Bekämpfung der Korruption vorangetrieben werden. Menschenrechtliche Probleme bestehen dabei vor allem noch immer bei der Situation in Polizeigewahrsam und in Justizvollzugsanstalten. Die Stärkung von demokratischen, rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen Strukturen ist eine Voraussetzung sowohl für eine weitere Integration in die EU als auch für die politische, ökonomische und gesellschaftliche Zukunft von Moldova. Entscheidende Voraussetzungen dafür sind die Unterstützung durch die EU, wie sie inzwischen im Rahmen des Instruments der EU-Nachbarschaftspolitik erfolgt, und eine aktive innenpolitische Reformpolitik der moldauischen Regierung unter Wahrung außenpolitischer Stabilität. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass der Transformationsprozess in der Republik Moldova sich unter besonderen Herausforderungen vollzog und vollzieht. Die territoriale Integrität und Stabilität wird seit mittlerweile eineinhalb Jahrzehnten durch die Abspaltung des Landesteils Transnistrien beeinträchtigt. Zu diesem eingefrorenen Konflikt direkt an der Grenze der EU gehört nach Angaben der OSZE die Lagerung von circa 20 000 Tonnen russischer Restmunitionsbestände auf ungefähr 100 Hektar Land. Auch vor diesem Hintergrund ist eine konstruktive Rolle Russlands bei der Lösung des Konflikts mit Umsetzung der 1999 auf dem OSZE-Gipfel in Istanbul getroffenen Vereinbarungen von entscheidender Bedeutung. Wir begrüßen das seit 2005 verstärkte Engagement der EU in der Region. Ein erfolgreiches Beispiel ist EUBAM: eine Hilfe zur Sicherung der moldauischen Außengrenze zur Ukraine. Nun müssen nach ziemlich genau zweijähriger Aussetzung aber auch die Verhandlungen im „Fünf-plus-Zwei-Format“ mit allen beteiligten Konfliktparteien über die informellen Gespräche hinaus unbedingt wieder aufgenommen werden. Die EU muss ihre Initiativen zur Beilegung des Konflikts fortsetzen und zur Vertrauensbildung auch innerhalb der ganzen Bevölkerung beitragen. Ziel muss eine Wiedererlangung der Einheit des Landes unter Rahmenbedingungen sein, die die Souveränität und Sicherheit der Republik Moldova ebenso wie den Fortgang des demokratischen und rechtsstaatlichen Reformprozesses ermöglichen. Seit 2007 sind wir in der EU Haupthandelspartner der Republik Moldova. Die in diesem Jahr erworbenen autonomen Handelspräferenzen sind ein guter Schritt nach vorne für Moldova; denn sie sollen dazu beitragen, dass die negative Handelsbilanz ausgeglichen wird. Die Republik Moldova; macht leichte Fortschritte in ihrem Streben nach Etablierung eines guten Investitionsklimas, sodass sich die direkten ausländischen Investitionen zwischen 2006 und 2007 bereits nahezu verdoppelt haben. Dennoch hat die Republik Moldova mit weiteren wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Abhängigkeit von ausländischer Energieversorgung, insbesondere von Energielieferungen aus Russland, eine Agrarproduktion, die durch die Dürre des Jahres 2007 massiv geschädigt wurde, über ein Jahr anhaltende russische Importverbote für moldauische Produkte, speziell Wein, haben zu dramatischen ökonomischen Auswirkungen geführt. Laut Fortschrittsbericht der EU-Kommission lebt jeder Vierte der Moldauer und Moldauerinnen unter der Armutsgrenze. Die massive Abwanderung hat dazu beigetragen, dass dem moldauischen Arbeitsmarkt junge qualifizierte sowie auch einfache Arbeiterinnen und Arbeiter fehlen. Nach unterschiedlichen Datenerhebungen befinden sich zwischen 300 000 und 800 000 Moldauerinnen und Moldauer zur oft illegalen Berufsausübung dauerhaft im Ausland. Ein Drittel des moldauischen Bruttoinlandsproduktes speist sich aus dem von Auslandsarbeiterinnen und -arbeitern nach Hause geschickten Geld. Diese Entwicklungen im ärmsten Land Europas an den direkten Grenzen der EU liegen weder im Interesse der Menschen im Land noch in unserem Interesse in der EU. Deswegen fordern wir eine Stärkung der Zusammenarbeit sowohl im bilateralen wie auch im europäischen Rahmen. Wir müssen daran interessiert sein, im Laufe der Umsetzung der EU-Standards durch die Republik Moldova auch ihre weitere Heranführung an die EU zu unterstützen. Ich freue mich, dass wir hier interfraktionell an unsere Tradition anknüpfen und unseren gemeinsamen Beschluss von 2004 mit diesem Antrag bekräftigen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Wer stimmt für den Antrag der Fraktionen CDU/ CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9755? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist bei Stimmenthaltung der Linken so angenommen. Präsident Dr. Norbert Lammert Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 sowie Zusatzpunkt 11 auf: 27 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Birgit Homburger, Elke Hoff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Bekämpfung von Piraterie - Drucksache 16/9609 ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Uschi Eid, Kerstin Müller ({0}), Marieluise Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ursachen der Piraterie vor der somalischen Küste bearbeiten - Politische Konfliktlösungsschritte für Somalia vorantreiben - Drucksache 16/9761 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Vermutlich werden wir diese Zeit nicht ganz benötigen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Kollege Dr. Rainer Stinner für die FDP-Fraktion. ({2})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Beim Thema Piraterie gibt es gegenwärtige zwei schlimme Entwicklungen. Ich weiß noch nicht genau, welche von beiden wirklich schlimmer ist. Auf der einen Seite gibt es am Golf von Aden Piraterie in großem Umfang. Über 20 Schiffe sind allein schon in diesem Jahr der Piraterie zum Opfer gefallen. In den letzten Tagen war es eine deutsche Jacht bzw. ein deutsches Schiff. Deutsche Bürger werden überfallen, und ihre Schiffe werden gekapert. Der internationale Seetransport ist erheblich geschädigt. Auf der anderen Seite - das ist genauso schlimm - gibt es eine unglaubliche Konfusion und Widersprüchlichkeit der Bundesregierung in diesem Fall. Die Bundesregierung ist hier nicht handlungsfähig. Auch das ist angesichts der Bedeutung dieses Themas für unser Land eine schlimme Entwicklung. Zum Ersten. Der Deutsche Bundestag hat im Jahr 1994 ein Seerechtsübereinkommen mitratifiziert. Damit haben wir uns zur Bekämpfung der Piraterie verpflichtet. Das ist auch gemäß Art. 25 des Grundgesetzes Teil des Bundesrechts, wie mir die Bundesregierung auf meine Anfrage hin noch einmal bestätigt hat. Das sagt das Auswärtige Amt, und das sage auch ich. Demnach kann die deutsche Marine schon heute ohne jede Gesetzesänderung und ohne jede Verfassungsänderung gegen Piraten vorgehen. Wir haben heute in einem Antrag das zusammengestellt, was die Bundesregierung auf unsere Fragen hin geantwortet hat. Wir haben kein Wort hinzugefügt, sondern die Bundesregierung wörtlich zitiert. Deshalb erwarten wir, dass Sie, die Träger der Bundesregierung, die Koalitionsfraktionen, diesem Antrag willig und fröhlich zustimmen. ({0}) Der Verteidigungsminister tut nichts, weil er eine andere Agenda hat. Er will nämlich eine Grundgesetzänderung veranlassen, und er möchte über eine Grundgesetzänderung die in Deutschland so bewährte Trennung von innerer und äußerer Sicherung aushebeln. ({1}) Die Krone setzt dem Ganzen dann noch der Parlamentarische Staatssekretär Kossendey auf, ({2}) der wörtlich zum Thema Nothilfe, die er verweigert, sagt: Aber sobald der Überfall abgeschlossen ist, die Piraten mit dem Schiff abziehen, die Besatzung gefangen gesetzt haben, ist eine Verfolgung durch deutsche Marineeinheiten nicht mehr möglich … Das ist bodenlos, unanständig und falsch. Das muss gegeißelt werden. ({3}) Nothilfe dauert eindeutig solange an, wie die Gefahr für die Opfer nicht gebannt ist. Das Verteidigungsministerium behauptet weiter, die Bekämpfung von Soldaten sei eine Polizeiaufgabe und von daher von der Bundeswehr nicht durchzuführen. Das ist wieder falsch, Herr Minister. Die Bundeswehr nimmt heute im Ausland schon mehrfach Polizeiaufgaben wahr, zum Beispiel im Kosovo beim Thema „Crowd and Riot Control“. Das heißt, es werden Bundeswehrsoldaten ausdrücklich ausgebildet und ausgerüstet, um Polizeiaufgaben im Ausland wahrzunehmen. Diese meine Meinung wird auch vom Auswärtigen Amt gedeckt, wonach die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit durch den Einsatz gegen gewalttätige Demonstranten grundsätzlich eine Polizeiaufgabe sei. Ich zitiere wörtlich: Daran ändert nichts, dass diese Aufgabe im Rahmen eines Auslandseinsatzes auch von der Bundeswehr wahrzunehmen sein kann. ({4}) Das ist eine öffentliche, eine amtliche Ohrfeige des Auswärtigen Amtes für den Herrn Bundesverteidigungsminister. Das Innenministerium konnte mir hingegen auf meine Frage vom 5. Juni, ob Polizeiaufgaben für die Bundeswehr im Ausland zulässig sind, bis zum heutigen Tag - also nach Überschreiten der üblichen Frist für die Beantwortung von Fragen - keine Antwort geben. Überall herrscht Konfusion. Damit komme ich zum zweiten Punkt. Die Bundesregierung ist in der Frage nicht handlungsfähig. Sie ist nicht einig, und sie ist - das ist das Schlimme - offensichtlich nicht einigungsfähig. ({5}) Dabei ist der Kern des Konflikts offensichtlich. Die CDU/CSU fordert vehement eine Änderung des Art. 87 a des Grundgesetzes, obwohl dies überflüssig ist. Die SPD ist strikt dagegen und vertritt dies auch laut. Insofern ist es für einen Außenstehenden völlig unerträglich, wenn der Verteidigungsminister als Mitglied der Bundesregierung - die meines Wissens immer noch von der SPD und der Union gestellt wird - nach wie vor sagt, dass eine Verfassungsänderung notwendig ist, aber kurz darauf prominente Mitglieder der SPD-Fraktion im Verteidigungsausschuss das unter allen Umständen ausschließen. Dass sich die Koalition in keiner Frage mehr einig ist, ist schon traurig genug. ({6}) Dass aber diese Uneinigkeit auf dem Rücken unserer Soldaten und unschuldiger Betroffener ausgetragen wird, halten wir für unanständig. Es gibt Soldaten, die sich schämen - darüber reden sie, wenn man sie besucht; wenn Sie dorthin fahren würden, Herr Weisskirchen, dann würden Sie das wissen - , weil sie die Verfolgung von offensichtlicher Piraterie anderen Ländern überlassen müssen. Deshalb fordern wir Sie auf: Sorgen Sie dafür, dass die Marine das tut, was sie schon lange darf! Sorgen Sie dafür, dass Deutschland seinen Verpflichtungen nachkommt! Sorgen Sie dafür, dass die Piraterie endlich bekämpft wird! Es bedarf nur eines Befehls des Bundesverteidigungsministers. Vielen Dank und gute Nacht. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ganz so schnell geht es nicht. Dass Sie, Kollege Stinner, Ihren heutigen Geburtstag im Bundestag begehen ({0}) und mit einer Rede gegen Ende, wenn auch nicht ganz zum Ende der Tagesordnung, krönen, haben wir alle mit großem Respekt zur Kenntnis genommen. Es hat im Übrigen die umwerfende Wirkung, dass alle anderen gemeldeten Redner der anderen Fraktionen in besonderer Würdigung dieses Ereignisses auf Gegenreden verzichtet haben ({1}) und deswegen ihre sorgfältig vorbereiteten Reden zu Protokoll geben.1) Auch darin kommen die guten Wünsche des gesamten Hauses in einer, wie ich finde, eindrucksvollen Weise zum Ausdruck. ({2}) 1) Anlage 8 Tagesordnungspunkt 27. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9609 mit dem Titel „Bekämpfung von Piraterie“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mehrheitlich abgelehnt. Zusatzpunkt 11. Hierbei geht es um die Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 16/9761 mit dem Titel „Ursachen der Piraterie vor der somalischen Küste bearbeiten Politische Konfliktlösungsschritte für Somalia vorantreiben“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer ist dagegen? Wer enthält sich? - Auch dieser Antrag ist mehrheitlich abgelehnt. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 12. November 2007 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Demokratischen Volksrepublik Algerien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuervermeidung und Steuerhinterziehung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 16/9561 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({3}) - Drucksache 16/9786 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe Lothar Binding ({4}) Die Reden der Kollegen Manfred Kolbe, Lothar Binding, Carl-Ludwig Thiele, Dr. Barbara Höll und Dr. Gerhard Schick werden zu Protokoll genommen.

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir debattieren und beschließen heute das am 12. November 2007 in Algier unterzeichnete und jetzt noch zu ratifizierende Doppelbesteuerungsabkommen mit der Demokratischen Volksrepublik Algerien. Der Begriff Doppelbesteuerungsabkommen ist hierbei allerdings etwas irreführend, denn es geht in diesem Abkommen genau genommen um das Gegenteil, nämlich die Vermeidung der Doppelbesteuerung. Die Doppelbesteuerung ergibt sich aus einer möglichen Steuerpflicht sowohl im Quellenstaat als auch im Ansässigkeitsstaat. Ziel des Abkommens ist es, die internationale Wirtschaftstätigkeit und die grenzüberschreitenden Investitionen vor Doppelbesteuerungen zu schützen. Gerade für die Bundesrepublik Deutschland haben sowohl der Export als auch die ausgedehnten Auslandsaktivitäten der deutschen Unternehmen eine immense Bedeutung. Es liegt daher insbesondere auch in unserem Interesse, bei diesen Aktivitäten die wettbewerbsverzerrenden Einflüsse der internationalen Doppelbesteuerung zu vermeiden. Auch nimmt, bedingt durch den weltweiten Wettbewerb, die Aggressivität der internationalen Steuerplanung zu. Ziele dieser Planungen sind die weitgehende Gestaltbarkeit der Steuerbelastung und die Minimierung der weltweiten Steuerlastquote. Obwohl ein Doppelbesteuerungsabkommen zunächst primär die Aufgabe der Vermeidung von Doppelbesteuerungen hat, gewinnt es auch immer mehr an Bedeutung bei der Verhinderung von Missbrauch steuerlicher Regelungen. Zudem hilft es, Besteuerungslücken, die sich aus den Unterschieden in den nationalen Rechtssystemen ergeben, zu schließen. Bei den außenwirtschaftlichen Beziehungen unseres Landes gewinnt neben vielen anderen Ländern der Welt auch die Demokratische Volksrepublik Algerien mehr und mehr an Bedeutung. Nach der weitgehenden Überwindung der innenpolitischen Krise Algeriens in den 90erJahren und der anschließend folgenden wirtschaftlichen Erholung bergen diese Beziehungen nun ein bedeutendes Potenzial. Algerien steht heute bei der Erdölproduktion auf Platz elf und beim Erdgas auf Platz vier der wichtigsten Produzenten. Bereits in den 70er- und 80er-Jahren wurde ein großer Teil der Industrieanlagen Algeriens mit deutscher Hilfe errichtet. Der Modernisierungsbedarf bei diesen Industrieanlagen und der Infrastruktur ist in Algerien hoch und kommt zudem der deutschen Produktionspalette entgegen. Heute sind bereits über 140 deutsche Unternehmen mit Niederlassungen, Verbindungsbüros und Handelsvertretungen auf dem algerischen Markt aktiv. Die Ausfuhr von Deutschland nach Algerien belief sich 2007 auf einen Wert von rund 944 Millionen Euro, wobei sich diese im Wesentlichen auf 25,5 Prozent Maschinen, 23,8 Prozent Kfz und Kfz-Teile sowie 11,8 Prozent auf chemische Erzeugnisse verteilten. Die Einfuhr aus Algerien nach Deutschland belief sich im gleichen Zeitraum sogar auf einen Wert von 1 196 Millionen Euro. Hier machte rund 98,6 Prozent das Erdöl aus, und der Rest setzte sich im Wesentlichen aus Chemikalien und anderen Rohstoffen zusammen. Das heute hier zu beschließende Abkommen wurde im vergangenen Jahr anlässlich eines Besuches des Bundespräsidenten in Algerien unterzeichnet. Es entspricht weitgehend dem im Zeitraum der Verhandlungen gültigen OECD-Musterabkommen und anderen in dieser Zeit von Deutschland abgeschlossenen Abkommen. Der in Art. 26 des Abkommens geregelte umfassende Informationsaustausch zwischen den deutschen und algerischen Finanzverwaltungen entspricht sogar dem neuesten OECDStandard. Durch dieses Abkommen zur Beseitigung der Doppelbesteuerung verzichtet die Bundesrepublik Deutschland zwar in gewissem Umfang auf Steuern. Andererseits muss Deutschland aber auch bisher gewährte Anrechnungen algerischer Steuern nicht mehr oder nicht mehr in bisheriger Höhe gewähren, da Algerien auf Quellensteuern verzichtet. Es kann derzeit davon ausgegangen werden, dass sich die Regelungen des Abkommens per Saldo ausgleichen werden. Somit werden für unser Land keine nennenswerten Änderungen des Steueraufkommens von Bund, Ländern und Gemeinden entstehen. Dagegen wird die Wirtschaft durch das Abkommen entlastet. Daher ist dieses Doppelbesteuerungsabkommen zu begrüßen. Es verbessert die Wettbewerbssituation deutscher Unternehmen in Algerien und benachteiligt auch nicht das deutsche Steueraufkommen. Die CDU/CSU bedankt sich bei den Verhandlungsführern für das erzielte gute Verhandlungsergebnis und stimmt dem Gesetzentwurf zu.

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Heute behandeln wir ein weiteres Doppelbesteuerungsabkommen, und zwar das erste dieser Art mit der Demokratischen Volksrepublik Algerien. Während wir früher üblicherweise stets nur von DBA, Doppelbesteuerungsabkommen, gesprochen haben, wird heute explizit in der Überschrift erwähnt, dass es sich nicht nur um ein Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, sondern auch „zur Verhinderung der Steuervermeidung und Steuerhinterziehung“ auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und Vermögen handelt. Das ist ein wichtiger Schritt, der anzeigt, dass wir bei unseren zwischenstaatlichen Kontakten auf dem Gebiet des Steuerrechts und in bilateralen Abkommen auch die Vermeidung von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung zum Schutz des Steuersubstrats in Deutschland in den Blick nehmen. Das Abkommen selbst beruht in seinen wesentlichen Teilen auf dem gültigen OECD-Musterabkommen, das wir an dieser Stelle schon öfter besprochen haben. Danach werden Doppelbelastungen dadurch vermieden, dass dem Quellenstaat beschränkte Besteuerungsrechte zugewiesen werden, und der Wohnsitzstaat diese Quellensteuerrechte auf seine Steuer anrechnet oder die Einkünfte von seiner Besteuerung freistellt. Um die Systematik zur Vermeidung der Doppelbesteuerung an einem Beispiel deutlich zu machen, stellen wir uns eine Muttergesellschaft in Deutschland vor, die an einer Tochtergesellschaft in Algerien über 10 Prozent der Anteile hält. In diesem Fall wird der Gewinn der Tochter zunächst in Algerien der dort üblichen Körperschaftsteuer unterworfen. Auf die anschließend an die deutsche Mutter ausgeschüttete Dividende kann Algerien eine 5-prozentige Kapitalertragsteuer erheben. Deutschland vermeidet eine Doppelbesteuerung dadurch, dass es diese Dividenden freistellt. Nach diesem Grundmuster werden auch zum Beispiel die grenzüberschreitenden Unternehmensgewinne zwischen Deutschland und Algerien behandelt. Algerien darf danach Gewinne eines deutschen Unternehmens nur besteuern, wenn das Unternehmen eine Betriebsstätte in Algerien hat und die Gewinne der Betriebstätte zuzurechnen sind. In diesem Zusammenhang verdient ein weiterer Erfolg erwähnt zu werden: Die Regierung konnte Schutzvorschriften bei den Unternehmensgewinnen vereinbaren, Zu Protokoll gegebene Reden Lothar Binding ({0}) die wir in dem Protokoll zu Art. 7 zum Abkommen entneh- men. Ich zitiere: a) Verkauft ein Unternehmen eines Vertragsstaats durch eine Betriebsstätte im anderen Vertragsstaat Güter oder Waren oder übt er durch eine Betriebs- stätte dort eine Geschäftstätigkeit aus, so werden die Gewinne dieser Betriebsstätte nicht auf der Grundlage des vom Unternehmen hierfür erzielten Gesamtbetrags, sondern nur auf der Grundlage des Betrags ermittelt, der der tatsächlichen Verkaufs- oder Geschäftstätigkeit der Betriebsstätte zuzurech- nen ist; b) Hat ein Unternehmen eine Betriebsstätte im anderen Vertragsstaat, so werden im Fall von Verträgen, insbesondere über Entwürfe, Lieferungen, Einbau oder Bau von gewerblichen, kaufmännischen oder wissenschaftlichen Ausrüstungen oder Einrichtungen, oder von öffentlichen Aufträgen die Gewinne dieser Betriebsstätte nicht auf der Grundlage des Gesamtvertragspreises, sondern nur auf der Grundlage des Teils des Vertrags ermittelt, der tatsächlich von der Betriebsstätte in dem Vertragsstaat durchgeführt wird, in dem die Betriebsstätte liegt. Gewinne aus der Lieferung von Waren an die Betriebsstätte oder Gewinne im Zusammenhang mit dem Teil des Vertrages, der in dem Vertragsstaat durchgeführt wird, in dem der Sitz des Stammhauses des Unternehmens liegt, können nur in diesem Staat besteuert werden. Lassen Sie mich auch auf die Zinsbesteuerung eingehen: Nach dem OECD-Musterabkommen und nach Art. 11 Abs. 2 kann ein Quellenstaat Zinsen mit 10 Prozent Quellensteuer belasten. Allerdings wollten wir mit der Regel im Art. 11 Abs. 3 Nr. a sicherstellen, dass die Exportmöglichkeiten deutscher Unternehmen verbessert werden. Ich denke, dass die Bundesregierung mit dieser Vereinbarung einen sehr guten Verhandlungserfolg errungen hat. Schauen wir auf folgenden Beispielsfall, der sich auf Konzerne mit Sitz in Deutschland bezieht: Wir nehmen an, ein deutscher Elektrokonzern liefert ein Kraftwerk beispielsweise für 100 Millionen Euro nach Algier in Algerien, die 100 Millionen Euro können aber vom algerischen Kunden nicht sofort bezahlt werden. In diesem Fall wird der Konzern Ratenzahlungen zugestehen und die Refinanzierungskosten dem Kunden in Rechnung stellen. Hier konnte vereinbart werden, dass Zinsen, die „im Zusammenhang mit dem Verkauf gewerblicher, kaufmännischer oder wissenschaftlicher Ausrüstung auf Kredit stehen, von der algerischen Steuer befreit sind. Mit Blick auf die schon erwähnte Zielsetzung, Steuervermeidung und Steuerhinterziehung zu verhindern oder ihr zu begegnen, möchte ich besonders den im Art. 26 geregelten Informationsaustausch erwähnen. Der dort geregelte Informationsaustausch verläuft nach dem neuesten OECD-Musterabkommen und geht damit weit über bisherige Regelungen in diesem Zusammenhang hinaus. Wir ermöglichen den Austausch von Informationen, die zur Durchführung dieses Abkommens oder zur Verwaltung, auch zur Vollstreckung des innerstaatlichen Rechts betreffend Steuern jeglicher Art notwendig sind. Ich hebe die beiden neuen Ansätze 4 und 5 im betreffenden Artikel über den Informationsaustausch hervor: ({1}) Ersucht ein Vertragsstaat gemäß diesem Artikel um Informationen, so nutzt der andere Vertragsstaat die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Beschaffung der erbetenen Informationen, selbst wenn dieser andere Staat diese Informationen für seine eigenen steuerlichen Zwecke nicht benötigt. Die im vorhergehenden Satz enthaltene Verpflichtung unterliegt den Beschränkungen gemäß Absatz 3, sofern diese Beschränkungen einen Vertragsstaat nicht nur deshalb an der Erteilung von Informationen hindern, weil er kein innerstaatliches steuerliches Interesse an diesen Informationen hat. ({2}) Absatz 3 ist in keinem Fall so auszulegen, als könne ein Vertragsstaat die Erteilung von Informationen nur deshalb ablehnen, weil sich die Informationen bei einer Bank, einem sonstigen Finanzinstitut, einem Bevollmächtigten, Vertreter oder Treuhänder befinden …“. Sie sehen, ein sehr gelungenes Vertragswerk - dafür hoffen wir auf Ihre konstruktive Mitarbeit und Unterstützung. Last but not least bedanke ich mich auch im Namen meiner Fraktion für das gute Verhandlungsergebnis unserer Regierung, hierbei insbesondere bei Herrn Dr. Lasars aus dem Bundesfinanzministerium.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die FDP wird dem Abkommen der Bundesrepublik Deutschland und der Demokratischen Volksrepublik Algerien zur Vermeidung von Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuervermeidung und Steuerhinterziehung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen zustimmen. Seitens der FDP wissen wir, dass in dem Abkommen vom 12. November 2007 die Bundesregierung als Verhandlungsführer mit der Volksrepublik Algerien dieses Doppelbesteuerungsabkommen erreicht hat. Es ist zwar zutreffend, dass die Bundesrepublik Deutschland durch das Abkommen in gewissem Umfang auf Steuern verzichtet, die dem Bund, den Ländern oder den Gemeinden zufließen. Andererseits muss Deutschland die gewährte Anrechnung algerischer Steuern nicht mehr und nicht mehr in der bisherigen Höhe gewähren, weil Algerien ebenfalls auf Quellensteuern verzichtet. Seitens der FDP haben wir den Eindruck, dass sich die Regelungen des Abkommens per Saldo ausgleichen und somit keine nennenswerten Änderungen des Steueraufkommens von Bund, Ländern und Gemeinden entstehen. Deutschland ist im Jahr 2007 auf der 59. Rangstelle bei der Ausfuhr algerischer Exporte und auf der 56. Rangstelle bei den Einfuhren. Das bedeutet, dass Deutschland Ausfuhren in Höhe von 944 Millionen Euro und Einfuhr in Höhe von 1 196 Millionen Euro tätigte. Im Dienstleistungsbereich bestanden 260 Millionen Euro Einnahmen und 133 Millionen Euro Ausgaben. Zu Protokoll gegebene Reden Im Jahr 2005 wurden deutsche Direktinvestitionen von 124 Millionen Euro und im Jahr 2006 von 89 Millionen Euro getätigt. Über 140 deutsche Unternehmen sind mit Niederlassungen, Verbindungsbüros und Handelsvertretern auf dem Markt aktiv. Im Jahr 2004 wurden Rentenzahlungen an 29 deutsche Versicherte und 589 ausländische Versicherte geleistet. Zudem gewinnt Algerien als Energielieferant für Europa immer mehr an Bedeutung. Weltweit steht Algerien bei der Erdölproduktion auf Platz 11, beim Erdgas auf Platz 4 der wichtigsten Produzenten. Zudem muss beachtet werden, dass ein erheblicher Modernisierungsbedarf bei Industrieanlagen und Infrastruktur besteht. Auch hier sind deutsche Firmen sehr interessiert, diese Arbeiten auszuführen. Insofern begrüßen wir, dass mit diesem Abkommen die Wirtschaft und die Steuerpflichtigen von Bürokratie und Rechtunsicherheit entlastet werden, da steuerliche Hindernisse im bilateralen Wirtschaftsverkehr beseitigt werden.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der Abschluss eines Doppelbesteuerungsabkommens mit Algerien ist grundsätzlich zu begrüßen. Ein solches Abkommen schafft Rechtssicherheit und fördert somit Handel und Investitionen. Algerien hat dringenden Kapitalbedarf; denn das Land leidet nach wie vor an den Folgen des Bürgerkriegs von 1992 bis 2005. Seine Wirtschaftsstruktur ist sehr einseitig ausgeprägt: Der Erlös aus dem Energieexport macht über 95 Prozent der Deviseneinnahmen, über 35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, BIP, und rund 75 Prozent der Staatseinnahmen aus. Die inoffizielle Arbeitslosenrate betrug 2006 28,4 Prozent. Besonders betroffen von Arbeitslosigkeit waren Jugendliche. Algerien braucht daher ausländisches Kapital und Know-how, um sukzessive neue Sektoren und Branchen jenseits von Erdölindustrie und Landwirtschaft aufzubauen. Aus der Perspektive internationaler Steuergerechtigkeit kann am vorliegenden Abkommen positiv hervorgehoben werden, dass Algerien ein Besteuerungsrecht gegenüber deutschen Unternehmen zugestanden wurde. Demnach kann Algerien den Gewinn besteuern, der in produktiv tätigen Betriebsstätten deutscher Unternehmen in Algerien erzielt wurde. Auch wurde Algerien ein Besteuerungsrecht auf im Lande erwirtschaftete Dividenden und Zinsen eingeräumt, die an in Deutschland ansässige Personen oder Unternehmen gezahlt werden. Allerdings wurden hier enge Besteuerungsgrenzen gesetzt: Maximal 15 Prozent Quellensteuer sind zugestanden worden. Leider hat die Bundesregierung es auch bei diesem Doppelbesteuerungsabkommen versäumt, konsequent von der Freistellungsmethode auf die Anrechnungsmethode umzustellen. Die Fraktion Die Linke hatte bereits im Mai des vergangenen Jahres die Forderung nach der Umstellung auf das Anrechnungsverfahren im Rahmen des Antrags „Unternehmen leistungsgerecht besteuern Einnahmen der öffentlichen Hand stärken“, Drucksache 16/5249, erhoben. Wie gehabt, wird auch in diesem Abkommen die Doppelbesteuerung auf deutscher Seite durch Freistellung der wichtigsten Einkünfte vermieden. Nur bei Zinsen, Lizenzgebühren, Dividenden aus Streubesitz sowie einigen anderen eher unbedeutenden Einkunftsarten findet die Anrechnung der ausländischen Steuer auf die deutsche Steuer statt. Damit verzichtet der hiesige Fiskus zu großen Teilen bei in Algerien erzielten Einkünften von in Deutschland Ansässigen auf eine adäquate Erfassung der steuerlichen Bemessungsgrundlage. Der Progressionsvorbehalt, also die Berücksichtigung der ausländischen Einkünfte bei der Bestimmung des Steuersatzes, kann diese faktischen Steuerbefreiungen nicht kompensieren: Würden ausländische wie inländische Einkünfte gleich behandelt, ergäbe sich derselbe durchschnittliche Steuersatz auf ein durch die Auslandseinkünfte erhöhtes zu versteuerndes Einkommen. Nur die konsequente Anwendung der Anrechnungsmethode könnte garantieren, dass Einkünfte von Inländerinnen und Inländern steuerlich gleich behandelt werden, unabhängig vom Ort der Entstehung dieser Einkünfte. Die Umstellung in der Ausgestaltung der Doppelbesteuerungsabkommen auf die Anrechnungsmethode böte eine Chance auf mehr Steuergerechtigkeit. Die im vorliegenden Abkommen getroffenen Vereinbarungen zu Informationsaustausch und Amtshilfe gegen Steuervermeidung und Steuerhinterziehung sind von neuer Qualität und daher zu begrüßen. Allerdings kann sich deren Tauglichkeit erst im Praxistest unter Beweis stellen. Befremdlich mutet es an, dass diese Regelungen gegen Steuervermeidung und -hinterziehung ausgerechnet bei einem Land zur Anwendung kommen, das nun wahrlich nicht als Steueroase bekannt ist. Es bleibt abzuwarten, ob mit diesem Abkommen ein neuer Standard gesetzt wurde oder ob es ein Feigenblatt für die sonst gegenüber Steueroasen laxe Handhabung bleibt. Als Negativbeispiel sei hier auf die Verlängerung des Doppelbesteuerungsabkommens mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, VAE, vom letzten Jahr verwiesen. Als grundsätzliche Kritik bleibt, dass Deutschland als Teil der EU Freizügigkeit nur bei Kapital- und Warenverkehr kennt, nicht aber für die Menschen aus Nicht-EUStaaten. So bekommen Jugendliche aus Algerien keine Ausreisevisa in EU-Länder mehr. Das stößt in den betroffenen Ländern auf Kritik und Unverständnis: Beim Staatsbesuch von Bundespräsident Köhler im letzten November hatten algerische Intellektuelle eine EU-Politik der Abschottung kritisiert.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir behandeln heute abschließend das Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Deutschland und Algerien. Der Abkommenstext folgt in weiten Teilen dem OECD-Musterabkommen. Insoweit begrüßen wir dieses Abkommen. Denn wenn sich die Bundesregierung nicht an diese multilaterale Vereinbarung hält und abweichende Regelungen trifft, führt dies häufig zu einer geringeren Besteuerung, als sie das Musterabkommen erlauben würde. Ich möchte hier nur an das Doppelbesteuerungsabkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten erinnern, nach dem dort erzielte Einkünfte in beiden Staaten steuerfrei bleiben können. Zu Protokoll gegebene Reden Auch in dem nun vorliegenden Abkommen verzichtet Deutschland auf einen Teil seines Besteuerungsrechts, das das OECD-Musterabkommen vorsehen würde. Laut Musterabkommen gilt eine 5-prozentige Dividendenbesteuerung nur dann, wenn eine mindestens 25-prozentige Beteiligung vorliegt. Ist die Beteiligung kleiner als 25 Prozent, können 15 Prozent Dividendenbesteuerung anfallen. Die Bundesregierung will die Schwelle in ihrem Gesetzesentwurf auf 10 Prozent senken. Ergebnis: Für eine in Deutschland ansässige Gesellschaft oder Person mit Dividendeneinkünften aus Algerien genügt bereits eine 10-prozentige Beteiligung statt einer mindestens 25-prozentigen, um in den Genuss der niedrigeren Besteuerung zu kommen. Im Ausschuss hat die Bundesregierung dargestellt, dass das mittlerweile ein üblicher Wert sei. Aber nur weil etwas üblich ist, ist es noch nicht richtig. Mir ist nicht klar, warum die Bundesrepublik auf diese Besteuerungsmöglichkeiten verzichten sollte. Meines Erachtens verschärft Deutschland mit dieser Vorgehensweise nur den internationalen Steuerwettbewerb. Doppelbesteuerungsabkommen sind eine Möglichkeit für Deutschland, sich seine Steuereinnahmen im internationalen Steuerwettbewerb zu sichern. Das kann aber effektiv nur gelingen, wenn in den Abkommen die Anrechnungsmethode angewendet wird. Jeder Steuerpflichtige mit Wohnsitz im Inland ist dann mit seinem gesamten Welteinkommen inklusive Schenkungen und Erbschaften nach deutschen Maßstäben voll steuerpflichtig. Auf diese Weise würde sich die Verlagerung von Einkommen und Vermögen ins Ausland allein aus steuerlichen Gründen deutlich weniger lohnen. Im vorliegenden Abkommen hat die Bundesregierung erneut darauf verzichtet, die Anrechnungsmethode von Vornherein festzuschreiben. Sie hat sich lediglich eine Umschwenkklausel gesichert, die ohne Abkommensänderung einen Methodenwechsel erlaubt. Zunächst aber hält die Bundesregierung an der Freistellungsmethode fest. Das können wir nicht unterstützen. Eine positive Neuheit in diesem Abkommen sind hingegen die gegenseitigen Informationspflichten. Sie gehen über den im OECD-Musterabkommen vorgesehenen Rahmen hinaus und greifen damit jüngere OECD-Vorschläge auf. Sie erfassen auch Steuertatbestände, die es im anderen Staat nicht gibt. Das begrüßen wir. Hier gibt es eine sinnvolle Erweiterung des Musterabkommens, die neue Chancen der internationalen Zusammenarbeit ermöglichen. In einer Welt, in der Kapital praktisch ungehindert zirkulieren kann, müssen sich die Staaten gegenseitig Besteuerungsmöglichkeiten zusichern. Der Informationsaustausch ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, ebenso die Klausel, dass die Vertragsstaaten Informationsansuchen nicht ablehnen können, nur weil diese Informationen bei einer Bank oder einer anderen Finanzinstitution liegen. Dieser Vorteil wiegt den Nachteil, auf die im OECDAbkommen vorgesehene Besteuerung von Dividenden zu verzichten, und die Freistellungsmethode einmal mehr zu vereinbaren, nicht auf. Meine Fraktion stimmt diesem Abkommenstext deshalb nicht zu, sondern enthält sich.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9786, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9561 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich der Stimme enthalten? - Damit ist der Gesetzentwurf mit breiter Mehrheit bei einigen Enthaltungen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolfgang Nešković, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine Abschiebungen in das Kosovo - Drucksache 16/9143 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Die Reden der Kollegen Helmut Brandt, Rüdiger Veit, Hartfrid Wolff, Ulla Jelpke und Josef Philip Winkler werden zu Protokoll genommen.

Helmut Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003727, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Entschließungsantrag die Bundesregierung auf, grundsätzlich keine Flüchtlinge, die aus dem Kosovo stammen und in Deutschland leben, abzuschieben. Der Antrag ist insgesamt zurückzuweisen. Ich werde die einzelnen Gründe hierfür noch darlegen. Zunächst jedoch erlauben Sie mir einige grundsätzliche Bemerkungen. Die Fraktion Die Linke versucht mit ihrem Antrag unterschwellig, das Kosovo nach der Unabhängigkeitserklärung mit Vorfällen aus der Vergangenheit in Misskredit zu bringen. So ist nicht nachvollziehbar, was der Vorfall vom März 2004, auf den in der Begründung der Anträge hingewiesen wird, mit der jetzigen Situation nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo zu tun hat. In der weiteren Begründung sind dann Unterstellungen zu finden, die jeglichen Bezug zur Realität entbehren. So wird mit dem Antrag der Versuch unternommen, der Bundesrepublik Deutschland zu unterstellen, dass die einseitig erklärte Unabhängigkeit von ihr für verstärkte Abschiebebemühungen genutzt würden. Anhaltspunkte hierfür bestehen nicht, sodass diese Behauptung ins Blaue hinein lediglich ein bezeichnendes Bild auf die Haltung der Fraktion Die Linke zur Unabhängigkeit des Kosovo wirft. Nun zu den einzelnen Forderungen: Die Linke möchte, dass der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auffordert, sich gegenüber den Bundesländern für eine Aussetzung der Abschiebungen von Flüchtlingen aus dem Kosovo gemäß § 60 a Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes einzusetzen. Weder aus dem Antrag der Fraktion Die Linke noch aus den aktuellen Lageberichten ergibt sich aber ein hinreichender Anlass dafür, einen solchen generellen Abschiebestopp für das Kosovo zu empfehlen oder zu fordern. Der aktuelle Asyl-Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29. November 2007 besagt vielmehr, dass sich im Kosovo unter der UNMIK-Verwaltung demokratische Strukturen entwickeln und sich die Sicherheitslage nach den Unruhen im März 2004 weitgehend beruhigt hat. Sicher ist, dass man die Sicherheitslage noch nicht als stabil ansehen kann. Allerdings gibt es nach den vorliegenden Auskünften auch keinerlei Repressionen von staatlicher Seite, und zwar bereits seit dem Jahr 1999 nicht mehr. Weiterhin wird berichtet, dass auch Repressionen Dritter gegenüber ethnischen Minderheiten seit den Vorfällen im Jahr 2004 ständig abgenommen hätten. Fakt ist im Übrigen, dass UNMIK in jedem Einzelfall prüft, ob eine Person aus dem Kosovo stammt und überhaupt rückführbar ist. Für die Angehörigen der Gruppe der Roma wird noch immer ein besonderes Schutzbedürfnis gesehen und wird auch das UNHCR-Positionspapier vom Juni 2006 bis heute beachtet. Daher sind Personen, mit Ausnahme besonders schwerer Straftäter, faktisch nicht rückführbar, da UNMIK hierzu seine Zustimmung verweigert. Es besteht daher keinerlei Anlass anzunehmen, dass die Bundesrepublik Deutschland oder UNMIK ihrer Verpflichtung zur sorgfältigen Prüfung im Einzelfall von Abschiebungen nicht nachkommen würden. Darüber hinaus erscheint es in jedem Falle sinnvoll, abzuwarten, wie sich die Situation darstellt, wenn der Übergang der Kompetenzen von UNMIK auf die kosovarischen Behörden erfolgt ist. Dies ist derzeit aber noch nicht der Fall. Die Zahlen der tatsächlich zurückgeführten Kosovaren sprechen im Übrigen auch gegen den Antrag der Fraktion Die Linke. Im Jahr 2007 wurden lediglich 781 Kosovaren zurückgeführt, und im Jahr 2008 bis zum 30. April 2008 waren es 209 Personen. Schließlich ist zu diesem ersten Antragspunkt der Fraktion Die Linke noch zu sagen, dass der Präsident des Kosovo, Herr Sejdiu, in einem Schreiben an den Bundespräsidenten vom 17. Februar 2008 für das Kosovo eine wirksame Selbstverpflichtung auf die Einhaltung menschenrechtlicher Standards abgegeben hat. Insofern ist der Antrag zu Ziffer 1 der Fraktion Die Linke abzulehnen. Mit dem Antrag zu Ziffer 2 fordert die Fraktion Die Linke die Bundesregierung auf, den Bundesminister des Inneren zu beauftragen, sein Einverständnis gegenüber den Bundesländern für eine Aufenthaltsgewährung aus humanitären Gründen nach § 23 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes für Mitglieder nationaler Minderheiten und andere schutzbedürftigen Personen aus dem Kosovo zu erklären und sich für eine entsprechende Regelung einzusetzen. Hierzu besteht keinerlei Veranlassung. Es sind überhaupt keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, die für eine Besserstellung der kosovarischen Flüchtlinge gegenüber anderen in Deutschland sich aufhaltenden Flüchtlingen sprechen. Auch insoweit ist der Antrag mangels jeglicher Begründung zurückzuweisen. Kommen wir schließlich zum dritten Antrag, nämlich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge anzuweisen, gewährte Asyl- bzw. Flüchtlingsanerkennungen von Flüchtlingen aus dem Kosovo nicht zu widerrufen und laufende Widerrufsverfahren einzustellen. Hier wird zunächst eine merkwürdige Einstellung der Fraktion Die Linke zum rechtsstaatlichen Handeln deutlich. Ob Asyl- bzw. Flüchtlingsanerkennung von Personen kosovarischer Herkunft widerrufen werden, liegt nicht im Ermessen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Es handelt sich vielmehr um eine sogenannte gebundene Entscheidung. Nach der einschlägigen Vorschrift des § 73 Asylverfahrensgesetz sind die Anerkennung als Asylberechtigte und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dann unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen hierfür nicht mehr vorliegen. Eine wie von der Fraktion Die Linke geforderte generelle Weisung an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, solche Widerrufsverfahren nicht mehr durchzuführen, würde die gesetzlich vorgeschriebene Einzelfallprüfung unterminieren. Hierzu besteht kein Anlass. Zur Klarstellung möchte ich allerdings darauf hinweisen, dass selbst bei einem erfolgten Widerruf dies nicht bedeutet, dass mit einem solchen Widerruf der Verlust eines bestehenden Aufenthaltstitels für den Betroffenen einhergeht. Diese Entscheidung obliegt vielmehr der zuständigen Ausländerbehörde und nicht dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Zusammenfassend möchte ich daher sagen, dass die derzeitige Lage im Kosovo keinerlei Raum gibt für die Empfehlung eines Abschiebungsstopps. Eine Rückführung des von der Fraktion Die Linke angesprochenen Personenkreises findet derzeit wegen mangelnder Zustimmung von UNMIK bis auf besonders schwere Straftäter nicht statt. Anhaltspunkte dafür, dass die Selbstverpflichtung des kosovarischen Präsidenten Sejdiu auf die Einhaltung menschenrechtlicher Standards nicht eingehalten wird, bestehen nicht. Vielmehr ist abzuwarten, wie sich die Situation entwickelt, wenn die kosovarischen Behörden die Aufgaben von UNMIK im vollen Umfang übernommen haben. Schließlich ist dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge das volle Vertrauen auszusprechen, die Einzelfallprüfungen zum Widerruf von Anerkenntnissen gründlich und gewissenhaft durchzuführen. Irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass die Prüfungen nicht der Gesetzeslage entsprechend geschehen, bestehen nicht. Sämtliche Forderungen der Fraktion Die Linke sind daher zurückzuweisen.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Antrag, den wir heute beraten, verfolgt folgendes Anliegen: Wir sollen die Bundesregierung auffordern, sich gegenüber den Bundesländern für eine Aussetzung der Abschiebungen von Flüchtlingen aus dem Kosovo gemäß § 60 a Abs. 1 AufenthG einzusetzen. In der Sorge um Minderheiten teile ich das Anliegen des Antrages. Ich teile indes nicht die Auffassung, dass Zu Protokoll gegebene Reden ein genereller Abschiebestopp das richtige Mittel ist, um auf die gegenwärtige Situation im Kosovo zu reagieren. Die Lage einzelner Minderheiten ist nach wie vor unsicher. Das gilt vor allem für Roma, Ashkali und Ägypter. Als das Kosovo im Februar dieses Jahres die Unabhängigkeit ausrief, habe ich mit großer Sorge beobachtet, wie sich die Situation entwickeln würde. Zu diesem Zeitpunkt konnte niemand gewalttätige Übergriffe ausschließen. Und auch nach der Unabhängigkeitserklärung bleibt die Gesamtsituation unsicher. Allerdings hatten die Repressionen bereits zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung kontinuierlich abgenommen. Auch hat sich meine Befürchtung, es könne im Abschluss hieran zu Unruhen kommen, glücklicherweise nicht bewahrheitet. Menschenrechtsorganisationen haben über keine Zunahme gewalttätiger Übergriffe berichtet. Eine Eskalation der Art, dass ein genereller Abschiebestopp erforderlich scheint, kann ich daher nicht feststellen. Solange sich die Sicherheitslage aber nicht verschlechtert, ist die sorgfältige Einzelfallprüfung deshalb ein ausreichendes Mittel, um Schutz für die zu gewähren, denen Gefahr drohen kann. Das ändert jedoch nichts daran, dass wir die Lage nach wie vor kritisch beobachten müssen. Ich versichere Ihnen, dass Bundesregierung und SPD dies tun. Wir haben uns bereits im November mit den Verantwortlichen des Bundesministeriums des Innern über diese Frage ausgetauscht und werden dies weiter tun. Der Antrag ist daher abzulehnen.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Linke unternimmt einen neuen Anlauf, das deutsche Ausländerrecht auszuhebeln. Diesmal soll das Kosovo als Notstandsgebiet dargestellt werden, in das Deutschland niemanden abschieben dürfe. Angesichts der bisherigen Anträge der Linken zum Thema Ausländerrecht ist ohnehin klar, dass die ganze Welt ein Notstandsgebiet ist, und die Not nur auf deutschem Boden zu heilen ist: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen auf sozialistisch. Die Unabhängigkeit des Kosovo ist noch kein halbes Jahr alt. Die Linke, so können wir auf ihrer Netzseite lesen, hält die Unabhängigkeit des Kosovo für „völkerrechtswidrig“; denn - so heißt es dort - letztendlich ist die Unabhängigkeit des Kosovo das Ergebnis des Krieges der NATO gegen das damalige Jugoslawien und basiert dementsprechend auf einer gewaltsam herbeigeführten Grenzveränderung. Damit sind die jetzigen Entwicklungen eine direkte - zeitlich verzögerte - Folge des Krieges. Dass an einem solchen, gegen den strammen Sozialismus eines Milošević und seiner Epigonen gegründeten Staat kein gutes Haar gelassen werden kann, ist in der Linken-Logik klar. Deshalb muss natürlich aus Sicht der Linken sofort ein Abschiebestopp her für Menschen, die zwar kein Aufenthaltsrecht in Deutschland haben, aber vor „diesem“ Kosovo unbedingt zu schützen sind. Natürlich gibt es Probleme bei der inneren Ordnung des neugegründeten Staates. Aber die Linke will diese Probleme nicht lösen. Sie vergießt Krokodilstränen in ihrem Antrag, wenn sie moniert, dass die KFOR-Truppen gegen Ausschreitungen gegen Minderheiten nicht vorgegangen seien. Gleichzeitig hat sie sich selbst lauthals gegen den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo ausgesprochen. Das ist ein Widerspruch in sich, der nicht auflösbar ist. Mir scheint, die Linke will das Kosovo in möglichst schlechtem Licht erscheinen lassen, sein staatliches Existenzrecht und seine Legitimität in Abrede stellen, keinen wirksamen Beitrag zur Problemlösung vor Ort leisten, schon gar nicht militärisch, das so systematisch unterstützte Chaos zur Forderung nutzen, dieses nun möglichst umfassend noch zu einem innenpolitischen Problem der Bundesrepublik zu machen. Das ist keine Politik, das ist Propaganda unter dem Deckmantel der Humanität. Es ist unerträglich, dass die Linke auch den Holocaust heranzieht, um ihre Chaosförderungspolitik zu begründen. Ein genereller Abschiebestopp, wie ihn die Linken fordern, ist sachlich nicht angemessen. Gerade vor dem Hintergrund der Verantwortung für andere Fälle muss die Notwendigkeit eines Abschiebestopps genau geprüft werden. Ein genereller Abschiebestopp ist ein politisches Instrument im Falle einer akuten Entwicklung, die rasches Handeln erfordert. Dieses Instrument darf nicht inflationär verwendet werden. Eine individuelle Prüfung, ob ein Asylgrund vorliegt, bleibt ja nach wie vor nicht ausgeschlossen. Eine darüber hinausgehende kollektive Ausnahme von den ausländerrechtlichen Bestimmungen scheint kaum angemessen. Die Konflikte im Kosovo haben unzweifelhaft eine lange Entwicklung. Die Probleme beim Zusammenleben verschiedener Ethnien und verfeindeter Gruppen können nicht auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland gelöst werden. Stattdessen müssen wir helfen, dass diese Konflikte im Kosovo beigelegt werden können. Wir tun das durch EULEX, der Rechtsstaatsmission der EU. Sie hilft, rechtsstaatliche Strukturen im Kosovo aufzubauen und nachhaltig zu entwickeln. Wir tun das, indem wir dem Bundeswehreinsatz im Kosovo zugestimmt haben, der hilft, diese Entwicklung militärisch abzusichern. Es ist gerade die Linke, die das ständig und systematisch zu torpedieren versucht. Ihr Antrag ist durchsichtig: Ihre Ideologie ist der Linken wichtiger als das langfristige Wohl der Menschen. Der Antrag der Linken ist in seiner mehrfachen Zielsetzung - der Destabilisierung des unabhängigen Kosovo, der Diffamierung der westlichen Anerkennung desselben und auch bei der Infragestellung wesentlicher Merkmale des bestehenden deutschen Ausländerrechts - allzu durchsichtig. Die FDP lehnt ihn ab.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit dem vorliegenden Antrag verlangt die Fraktion Die Linke, keine Abschiebungen in den Kosovo vorzunehmen und keine Widerrufsverfahren gegen anerkannte Flüchtlinge durchzuführen. Der Versuch, nun massenhaft Menschen aus dem Kosovo zur Rückkehr zu zwingen, ist unverantwortlich. Schon mehrfach hat meine Fraktion hier klargestellt, dass die Sezession des Kosovo ein völkerrechtswidriger Akt ist. Es wird Sie nicht überraschen, Zu Protokoll gegebene Reden zu hören, dass das auch die Republik Serbien so sieht. Daher bestehen im mehrheitlich von Serben bewohnten Norden des Kosovo Doppelstrukturen bei der Polizei, im Bildungswesen und in anderen Bereichen fort. Zu welchen Spannungen das in den kommenden Jahren noch führen wird, ist jetzt noch gar nicht absehbar. In dieses Pulverfass Menschen abzuschieben, die mittlerweile seit Jahren hier leben, ist unverantwortlich. Ich will aber auch begründen, warum gerade Deutschland von diesen Abschiebungen absehen sollte. Entscheidungen in Deutschland über die Abschiebung von Minderheitenangehörigen in den Kosovo haben Leitbildfunktion auch für andere Staaten. Von den geschätzten 100 000 Menschen aus dem Kosovo, die außerhalb ihres Landes leben, befinden sich zirka 53 000 in Deutschland. Davon sind nach Schätzungen des UNHCR vom Januar 2007 24 000 Roma, 8 200 Ashkali und 1 800 KosovoÄgypter. Dazu kommen noch Serben und Kosovo-Albaner, die in ihren Herkunftsorten die Minderheit bilden. Diese Menschen leben fast alle im Status der Duldung, da keine Bundesregierung ihnen einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland ermöglichen wollte. Fast ein Drittel - 896 - aller in den Kosovo Abgeschobenen - 3 125 insgesamt - kamen 2007 aus Deutschland. Nach einer Abschiebung in den Kosovo droht den Betroffenen nun auch noch, staatenlos zu werden. Der UNHCR stellt in seinem Arbeitsprogramm für 2008/2009 fest, dass Staatenlosigkeit besonders Roma, Ashkali und Kosovo-Ägypter droht, weil sie aufgrund ihrer sozialen Ausgrenzung schon in früheren Jahren Schwierigkeiten hatten, sich registrieren zu lassen. Nach Schätzungen des UNHCR von Mitte 2006 sind 20 Prozent der Minderheitenangehörigen nicht registriert, und das über Generationen hinweg. Sie sind bereits heute vom Zugang zu sozialer Sicherung, Gesundheitsversorgung und Schulbildung ausgeschlossen. Ihnen droht bei Abschiebung die Obdachlosigkeit und weitere Marginalisierung. Die soziale Situation im Kosovo ist insgesamt weiterhin schlecht, für die Minderheiten katastrophal. Der UNOmbudsmann für den Kosovo berichtet für 2007, dass Minderheiten keinen Zugang zum regulären kosovarischen Arbeitsmarkt haben. 70 Prozent der Serben sind arbeitslos, in den Siedlungen von Rückkehrern liegt die Arbeitslosigkeit teilweise bei 100 Prozent. Noch mehr Rückkehrer werden die Situation noch weiter verschärfen. Doch den Abgeschobenen wie den freiwilligen Rückkehrern droht nicht nur der Ausschluss von wesentlichen politischen und sozialen Rechten. Dazu kommt noch der manifeste ethnische Hass der Mehrheitsbevölkerung. Selbst bei Vorzeigeprojekten von Wiederansiedlung können die Rückkehrer nicht in ihren Dörfern einkaufen - sie werden in andere Dörfer gefahren. Dabei werden die Transportbusse regelmäßig mit Steinen beworfen. Weiterhin gibt es vereinzelt auch bewaffnete Angriffe auf Minderheitenangehörige. Ich will am Schluss noch auf eine mögliche Konsequenz hinweisen, die Abschiebungen in den Kosovo haben können. Der UN-Ombudsmann für das Kosovo schreibt in seinem siebten Jahresbericht: „In vielen Fällen werden [die Abgeschobenen] mit allen notwendigen Mitteln versuchen, in ihre ehemaligen Aufnahmestaaten zurückzukehren.“ Mit anderen Worten: Wer Flüchtlinge in den Kosovo abschiebt, treibt sie in die Arme von Menschenhändlern und Schleppern und erzeugt damit neues Elend und neue Unsicherheit.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Stabilisierung der kosovarischen Institutionen muss aus meiner Sicht so kurz nach der Unabhängigkeit das wichtigste Ziel sein. Die Stabilisierung der kosovarischen Institutionen benötigt Zeit und die notwendige, aber weiterhin durch Russland und Serbien behinderte Hilfestellung durch EULEX. Da trägt die Abschiebung Tausender Angehöriger ethnischer Minderheiten aus Deutschland nicht zur Entspannung bei und schafft ein großes Risiko der Destabilisierung. Es gibt nach wie vor im Kosovo keine Aufnahme- und Integrationskapazität für Minderheiten, Kranke oder Rückkehrer, die mittellos sind. Es gibt für Abgeschobene keinerlei Unterstützung im Kosovo, weder von kosovarischen noch von internationalen Institutionen. Abgeschobene Flüchtlinge sind völlig auf sich selbst gestellt bzw. auf Unterstützung aus dem Familienverbund angewiesen. Roma und andere ethnische Minderheiten haben häufig keine Unterkunftsmöglichkeit und finden keine Arbeit etc. Es gibt keine nachhaltige Verbesserung der medizinischen Versorgungslage gerade im Bereich der Traumabehandlung, worauf auch zahlreiche Experten und die zuständigen Behörden immer wieder hinweisen. Daher finde ich das Grundanliegen des vorliegenden Antrags im Prinzip richtig. Die Forderungen der Fraktion Die Linke im Einzelnen: Die Forderung nach einem generellen Abschiebungsstopp für Flüchtlinge aus dem Kosovo, die keinen Aufenthaltstitel haben, also auch für alle ethnischen Albaner, ist mir zu weitgehend. Die zweite Forderung nach der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für ethnische Minderheiten teile ich ausdrücklich. Ähnliches hatte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schon mehrfach gefordert. Es geht insbesondere um Roma, Serben und Albaner aus Gebieten im Kosovo, in denen sie eine Minderheit darstellen, zum Beispiel in der Stadt Nord-Mitrovica. Auch die Beendigung bzw. Einstellung von Widerrufsverfahren gegenüber Flüchtlingen aus dem Kosovo teilen wir prinzipiell. In der Sache sind die Widerrufsverfahren für Kosovaren allerdings schon weitgehend abgeschlossen. In der Begründung des Antrags wird meines Erachtens der Schwerpunkt zu sehr auf die instabile Sicherheitslage gelegt. Es geht doch im Kosovo zurzeit primär vielmehr um fehlende wirtschaftliche Möglichkeiten und soziale Unterstützung und damit um eine mangelhafte Lebensperspektive für Angehörige von Minderheiten. Schließlich: Den Hinweis auf die geschichtliche Verantwortung Zu Protokoll gegebene Reden gegenüber Roma und Sinti finde ich in diesem Zusammenhang unpassend. Ich möchte bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass die Bundesregierung den Vorschlag des Sondergesandten des UN-Generalsekretärs für den zukünftigen Kosovo, Martti Ahtisaari, unterstützt hat. Herr Ahtisaari hat unmissverständlich deutlich gemacht, dass eine Rückkehr ins Kosovo nur freiwillig erfolgen sollte. Im Annex zu seinem Bericht an den UN-Sicherheitsrat vom 26. März 2007 wird dies klar. Es ist sehr bedauerlich, dass sich die Bundesländer der Umsetzung dieser Empfehlung nicht verpflichtet fühlen. Mein Fazit: Das Grundanliegen des Antrags ist zu unterstützen, die Begründung ist abzulehnen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 16/9143 an die ausgewiesenen Ausschüsse vorgeschlagen. - Hierzu stelle ich Einvernehmen fest. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai Gehring, Britta Haßelmann, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Aktives Wahlalter bei Bundestagswahlen auf 16 Jahre absenken - Drucksache 16/6647 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Hier werden die Reden von Stephan Mayer, Jürgen Kucharczyk, Gisela Piltz, Petra Pau und Kai Gehring zu Protokoll genommen.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Diskussion über die „richtige“ Altersgrenze für das aktive Wahlrecht bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag ist keineswegs neu. Der Deutsche Bundestag hat sich damit beispielsweise in der 14. Wahlperiode auseinandergesetzt, als die damalige PDS eine Absenkung auf 16 Jahre gefordert hat. Damals wurde das Petitum abgelehnt. Heute wärmen die Grünen diese Thematik wieder auf. Die Argumente, die sie anführen, sind allesamt gut bekannt. Ich halte sie nach wie vor für nicht durchschlagend. Die Grünen sagen, es würde ihnen um die Erweiterung der demokratischen Teilhabe der Jugendlichen gehen. Dies greift die altbekannte Kritik auf, wonach die 16- und 17-Jährigen im geltenden Bundeswahlrecht von demokratischen Teilhaberechten ausgeschlossen wären. Dies ist eine sehr vordergründige Argumentation, die nicht trägt. Richtig ist, dass das aktive und passive Wahlrecht ganz zentrale und entscheidende Elemente der Demokratie sind. Das ist völlig selbstverständlich und wird von niemandem bestritten. Aber genauso anerkannt und unbestritten ist auch, dass es bestimmte zwingende Gründe dafür geben kann, das Wahlrecht für bestimmte Personengruppen auszuschließen. Das ist vom Bundesverfassungsgericht anerkannt. Wohlgemerkt, es müssen zwingende Gründe sein. Der entscheidende Gesichtspunkt ist in diesem Zusammenhang die Schlüssigkeit und Widerspruchsfreiheit unserer Rechtsordnung. Die Altersgrenze für das aktive und passive Wahlrecht bei der Wahl zum Deutschen Bundestag ist heute identisch mit der Altersgrenze der Volljährigkeit. Dies ist ein schlüssiges und stimmiges Gesamtkonzept, an dem wir festhalten sollten. Die Volljährigkeit ist die Altersgrenze, an der die unbeschränkte Geschäftsfähigkeit des bürgerlichen Rechts anknüpft. Das bedeutet, vor Eintritt der Volljährigkeit werden junge Menschen vor negativen Folgen ihres eigenen Handelns geschützt, indem die Rechtsordnung nur die rechtlich vorteilhaften Konsequenzen dieses Handelns gegen den jungen Menschen gelten lässt. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass der Jugendliche in seiner persönlichen Reife und Urteilsfähigkeit in aller Regel noch nicht so weit entwickelt ist, dass er für alle Folgen seines Tuns verantwortlich sein sollte. Mit welchem Argument aber wollen Sie jemandem, dem man im Zivilrecht nicht einmal zumutet, die - nachteiligen - Konsequenzen seiner Handlungen für sich selbst zu tragen, die Verantwortung für politische Entscheidungen aufbürden, die die Grundlagen unseres Gemeinwesens und damit auch alle anderen Einwohner dieses Landes betreffen? Wer das will, müsste auch bereit sein, die Altersgrenze der Volljährigkeit auf 16 Jahre abzusenken, eine Forderung, die - so hoffe ich zumindest nicht allzu viele ernsthaft hier erheben würden. Die Übereinstimmung zwischen Volljährigkeit und aktivem Wahlrecht ist richtig. Wer als Erwachsener persönliche Selbstbestimmung - siehe bürgerliches Recht - ausüben kann, der soll auch aktiv Einfluss auf die Zusammensetzung der demokratischen Vertretungsorgane ausüben können. Dahinter steht letztlich die Einsicht, dass die Ausübung des Wahlrechts einen rationalen Akt der Entscheidung voraussetzt. Vorausgesetzt wird, mit anderen Worten, die Fähigkeit zur selbstständigen und rational begründeten politischen Willensentschließung und Willensbildung. Ich zitiere hier den Staatsrechtler Michael Kloepfer aus dem Standardwerk „Handbuch des Staatsrechts in der Bundesrepublik Deutschland“ von Isensee/Kirchhof. Er sagt, dass es ein Grundanliegen von Demokratie und Verfassungsstaatlichkeit ist, dass Herrschaft und Staatsgewalt nicht willkürlich, sondern rational ausgeübt werden. Das setzt die Fähigkeit zur rationalen Willensentschließung und Willensbildung bei der Ausübung des Wahlrechts und somit ein hinreichendes Maß an persönlicher Reife voraus. Es greift deshalb zu kurz, wenn die Antragsteller sagen, dass jede Wahlaltersgrenze politisch festzulegen ist. Das mag auf den ersten Blick zutreffen, es heißt aber nicht, dass diese Festlegung willkürlich sein darf. Im Gegenteil: Die Wahlaltersgrenze muss sich in die Gesamtheit der Rechtsordnung auf überzeugende Art und Weise einfügen, da es beim Wahlrecht um ein absolutes Kernelement der Demokratie geht. Deshalb muss das aktive Stephan Mayer ({0}) Wahlrecht ein Mindestmaß an persönlicher Reife voraussetzen, und hierfür bietet die Altersgrenze von 18 Jahren, die der Volljährigkeit entspricht, den richtigen Anknüpfungspunkt. So sehen es im Übrigen auch die allermeisten EU-Mitgliedstaaten oder auch die USA, Kanada oder Australien. Ich darf kurz an die anderen wesentlichen Rechtsfolgen erinnern, die mit dem Eintritt der Volljährigkeit verbunden sind. Das Recht der elterlichen Sorge endet mit der Volljährigkeit, § 1626 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch. Die Ehemündigkeit ist an die Volljährigkeit geknüpft, § 1303 Abs. 1 BGB. Gleiches gilt für die unbeschränkte Testierfähigkeit, § 2229 Abs. 4 Bürgerliches Gesetzbuch, oder die Prozessfähigkeit, § 52 Zivilprozessordnung. Richtig ist zwar, dass von der Ehemündigkeit auf Antrag eine Ausnahme erteilt werden kann, dies dürfte aber in der Praxis nur in wenigen Fällen von Interesse sein. Auch die Wehrpflicht ist im Übrigen an das Erreichen der Volljährigkeit geknüpft. Diese Regelungen, insbesondere aus dem Zivilrecht, bestätigen noch einmal, dass unsere Rechtsordnung aus gutem Grund in praktisch allen wichtigen Lebensbereichen, in denen es um mögliche nachteilige Folgen rechtlicher Handlungen geht, davon ausgeht, dass die notwendige persönliche Reife erst mit Eintritt der Volljährigkeit gegeben ist. Diese Überlegungen gelten - übertragen auf das Gemeinwesen - weitestgehend auch für die Ausübung der Staatsgewalt durch Wahlen in Gestalt des aktiven und des passiven Wahlrechts. Im Übrigen würde der Antrag der Grünen auch zu einem Auseinanderfallen zwischen den Altersgrenzen beim aktiven und passiven Wahlrecht führen. Auch dies ist nicht schlüssig und nicht einzusehen. Auch der immer wieder, wenn auch nicht im Antrag der Grünen, angeführte Vergleich mit der Religionsmündigkeit - also dem Recht des Kindes, über seine Religionszugehörigkeit zu entscheiden -, die mit 14 Jahren eintritt, hinkt gewaltig. Bei der Religionsmündigkeit geht es um höchstpersönliche, innere Fragen des Glaubens, der Gedanken- und der Gewissensfreiheit. Beim Wahlrecht geht es dagegen um ein Recht mit größtmöglicher Auswirkung auf die Allgemeinheit. Schon deshalb ist ein Vergleich zwischen den beiden Sachverhalten völlig neben der Sache und bringt keinerlei neue Erkenntnisse. Das zweite Argument der Grünen ist, dass die Absenkung des Wahlalters als Reaktion auf den demografischen Wandel notwendig wäre. Junge Menschen würden in unserer Gesellschaft immer mehr zur Minderheit, deshalb solle durch die Wahlrechtsabsenkung eine bessere politische Berücksichtigung der Interessen der jungen Menschen erreicht werden. Dieser Gedanke unterstellt geradezu, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestags gewissermaßen Auftragnehmer bestimmter Wähler- oder Interessengruppen wären. Das Grundgesetz hat aber ein ganz anderes Modell: Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind Vertreter des ganzen Volkes, also nicht nur etwa einer bestimmten Altersgruppe. Es liegt in der Verantwortung der Abgeordneten, bei ihren politischen Entscheidungen die Interessen aller Bürgerinnen und Bürger im Auge zu haben. Abgeordnete und generell Politiker sind aufgerufen, die Interessen der Allgemeinheit im Auge zu haben, somit die Interessen der Kinder und Jugendlichen genauso wie die Interessen anderer Wählergruppen. Ich halte es für wichtig, dass Abgeordnete und Politiker den Kontakt und das Gespräch mit Jugendlichen suchen und die Anliegen, die von Jugendlichen formuliert werden, ernst nehmen und aufnehmen. Das ist zielführender als eine Diskussion über die Absenkung von Altersgrenzen im Wahlrecht. Das dritte Argument der Grünen lautet, dass die Absenkung der Altersgrenze ein Anstoß für Jugendliche sein kann, sich für Politik zu interessieren, sich politisch zu engagieren und Mitverantwortung zu übernehmen. Letztlich steckt dahinter die Annahme, dass das aktive Wahlrecht auch das Interesse an der Politik befördert. Dieser Gedanke scheint wohlfeil zu sein. Dennoch halte ich es nicht für eine ausgemachte Sache, dass der von den Grünen behauptete Zusammenhang besteht. Ich denke nicht, dass man Interesse an politischen Zusammenhängen und Verständnis für Politik gleichsam verordnen kann, indem man das aktive Wahlrecht verleiht. Wahlrecht alleine weckt noch kein Interesse an der Politik, sonst gäbe es vermutlich kaum Nichtwähler. Wesentlich wichtiger ist es nach meiner Überzeugung, dass Politiker das offene Gespräch mit jungen Menschen suchen, wo und wann immer es möglich ist. Wichtig ist ferner - und in diesem einzigen Punkt teile ich die Position des Antrags ausnahmsweise -, dass die politische Bildung in den Schulen und außerhalb der Schulen einen wichtigen Platz einnimmt. Dies sind die Mittel, um jungen Menschen politische Zusammenhänge näherzubringen und sie vielleicht sogar für politisches Engagement zu begeistern. Das vierte Argument der Grünen lautet, Jugendliche seien heute in einem wesentlich früheren Lebensalter selbstständig, ihre soziale und intellektuelle Urteilsfähigkeit entwickele sich in einem jüngeren Lebensalter, als dies noch bei früheren Generationen der Fall war. Auch dies halte ich für sehr zweifelhaft. Zum einen führen die Grünen hierfür keine belastbaren Erkenntnisse an. Die viel zitierte „frühere Reife“ bleibt letztlich eine unbewiesene Behauptung oder letztlich eine Ansichtssache. Es gibt meines Erachtens sogar gewisse Gesichtspunkte, die in die entgegengesetzte Richtung deuten. So ist es eine Tatsache, dass die Phase der Berufsausbildung heute wesentlich länger dauert als noch vor einigen Jahrzehnten. Damit hängen auch andere Dinge zusammen: Die Menschen heiraten später, gründen zum Teil deutlich später eine Familie als noch in früheren Generationen. Die Menschen werden damit oft später in feste Pflichten- und Verantwortungszusammenhänge eingebunden, als dies bei früheren Generationen der Fall war. Das bedeutet aber: Das Wahlrecht wird heute mit 18 Jahren in einem Alter gewährt, das für die meisten Wahlberechtigten noch deutlich vor der Gründung einer eigenen Familie und vor dem Ende der Berufsausbildung liegt. Das bedeutet, dass die Menschen bereits wählen können, obwohl sie noch lange nicht voll eigenverantwortlich ihr eigenes familiäres und berufliches Leben gestalten können. Damit erwerben sie ihr aktives Wahlrecht heute in einer vergleichsweise früheren Lebensphase, als dies bei früheren Generationen der Fall war. Ich möchte dies hier nicht bis Zu Protokoll gegebene Reden Stephan Mayer ({1}) ins letzte Detail diskutieren. Aber es ist unbestreitbar, dass das von den Grünen heraufbeschworene angebliche „frühere Heranreifen“ keineswegs so eindeutig festgestellt werden kann, wie dies im Antrag behauptet wird. Es bleibt letztlich festzustellen: Es fehlen seriöse, fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse zur Frage, mit welchem Alter die politische Urteilsfähigkeit einsetzt. Die von den Grünen behauptete zeitliche Verlagerung nach vorne bleibt eine bloße Behauptung. Wir werden den Antrag der Grünen selbstverständlich im Innenausschuss sorgfältig beraten und uns mit dem Für und Wider auseinandersetzen. Ich kann aber keinerlei Argumente erkennen, die es rechtfertigen würden, die Altersgrenze für das aktive Wahlrecht auf 16 Jahre herabzusetzen. Ich meine, alle Gesichtspunkte sprechen dafür, die Altersgrenze bei 18 Jahren zu belassen und damit den Gleichklang zwischen dem aktiven Wahlrecht und der Volljährigkeit beizubehalten.

Jürgen Kucharczyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003794, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die demokratische Wahl ist für die Willensbildung im Staat der entscheidende Akt. Das Wahlrecht beinhaltet eine Verantwortung, die man Jugendlichen sonst nicht zumutet. Selbstverständlich habe junge Menschen ein Recht auf ein ausgewogenes Verhältnis von Rechten und Pflichten. Es ist auch richtig, dass Jugendliche bereits wichtige, ihr Leben betreffende, Entscheidungen fällen. 16-Jährige sind nach dem Gesetz aber nur beschränkt geschäftsfähig, ihre Eltern haften für sie. Die hinreichende persönliche Reife und Urteilsfähigkeit, eine bewusste und vernunftgeleitete Wahlentscheidung zu treffen, ist sicherlich mit 16 Jahren auf einem guten Weg, aber auch noch in der Bildungsphase. Das politische Interesse oder die bloße Fähigkeit Einzelner, politisch differenziert zu beobachten, kann für sich genommen nicht das allgemeinverbindliche Recht begründen, Politik verantwortlich mitzugestalten. Diese Form der Partizipation löst unsere gesellschaftlichen Probleme nicht. Die Beteiligung der Jugendlichen am Urnengang über die Kommunalwahlen hinaus wird die Politikverdrossenheit eines großen Teils der Bevölkerung nicht lindern. Die Zahlen und Daten aus den Bundesländern sprechen eine deutliche Sprache: Der Anteil 16- bis 18-Jähriger, die von einer Absenkung direkt betroffen wären, liegt lediglich zwischen 2 und 4 Prozent. Die politische Partizipation von Jugendlichen können und müssen wir auf anderem Wege fördern. Deshalb lehne ich den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, das Wahlalter auf 16 Jahre abzusenken, ab. Ich unterstütze ausdrücklich die bereits bestehenden Projekte unter der Schirmherrschaft des Familienministeriums, die sich im „Aktionsprogramm für mehr Jugendbeteiligung“ bündeln. Es ist wichtig und richtig, dass bewährte Projekte weiter gefördert und neue initiiert werden. Denn es leuchtet ein, den Bereich der Kinder- und Jugendbeteiligung innovativ und flexibel zu gestalten. Mit dem Programm „Europäischer Pakt für die Jugend“ stellen wir uns den Herausforderungen, die einer stärkeren Beteiligung der Jugendlichen unter anderem entgegenstehen: Aktives Staatsbürgertum und die soziale Entwicklung junger Menschen in den Mitgliedstaaten unterstützen wir durch gezielte Projekte - von kommunalen Jugendparlamenten bis zum Europäischen Jugendforum, dem Dachverband europäischer Jugendorganisationen. Damit investieren wir nicht nur in die individuelle berufliche wie gesellschaftliche Zukunft der Jugend, sondern letztlich in die Zukunft der gesamten europäischen Gemeinschaft. Wir alle unterstützen das politische und soziale Engagement von Kindern und Jugendlichen und wollen, dass sie die aktive Beteiligung an der Demokratie und am Gemeinwesen ernst nehmen. Dies geschieht am besten mit örtlichem Bezug wie beispielsweise in den Jugendstadträten. Soziale Verantwortung und Solidarität mit Schwächeren entsteht durch Teilhabe und Bildung. Wir müssen garantieren, dass alle Schüler einen Zugang zu der Förderung bekommen, die sie benötigen, um sich selbst aktiv in die Gesellschaft einzubringen.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Seit den 80er-Jahren sinkt die Wahlbeteiligung kontinuierlich ab. Kritiker bezeichnen das Wahlsystem in Deutschland als unverständlich, intransparent und partizipationsfeindlich. Neben vielen anderen Vorschlägen zur Verbesserung des Wahlsystems wird auch die Herabsetzung des Wahlalters diskutiert. In vielen Kommunen gibt es bereits ein aktives Kommunalwahlrecht ab 16 Jahren. In diesem Alter besteht bei Schülern ein großes Interesse an Politik. Die Ausweitung von Partizipationsmöglichkeiten auch auf Jugendliche ist ein richtiger Schritt. Durch die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre bei Bundestagswahlen wird die Politikverdrossenheit alleine jedoch nicht beseitigt werden. Dafür ist schon ein ganzes Bündel an Maßnahmen notwendig, wie zum Beispiel auch die schon hier im Hause diskutierten plebiszitären Elemente. Eine Beteiligung von Jugendlichen unter 18 Jahren an Bundestagswahlen alleine wird die Abkehr von Parteien und das Desinteresse an der Politik nicht stoppen. „Wer Wahlen als Aufputschmittel für Jugendliche betrachtet, verwechselt sie mit Coca Cola“, so hat es Herr Professor Dr. Gerd Roellecke nicht ganz unzutreffend in seinem Aufsatz - NJW 1996, 2773 - auf den Punkt gebracht. Die Senkung des Wahlalters ist auch in der Begründung nicht konsequent durchdacht. Sich an Entscheidungen zu beteiligen, heißt auch die Konsequenzen für etwas zu tragen und für die Folgen einzustehen. Konsequenzen oder die volle Verantwortung werden in der Regel aber erst mit der Volljährigkeit getragen. Erst dann kann man alleine Kaufverträge abschließen oder für Schäden hafZu Protokoll gegebene Reden ten, ohne auf die Eltern zu verweisen. Zwar wurde auch 1970 das Wahlalter auf 18 Jahre gesenkt, ohne zunächst das damalige Volljährigkeitsalter von 21 Jahren zu senken. Die spätere Angleichung bzw. Absenkung des Volljährigkeitsalter - fünf Jahre später - zeigt aber: Volljährigkeit und Wahlalter gehen Hand in Hand und gehören zusammen. Es ist richtig, dass auch Jugendliche in der Lage sind, politische Zusammenhänge zu erfassen, zu durchschauen und sich kritisch mit Themen auseinanderzusetzen. Ebenso ist es richtig, dass es auch Erwachsene gibt, die nicht alle politischen Zusammenhänge durchschauen. Die Volljährigkeit ist aber Dreh- und Angelpunkt von Rechten und Pflichten. Sie markiert den Zeitpunkt, wo ein junger Mensch vollständig für sich Verantwortung übernimmt. Zu diesem Zeitpunkt ist man auch zivil- und strafrechtlich verantwortlich. Und auch das Wahlalter zum Europäischen Parlament beträgt 18 Jahre. Die Senkung des Wahlalters alleine wäre daher nur eine halbe Sache. Es gibt auch kein Wählen um des Wählens willen. Wahlen sind Ausdruck unseres demokratischen Rechtsstaates. Wahlen sind auch ein Ausdruck der politischen Verantwortung nicht für sich selbst, sondern vor allem für die Allgemeinheit. Und die mögliche Senkung des Wahlalters löst unter den betroffenen Jugendlichen selbst ein höchst unterschiedliches Echo aus. Nicht alle sind von dieser Absenkung begeistert, weil sie um die große Verantwortung wissen. Auch die auf kommunaler Ebene teilweise abgesenkte Wahlaltersgrenze kann für die Absenkung der Altersgrenze bei Bundestagswahlen als Argument nicht herhalten. Bundestagswahlen sind hinsichtlich der Altersgrenze auch nur begrenzt mit Kommunalwahlen vergleichbar. Kommunalwahlen weisen nämlich einen starken Ortsbezug auf. Um Jugendlichen politische Prozesse näher zu bringen und Politikverdrossenheit abzubauen, müssen andere, attraktivere Angebote gemacht und bestehende Angebote verbessert werden. Alle Parteien verzeichnen einen Mitgliederschwund. Und trotz der Vielzahl an Jugendlichen, die sich bei Vereinen, in Verbänden oder bei Initiativen engagieren, wäre eine noch höhere Beteiligung wünschenswert. Wir Liberale halten Jugendparlamente, die von den Schulen oder der Stadt organisiert werden, für einen guten Weg, demokratische Prozesse auch vor Erreichen der Volljährigkeitsgrenze zu erlernen.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beantragt, das aktive Wahlalter bei Bundestagswahlen von bisher 18 Jahren auf künftig 16 Jahre zu senken. Dem werden wir zustimmen. Denn die Senkung des Wahlalters auch auf Bundesebene gehört zum Gesamtpaket der Linken für mehr Demokratie. Damit könnte ich meine Rede auch schon wieder beenden. Aber es hat in den vergangenen Wochen ein paar Äußerungen zum Thema Menschenrechte, Demokratie und Wahlrecht gegeben, die ich für Die Linke nicht unwidersprochen lassen will, auch nicht im Deutschen Bundestag. So warnte zum Beispiel Altbundespräsident Roman Herzog vor einer „Rentner-Demokratie“, weil die Zahl der Alten zu und die Zahl der Jungen abnehme. Und er sprach von der Gefahr, dass die Alten die Jungen ausplündern könnten. Ich finde: Das grenzte schon an Seniorenrassismus. Der Anlass für seine Auslassungen war übrigens absurd. CDU/CSU und die SPD, also die Große Koalition, hatten sich auf eine außerplanmäßige Rentenerhöhung um 1,1 Prozent geeinigt. Was bei den steigenden Preisen nichts anderes bedeutet als einen realen Rentenverlust um 2 Prozent. Der reale Rentenverlust aber war für Roman Herzog kein Thema. Übrigens auch nicht, dass dieselben Rentnerinnen und Rentner den Scheingewinn in zwei Jahren mit Verlusten zurückzahlen müssen. Herzog eröffnete die Front: Jung gegen Alt. Genau das aber wird die Linke nicht mitmachen. Vordem wollte schon der damalige Vorsitzende der Jungen Union, Herr Mißfelder, die Gesundheitsversorgung für Seniorinnen und Senioren kappen, weil sie sich finanziell nicht mehr rechne. Und danach ging der Vorsitzende des CDU-nahen Studentenverbandes RCDS, Herr Ludewig, noch weiter. Er wollte das Wahlrecht für Seniorinnen und Senioren ebenso beschränken wie das Wahlrecht für Arbeitslose. Und da frage ich mich schon: Was für ein Menschenbild und Demokratieverständnis grassiert da inmitten der Christlich Demokratischen Union? Vorwärts ins 15. Jahrhundert? Das alles ist weder mit dem Gebot der Schöpfung noch mit der unantastbaren Würde aller Menschen vereinbar. Es widerspricht auch dem Grundgesetz. Und so zeigt sich erneut: Die Union ist fix dabei, andere als Verfassungsfeinde abzustempeln. Aber sie übersieht den tiefschwarzen Balken im eigenen Auge. Richtig ist: Durch die demografische Entwicklung erhalten die Stimmen der Älteren zahlenmäßig mehr Gewicht als die Stimmen der Jüngeren. Völlig falsch aber ist, daraus zu folgern, dass sich die Älteren deshalb zulasten der Jüngeren bereichern wollen. Das ist schlicht eine böse Unterstellung. Ich habe bereits nach dieser Entgleisung von Roman Herzog gesagt: Nur weil Menschen heute älter werden als früher, darf man sie nicht ihrer Bürgerrechte berauben. Das darf man überhaupt nicht. Viel klüger und weitreichender wäre es stattdessen, das Wahlalter für Jüngere zu senken. Dafür ist Die Linke. Das wäre mehr Demokratie und nicht weniger. Und vielleicht hilft der SPD bei alledem ihr Langzeitgedächtnis. Denn Willy Brandt wurde mit dem Slogan „mehr Demokratie wagen“ dereinst Kanzler. Sagen sie also Ja zum Wahlalter mit 16 Jahren und sie hätten endlich wieder ein Positivthema auf ihrer Seite. Zu Protokoll gegebene Reden

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir wollen, dass Jugendliche ab dem 16. Lebensjahr an Bundestagswahlen teilnehmen und somit künftig früher Wahlentscheidungen treffen können. Es geht uns darum, endlich früher Demokratie zu wagen, wie es vor kurzem unser Nachbar Österreich vorgemacht hat. Mit unserem Antrag und dieser Debatte wollen wir erneut für die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre um parlamentarische Mehrheiten werben. Uns Grünen ist es ein zentrales demokratie- und jugendpolitisches Anliegen, 16- und 17-jährigen Jugendlichen das aktive Wahlrecht zu eröffnen und sie nicht länger von der Wahlurne fernzuhalten. Dafür sprechen zwei Kernargumente: erstens die demografische Schrumpfung und Alterung der Gesellschaft und zweitens unser Vertrauen in die Urteilskraft und Reife der Jugendlichen. Zum Demografieargument: Wer in einer schrumpfenden und alternden Gesellschaft einen fairen Interessenausgleich zwischen den Generationen gewährleisten will, darf Jugendliche vom Wahlrecht nicht länger ausschließen, sondern muss deren demokratische Beteiligung auch auf diese Weise sichern. Denn: Jugendliche werden immer mehr zur gesellschaftlichen Minderheit. Bereits in zwei Jahren werden erstmals weniger Jugendliche unter 20 als ältere Menschen über 65 Jahre in Deutschland leben. 2050 wird die Zahl der Älteren schließlich fast doppelt so hoch sein wie die der Jüngeren. Bereits heute zeigt sich der ungute Trend, dass die Interessen der jüngeren Generationen vernachlässigt werden. Dies dürfte sich angesichts der demografischen Alterung weiter verschärfen. Dabei wirken sich zentrale politische Entscheidungen vom Klimaschutz über Sozial- und Ausbildungssysteme bis hin zur Staatsverschuldung auf die jüngeren und künftigen Generationen besonders stark aus. Anstatt nachhaltig und generationengerecht zu handeln, werden dabei immer wieder Belastungen in die Zukunft verschoben. Das großkoalitionäre, rein wahltaktische Herumdoktern an der Rentenformel ist nur das jüngste Negativbeispiel dafür. Eine Wahlalterabsenkung wäre ein gutes Mittel dagegen, vor allem aber ein wichtiges Signal des Bundestages und der gesamten Gesellschaft an die junge Generation: Wir wollen euch mit euren Sichtweisen ernst nehmen, wir wollen euch „auf gleicher Augenhöhe“ mitentscheiden lassen und euch ein wirkungsvolles Beteiligungsrecht eröffnen. Damit sind wir beim zweiten Kernargument. Unsere Auffassung ist, dass 16- und 17-Jährige urteilsfähig und entscheidungskompetent genug sind, um an Bundestagswahlen teilzunehmen. Ich fordere Sie alle auf, Jugendliche nicht länger zu unterschätzen. Die Jugend- und Entwicklungsforschung zeigt, dass Jugendliche reifer und kompetenter sind, als Sie ihnen zugestehen. Viele engagieren sich in Verbänden oder leisten Freiwilligendienste. Jugendliche entscheiden zunehmend selbstständig über ihre Bildungsbiografie. Sie wollen für sich und andere Verantwortung übernehmen und ihre eigene Zukunft aktiv mitgestalten. Eine mangelnde politische Reife von 16- und 17-Jährigen ist jedenfalls empirisch nirgendwo belegt. Wovor haben Sie eigentlich Angst? Dass 16-jährige Jugendliche sehr wohl verantwortungsvoll ihr Wahlrecht nutzen, erleben wir bereits bei Kommunalwahlen. Wieso sollte das bei Bundestagswahlen anders sein? Ihre teilweise noch ausbaufähige Wahlbeteiligung ist allerdings kein Argument gegen eine frühere Wahlmöglichkeit Jugendlicher. Sonst müsste im Umkehrschluss bestimmten „wahlabstinenten“ Gruppen das Wahlrecht entzogen werden - das wäre natürlich völlig absurd. Im Übrigen haben wir in Deutschland ein Wahlrecht und keine Wahlpflicht. Wenn wir das Wahlalter absenken, ist das vielmehr eine Chance, Jugendliche früher für Demokratie zu gewinnen und unsere demokratische Kultur insgesamt zu beleben. Denn eine systematische politische Bildung müsste und würde sich flankierend in Elternhaus, Schule und Jugendeinrichtungen fester, früher und selbstverständlicher verankern. Jede Wahlaltersgrenze ist begründungsbedürftig; das gilt genauso für die bestehende. Das Wahlalter an die Volljährigkeit zu binden, ist keinesfalls zwingend, sondern hat sich überholt. Ich frage gerade Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, warum Sie diese Bindung für unabänderlich halten, obwohl beispielsweise die Religionsmündigkeit sogar schon mit 14 Jahren einsetzt. Das Recht knüpft hierbei an die Einsichtsfähigkeit an. Auf das Wahlrecht übertragen bedeutet dies: Jugendliche Wählerinnen und Wähler müssen in der Lage sein, sich ein Urteil zu bilden und die Tragweite ihres Wahlaktes zu erkennen. Wir gehen davon aus, dass sie dies spätestens im Alter von 16 Jahren können. Vermutlich werden einzelne Redner gegen unseren Antrag einwenden, es müssten andere Maßnahmen für mehr Beteiligung ergriffen werden. Ich halte gar nichts davon, eine Wahlalterabsenkung gegen andere Partizipationsformen auszuspielen. Es geht nicht um ein „Entwederoder“, sondern um ein „Sowohl-als-auch“: Denn gerade die Senkung des Wahlalters ist ein zentraler Bestandteil einer umfassenden Beteiligungsstrategie und steht keinesfalls im Widerspruch dazu! Im Übrigen wäre es ein starkes Stück, wenn die Regierungsfraktionen die Jugendlichen auf etwas vertrösten, was Sie wiederum gar nicht einlösen. Wir Grüne haben dagegen längst ein Bündel an Vorschlägen für eine breitere und bessere Kinderund Jugendbeteiligung vorgelegt. Durch eine echte Beteiligungsoffensive in Kindertagesstätten, Bildungs- und Jugendeinrichtungen kann Demokratie früh gelernt, erlebt und gelebt werden. Ich rufe Sie daher dazu auf, die Wahlrechtsdebatte ernsthaft zu führen und sich unserem pragmatischen Vorschlag anzuschließen - anstatt mit unsinnigen Vorschlägen die Titelseiten der Boulevardpresse zu füllen! Ein besonders zynisches Musterbeispiel ist der Vorschlag eines „doppelten Wahlrechts für Leistungsträger“, das jüngst ein Mitglied des CDU-Bundesvorstandes propagiert hat. Auch das von Kolleginnen und Kollegen der CDU/ CSU, SPD und FDP geforderte Elternwahlrecht - getarnt unter dem Slogan „Wahlrecht ab 0“ - ist ein Irrweg. Denn: Das persönliche Wahlrecht kann und soll nicht delegiert werden! Ein Stellvertreterwahlrecht der Eltern widerspricht nicht nur den Verfassungsgrundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit sowie dem Prinzip der Höchstpersönlichkeit der Wahl. Es basiert auch auf dem Zu Protokoll gegebene Reden Irrtum, dass Elternwille und Kinderwille stets identisch seien. Es wäre schlicht undemokratisch, wenn Ministerin von der Leyen stellvertretend für ihre Kinder weitere siebenmal das Kreuz bei der CDU machen dürfte! Ich frage Sie: Was wäre, wenn Frau und Herr von der Leyen sich nicht auf eine Stimmabgabe einigen können? Wie soll unter Einhaltung des Wahlgeheimnisses ein Einvernehmen in der Familie und unter den Ehepartnern erzielt werden? Und nicht zuletzt: Womit lässt sich die krasse Benachteiligung von Kinderlosen rechtfertigen? Nein, ein Wahlrecht von Geburt an, verbunden mit einem Elternwahlrecht, ist starker Tobak. Es geht doch gerade darum, junge Menschen selbst als Bürgerinnen und Bürger mit eigenen demokratischen Rechten ernst zu nehmen. Mir geht es darum, dass Jugendliche früher wählen können, und nicht Eltern stellvertretend für ihre Kinder. Das Prinzip „one man - one vote“ darf nicht einfach über Bord geworfen werden. Wir sollten uns deshalb nicht weiter beim Elternwahlrecht verzetteln, sondern früher Demokratie wagen! Lassen Sie uns einen mutigen, aber durchführbaren Weg einschlagen, der Jugendliche in ihrem Recht wirklich stärkt: Lassen Sie uns gemeinsam eine Grundgesetzänderung einleiten, damit 16- und 17-Jährige schon im nächsten Jahr den Deutschen Bundestag mitwählen können. Dafür bitte ich um Ihre Unterstützung!

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/6647 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Darüber herrscht Einvernehmen. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel Bahr ({0}), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Vertragsärzte und -zahnärzte nicht mit 68 Jahren zwangsweise in den Ruhestand schicken - Drucksache 16/9445 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit Die Reden der Kollegen Dr. Rolf Koschorrek, Peter Friedrich, Dr. Konrad Schily, Frank Spieth, Dr. Harald Terpe und der Parlamentarischen Staatssekretärin Caspers-Merk werden zu Protokoll genommen.

Dr. Rolf Koschorrek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003791, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Im Mai 2003 brachte die FDP schon einmal einen Antrag zur Aufhebung der Altersgrenze von 68 Jahren für Vertragsärzte und -zahnärzte ein. Er fand in der letzten Legislaturperiode keine Mehrheit. Sie legen jetzt unter dem neuen Titel „Vertragsärzte und -zahnärzte nicht mit 68 Jahren zwangsweise in den Ruhestand schicken“ wieder einen Antrag zur Aufhebung der Altersgrenze vor, obwohl wir in dieser Legislaturperiode seit 2006 mit der Mehrheit der Großen Koalition bereits eine Vielzahl von Maßnahmen zur Flexibilisierung und Liberalisierung der ärztlichen Berufsausübung beschlossen haben. Daraus gehen unsere Richtung und das Ziel, das wir verfolgen, ganz klar hervor: Wir begrenzen und reduzieren die gesetzlichen Vorgaben für die ärztlichen Berufsausübung, wo immer es möglich und sinnvoll ist. Bestes und eindeutiges Exempel dafür ist das Vertragsärzterechtsänderungsgesetz, das Anfang 2007 in Kraft getreten ist. Es transformierte nicht nur vielfach bereits bestehende berufsrechtliche Regelungen der freien Ärzte und Zahnärzte in das geltende Vertragsarztrecht. Die neuen Regelungen setzen auch zahlreiche Erleichterungen der vertragsärztlichen Leistungserbringung um und kommen den Wünschen und Erwartungen der Ärzte in weiten Bereichen zweifellos sehr entgegen. Mit dem Ziel, dem Ärztemangel in ländlichen Regionen, wie es ihn zum Beispiel in Ostdeutschland, aber nicht nur dort gibt, zu begegnen und um die ambulante Versorgung flexibler zu gestalten, haben wir maßgebliche Änderungen vorgenommen. Hinsichtlich der Altersgrenzen für den Beginn und das Ende der vertragsärztlichen Tätigkeit sind dies die folgenden Änderungen: Erstens. Die Altersgrenze von 55 Jahren für die Erstzulassung als Vertragsarzt bzw. -zahnarzt wurde aufgehoben. Zweitens. Für Planungsbereiche, in denen eine Unterversorgung besteht oder droht, ist die Altersgrenze von 68 Jahren für die vertragsärztliche und -zahnärztliche Berufsausübung aufgehoben. Was die Zahnärzte anbelangt, so ist der hier eingebrachte Antrag der FDP-Fraktion schon heute vollständig überflüssig und gegenstandslos: Wie Sie in Ihrem Antrag ausdrücklich anführen, haben wir im jüngsten Gesundheitsreformgesetz, dem GKV/WSG, schon die im Bereich der Zahnmediziner überflüssig gewordene Bedarfszulassung aufgehoben. Für die Zahnärzte sind die bedarfsorientierten Zulassungsbeschränkungen seit April 2007 komplett abgeschafft. Darüber hinaus sind wir dabei, die Altersgrenze von 68 Jahren für Vertragszahnärzte aufzuheben, was voraussichtlich noch in diesem Jahr realisiert werden kann. Die Kollegen der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion haben sich auf meine Initiative hin für die entsprechende Änderung im Bundessozialgesetzbuch eingesetzt. Es wurde daraufhin in der Koalition verabredet, dass wir die Regelung zur Aufhebung der Altersgrenze von 68 Jahren zur Behandlung von Kassenpatienten für die Zahnärzte in ein laufendes Gesetzgebungsverfahren einbeziehen. Diese erfolgreiche Initiative zur Aufhebung der Altersgrenze für Vertragszahnärzte, die große Zustimmung in unserer Fraktion gefunden hat, macht deutlich, dass wir einer Aufhebung der Altersgrenze für alle Vertragsärzte keineswegs grundsätzlich ablehnend gegenüber stehen. Insbesondere die Annahme, jede patientenbezogene Berufsausübung durch ältere ({0})Ärzte gefährde die Patienten, weisen wir ausdrücklich zurück und lehnen sie als Begründung für die 68er-Regelung ab. Diese „Schutzbehauptung“ ist allein schon durch die uneingeschränkte privatärztliche Tätigkeit auch über das 68. Lebensjahr hinaus widerlegt. Allerdings gibt es derzeit leider noch nicht zu ignorierende Gründe, die uns von einer generel18398 len Aufhebung der 68er-Regelung für alle Vertragsärzte zum jetzigen Zeitpunkt abhalten müssen. Im Unterschied zu der vertragszahnärztlichen Versorgung haben wir im Bereich der Haus- und Fachärzte leider noch nicht überall die Situation, dass wir auf die Steuerungswirkung der 68er-Regelung verzichten können, um eine ausgewogene und flächendeckende ärztliche Versorgung zu gewährleisten. Wir können zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht auf die Bedarfsplanung mit Zulassungsbeschränkungen verzichten. Solange diese besteht, ist eine generelle Aufhebung der Altersgrenze nicht sinnvoll. Unser Ziel ist und bleibt es gleichwohl, sobald wie möglich die Bedarfsplanung überflüssig zu machen. Um dies zu erreichen, ist ein Maßnahmebündel notwendig, das die Attraktivität des Arztberufs und einer Niederlassung für junge Mediziner auch in den Regionen verbessert, in denen eine Unterversorgung besteht oder droht. Dabei muss es sowohl um finanzielle Anreize als auch um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen gehen. Ein Beispiel für eine geeignete Maßnahme sind zum Beispiel die beschlossenen Honorarzuschläge für Ärzte, die in unterversorgten Regionen arbeiten.

Peter Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003754, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die FDP-Fraktion begehrt in ihrem Antrag etwas, was ohnehin kommt und vonseiten der Koalitionsfraktionen auch bereits öffentlich angekündigt worden ist. Es hätte dieses Antrags folglich nicht bedurft, aber wir freuen uns immer, wenn die Opposition unsere Politik mit unterstützt. Vielleicht sollten Sie, meine Damen und Herren von der FDP-Fraktion, aber im Sinne des propagierten Bürokratieabbaus überdenken, ob Sie nicht sich und uns solche Anträge in Zukunft ersparen wollen. Wie die Parlamentarische Staatssekretärin Marion Caspers-Merk in ihrer Rede beschreibt, zeigen die Erfahrungen mit den unterschiedlichen bereits jetzt geltenden Ausnahmeregeln, dass eine Aufhebung der Altersgrenze nicht zu einer Qualitätsverschlechterung in der Versorgung geführt hat. Von einer generellen Aufhebung der Altersgrenze versprechen wir uns zudem eine Reihe von Vorteilen: In vielen Fällen wird der Weiterverkaufswert einer Praxis steigen, weil der Inhaber oder die Inhaberin in Zukunft in einem längeren Prozess und ohne Zeitdruck geeignete Nachfolgerinnen und Nachfolger suchen kann. Dies ist wichtig, weil für viele Ärztinnen und Ärzte ihre Praxis einen wesentlichen Teil ihrer Alterssicherung darstellt. Darüber hinaus ermöglichen die Aufhebung der Altersgrenze gemeinsam mit den flexiblen Anstellungsmöglichkeiten, die wir durch das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz geschaffen haben, eine kooperative Praxisführung von Vorgängerinnen und Vorgängern mit ihren Nachfolgerinnen und Nachfolgern. Die Erfahrung zeigt, dass eine gemeinsame Übergangszeit nicht nur den Patientinnen und Patienten eine längere Umstellungszeit ermöglicht, sondern auch vieles an praxisspezifischem Wissen und beruflicher Erfahrung weitergegeben und somit erhalten bleiben kann. Allerdings wird der Wunsch, über das 68. Lebensjahr hinaus als Ärztin oder Arzt zu praktizieren, bereits heute sehr unterschiedlich laut. Schon jetzt nutzt keineswegs jeder Arzt die heutige Altersgrenze voll aus. Im Gegenteil: Viele Ärztinnen und Ärzte finden schon vor dem 65. Lebensjahr einen Übergang in den Ruhestand oder sind nach wie vor im medizinischen Umfeld tätig, praktizieren aber nicht mehr. Wenn wir die Altersgrenze aufheben, kommen auf die Ärztekammern und Zahnärztekammern sowie die Kassenärztlichen und die Kassenzahnärztlichen Vereinigungen neue Herausforderungen zu, um die hochwertige medizinische Versorgung dauerhaft sicherzustellen. So müssen die kontinuierlichen Weiterbildungsmaßnahmen gewährleisten, dass bis ins hohe Alter hinein die ärztliche Behandlung auf dem aktuellen fachlichen Stand gesichert ist. Dazu gehört auch, dass die Ärztekammern und Zahnärztekammern die Anforderungen an die ärztliche Leistungsfähigkeit offen kommunizieren und der eigenen, individuellen persönlichen Einschätzung ihrer Mitglieder gegenüberstellen. Zudem muss im Falle von Fehlbehandlungen schnell und transparent gehandelt werden: Sollte sich ein Arzt oder eine Ärztin - unabhängig von seinem oder ihrem Alter - selbst überschätzen, sodass ein möglicher Schaden für die Patienten droht oder gar eintritt, muss dies von den berufsständischen Organisationen schnell und transparent aufgegriffen und angemessen sanktioniert werden. Dazu gehört, dass sich eine positive Fehlerkultur noch stärker als bislang entwickelt, die einen angemessenen Umgang mit Behandlungsfehlern sicherstellt. Es ist weder einem Arzt oder einer Ärztin noch ihren Patientinnen und Patienten gedient, wenn Missstände in der ärztlichen Behandlung infolge einer falsch verstandenen Solidarität unter den Teppich gekehrt werden sollen. Abschließend möchte ich auf den vermeintlichen Ärztemangel eingehen, der in der Öffentlichkeit immer wieder beklagt wird. Auch die FDP-Fraktion konnte bei der Erarbeitung ihres Antrages nicht der Versuchung widerstehen, in diesen populistischen Chor miteinzustimmen. Nach wie vor ist der Arztberuf jedoch sehr attraktiv - und zwar trotz aller gegenteiliger Darstellungen in der Öffentlichkeit, mit denen unsere politischen Reformprozesse im Gesundheitswesen immer wieder angegangen werden. Die Ärztestatistik 2007, die unlängst von der Bundesärztekammer veröffentlicht worden ist, belegt, dass die Zahl der Ärztinnen und Ärzte in den vergangenen Jahren sowohl im ambulanten wie auch im stationären Bereich weiter zugenommen und somit zu einer erheblichen Verbesserung der Ärztedichte beigetragen hat. Auch ist - ebenfalls entgegen aller öffentlich vorgetragenen Krisenszenarien - die Abwanderung von Ärzten und Ärztinnen, die in Deutschland tätig waren, alles andere als ein Massenphänomen und zudem in ihrem Ausmaß deutlich niedriger als die Zahl der nach Deutschland zugewanderten Ärztinnen und Ärzte. Deshalb möchte ich hervorheben, dass wir die Altersgrenze nicht zur Behebung eines Mangels an Nachwuchsärztinnen und Nachwuchsärzten aufheben, denn diesen Mangel gibt es nicht.

Dr. Konrad Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003840, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die derzeit noch geltende rechtliche Regelung ist - um es dem Thema entsprechend zu formulieren - veraltet. Sie Zu Protokoll gegebene Reden war schon bei der Inkraftsetzung 1999 als äußerst problematisch zu bewerten. Heute sprechen drei gewichtige Gründe für ihre Aufhebung. Zum Ersten werden Ärzte ebenso wie die Gesamtbevölkerung immer älter und bleiben doch länger jung; das heißt, Alter kann nicht alleine numerisch definiert werden, sondern hat eine kulturelle und soziale Komponente. Zum Zweiten wird schon jetzt durch die Aufhebung der Altersgrenze wirksam der Unterversorgung in manchen ländlichen Regionen Deutschlands entgegengewirkt. Wenn Ärzte in ländlichen Gegenden dazu in der Lage sind, qualitativ hochwertig nach der Überschreitung der Altersgrenze weiter zu arbeiten, sind sie es in allen anderen Regionen unseres Landes auch. Zum Dritten glaube ich, dass die Frage der Altersgrenze nicht per Bundesgesetz geregelt werden muss, sondern der Verantwortung der örtlichen ärztlichen und zahnärztlichen Körperschaften obliegen kann. Vor Ort wissen die Verantwortungsträger am besten, was für ihre Region das Richtige ist. Berücksichtigt man diese drei Argumente, so wird klar, dass der FDP-Antrag der Lebenswirklichkeit in Deutschland sehr gut gerecht wird und zudem adäquat auf die Versorgungsschwierigkeiten in Teilen unseres Landes reagiert. Ich bitte daher um Zustimmung für die Drucksache 16/9445.

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Als ich vor kurzem die Praxis meiner Hausärztin aufsuchte, war diese im Urlaub. Ihre Urlaubsvertretung war einer der Ärzte, über die in diesem Antrag geredet wird. Ich schätze, er wird um die siebzig Jahre alt gewesen sein und machte auf mich zeitweilig einen abwesenden Eindruck. Und ich will Ihnen sagen, ich fühlte mich von diesem Arzt überhaupt nicht kompetent behandelt. Es ist ja nur zu verständlich, dass mit zunehmendem Alter auch eine nachlassende geistige und körperliche Verfassung vonstatten gehen kann. Deshalb lehnen wir eine generelle Freigabe der Altersgrenze ab, wir wollen aber nicht den Stab über alle älteren Ärzte brechen. Wir wollen erst recht keine Altersdiskriminierung. Wenn ein Arzt oder eine Ärztin nach dem 68. Lebensjahr weiter praktizieren möchte, sollte das unter gewissen Bedingungen gestattet werden: Wir plädieren dafür, dass für die Fortsetzung der ärztlichen Tätigkeit der Nachweis über die individuelle Eignung sowie die kontinuierliche Fortbildung erbracht werden muss. Mit den Neuregelungen aus dem Vertragsarztrechtsänderungsgesetz 2007 wurde die Möglichkeit geschaffen, in unterversorgten Regionen die Altersgrenze aufzuheben. Das findet unsere volle Unterstützung, wenn dafür ein Einzelnachweis erbracht wird. Diese Unterversorgung besteht hauptsächlich in den neuen Bundesländern. Aber nicht nur dort sind Arztpraxen verwaist. Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2007 gibt es außerdem die Möglichkeit, eine lokale Unterversorgung festzustellen, obwohl die Versorgungsregion gut oder überversorgt ist. Die Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen müssen dann alle Maßnahmen ergreifen, um diese Unterversorgung zu beenden. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass Anfang 2009 eine erste Überprüfung der Umsetzung dieser Gesetzesregelung vorgenommen wird! Trotz dieser Regelungen will die FDP die Abschaffung der Altersgrenze für Ärzte. Doch die Begründung, die zu der Altersgrenze für Vertragsärzte geführt hatte, ist auch heute noch aktuell. Denn wie die FDP in ihrem Antrag richtig zitiert, wurde in der Begründung des Gesundheitssystemstrukturgesetzes von 2003 festgestellt: „Die Entwicklung der Vertragsarztzahl stellt eine wesentliche Ursache für überhöhte Ausgabenzuwächse in der gesetzlichen Krankenversicherung dar. Angesichts einer ständig wachsenden Zahl von Vertragsärzten besteht die Notwendigkeit, die Anzahl der Vertragsärzte zu begrenzen. Die Überversorgung kann nicht durch Zulassungsbeschränkungen und damit zulasten der jungen Ärztegeneration eingedämmt werden. Hierzu ist auch die Einführung einer obligatorischen Altersgrenze für Vertragsärzte erforderlich.“ Wenn die FDP jetzt behauptet, dass sich diese Situation grundlegend verändert hat, möchte ich angesichts der Entwicklung der Arztzahlen erhebliche Zweifel anmelden. Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Altersgrenze im Jahr 1998 waren 124 621 Ärztinnen und Ärzte ambulant tätig. Ende 2006 betrug ihre Zahl 136 105, also eine Steigerung von knapp 12 000 Ärztinnen und Ärzten. Von einem flächendeckenden Ärztemangel kann also überhaupt nicht geredet werden. Richtig ist, dass es einerseits Über- und andererseits lokale Unterversorgung gibt. Um hier den Patientinnen und Patienten zu helfen, braucht es wesentlich mehr Anstrengungen als die Aufhebung der Altersgrenze. Deshalb ist dieses Argument der Liberalen nicht stichhaltig. Wir werden in den weiteren Beratungen sehen, ob der dünnen Basis dieses Antrags noch etwas mehr Substanz gegeben werden kann. Die Linke wird dazu konstruktive Vorschläge machen.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Antrag der FDP greift mit der drohenden Unterversorgung in manchen vertragsärztlichen Planungsregionen ein wichtiges Thema auf. Es lohnt sich deswegen, vertieft über den richtigen Weg zur Vermeidung von Unterversorgung zu diskutieren. Die drohende ärztliche Unterversorgung in manchen ländlichen Regionen Ostdeutschlands ist mittlerweile fast sprichwörtlich. Wer sich genauer umhört und umsieht, der weiß aber, dass es diesbezügliche Meldungen inzwischen beispielsweise auch aus sozial benachteiligten Stadtteilen großer Städte im Westen gibt, wo die Nachfolge für Hausarzt- und Facharztsitze fraglich ist. Mit dem Vertragsarztrechtsänderungsgesetz wurden bereits wichtige Änderungen vorgenommen, die helfen können, Unterversorgung künftig zu vermeiden. Dazu zähle ich vor allem die nunmehr von den Kassen finanzierten Sicherstellungszuschläge. Auch die Regelung, dass niedergelassene Vertragsärzte in unterversorgten Regionen über das 68. Lebensjahr hinaus tätig sein dürfen, ist als Übergangslösung sicher hilfreich. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass diese Maßnahmen nicht ausreichen werden. Wir brauchen vor allem gemeinsame Zu Protokoll gegebene Reden Anstrengungen des Bundes, der Länder und der Selbstverwaltung, um Unterversorgung zu verhindern. Ich begrüße daher die Bemühungen von Bundesländern wie Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern, junge Ärztinnen und Ärzte schon während des Medizinstudiums für die Niederlassung in unterversorgten Gebieten zu gewinnen. Sinnvoll ist es sicher auch, den Wiedereinstieg in das Berufsleben etwa nach einer Erziehungspause zu fördern und so den Mangel an qualifizierten Ärztinnen und Ärzten zumindest teilweise zu beheben. Vorschläge, wie die derzeit unzulängliche Bedarfsplanung etwa durch feinere Planungskriterien verbessert werden kann, liegen ebenfalls auf dem Tisch. Diese Dinge sind sicher wichtig und richtig. Sie berücksichtigen aber nicht die Frage, woran es eigentlich liegt, dass die Niederlassung als Vertragsarzt in einigen Regionen nicht attraktiv ist. Schauen wir uns die Bedingungen zum Beispiel in Ostdeutschland an: In Ostdeutschland treten bestimmte chronische Erkrankungen deutlich häufiger als im Westen auf. Die Behandlung dieser chronischen Erkrankungen verursacht etwa 80 Prozent der Kosten im Gesundheitswesen. Dies hat verbunden mit der höheren Fallzahl eine höhere Arbeitsbelastung und Betreuungsintensität für die Ärztinnen und Ärzte zur Folge. Auch die finanziellen Rahmenbedingungen der niedergelassenen Ärzte im Osten sind ungünstiger: So sind die Einkünfte aus der Behandlung privat versicherter Patienten, die häufig zur Quersubventionierung der Praxis verwandt werden, deutlich geringer. Im Westen liegt der Anteil der PKV-Patienten bei circa 10 Prozent, im Osten hingegen nur bei 3,6 Prozent. Auch die Vergütungssituation stellt sich für die niedergelassenen Ärzte in Ostdeutschland schlechter dar: Nach Berechnungen des Bundesgesundheitsministeriums stehen für die ambulante Behandlung je Versichertem im Vergleich zum Westen Deutschlands lediglich circa 85 Prozent der Vergütung zur Verfügung. Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung betragen die Fallwerte, also die durchschnittlichen Einnahmen je Fall, nur rund 80 Prozent des Westniveaus. Nur durch die aus der größeren Fallzahl resultierende Mehrarbeit der Ärztinnen und Ärzte erreichen die Praxisüberschüsse in den meisten ostdeutschen Bundesländern etwa 95 bis 100 Prozent des Westniveaus. Wenn wir das Problem der Unterversorgung lösen wollen, müssen wir zuerst die Frage beantworten, wie wir beispielsweise mittels der Vergütung die Niederlassung in unterversorgten Gebieten attraktiver gestalten. Genauer gefragt: Ist es nicht sinnvoll, das Engagement niedergelassener Ärzte in strukturschwachen Regionen höher zu vergüten als die Tätigkeit in wirtschaftlich starken Regionen? Sodann müssen wir uns damit beschäftigen, wie die häufig hinderliche sektorale Trennung zum Zwecke der Verhinderung von Unterversorgung überwunden werden kann. Ziel muss es sein, die Kooperation und Arbeitsteilung zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor zu vertiefen, wie dies in einigen regionalen Gesundheitsnetzwerken bereits praktiziert wird. Der Antrag der FDP sagt dazu nichts. Ich denke im Übrigen nicht, dass es zur Vermeidung von Unterversorgung nötig ist, gleich die komplette Ruhestandsregelung insbesondere für niedergelassene Vertragsärzte abzuschaffen. Damit verhindert man aus meiner Sicht den Berufseinstieg junger Vertragsärztinnen und Vertragsärzte, die sich niederlassen wollen. Dies kann das Problem des Ärztemangels sogar noch verschärfen. Natürlich gibt es auch Gründe für die Aufhebung der Altersgrenze, beispielsweise für Vertragszahnärzte, weil dort ohnehin keine Bedarfszulassung mehr existiert. Auch der Grundsatz der freien Berufsausübung und die Verhinderung von Altersdiskriminierung mögen solche Gründe sein. Die geforderte Liberalisierung der Ruhestandsregelung würde allerdings die Bereitschaft der Ärzte erfordern, gegebenenfalls im Alter den Fortbestand der Fähigkeit zur verantwortlichen Berufsausübung nachzuweisen. Dass der FDP-Antrag einer differenzierten Betrachtung genügt, darf bezweifelt werden.

Marion Caspers-Merk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000325

Passen strikte Altersgrenzen, ab wann man nicht mehr beruflich tätig sein darf, eigentlich noch in eine Gesellschaft des längeren Lebens? Wir meinen: Nein. Denn wir brauchen aktive Ältere und ihren gesellschaftlichen Beitrag. Deshalb ist es auch folgerichtig, über die 68er-Regelung für Ärzte und Zahnärzte neu nachzudenken. Wir werden Ihnen deshalb gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen vorschlagen, diese Zwangsverrentungsgrenze aufzuheben. Es ist bereits zwischen den Koalitionspartnern verabredet, dass ein Änderungsantrag zum Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der GKV eingebracht werden soll, der die Aufhebung der Altersgrenze sowohl für Vertragszahnärzte als auch für Vertragsärzte vorsieht. Der Antrag der FDP fordert deshalb etwas, was bereits öffentlich zugesagt war. Aber immerhin gibt der Antrag die Möglichkeit, nochmals die wichtigsten Argumente auszutauschen. Die Aufhebung der Altersgrenze für Vertragsärzte bedeutet für die Ärzte mehr Planungssicherheit und mehr Freiheit bei der Organisation ihrer Nachfolge. Damit wird einem wesentlichen Anliegen der Ärzte entsprochen, selbstbestimmt über den Zeitpunkt ihrer Nachfolge zu entscheiden. Zugleich kann die Aufhebung der Altersgrenze ein Beitrag zu mehr Versorgungssicherheit sein, wenn Ärzte über die Altersgrenze von 68 Jahren hinaus tätig bleiben, weil sie keinen Nachfolger finden. Zudem ist es gut, wenn leistungsfähige Ärzte ihre Berufs- und Lebenserfahrung der Gesellschaft zugutekommen lassen, auch über die Altersgrenze von 68 hinaus. Von der starren Altersgrenze sind in vergangenen Gesetzgebungsvorhaben bereits Ausnahmen geregelt worden. Durch das im Januar des letzten Jahres in Kraft getretene Vertragsarztrechtrechtsänderungsgesetz wurde eine Aufhebung der Altersgrenze für die Fälle geregelt, in denen der jeweilige Landesausschuss eine eingetretene oder drohende Unterversorgung festgestellt hat. Zuvor galt bereits die Regelung, dass sich die Zulassung von Ärzten und Zahnärzten, die zum Zeitpunkt der Vollendung des 68. Lebensjahres weniger als 20 Jahre als Vertragsarzt bzw. als Vertragszahnarzt tätig und vor dem 1. Januar 1993 zugelassen waren, bis zum Ablauf der 20-JahresFrist verlängert. Ehemaligen Vertragsärzten ist es zudem, Zu Protokoll gegebene Reden auch wenn sie über 68 Jahre alt sind, möglich, Vertretungen eines Vertragsarztes zu übernehmen. Schließlich ist es Ärzten und Zahnärzten auch erlaubt, über das Alter von 68 Jahren hinaus Privatpatienten zu behandeln. Hinzu kommt bei den Vertragszahnärzten die besondere Situation, dass diese seit Inkrafttreten des GKVWettbewerbsstärkungsgesetzes im April vergangenen Jahres keinen Zulassungsbeschränkungen mehr unterliegen. Eines besonderen Schutzes jüngerer Ärzte - wie vom Bundesverfassungsgericht und Bundessozialgericht unter anderem zur Rechtfertigung der Altersgrenzenregelung angenommen, bedarf es für sie daher nicht mehr. Wir haben gute Erfahrungen mit den Ausnahmen gemacht, machen wir sie doch zur Regel.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9445 an den Ausschuss für Gesundheit vorgeschlagen. - Darüber herrscht Einvernehmen. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Karin Binder, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Effektiven Diskriminierungsschutz verwirklichen - Drucksache 16/9637 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Die Reden der Kolleginnen und der Kollegen Daniela Raab, Christine Lambrecht, Mechthild Dyckmans, Sevim Dağdelen, Volker Beck und Gert Winkelmeier werden zu Protokoll genommen.

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vor zwei Monaten haben wir uns schon zum wiederholten Male mit diesem Thema beschäftigt; damals war es ein Antrag von den Grünen, heute von den Linken. Auch dieses Mal kann und will ich dazu eigentlich nur eines sagen: Das AGG, so wie es zurzeit besteht, ist schon zuviel des Guten. Der Schutz vor Diskriminierung ist ausreichend vorhanden, und es bedarf keiner weiteren Anpassung oder Erweiterung. Die Annahme, dass es den europäischen Vorgaben „offensichtlich“ widerspricht, teile ich ganz und gar nicht. Ich halte Ihre Aussagen für ein rein populistisches Machwerk, das mal wieder die Tatsachen verdreht und uns unnötig Zeit und Mühen kostet, weil wir darauf auch noch eingehen müssen. Ich spreche damit gezielt nicht nur den besserwisserischen Zeigefinger der EU-Kommission an, die Deutschland und anderen Ländern vorschreiben will, wie Diskriminierungsschutz zu funktionieren hat. Um es mit den Worten unseres CSU-Landesgruppenvorsitzenden zu sagen: Es handelt sich dabei um einen „ungezügelten Kompetenzanmaßungswahn“, den wir nicht unterstützen wollen. Das Gleiche gilt für das Gejammer einiger Fraktionen dieses Hauses, das den Eindruck vermittelt, in Deutschland und Europa würden nur diskriminierte Menschen herumlaufen. Dabei handelt es sich dann um „ungezügeltes Gutmenschentun“, das mit der funktionierenden Realität unserer Gesellschaft nichts mehr zu tun hat. Es ist bedauerlich, das die Arbeit des Hohen Hauses davon aufgehalten wird, indem wir uns immer wieder mit den gleichen überflüssigen Anträgen und Forderungen auseinandersetzen müssen, die schon lange ausdiskutiert sind. Wir wollen uns nicht mit weiteren Initiativen von Kommissar Spidla beschäftigen müssen, die er schon für den 2. Juli angekündigt hat, weil diese immer wieder in die falsche Richtung gehen. Es gibt über das AGG hinaus keinen weiteren Handlungsbedarf in Deutschland. Unser Rechtssystem besaß schon vor dem unseligen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz einen umfassenden Diskriminierungsschutz, weshalb Deutschland als ein Vorreiter diesbezüglich gelten muss. Eine Amerikanisierung unseres Rechts sollten wir daher auf jeden Fall verhindern, und wir lehnen somit sowohl die Forderung nach einer Beweislastumkehr als auch ein mögliches Verbandsklagerecht kategorisch ab. Wir brauchen keine Erweiterung oder Änderung. Ihre Vorschläge sind zu absurd, um auch noch im Einzelnen darauf einzugehen. Es existiert ein umfassender Schutz vor Diskriminierung wegen der Rasse, der ethnischen Herkunft, des Geschlechts oder der Religion. Darüber hinaus wird es mit der Union keine Erweiterung oder Modifikation geben.

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Fraktion Die Linke hat den Antrag „Effektiven Diskriminierungsschutz verwirklichen“ vorgelegt, mit dem eine deutliche Ausweitung des schon bestehenden Schutzes vor Diskriminierung gefordert wird. Ich sage es vorab: Wir lehnen diesen Antrag ab. Ich sage Ihnen auch warum: Die Linke fordert, das Merkmal „aus Gründen der Rasse“ im AGG zu ersetzen und durch die Formulierung „aus rassistischen Gründen“ zu ersetzen. Hier sind wir an die Vorgabe der EU gebunden, die genau diese Formulierung gewählt hat, auch wenn Ihnen das nicht gefällt. Eine Veränderung können wir daher nicht mittragen. Weiter fordern Sie die Erweiterung des Anwendungsbereichs des AGG um Diskriminierungsmerkmale wie „soziale Herkunft“ oder „soziale Lebensumstände“. Eine solche Erweiterung des Anwendungsbereichs ist schon alleine aufgrund der mangelnden Bestimmtheit nicht möglich. Was ist unter dem Begriff „soziale Lebensumstände“ zu verstehen? Eine solch unkonkrekte Begrifflichkeit hilft sicherlich niemanden im Kampf gegen Diskriminierung, wird aber den Gerichten Auslegungsschwierigkeiten bereiten. Wem soll damit geholfen sein? Eine weitere Forderung aus Ihrem Antrag erscheint ebenfalls nicht sinnvoll. Da soll das Verbandsklagerecht auf Organisationen ausgeweitet werden, die gerade nicht das Merkmal eines Verbandes haben. Die Erweiterung des Verbandsklagerechts auf alle Gruppierungen, die entsprechend ihrer Satzung die besonderen Interessen von benachteiligten Personengruppen im Sinne des AGG wahrnehmen wollen, würde zu einer inakzeptablen Aufweichung des Verbandsklagerechtes führen. Das vorgeschlagene Sanktionsrecht ohne Begrenzung der Schadensersatzhöhe würde bei Schadensersatzprozessen letztlich zu Verhältnissen wie in den USA führen. Das ist somit keine akzeptable Ausweitung. Deutschland hat die vier Antidiskriminierungsrichtlinien der EU durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz umgesetzt und nimmt im gesamteuropäischen Vergleich eine Vorbildstellung ein. Das AGG hat keineswegs zu der Prozessflut geführt, die von einigen Kritikern befürchtet worden ist. Wir haben vielmehr mit Augenmaß den Schutz vor Diskriminierung vorangebracht. Die Hinweise der Kommission der Europäischen Gemeinschaften zu der Umsetzung in Deutschland haben wir aufgenommen, und sie werden einer Prüfung unterzogen. In diesem Zusammenhang erlaube ich mir, darauf hinzuweisen, dass in vielen Mitgliedstaaten wegen angeblich unzureichender Umsetzung derzeit die Klärung wichtiger Fragen zur Auslegung der Richtlinie erfolgt. Die Forderung im Antrag der Linke führen hierbei nicht in die richtige Richtung.

Mechthild Dyckmans (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003752, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zum wiederholten Male berät der Deutsche Bundestag über das Antidiskriminierungsrecht. Die uns hierzu vorliegenden Initiativen zeugen von einem gegenseitigen Überbietungswettbewerb. Minderheiten werden bewertet und für wichtig oder weniger wichtig erachtet, ein Wust von Sanktionsmöglichkeiten wird präsentiert und die Forderungen an Brüssel, Europa endlich diskriminierungsfrei auszugestalten, nehmen an Schärfe zu. Diese Forderungen mögen bei bestimmten Gruppen oder Initiativen Eindruck hinterlassen; den Menschen helfen sie jedoch in keiner Weise. Es wird nicht gelingen, Diskriminierung abzubauen, indem man Bürgerinnen und Bürger bevormundet und ihre Handlungsfreiheit mit immer mehr Regeln und Vorschriften einschränkt. Es ist ein Irrglaube, Antidiskriminierung lasse sich von oben per Gesetz verordnen. Es ist von jeher der Grundgedanke der Privatautonomie, dass der Bürger seinen Willen als Privatrechtssubjekt frei und fern vom Staat gestalten kann. Es gehört zu den Grundvoraussetzungen unseres liberalen Rechtsstaates, dass ein Vertragsschluss frei von staatlicher Zensur erfolgen kann. Der Staat schützt dabei die Wahlfreiheit der Bürger und schreibt ihm nicht vor, was korrekt, tugendhaft, anständig und gut für ihn ist. Zum Kernbestandteil der verfassungsrechtlich garantierten allgemeinen Handlungsfreiheit gehört es, dass der Bürger keine Rechenschaft über die Beweggründe seines Handelns geben muss. Es ist völlig unbestritten, dass jede Rechtsordnung auch den notwendigen Rahmen für das Zusammenleben der Bürger untereinander geben muss. Das Grundgesetz verbietet in Art. 3 Abs. 3 GG dem Staat jede Form der Ungleichbehandlung wegen der in dieser Vorschrift aufgeführten absoluten Diskriminierungsverbote. Dieser Verfassungsgrundsatz strahlt auch aus auf das Privatrecht. Das Grundgesetz begründet eine Schutzpflicht des Staates, auch im Privatrechtsverkehr für die Beachtung dieser Wertungen zu sorgen. Anknüpfungspunkte im Privatrecht sind hier die §§ 134, 138 BGB. Verträge, die rassistische und geschlechtsspezifische Diskriminierungen enthalten, sind nach § 138 BGB schlechthin unwirksam. Es stellt eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts gemäß § 823 Abs. 1 BGB dar, wer einem anderen einen Schaden dadurch zufügt, dass er ihn wegen eines in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Merkmals diskriminiert. Unsere Rechtsordnung garantiert schon heute den Schutz von Minderheiten und stellt sich bewusst gegen Diskriminierung. Es besteht Einigkeit im Deutschen Bundestag, dass kein Bürger wegen seiner Rasse, seiner ethnischen Herkunft, seiner Religion, seiner Weltanschauung, seiner Behinderung, seines Alters, seines Geschlechts oder seiner sexuellen Orientierung benachteiligt und diskriminiert werden darf. Die FDPBundestagsfraktion bekennt sich ausdrücklich zu den Diskriminierungsverboten, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention und in den europäischen Verträgen festgehalten sind. Die Freiheit, unbeschwert von Diskriminierung und Verfolgung leben zu können, ist gerade für uns ein zu verteidigendes Menschenrecht. Die Bekämpfung von Diskriminierung und Intoleranz sind für den Zusammenhalt einer Gesellschaft schlicht unverzichtbar. Es gehört daher unbestritten zu den Kernaufgaben des Staates, den Bürgerinnen und Bürgern ein freies und selbstbestimmtes Leben ohne Diskriminierung zu gewährleisten. Uns trennen jedoch unterschiedliche Auffassungen über den Weg, wie dieses Ziel zu erreichen ist. Toleranz zeigt sich im Handeln. Nur eine vernünftige und sachorientierte Politik hilft den Menschen und ist damit der beste Schutz vor Diskriminierung. Eine intelligente Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sowie vermehrte Anstrengungen zur Integration von Migranten und Behinderten wären geeignet, Schutz und Teilhabe von sozial Schwachen, Benachteiligten und Minderheiten in unserem Land entscheidend zu verbessern. Mit bloßer Symbolpolitik jedoch wird den Bürgerinnen und Bürgern Sand in die Augen gestreut. Es werden Versprechungen gemacht, die sich nicht erfüllen werden. Die Fraktion Die Linke listet in ihrem Antrag ein Sammelsurium von Forderungen auf, die erneut die blinde Staatsgläubigkeit und Ideologie dieser Partei betonen. Der Bürger als mündiges Wesen ist nach Auffassung der Fraktion Die Linke abgemeldet. Antidiskriminierung wird nicht als gesellschaftliche Aufgabe verstanden, sondern als verpflichtende Staatsdoktrin, die keinen Widerspruch duldet. Die Absurdität der Vorschläge gipfelt in der Forderung, den Anwendungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes um die Diskriminierungsmerkmale „Staatsangehörigkeit“ und „soziale Herkunft“ Zu Protokoll gegebene Reden oder „soziale Lebensumstände“ zu erweitern. Danach reicht möglicherweise schon der Wohnort in einer strukturschwachen Region als Diskriminierungsmerkmal aus. Weitere Auskunftsrechte, erweiterte Verbandsklagerechte, Beweislastumkehr, verschuldensunabhängiger und unbegrenzter Schadensersatz, Streichung fast sämtlicher zurzeit im Gesetz vorgesehener Differenzierungen, ein flächendeckendes Netz von Beratungsstellen, mehrsprachige Öffentlichkeitsarbeit, all dies sind nur einige der überzogenen Forderungen der Linken. In der Begründung zu dem Antrag wird auf die Verantwortung des Gesetzgebers dafür hingewiesen, dass Regelungen klar und eindeutig sein müssen. Hier möchte ich darauf hinweisen, dass der Gesetzgeber auch die Verantwortung für Maß und Mittel seiner Initiativen trägt. Mit diesem Antrag hat sich die Fraktion Die Linke aus der Sachdebatte verabschiedet. Mit dem Antidiskriminierungsrecht werden wir uns, unabhängig von dem Antrag, künftig wieder zunehmend zu befassen haben. Die Europäische Kommission wird in diesen Tagen ihren Richtlinienvorschlag über die Gleichbehandlung außerhalb des Arbeitsplatzes vorstellen. Diesen Entwurf wollte der Bundestag zum Gegenstand eines erneuten Testlaufs zur Subsidiaritätsprüfung machen. Diese Subsidiaritätsprüfung muss, aufgrund der vorgegebenen Fristen, in der parlamentarischen Sommerpause stattfinden. Völlig überraschend hat die Koalition im Rechtsausschuss gestern angekündigt, dass sie auf die Teilnahme an dem Testlauf verzichten wolle, da sich in der Sommerpause ein geordnetes Verfahren nicht sicherstellen lasse. Diese Aussage ist feige und unehrlich. Die Ausschüsse des Bundestages haben bereits seit Monaten ein Verfahren für die Sommerpause abgestimmt, das den Besonderheiten dieser Zeit Rechnung trägt. Die Entscheidung der Koalition liegt nur darin begründet, dass es ihnen offensichtlich nicht gelingt, eine gemeinsame Stellungnahme zu dem EU-Vorschlag zu formulieren. Während die SPD gegenüber den europäischen Plänen aufgeschlossen ist, werden sie von der Union abgelehnt. Wir erinnern uns noch gut an den Unmut im Deutschen Bundestag vor einigen Jahren, als die ungeliebten EU-Antidiskriminierungsrichtlinien in deutsches Recht umzusetzen waren. Übereinstimmend haben die Fraktionen festgestellt, dass der Bundestag seinerzeit bei der Verabschiedung der entsprechenden Richtlinien in Brüssel seine Beteiligungsrechte nur unzureichend wahrgenommen hat. Die Koalition scheint aus diesen Vorgängen nichts gelernt zu haben. Der Bundestag muss schnellstens eine Position zu dem Kommissionsvorschlag entwickeln und frühzeitig die nationalen Interessen einbringen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat bislang die Einlassung der Bundesregierung begrüßt, wonach zunächst die Erfahrungen mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz abgewartet werden sollen, bevor neue Richtlinien aus Brüssel verabschiedet werden. Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion muss diese Haltung nach wie vor Bestand haben. Wir fordern die Koalition auf, sich umgehend zu positionieren und den Bundestag an der Entscheidungsfindung angemessen und frühzeitig zu beteiligen.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Bereits im Juni 2006 hatte die Fraktion Die Linke zur zweiten und dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung einen Entschließungsantrag zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung mit der Drucksachennummer 16/2034 eingebracht. Neben Ausgestaltungsmängeln im Einzelnen litt der damalige Gesetzentwurf der Bundesregierung vor allem darunter, dass er nicht alltagstauglich war. Für die vorrangig von Diskriminierung Betroffenen war er ein schwaches Instrument zur Durchsetzung ihrer unantastbaren Menschenwürde und des Diskriminierungsverbots. Die Umsetzungsgesetzgebung zielte ganz eindeutig auf ein möglichst niedriges Schutzniveau gegen Diskriminierung. Wir wollten europarechtswidrige Vorschriften jedenfalls nicht unterstützen. Unsere damalige Forderung, den durch die Bundesregierung eingebrachten Gesetzesentwurf grundlegend zu novellieren, wurde aber mehrheitlich abgelehnt. Selbst die Grünen, die ja stetig Anträge einbringen, haben sich auf den faulen Kompromiss damals eingelassen und dem Gesetzentwurf ihre Zustimmung nicht verweigert. Ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, AGG, zeigt sich, wie berechtigt unsere damalige Kritik und Forderungen waren. Auch der Antidiskriminierungsverband Deutschland äußerte seine wesentliche Kritik an dem Gesetz. In seiner Stellungnahme begründete er diese anhand von konkreten Beispielsfällen. Kritik an der Umsetzung der EURichtlinie kommt aber auch von der EU-Kommission. Sie hat sogar ein erneutes Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik eingeleitet. Dabei hat sie die Bundesregierung zur Stellungnahme eben auch zu jenen Punkten aufgefordert, die wir im damaligen Gesetzgebungsverfahren problematisiert haben. Durch die Kritik der EU-Kommission bestätigt, haben wir nun diesen vorliegenden Antrag eingebracht, der unsere damals vorgebrachte Kritik nochmals aufgreift. Das ist umso notwendiger, da die Bundesregierung nach wie vor an ihrer europarechtswidrigen Umsetzung der EUAntidiskriminierungsrichtlinie festhalten will. Ja, sie will sogar verhindern, dass die EU-Kommission einen erweiterten Schutz für alle Diskriminierungsmerkmale auch für das gesamte Zivilrecht durch Richtlinien festlegt. Unser Antrag will speziell noch einmal das Ineinandergreifen von Rechten und deren Durchsetzbarkeit anmahnen. Aufgegriffen wird deshalb neben der bereits erwähnten Kritik der EU-Kommission, auf die ich noch zurückkommen werde, vor allem die Kritik des Antidiskriminierungsverbandes Deutschland. Dessen Stellungnahme zum einjährigen Bestehen des AGG verdeutlicht einmal mehr an typischen Praxisfällen, welche Probleme bei dessen Anwendung entstehen. Hinsichtlich niedrigschwelliger Anlaufstellen für Betroffene liest sich die Kritik wie folgt: Ohne unabhängige, regionale Antidiskriminierungsbüros oder -stellen und ohne wirksame Instrumente zur Rechtsdurchsetzung bleiben Antidiskriminierungsgesetze nur Lippenbekenntnisse. Zu Protokoll gegebene Reden Dass bisher so wenig Fälle zum AGG anhängig seien, liege nicht daran, dass Diskriminierung wenig verbreitet sei. Diese Förderung der regionalen Beratungsstellen ist keine Bundesangelegenheit. Dennoch ist es wichtig, wenn der Bundestag hier ein Signal an die Länder sendet. Ein weiteres Signal ist für den Bereich der Bildung erforderlich, wo die Länder die Verantwortung tragen, die europäischen Richtlinien umzusetzen. Anders sieht es bei den nachfolgenden Kritikpunkten aus; hier wird die Regierung gesetzliche Vorschläge vorlegen müssen. So kann sich betreffend des von uns vehement eingeforderten Verbandsklagerechts für die Antidiskriminierungsverbände die Bundesregierung nicht rausreden. Hier ist es eindeutig, dass die Bundesregierung die Möglichkeit erschweren will, sich gegen Diskriminierung zu wehren. Für viele Betroffenen ist gerade das Verbandsklagerecht von immenser Bedeutung. Ihnen fehlt es an Zeit, Energie und Geld, sich selbst gerichtlich zu wehren. Viele Diskriminierungen setzen sich damit letztlich schon an dieser Stelle gegen das eigentlich bestehende Recht nach dem AGG faktisch durch. Auch bezogen auf die Beweislasterleichterung ist die Bundesregierung in der Verantwortung. Wir wollen, dass es zu einer Beweislastumkehr kommt. Darüber hinaus ist der Vorschlag aus der Praxis, ein Auskunftsrecht gegenüber den Unternehmen einzuführen, zu debattieren, ganz zu schweigen von den absurden Rechtfertigungsgründen und Ausnahmen hinsichtlich des Diskriminierungsschutzes, beispielsweise die diesbezügliche Ausnahme vom Massengeschäft bei der Wohnungsvermietung. Schutzlücken gibt es unter anderem auch bei der unterschiedlichen Behandlung aufgrund des Geschlechts im Arbeitsrecht. Darüber hinaus ist die Ausnahmeregelung für unterschiedliche Behandlung durch Religionsgemeinschaften nicht angemessen geregelt. Aber die Bundesregierung schafft es ja nicht einmal, diskriminierungsfrei gegenüber ihren eigenen Beamtinnen und Beamten zu agieren. Im Zusammenhang mit der Anhörung zur Lebenspartnerschaft der Fraktion Die Linke haben wir diesen Skandal bereits thematisiert. So diskriminiert die Bundesregierung im Bereich der Beamtenversorgung Personen in eingetragenen Lebenspartnerschaften wegen ihrer „sexuellen Ausrichtung“ hinsichtlich Beihilfe, Familienzuschlag und Witwen- und Witwergeld. Auch die anderen, wie beispielsweise die steuerlichen, Unterschiede in der Behandlung von Ehen und eingetragenen Lebenspartnerschaften müssen sofort abgeschafft werden. Der Staat spielt hier eine Vorreiterrolle der ganz üblen Art. Aber in noch einer anderen Art! Die neoliberale Logik und Politik der Bundesregierung - also die zunehmende Durchdringung aller Lebensbereiche wie Gesundheit, Bildung, öffentliche Dienste und andere durch das Marktprinzip à la „Standortpolitik bzw. -logik“ - zieht sich komplett durch ihre ({0})Diskriminierungspolitik. Diskriminierungsschutz ja, aber nur, wenn es nichts kostet bzw. den Unternehmen und der Wirtschaft nicht schadet. Trotzdem ist es verwunderlich, dass die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Frau Dr. Köppen, in einem Artikel in der „FAZ“ vor einer Erweiterung des Diskriminierungsschutzes gewarnt hat. Nach ihrer Ansicht braucht der Schutz nicht hinsichtlich aller Diskriminierungsmerkmale auch im Zivilrecht auf ein höheres Niveau gestellt werden. Frau Köppen sollte vielleicht lieber bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände anheuern. Dort steht Demokratie ohnehin immer unter Finanzierungsvorbehalt. Zu guter Letzt möchte ich auf einen Punkt eingehen, der mir besonders am Herzen liegt. Die vorhandenen Diskriminierungsmerkmale sind nicht umfassend. Ein entscheidender Ansatzpunkt millionenfacher Erniedrigung und Benachteiligung taucht beim Diskriminierungsschutz nicht auf: die soziale Herkunft und die sozialen Lebensumstände. Soziokulturelle Herkunft und sozialer Status haben in der kapitalistischen Gesellschaft eine sehr große Auswirkung auf die Behandlung der Einzelnen und ziehen eine daran anknüpfende Diskriminierung nach sich. Das Merkmal bietet in vielfältiger Weise Anknüpfungspunkte für sozial verwerfliche und rechtsstaatlich unerträgliche Benachteiligungen. Sozial ausgegrenzt werden nicht nur Millionen Erwerbslose, sondern zum Beispiel auch Menschen aus bestimmten Stadtteilen und Regionen, denen Leistungen des „vertragsfreien Markts“ wie Funktelefon etc. nie zuteil werden. Eine der Auswirkungen der digitalen Erfassung kann beispielsweise schon dazu führen, dass man keinen Kredit bekommt, wenn man eine Wohnung im „falschen“ Stadtteil hat. Beschwerden aus den unterschiedlichen Lebensbereichen von Millionen Bürgerinnen und Bürgern stapeln sich schon bei den Verbraucherschützern. Meist geht es um das sogenannte Verfahren „Scoring“ oder „Redlining“. Diese Verfahren helfen zum Beispiel Unternehmen, aus käuflichen Informationen und Daten über die Bevölkerung so etwas wie eine Matrix des Makels zu erstellen, bei der Kunden aus bestimmten Regionen schon aufgrund ihres Wohnortes zu potenziellen Problemfällen werden. Anwohner von sogenannten Sperrbezirken werden diskriminiert, etwa wenn sie in Callcentern anrufen und allein wegen der Herkunft ihrer Festnetznummer in der Warteschlange nach hinten durchgereicht werden. Die soziale Diskriminierung betrifft somit auch Bereiche, die sich eklatant auf die Betroffenen auswirken nämlich auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Benachteiligungsverbote sind in diesen Bereichen durch Einschränkungen sogleich wieder abgeschwächt worden. So ist „eine unterschiedliche Behandlung im Hinblick auf die Schaffung und Erhaltung sozialer stabiler Wohnstrukturen und ausgewogener Siedlungsstrukturen sowie ausgeglichner wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Verhältnisse“ zulässig. Derart offen und allgemein gehaltene Formulierungen lehnt Die Linke ab, denn sie öffnen Diskriminierung im Wohnbereich Tür und Tor und führen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz im Grunde ad absurdum. Wir wollen einen effektiven Diskriminierungsschutz verwirklichen. Das Gesetz soll grundsätzlich auf alle Rechtsgebiete Anwendung finden, es sei denn, spezialgesetzlicher Schutz ist weitergehend. Damit würde das Gesetz wirksamen Schutz bieten und eine Gleichbehandlung Zu Protokoll gegebene Reden Sevim DaðdelenSevim Dağdelen fördern, wie sie auch durch die Art. 1, 3 und 20 des Grundgesetzes vorgegeben ist. Nur durch eine solche generelle Anwendbarkeit des Gesetzes ist Rechtssicherheit gewährleistet, so dass allen Bürgerinnen und Bürgern und allen staatlichen Stellen ersichtlich ist, welches Verhalten rechtswidrig ist. Darüber hinaus ist uns ein zentrales Anliegen, dass die „soziale Herkunft oder die sozialen Lebensumstände“ als Diskriminierungstatbestand in den Katalog des AGG aufgenommen wird.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Schutz vor Diskriminierung in Deutschland ist unzureichend. Der in dieser Woche veröffentlichte Bericht der EU-Grundrechteagentur zeigt erneut: Das nationale Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ({0}) greift bisher kaum. Im Jahr 2007 gab es in Deutschland keine einzige Sanktion wegen rassistischer oder fremdenfeindlicher Diskriminierung - im Gegensatz zu vergleichbaren europäischen Ländern. Auch in anderen Bereichen gibt es wenig Urteile, und die Summen der Entschädigungsund Schadensersatzzahlungen sind gering. Das Gerede über Gefahren für den Wirtschaftsstandort Deutschland ist ebenso abwegig wie Warnungen vor der Belastung der Gerichte. Der Antrag der Linken weist in eine ähnliche Richtung wie die bereits vorliegenden Anträge von Bündnis 90/Die Grünen: Entschließungsantrag „Europäisches Jahr der Chancengleichheit für alle“ ({1}) und Antrag „Das europäische Antidiskriminierungsrecht weiterentwickeln“ ({2}). Zu diesen Anträgen wird am 15. Oktober eine Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss stattfinden. Dazu steuert Die Linke nun einen eigenen Antrag bei. Wir brauchen zweierlei: Erstens: Eine Nachbesserung des deutschen Antidiskriminierungsrechts. Die bestehenden Richtlinien müssen vollständig und europarechtskonform umgesetzt werden. Schwarz-Rot hat beim AGG Abstriche vom rot-grünen Entwurf vorgenommen. Die Folge von Abweichungen vom Europarecht sind Vertragverletzungsverfahren. In ihren Mahnschreiben beanstandet die Europäische Kommission unter anderem: Diskriminierte haben nur zwei Monate Zeit, um Schadensersatzansprüche geltend zu machen. Die Beteiligung von Antidiskriminierungsverbänden an Gerichtsverfahren ist zu stark beschränkt. Im AGG fehlen Regelungen zum Schutz vor Entlassungen. Die Sanktionsregelungen bei Verstößen gegen Diskriminierungsverbote sind unzureichend. Sie setzen ein Verschulden des Arbeitgebers voraus. Das war in früheren Gesetzen zum Schutz vor Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder einer Behinderung nicht der Fall. Im Beamtenrecht sind Lebenspartnerschaften gegenüber Ehen benachteiligt hinsichtlich Beihilfe, Familienzuschlag, Witwen- oder Witwergeld. Die Ausnahmeklauseln für Kirchen und Religionsgemeinschaften sind zu weit gefasst. Zudem sind vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen Verbesserungsvorschläge von Sachverständigen und Nichtregierungsorganisationen zu berücksichtigen. Dazu gehört auch eine aktivere Arbeit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Zweitens: Das europäische Antidiskriminierungsrecht muss weiterentwickelt werden. Statt den Fortschritt auf europäischer Ebene zu blockieren, sollte die Bundesregierung das vom Europäischen Parlament unterstützte Vorhaben der Kommission, eine neue, umfassende Rahmenrichtlinie vorzulegen, unterstützen. Für die Merkmale Geschlecht, Alter, Behinderung, Religion/Weltanschauung und sexuelle Orientierung ist europaweit zumindest der hohe Schutzstandard erforderlich, der gegen Diskriminierung aufgrund von „Rasse“ oder ethnischen Herkunft besteht. Der Grundsatz „gleiches Recht für alle“ ist im AGG bereits verwirklicht. In diesem Punkt ist das deutsche Recht dem europäischen ausnahmsweise einmal voraus. ({3}) Es ist in Europa niemandem vermittelbar, wenn sich ausgerechnet Deutschland dagegen sperrt, dass dieser richtige Ansatz auch im Europarecht verankert wird. Es ist schön, dass nun auch die Linke das Thema Antidiskriminierung entdeckt hat und dass sie zumindest bei diesem Thema ihre Europhobie suspendiert. Das Prinzip der Nichtdiskriminierung ist einer der Grundpfeiler der Europäischen Union. Mit dem von der Linken abgelehnten Vertrag von Lissabon würde die Antidiskriminierungspolitik noch weiter ins Zentrum der europäischen Politik rücken. Fortschritte könnten nicht mehr so einfach durch Njet-Sager wie die deutsche Bundesregierung blockiert werden. Zudem würde die Europäische Grundrechte-Charta rechtsverbindlich, in der es heißt: „Diskriminierungen …wegen … der sexuellen Ausrichtung sind verboten.“ Statt Tiraden über die angeblich turbokapitalistische EU loszulassen, stützt sich die Linke in diesem Antrag völlig zu Recht auf die Positionen der Europäischen Kommission, die auch vom Europäischen Parlament mit breiter Mehrheit geteilt werden und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entsprechen. Dass nun die Linke dieses Anliegen unterstützt, bedeutet allerdings nicht umgekehrt, dass es sich beim Antidiskriminierungsrecht um ein sozialistisches Projekt handelte, wie Union und FDP glauben machen. Vorreiter bei der Antidiskriminierung sind Länder wie Großbritannien und Irland. Von diesen Ländern wird sich kaum behaupten lassen, dass dort der Sozialismus ausgebrochen oder die Wirtschaft zusammengebrochen wäre. Auch in Deutschland haben moderne Unternehmen in Deutschland längst erkannt, dass Diskriminierung sie langfristig viel teurerer zu stehen kommt als Maßnahmen gegen Diskriminierung. Warum soll es also erlaubt sein, Menschen wegen ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihres Alters, einer Behinderung, ihres Glaubens oder ihrer sexuellen Identität von gleichen Arbeits- und Aufstiegschancen auszuschließen oder sie beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen zu benachteiligen? Diskriminierung verzerrt den Wettbewerb. Dieser Verfälschung des Marktes kann mit Mitteln des Rechts entgegengewirkt werden. Darum setzen sich europaweit auch Liberale für Zu Protokoll gegebene Reden Sevim DaðdelenSevim Dağdelen Volker Beck ({4}) eine effektive Antidiskriminierungsgesetzgebung ein. Die Liberalen stimmten am 20. Mai 2008 einer Entschließung des Europaparlaments zu, in der Maßnahmen für einen effektiveren Schutz vor Diskriminierung gefordert werden. Nur eine liberale Partei stimmte dagegen: die deutsche FDP. Antidiskriminierung ist aber an sich weder ein linkes noch ein rechtes Projekt. Es geht nicht um Ideologie, sondern um die Gewährleistung von Grundrechten. Es sollte im Sinne aller Parteien sein, dem Grundsatz der gleichen Menschenwürde Geltung zu verschaffen.

Gert Winkelmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003864, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Es ist bedauerlich, dass ein für das Zusammenleben in einer Gesellschaft so wichtiges Thema wie das Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsrecht in diesem Hause unter Ausschluss der Öffentlichkeit mitten in der Nacht abgehandelt wird. Dabei wären die Entwicklungen der letzten Monate Grund genug gewesen, wieder vor aller Augen und Ohren darüber zu debattieren, wer und warum in Deutschland benachteiligt wird. Ich erinnere mich mit Grausen an das Feilschen der Koalitionspartner, als das Gesetz vor zwei Jahren verabschiedet wurde. Herausgekommen ist ein unzulänglicher Kompromiss, den Anfang dieses Jahres auch die Europäische Kommission beanstandet hat. Bisher aber hat die Bundesregierung noch keinerlei Anstalten gemacht, auf die Vorhaltungen durch den zuständigen EU-Kommissar Spidla zu reagieren. Deshalb ist der Antrag der Fraktion Die Linke berechtigt und notwendig. Es ist bekannt, dass die Bundesjustizministerin keinerlei Nachbesserungsbedarf sieht und der CSU-Landesgruppenchef lieber über Herrn Spidla herzieht, als die Mahnungen ernsthaft zu prüfen. Diese Mahnungen könnten auch als willkommener Anlass genommen werden, das Gesetz an der einen oder andere anderen Stelle nachzubessern. Warum wehrt sich die Union so vehement dagegen, dass ein Partner aus einer eingetragenen Lebenspartnerschaft nach dem Tod des Gefährten Anrecht auf Witwenoder Witwergeld erhält? Dadurch würde mitnichten, wie die CSU es behauptet, eine solche Partnerschaft der Familie gleichgestellt. So weit sind wir in Deutschland lange noch nicht. Warum erhalten die Kirchen in Deutschland Sonderrechte, wenn es um die religiöse Diskriminierung geht? Das beste, gern verwendete Beispiel ist die Reinigungskraft, die in einer katholischen Schule nicht putzen darf, weil sie selbst nicht katholisch ist. Das klingt nicht nur absurd, es ist absurd. Aber es ist vorgekommen. Gestern ließ die „Financial Times Deutschland“ verlauten, dass Brüssel im Streit um die Diskriminierungsrichtlinie entgegenkommen wolle, weil insbesondere Unionsparteien und Wirtschaftsverbände Sturm liefen. Worte wie „Bürokratieungeheuer“ ({0}), „EUÜberregulierung“ ({1}) machten die Runde, und der Arbeitgeberpräsident Hundt war der Richtlinie wegen mit „allergrößter Sorge“ erfüllt und befürchtete Zusatzkosten, mehr Bürokratie und Rechtsunsicherheit für die Betriebe. Für meinen Teil kann ich nur hoffen, dass die Meldung aus der „FTD“ nicht der Realität entspricht. Antidiskriminierung ist halt nicht zum Nulltarif zu haben. Der Gesetzentwurf, den der EU-Kommissionsvorsitzende Barroso am 2. Juli vorlegen will - das Europaparlament hatte die Verschärfungen beschlossen -, wird es zeigen. Fest scheint aber zu stehen, dass in einigen Ländern - und leider eben auch in Deutschland - die bereits geltenden Richtlinien nur unzureichend umgesetzt werden. Der am Dienstag veröffentlichte Bericht der zuständigen EU-Grundrechteagentur ({2}) macht dies mehr als deutlich. Bis Ende 2007 sind in diesem Land keinerlei Sanktionen wegen Diskriminierung aus rassistischen oder ethnischen Gründen verhängt worden. Mir kann niemand erzählen, dass es solche Diskriminierungen nicht gegeben hätte. In Großbritannien kam es im gleichen Zeitraum zu 95 Geldstrafen allein wegen Diskriminierung am Arbeitsplatz. Wir täten also gut daran, uns selbst etwas mehr auf die Finger zu schauen und Mahnungen, die anscheinend berechtigt vonseiten der EU ausgesprochen werden, ernst zu nehmen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Es wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9637 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt keine Einwände. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Andreae, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rahmenbedingungen für eine nachhaltige internationale Investitionspolitik schaffen Multilaterale Regeln für Staatsfonds entwickeln - Drucksache 16/9612 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Hierzu hätten die Kollegen Alexander Dobrindt, Dr. Ditmar Staffelt, Rainer Brüderle, Ulla Lötzer sowie Kerstin Andreae Reden halten können, die sie aber freiwillig zu Protokoll geben.

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die globale Finanzwirtschaft stellt uns vor neue Aufgaben: Alle Wirtschaftszweige werden zum internationalen Investitionsobjekt, und gleichzeitig spielen nationale Interessen keine Rolle mehr. Die Politik muss allerdings in der Lage sein, diese nationalen Interessenlagen gegenüber nicht marktwirtschaftlich begründeten Investitionen zu schützen. DesweAlexander Dobrindt gen ist es richtig, eine Investitionskontrolle bei begründeter Gefahr für die öffentliche Sicherheit einzuführen. Unser Ziel ist es, die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft auch im globalen Ordnungsrahmen zu verankern. Gerade im Jahr 2008, nach 60 Jahren sozialer Marktwirtschaft, wollen wir diesen Prinzipien treu bleiben. Wir wissen, eine Freiheit ohne Ordnung führt zu Unfreiheit und Ungerechtigkeit. Wir wissen ebenso: Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Wir wollen einen weltweiten Wettbewerb, in dem Freiheit und Fairness gleichermaßen gewährleistet sind. Wir müssen für eine nationale, strategische Standortpolitik mit dem Ziel stehen, die Zukunftsfähigkeit Deutschlands in Europa und der Welt zu gewährleisten. Wir wollen den Menschen in unserem Land auch im Zeitalter der Globalisierung die Freiheit der Entfaltung garantieren und eine verlässliche Umwelt schaffen. Dadurch können wir den Menschen Chancengleichheit bieten. Dafür müssen wir unsere nationalen Interessen definieren und uns für deren Durchsetzung auf europäischer bzw. globaler Ebene einsetzen. Das Risiko der Globalisierung darf und kann nicht der einzelne Mensch - das Individuum - abfedern. Hier muss die Politik einspringen und den Menschen und den Unternehmen in Deutschland zur Seite stehen. Es ist eben auch unsere Aufgabe, Gefahren zu erkennen und zu bannen. Ausländische Staatsfonds können attraktive Investoren sein, müssen sie aber nicht. Genau aus diesem Grund sind wir für eine staatliche Prüfmöglichkeit von Investitionen, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden könnten. Daher begrüße ich die Absicht des Bundeswirtschaftsministers Michael Glos, das Außenwirtschaftsgesetz zu ändern und eine Kontrollmöglichkeit bei ausländischen Direktinvestitionen in deutsche Unternehmen einzubauen. Wir wissen: Deutschland ist weltweit einer der attraktivsten Investitionsstandorte und profitiert seinerseits von offenen Märkten. Im „Weltinvestitionsbericht 2007“ der UNCTAD rangiert Deutschland unter den zehn attraktivsten Investitionsstandorten. Ausländische Unternehmen investierten bei uns mit knapp 43 Milliarden US-Dollar rund 20 Prozent mehr als noch im Jahr 2005. Seit 2005 stiegen die deutschen Auslandsinvestitionen um 43 Prozent auf knapp 80 Milliarden US-Dollar. Deutsche Unternehmen sichern mit ihren Investitionen rund 5 Millionen Arbeitsplätze im Ausland, und umgekehrt sind 2,2 Millionen Deutsche für ausländische Arbeitgeber im Inland tätig. Mit anderen Worten: Für Deutschland ist die Investitionsfreiheit ein Stützpfeiler für Wirtschaftswachstum, Wohlstand und Beschäftigung. Aus gutem Grund haben wir uns dafür eingesetzt, die Investitionsfreiheit in der G-8-Gipfel-Erklärung von Heiligendamm hervorzuheben. Unser Land soll offen bleiben und es wird offen bleiben. Aus gutem Grund unterstützt Deutschland beispielsweise den Internationalen Währungsfonds bei seiner Forderung nach mehr Transparenz und Verhaltensregeln für Staatsfonds. Denn es ist nicht auszuschließen, dass einzelne ausländische Erwerber mit ihren Investitionen auch politische Ziele verfolgen. In diesen sehr engen Ausnahmefällen muss die Regierung Kontrollmöglichkeiten haben. Daher gibt es einen Gesetzentwurf, der vorsieht, Investitionsvorhaben auf ihre Vereinbarkeit mit der öffentlichen Sicherheit überprüfen zu können. Die Prüfung einer Investition soll an enge Fristen gebunden sein, um Unternehmen und Investoren möglichst viel Rechtssicherheit zu geben. Konkret soll sich die Prüfungspflicht nur auf Investitionen beschränken, die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gefährden. Das von der Bundesregierung vorgelegte Gesetz würde seine beste Wirkung entfalten, wenn es in der Praxis nie angewandt werden müsste. So wird es dann seiner beabsichtigten, abschreckenden Wirkung gegenüber unerwünschten Staatsfonds voll gerecht. Zusammengefasst: Die Zielrichtung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung ist ausschließlich der Schutz der nationalen Sicherheit. Das grundsätzliche Bekenntnis zur Investitionsfreiheit wird dabei nicht infrage gestellt. Aber ein gesetzlicher Schutz sensibler deutscher Firmen vor Übernahmen fragwürdiger ausländischer Investoren ist nur ein konsequenter Schritt, die soziale Marktwirtschaft in Deutschland zu stärken.

Dr. Ditmar Staffelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003239, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Uns liegt der Antrag der Grünen „Rahmenbedingungen für eine nachhaltige internationale Investitionspolitik schaffen - Multilaterale Regeln für Staatsfonds entwickeln“ vor, indem sich die Grünen zum Umgang mit den Staatsfonds und anderen Fonds äußern. Was fordern die Grünen in ihrem Antrag? Die Grünen stellen 14 Forderungen zur Investitionskontrolle von Staatsfonds und anderen Fonds an die Bundesregierung. Im Wesentlichen wollen die Grünen keine nationalen Einzellösungen, sondern fordern die Bundesregierung auf, internationale Gemeinschaftslösungen anzuregen. Die Grünen sprechen dabei durchaus viele Punkte an, die von uns geteilt werden. Wir unterstützen ausdrücklich, dass zunehmend mehr vereinbarte globale Standards in den globalen Institutionen durchgesetzt und angewendet werden. Das gilt unter anderem für soziale und ökologische Standards in der WTO, wie auch von den Grünen gefordert. Multilaterale Regeln allgemein zu formulieren wie in dem vorliegenden Antrag, reicht hier jedoch nicht. Die Bundesregierung hat bereits eine solche Initiative im Rahmen des Heiligendamm-Prozesses angestoßen und damit mehr erreicht, als wir uns vorstellen konnten. Unter dem deutschen Vorsitz haben die G-7-Finanzminister beispielsweise den von den Grünen in diesem Antrag geforderten Dialog mit den Staatsfondsländern begonnen, um so die Forderung der Transparenz insbesondere bei dem Anlageverhalten von Staatsfonds zu unterstützen. Die Bundesregierung handelte hier deutlich schneller als die Grünen, die erst mit diesem Antrag diese Forderung stellen. Initiiert durch die deutsche Bundesregierung baten die G-7-Finanzminister sowohl den IWF, Verhaltensregeln für die Staatsfondsländer, als auch die OECD, Verhaltensregeln für die Empfängerländer zu erarbeiten. Zu Protokoll gegebene Reden Insgesamt behandeln die Grünen einen sehr komplexen Bereich leider nur sehr allgemein. Es wird mit Überschriften gearbeitet, statt konkret tiefer in die Materie einzusteigen. Das wird beispielsweise deutlich, wenn die Grünen fordern, dass „monopolistische und oligopolistische Strukturen“ verhindert werden müssen. Hier finden sich Formulierungen, die in der Sache nicht weiterführen. Und bitte sagen sie uns: Wer will die Einstufung von Investoren als marktgefährdend vornehmen und für verbindlich erklären, wie von Ihnen in Punkt 12 gefordert? Wo und wer will Grenzen ziehen zwischen den Staatsfonds in Norwegen, in den Emiraten, in Russland, in China und anderswo? Dies alles wird ein sehr behutsamer Prozess sein müssen. Nur so wird eine globale Verbindlichkeit erreicht werden können. Ihr Antrag ist leider ein zu allgemeines Sammelsurium von Einzelmaßnahmen und politischen Absichtserklärungen. Die Grünen verlangen in ihrem Antrag multilaterale Maßnahmen. Die Bundesregierung möge sich „für ein multinationales Investitionsabkommen auf globaler Ebene“ einsetzen. Dieser Ansatz der Grünen, einheitliche Lösungen in den internationalen Gremien wie EU und IWF zu finden, ist zwar durchaus begrüßenswert, jedoch wird sich dieser Wunsch aufgrund der Mehrheitsverhältnisse in den internationalen Institutionen kurzfristig kaum durchsetzen lassen. Deshalb werden wir zunächst national agieren müssen, ohne dabei das Augenmaß für die Investitionsfreiheit zu verlieren. Wir teilen die Ansicht der Grünen, dass der Deutsche Bundestag Instrumente der Investitionskontrolle in Deutschland dann ablehnen sollte, „wenn sie die Planungs- und Rechtssicherheit für die Investoren und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der klaren Kalkulierbarkeit missachten und rein als nationale Abwehrstrategie gestaltet sind“. Gleichwohl wird über das Außenwirtschaftsgesetz ein Instrumentarium eingeführt, das Deutschland vor unzulässigen Eingriffen schützt. Es wird derzeit ein Gesetzentwurf durch die Bundesregierung erarbeitet, das diesem Ziel im Ausnahmefall dienen soll. Damit wird Deutschland das nachvollziehen, was in den USA und anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Großbritannien, Schweden und Italien längst gilt. Dabei geht es nicht darum, einen Generalverdacht gegenüber Staatsfonds oder anderen Investoren zu begründen, sondern eventuelle Risiken für die nationalen Sicherheitsinteressen abzufedern. Dazu wird das derzeitige Außenwirtschaftsgesetz um ein Prüfverfahren erweitert werden, das den Erwerb von ausländischen Investitionsbeteiligungen an nationalen Unternehmen in seltenen und gut begründeten Fällen prüfen soll. In Fällen, in denen die Investition die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet, soll eine Beteiligung untersagt und so das nationale Sicherheitsinteresse gewahrt werden können. Wir sollten bei allen Regelungen immer darauf achten, dass Deutschland selbstverständlich ein großes Interesse an ausländischen Investitionen hat. Bereits heute sind ausländische Investoren für die Erhaltung von zahlreichen Arbeitsplätzen verantwortlich und im Bereich der Zukunftsindustrien wichtige Partner. Die Bundesregierung muss dafür Sorge tragen, dass der deutsche Wirtschaftsstandort weiterhin für internationale Investitionen attraktiv bleibt. Nur so können wir unsere Stellung als Exportland dauerhaft erhalten. Wir erwarten, dass der G-8-Gipfel in Japan im Juli 2008 einen weiteren internationalen Anstoß in Fragen der Staats- und Hegdefonds, Private-Equity-Unternehmen und damit für die Transparenz und Kontrolle der globalen Finanzmärkte geben wird. Der Bundestag tut gut daran, sich dieses Themas weiter anzunehmen. Dies sollte jedoch konkreter erfolgen, als es die Grünen mit ihrem Antrag tun. Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Deutschland profitiert vom internationalen Handel und der Globalisierung wie kaum ein Land sonst. Deutsche Produkte sind fast überall auf der Welt gefragt. Umgekehrt bietet der Welthandel uns Produkte und Dienstleistungen, die wir selbst gar nicht oder nur deutlich teurer herstellen könnten. Wir profitieren auch von ausländischem Kapital, das in deutsche Unternehmen investiert wird. Das schafft Arbeitsplätze bei uns und erhöht unseren Wohlstand. Diese Freiheit des Kapitalverkehrs müssen wir uns erhalten. Sie ist nicht zuletzt unverzichtbarer Bestandteil des europäischen Binnenmarkts und Grundlage unserer Wirtschaftsordnung. Protektionistischen Tendenzen, wie sie in der Diskussion um die Abschottung Deutschlands gegenüber ausländischen Staatsfonds in den vergangenen Monaten immer wieder bedient wurden, sollte der Bundestag nicht nachgeben. Sorgen, ausländische Eigentümer könnten unser Land lahmlegen wollen, sind unbegründet. Das sehen offensichtlich auch die Bundesregierung und deutsche Staatsunternehmen wie die Deutsche Bahn so, wenn sie jetzt aktiv um Investitionen der russischen Staatsbahn werben. Auf Wettbewerbsmärkten ist es kein Problem, wenn ein Unternehmen auch ausländische Staaten als Eigentümer hat. Um in der Konkurrenz bestehen zu können, müssen sich alle ökonomisch verhalten. Auch China will keine Milliarden an Staatsvermögen in den Sand setzen. Hier brauchen wir also überhaupt keine Beschränkungen, weder Meldepflichten noch besonders geschützte einzelne Betriebe. Wenn durch Unternehmensübernahmen die Struktur eines Marktes gefährdet wird, ist es Aufgabe des Kartellamts, dies zu prüfen und gegebenenfalls einzuschreiten. Das Bundeskartellamt war in den 50 Jahren seines bisherigen Bestehens immer ein Garant dafür, dass der Wettbewerb in Deutschland geschützt wird und sich Monopolisierungstendenzen nicht durchsetzen können. Warum sollten die Wettbewerbshüter in Zukunft nicht genauso erfolgreich weiterarbeiten? Selbstverständlich ist es nicht sinnvoll, ein staatliches, halbstaatliches oder privates inländisches Monopol durch ein ausländisch beeinflusstes Monopol zu ersetzen. Die Antwort kann aber nicht Abschottung lauten; die Antwort muss Wettbewerb lauten. Wettbewerb ist und bleibt das beste Entmachtungsinstrument. Zu Protokoll gegebene Reden Es gibt natürlich Märkte, auf denen sich Wettbewerb nicht durchsetzen lässt. In Märkten mit natürlichen Monopolen, auf denen kein Wettbewerb herrschen kann, muss aber auch nicht zwischen guten und unerwünschten Investoren unterschieden werden. Hier muss straff reguliert werden, aber nicht mit Eigentumsverboten, sondern über eine Verhaltensregulierung. Die FDP hat vorgeschlagen, den Instrumentenkasten des Kartellamts um ein Entflechtungsinstrument als Ultima Ratio zu erweitern. Wer sich als marktbeherrschendes Unternehmen dauerhaft wettbewerbswidrig verhält, muss die Konsequenzen zu spüren bekommen. Wenn die Grünen das in ihrem Antrag jetzt auch aufgreifen, ist das zu begrüßen. In der Vergangenheit haben wir uns bemüht, mehr Direktinvestitionen ins Land zu holen, und haben im Ausland dafür geworben. Die Wahrscheinlichkeit, dass ausländische Staatsfonds nun ihre kompletten Reserven in Deutschland anlegen wollen, ist allerdings gering. Jeder vernünftige Investor streut seine Anlagen. Wenn die freien Devisenreserven alle in die G-7-Länder fließen würden, und zwar proportional zum jeweiligen Bruttoinlandsprodukt der Empfängerländer, wäre das für Deutschland ein im Vergleich zur Wirtschaftskraft und zu den bestehenden ausländischen Investitionen eher geringes Volumen. Realistisch dürfte sein, dass sich die ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland künftig um einige Prozent erhöhen - jedenfalls wenn wir den Investoren keine Knüppel zwischen die Beine werfen. Mehr ausländische Investitionen in Deutschland sind alles andere als ein Anlass zur Sorge und schon gar kein Grund, Industriepolitikern eine Spielwiese für staatliche Eingriffe in die Wirtschaft zu schaffen - auch nicht für ökologische und soziale Standards im Kapitalverkehr. Statt den Freihandel jetzt infrage zu stellen, muss Deutschland ein ganz anderes Ziel verfolgen: Wir sollten darauf dringen, dass die Welthandelsorganisation neben dem Freihandel auch den Wettbewerb schützt. Deutschlands Schicksal hängt von offenen Märkten und mehr Wettbewerb ab. Wir sollten uns auch auf europäischer und internationaler Ebene dafür einsetzen, dass die politische Einflussnahme auf ausländische Direktinvestitionen überall verringert wird. Wir brauchen keinen Protektionismus. Das Außenwirtschaftsgesetz muss internationalen Handel und Investitionen unterstützen und nicht unterbinden. Deshalb gilt es, international für mehr Transparenz auf den Kapitalmärkten zu werben und das Wettbewerbsrecht konsequenter anzuwenden.

Ursula Lötzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003174, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich begrüße für Die Linke im Bundestag, dass jetzt auch die Grünen Direktinvestitionen nachhaltig regulieren wollen. Angesichts des gestiegenen Einflusses grenzüberschreitend tätiger Unternehmen und Finanzinvestoren ist das ein wichtiger Schritt, ihnen gegenüber Gestaltungsmacht zurückzugewinnen, sie auf Menschenrechte und soziale und ökologische Ziele zu verpflichten. Es ist ein legitimes Interesse der verschiedenen staatlichen Ebenen aus industrie- oder sozialpolitischen Gründen oder ökologischen Interessen die Kapitalverkehrsfreiheit einzuschränken oder über öffentliche Unternehmen bzw. öffentliche Beteiligung an privaten Unternehmen, politischen Einfluss auf das Wirtschaftsgeschehen zurückzugewinnen. Wir haben deshalb in dieser Legislaturperiode bereits viele Instrumente dazu vorgelegt. Zum einen Anträge, mit denen die Interessen von Finanzinvestoren, seien es Hedgefonds, Private Equity-Fonds oder Staatsfonds, die mit Übernahmen und Beteiligungen kurzfristig Renditesteigerungen zulasten von Beschäftigung und langfristigen Interessen des Unternehmes erreichen, eingeschränkt werden. Ein Mittel dazu ist die gesetzliche Beschränkung von übermäßig kreditfinanzierten Unternehmenskäufen, das Verbot von Sonderausschüttungen, sogenannte Goldene Aktien und alle Maßnahmen, die die Haltdauer von Aktien verlängern. Da von diesen Entscheidungen vor allem Beschäftigte betroffen sind, ist für uns der Ausbau der Mitbestimmung dabei zentral: Beschäftigte müssen rechtzeitig und umfassend informiert werden, wenn ein oder mehrere Investoren für den Kauf von Anteilen in erheblicher Höhe an einem Unternehmen bieten. Nur auf Grundlage frühzeitiger Information wird es Gewerkschaften und Betriebsräten möglich, den Verkauf eines Unternehmens oder von Anteilen an einem Unternehmen mit dem Unternehmer zu beraten und wenn nötig gegen dieses Geschäft initiativ zu werden. Betriebsräten und Gewerkschaften ist dazu ein Vetorecht bei wesentlichen Beteiligungen einzuräumen, wenn diese Arbeitsplätze oder den Bestand des Unternehmens gefährden und den Gewerkschaften das Recht einzuräumen, die Beteiligung vom Abschluss eines ergänzenden Tarifvertrags abhängig zu machen. Darüber hinaus fordern wir die Ausweitung der paritätischen Mitbestimmung und der Befugnisse des Aufsichtsrates in diesen Fragen. Seit langem diskutiert die Bundesregierung jetzt über Staatsfonds. Wir werden hoffentlich nach der Sommerpause endlich erfahren, wie sie deren Einfluss auf sensible Unternehmen im Inland begrenzen will. Der beste Schutz für die Leistungen der Daseinsvorsorge und zentrale Infrastrukturen wie die Deutsche Bahn ist allerdings, sie erst gar nicht zu privatisieren oder wieder in die öffentliche Hand zu überführen. Solange diese wichtigen Bereiche aber nicht in öffentlicher Hand sind, treten wir schlicht und einfach dafür ein, deren Übernahme durch Finanzinvestoren zu verbieten und damit meinen wir nicht nur Staatsfonds, sondern auch Hedge-Fonds und andere. Die Bundesregierung will sicherheitsrelevante inländische Unternehmen vor dem Einfluss ausländischer Finanzinvestoren schützen. Gleichzeitig betreibt sie auf internationaler Ebene bei der WTO, im HeiligendammProzess, mit Global Europe und über bilaterale Handelsabkommen die Durchsetzung der Investitionsfreiheit für die eigenen Exportunternehmen. Das lehnen wir ab. Wer sich selbst die Regulation von Investitionen zugesteht, muss dies auch anderen Ländern ermöglichen. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, in internaZu Protokoll gegebene Reden tionalen Verhandlungen das Recht aller Staaten auf Kapitalverkehrskontrollen zu unterstützen, um die Steuerung und soziale sowie ökologische Qualität von Direktinvestitionen in den Geber-, als auch in den Nehmerländern zu garantieren. Die bisherigen Erfahrungen mit dem von der OECD vorgelegten multilateralen Investitionsabkommen, MAI, den WTO-Verhandlungen zum Thema Handel und Investitionen oder den multi- und bilateralen Freihandelsabkommen haben gezeigt, das allein unter dem Dach der UN ein alternatives multilaterales Investitionsregime entwickelt werden kann, das transnationale Konzerne wirksam auf soziale und ökologische Ziele verpflichtet und die staatliche Verantwortung für die Leistungen der Daseinsvorsorge absichert.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Seit dem Landtagswahlkampf in Hessen warnt die Union vor der Macht der Staatsfonds. Im Herbst letzten Jahres gab es einen Gesetzentwurf, ab 25 Prozent ausländischer Beteiligung an Unternehmen dem Wirtschaftsministerium das letzte Wort zu geben. Erst ging es gegen Staatsfonds. Dann warnte Wirtschaftsminister Glos vor dem Einfluss russischer Firmen auf das deutsche Energienetz und verkämpfte sich zeitgleich in Brüssel gegen eine Regelung, die die Macht im Energiebereich begrenzen und dem Staat mehr Wettbewerbskontrolle ermöglichen soll. Die Ressortabstimmung hat dieser Entwurf nicht verlassen und machte immer wieder erstaunliche Metamorphosen durch. Da wollte der Arbeitsminister mitreden, dann sollte das ganze Kabinett entscheiden. Dann verkündete Glos, noch vor der Sommerpause solle es ein Gesetz geben. Jetzt kündigt er es für nach dem Sommer an. Und - last but not least - jetzt meldet sich auch Roland Koch wieder zu Wort. Ein Ausweis von Fachkompetenz ist sein Artikel in der „Financial Times Deutschland“ vom Montag nicht. Die Beteiligung des chinesischen Staatsfonds an Blackstone zitiert er als Kronzeugen für eine politisch gesteuerte Einflussnahme. Thema verfehlt: Die Blackstone-Aktien, die China gekauft hat, sind alle stimmrechtslos. Was treibt Koch und die Union? Bereiten sie sich schon auf den nächsten Hessen-Wahlkampf vor? Richtig: Zunehmend engagieren sich weltweit staatliche Fonds. Viele Menschen befürchten, dass sie die Geschicke der Unternehmen beeinflussen könnten. Deswegen brauchen wir gemeinsame Regeln, die staatlichen Finanzinvestitionen einen Handlungsrahmen geben. Wir sollten aber auf Panikmache verzichten. Und wir sollten kein Gesetz durchwinken, das ausländische Investoren unter Generalverdacht stellt und dem Investitionsstandort schadet. Eine politische Einflussnahme der Fonds wird zwar befürchtet, ist aber noch nie erfolgt. Bei Blackstone hat China selbst bewusst stimmrechtslose Aktien verlangt. Und in der Finanzkrise in der Schweiz hat der Staatsfonds aus Singapur eine sehr positive Rolle bei der Absicherung der schwankenden UBS-Bank übernommen. Wir sollten auch die Größenordnungen klar benennen. Bei den ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland kommen bisher 0,05 Prozent aus China und 0,2 Prozent aus Russland. Wer da vor einer Verdreifachung des Engagements warnt, sollte diese Dimensionen klar haben. Er sollte auch wissen, dass wir ausländische Investoren brauchen. Aus Deutschland fließt schließlich doppelt so viel Kapital ins Ausland, wie zurückkommt. Die internationalen und europäischen Gremien und Institutionen haben begonnen, multilaterale Lösungswege zu entwickeln. Diese Regelungen müssen auf internationaler oder auf europäischer Ebene weiterentwickelt und umgesetzt werden. Wir wollen eine verantwortungsbewusste deutsche Beteiligung an der internationalen Regelsetzung und keinen nationalen Alleingang. Protektionismusdrohungen tragen zur Problemlösung nichts bei. Sie schaden dem Investitionsklima und verunsichern auch erwünschte langfristig orientierte Anleger. Unser Antrag zum Thema formuliert einen sinnvollen deutschen Beitrag zu dieser Debatte. Deutschland sollte sich einsetzen, für die Beteiligung an multilateralen Investitionsabkommen auf globaler Ebene, für soziale und ökologische Standards im internationalen Handel sowie für internationale Regeln, die mehr Transparenz in der Investitionspolitik der Fonds schaffen. Statt monatelang Gesetzesänderungen hin- und herzutragen, die in der Sache nichts bringen, soll sich die Bundesregierung für eine gemeinsame europäische Initiative einsetzen, durch die Investitionsregeln in der EU harmonisiert werden. Machtbegrenzungen in Unternehmen sind schon lange nötig. Wenn wir sie umsetzen, schützen sie auch vor unerwünschtem Einfluss von außen. Das Bundeskartellamt arbeitet seit Jahren mit viel zu wenig Personal. Wenn die Regierung die Wirtschaftskontrolle verbessern will, muss sie hier mit dem nächsten Bundeshaushalt für Aufstockung sorgen und kann Handlungsfähigkeit demonstrieren. Der Haushalt geht ja die nächsten Wochen durchs Kabinett. Wer Deutschland vor fehlgeleiteten Monopolen schützen will, kann schon heute im Energiebereich anfangen. Da steuern vier Konzerne fast die ganze Stromerzeugung und bestimmen über die Netze. Eine deutsche Netzgesellschaft mit staatlicher Mehrheitsbeteiligung wäre ein wesentlicher Beitrag, um dieses Machtkartell zu brechen. Das deutsche Wettbewerbsrecht ist insgesamt voller Lücken. Wer Wirtschaftsmacht begrenzen will, muss in allen Bereichen gegen Monopole vorgehen. Die Konzentration nimmt zu, nicht nur bei Strom, Gas und Lebensmitteln. Marktgefährdende Investoren sind ein Problem, das insgesamt gelöst werden muss. Wer sicherheitsrelevante Bereiche schützen will, muss auch klar sagen, was damit gemeint ist, und nicht im Ungefähren bleiben wie alle bisherigen Vorschläge aus dem Hause Glos. Wir müssen jetzt mit Augenmaß handeln. Richtig ist: Die Bedeutung der Staatsfonds nimmt zu. Durch sie werden Währungsreserven investiert, Wechselkursschwankungen abgesichert oder Preisschwankungen bei Rohstoffen ausgeglichen. Und das ist immer mehr nötig. Genau dabei sind die Fonds einer hohen Renditeerwartung unterworfen. Politische Einflussnahme über Fondsinvestitionen würde dem Renditeziel widerspreZu Protokoll gegebene Reden chen. Da gibt es Grenzen. Es spricht einiges dafür, jetzt für Klarheit bei den Regeln zu sorgen, aber auch für eine Offenheit bei Investitionen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, Deutschland würde sich gegen ausländisches Kapital wehren. Wir brauchen es und müssen es willkommen heißen. Ein verantwortungsvoller Vorschlag für gemeinsame internationale Regeln schafft Vertrauen und ist zielführend. Er muss jetzt engagiert vertreten werden. Dafür steht unser grüner Antrag. Die Regierung wäre gut beraten, ihn genau zu lesen und umzusetzen, statt weiter populistisch am Thema vorbeizuagieren.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Vorlage auf Drucksache 16/9612 soll nach einer Vereinbarung der Fraktionen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. - Es gibt keine Einwände. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gisela Piltz, Dr. Max Stadler, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Gegen Geheimniskrämerei - Entscheidungen kommunaler Gesellschaften transparent gestalten - Drucksachen 16/395, 16/9732 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Günter Krings Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Wolfgang Nešković Die Reden der Kollegen Dr. Günter Krings, Klaus Uwe Benneter, Max Stadler, Katrin Kunert und Britta Haßelmann werden nicht wegen vereinbarter Geheimniskrämerei, sondern zur Beschleunigung der Abwicklung der Tagesordnung zu Protokoll gegeben und bleiben auf diesem Weg transparent. ({1})

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Beratungen haben gezeigt, dass das Anliegen der FDP kommunalpolitisch zum Teil verständlich ist, aber gesellschaftsrechtlich kein Handlungsbedarf besteht. Die Probleme, die die FDP in ihrem Antrag anspricht, betreffen nicht das GmbH-Recht oder das Aktiengesetz, sondern beziehen sich auf das Kommunalrecht. Daher kann ich auch nachvollziehen, warum die FDP nicht mit Änderungsanträgen zum MoMiG in dieser Sache aufgewartet hat. Hätte die FDP eine Änderung des GmbH-Rechts auch rechtspolitisch wirklich für angezeigt gehalten, dann wäre diese umfassende GmbH-Rechtsnovellierung, die gestern in diesem Hause verabschiedet wurde, der richtige Ort und die richtige Zeit gewesen. Aber die Rechtspolitiker der FDP sind dann letztendlich doch davor zurückgeschreckt, ein Sonderrecht für kommunale Gesellschaften in privater Rechtsform zu schaffen. Verständlich wird dies bei näherer Betrachtung des Problems. Denn durch Änderungen im GmbHG und AktG würden privatrechtlich betriebene kommunale Gesellschaften einem Sonderregime unterstellt, wodurch das GmbH- und Aktienrecht in unnötiger und unvertretbarer Weise verkompliziert würde. Warum soll - nur weil eine GmbH von einer Kommune betrieben wird - anderes Recht gelten als für eine GmbH ohne kommunale Beteiligung? Ermöglicht man den Kommunen den Betrieb von Unternehmen unter privatrechtlicher Flagge, darf man ihnen keine kürzeren Segel geben. Entscheidet sich eine Kommune für diese Rechtsform, soll sie auch alle Vorund Nachteile dieser Rechtsform akzeptieren, mit denen auch ein Privater zurechtkommen muss. Unsere Absicht war, mit dem MoMiG ein in sich geschlossenes, konsistentes und modernes Gesellschaftsrecht zu schaffen. Das ist uns auch gelungen. Eine „GmbH privatrechtlich“ und eine „GmbH öffentlichrechtlich“ ist keine zeitgemäße Antwort auf die europäischen Herausforderungen des deutschen Gesellschaftsrechts. Befindet sich eine Gesellschaft zu 100 Prozent in kommunaler Hand, gelten schon heute bestimmte Verschwiegenheitspflichten nicht, mangels eines Schutzbedürfnisses. Im § 394 AktG kommt dies auch klar zum Ausdruck: Werden Aufsichtsräte durch Gebietskörperschaften entsandt, unterliegen sie hinsichtlich ihrer Berichte an die Gebietskörperschaft keinerlei Verschwiegenheitspflichten. Für die GmbH wird diese Vorschrift übrigens entsprechend angewandt. Das heißt, schon jetzt besteht gesellschaftsrechtlich die Möglichkeit, Transparenz in den Entscheidungswegen herzustellen. Die FDP verkennt in ihrem Antrag zudem, dass keine Kommune gezwungen ist, eine GmbH oder AG zu gründen, sondern dass den Städten, Gemeinden und Kreisen bereits heute sinnvolle und langerprobte Alternativen zur Verfügung stehen, wenn sie meinen, die Regeln des Gesellschaftsrechts entsprächen nicht ihren Bedürfnissen. Ich möchte hier vor allem die Anstalt öffentlichen Rechts erwähnen. Diese Rechtsform erfüllt die Ziele, die sie von der FDP mit einer kommunalen Sonder-GmbH auch beabsichtigen. Sie hat eine größere Flexibilität und sorgt für eine einfache Kreditbeschaffung an den Finanzmärkten. Schnellere Entscheidungswege führen zu einer stärkeren Handlungsfähigkeit. Es ergeben sich steuerliche Vorteile und außerdem eine günstigere Kostensituation. Dies alles leistet eine Anstalt öffentlichen Rechts und übertrifft damit teilweise sogar noch die Vorteile einer GmbH. Allerdings ist hier der Landesgesetzgeber gefragt, wenn es um Transparenz- und Informationsvorschriften geht, denn das Anstaltsrecht fällt in die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder. Sie sind weitgehend frei in der Ausgestaltung der Transparenz und können so schon jetzt für nachvollziehbare Entscheidungswege in Kommunalunternehmen dieses Typs sorgen. Es ist Ihnen auch in den Ausschussberatungen nicht gelungen, irgendwelche Defizite im Bundesrecht aufzuzeigen, die eine Änderung des GmbH-Rechts oder des Aktiengesetzes zwingend erforderlich gemacht hätten. Es gibt keine Defizite im Gesellschaftsrecht, die die Offenlegung von Unternehmensinformationen unzumutbar und unangemessen behindern. Und wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, dann ist es nach Überzeugung der Unionsfraktion eben notwendig, kein neues Gesetz zu erlassen.

Klaus Uwe Benneter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003503, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die FDP möchte einen Prüfauftrag an die Bundesregierung beschließen lassen. Geprüft werden sollen Änderungen des GmbH-Rechts und des Aktiengesetzes für GmbHs und Aktiengesellschaften, bei denen eine Kommune Alleingesellschafterin ist. Im Interesse einer kritischen Öffentlichkeit sollen die Verschwiegenheitspflichten der von den Kommunen entsandten Aufsichtsratsmitglieder zwar nicht aufgehoben, aber deutlich eingegrenzt werden. So steht es in dem Antrag, den wir ablehnen werden. Wir brauchen keinerlei Änderungen im Gesellschaftsrecht. Für die Fälle, die hier in den Blick genommen sind, gilt das Primat des Kommunalrechts. Das führt zu sachgerechten Lösungen. Zunächst zum Aktienrecht. Im Aktiengesetz ist genau diese Konstellation der von einer Kommune entsandten Aufsichtsratsmitglieder ausdrücklich geregelt. Es gibt zwar eine grundsätzliche Verschwiegenheitspflicht für Aufsichtsratsmitglieder bei vertraulichen Angelegenheiten. Aber: § 394 AktG bestimmt für Aufsichtsratsmitglieder, die gegenüber einer Gebietskörperschaft berichtspflichtig sind, dass insofern keine Verschwiegenheitspflicht besteht. Die entsandten Aufsichtsratsmitglieder dürfen also gegenüber ihrer Gebietskörperschaft auch über Vertrauliches berichten. Um aber die Interessen der Aktiengesellschaft zu wahren, müssen jetzt die Empfänger der Berichte Verschwiegenheit über diese vertraulichen Angelegenheiten wahren, § 395 AktG. Konsequenz daraus ist, dass diese Berichte der entsandten Aufsichtsratsmitglieder nicht in öffentlicher Sitzung abgegeben werden dürfen, jedenfalls nicht, soweit Vertrauliches zur Sprache kommt. Der Bericht darf also nur gegenüber einem Gremium abgegeben werden, das nach Mitgliederzahl und Zusammensetzung die Vertraulichkeit rechtlich und tatsächlich gewährleistet. Fazit: Die Kommune erfährt alles, muss aber über vertrauliche Dinge schweigen. Das ist, soweit es Mitgesellschafter gibt, vollkommen in Ordnung und kann meines Erachtens nicht besser geregelt sein. Aktiengesellschaften, die ausschließlich einen öffentlichen Gesellschafter haben, gibt es meines Wissens nicht. Praktisch bedeutsam sind also nur die kommunalen GmbHs, bei denen die Kommune Alleingesellschafter ist. Bei diesen GmbHs kann die Kommune einen Aufsichtsrat einrichten und im Gesellschaftsvertrag regeln, wem gegenüber der Aufsichtsrat Bericht erstatten muss. Es gibt aber in diesem Falle keine gesellschaftsrechtlichen Verschwiegenheitspflichten des Aufsichtsrates gegenüber der Kommune. In einer Einmann-GmbH ist der Aufsichtsrat gegenüber dem Einmanngesellschafter voll auskunftspflichtig. Das ergibt sich auch aus dem im FDP-Antrag zitierten Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg. Eine Geheimhaltungspflicht des Aufsichtsrats gegenüber dem Einmanngesellschafter würde doch auch überhaupt keinen Sinn ergeben. Es gibt umgekehrt auch keine gesellschaftsrechtliche Geheimhaltungspflicht des Einmanngesellschafters. Er darf über seine GmbH alles öffentlich machen, was er möchte, auch Ungünstiges und auch Betriebsgeheimnisse. Eine Kommune als Alleingesellschafterin einer GmbH ist also gesellschaftsrechtlich zu keinerlei Geheimhaltung genötigt. Allerdings: Es gibt kommunalrechtliche Geheimhaltungspflichten. Nach dem Kommunalrecht ist ein Ausschluss der Öffentlichkeit und eine Geheimhaltungspflicht der Kommunalvertreter zum Beispiel dann vorgesehen, wenn es um Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse Dritter geht, bei Steuer- und Abgabenangelegenheiten Einzelner usw. Diese Geheimhaltungspflichten bleiben bestehen. Es gibt also nichts Geheimes, was die Gemeinde als Alleingesellschafterin nicht erfahren darf. Der Aufsichtsrat ist gegenüber dem Gemeinderat oder gegenüber dem im Gesellschaftsvertrag bestimmten Gremium voll auskunftspflichtig. Was die Gemeindevertretung oder das sonst bestimmte berichtsempfangende Gremium geheim halten muss, bestimmt sich ausschließlich nach dem Kommunalrecht. Das wird nach meiner Auffassung der Demokratie und dem Prinzip der demokratischen Öffentlichkeit gerecht. Wer aber in diesen Fällen noch mehr Öffentlichkeit und Offenlegung möchte, der muss die Kommunalgesetze der Länder ändern. Das Aktiengesetz und das GmbH-Gesetz müssen jedenfalls nicht geändert werden.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Große Koalition hätte heute die Chance, aufgrund eines Antrags der FDP-Bundestagsfraktion die Bundesregierung zur Lösung eines Problems aufzufordern, das in den Kommunen sehr viele Menschen beschäftigt. Es geht um mehr Öffentlichkeit und Transparenz bei der Entscheidungsfindung in der Kommunalpolitik. Die Lösung wäre, wie ich noch ausführen werde, einfach. Mir ist völlig unverständlich, warum CDU/CSU und SPD offenbar dieses Thema nicht anpacken wollen. Tatsache ist, dass aus unterschiedlichen Gründen landauf, landab vielfach die Erfüllung kommunaler Aufgaben in neu gegründete Gesellschaften mit beschränkter Haftung oder sogar Aktiengesellschaften ausgelagert worden ist. Wir reden nicht über echte Privatisierung, sondern nur über eine Änderung der Rechtsform; denn der FDP-Antrag bezieht sich auf solche Gesellschaften, die vollständig in kommunaler Hand sind. Dabei handelt es sich beispielsweise um den Betrieb von Schwimmbädern, die Erbringung von Leistungen der DaseinsvorZu Protokoll gegebene Reden sorge, die Verwaltung kommunaler Grundstücke, die örtliche Energieversorgung. Diesen Beispielen ist gemeinsam, dass in den Aufsichtsgremien der so gegründeten Gesellschaften kommunalpolitische Entscheidungen getroffen werden, übrigens regelmäßig von denselben Kommunalpolitikern, die vorher Mitglieder des entsprechenden Stadtrats- oder Kreistags- oder Gemeinderatsausschusses gewesen sind. Wir haben es aufgrund dieser Organisationsprivatisierungen also mit kommunalpolitischer Entscheidungsfindung im privatrechtlichen Gewande zu tun. Dass es diese Entwicklung gegeben hat, hat nachvollziehbare, häufig steuerrechtliche Gründe. Zu Recht wird aber von interessierten Bürgerinnen und Bürgen als Manko empfunden, dass damit kommunalpolitische Debatten in nichtöffentlichen Sitzungen stattfinden. Dies ist ein Verlust an Offenheit und Transparenz, der nicht sein müsste, wenn man für kommunale Gesellschaften Sonderregeln zulassen würde. Das GmbH-Gesetz schreibt zwingend die Nichtöffentlichkeit von Aufsichtsratssitzungen vor und unterwirft die Aufsichtsratsmitglieder einer Verschwiegenheitspflicht. Diese strengen Regelungen sind verständlich, da sie ursprünglich natürlich für echte private Gesellschaften vorgesehen waren. Auf die Entscheidungsfindung kommunaler GmbHs passen diese Vorschriften nicht. Vielmehr gilt im Kommunalrecht der Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlungen. Kommunalrecht als Landesrecht hat aber hinter Bundesrecht zurückzutreten. Dies ist unbefriedigend. Selbstverständlich gibt es auch nach Auffassung der FDP in kommunalen Gesellschaften einzelne Fragen, die nichtöffentlich zu verhandeln wären, wie etwa Personalfragen oder Themen, bei denen eine GmbH im Wettbewerb zu anderen GmbHs steht. Die allermeisten Fragen könnten aber ohne irgendeinen Schaden für die kommunalen GmbHs öffentlich und ohne Verschwiegenheitspflicht verhandelt werden. Dies wird zunehmend auch in der Rechtsprechung so gesehen. Das Verwaltungsgericht Regensburg hat in einer Entscheidung vom 2. Februar 2005 den Grundsatz der Öffentlichkeit für vorrangig erklärt. Mit Hinweis auf diese Tendenz in der Rechtsprechung meint die Koalition offenbar, es bestehe keinerlei Handlungsbedarf. In den Ausschussberatungen ist von der Koalition vorgetragen worden, die gewünschte Transparenz könne auch durch örtliches Satzungsrecht hergestellt werden. Dieser Lösungsvorschlag reicht jedoch nicht aus. Denn nach wie vor bewegt sich eine untergerichtliche Rechtsprechung, die nur aus allgemeinen Erwägungen heraus den Öffentlichkeitsgrundsatz für vorrangig erklärt, auf schwankendem juristischen Boden. Den Bürgerinnen und Bürgern, aber auch den Mitgliedern der Aufsichtsgremien wäre mehr gedient, wenn im Bundesrecht eine eindeutige Klärung der strittigen Rechtslage erfolgen würde. Zu denken wäre etwa daran, im GmbH-Gesetz eine Öffnungsklausel für kommunale GmbHs vorzusehen, sodass die ansonsten im GmbH-Gesetz angelegte strikte Nichtöffentlichkeit gelockert werden könnte. Solange der Bundesgesetzgeber diese seine Aufgabe der Klarstellung nicht erfüllt, besteht die Gefahr, dass öffentlich gefasste Beschlüsse rechtswidrig sind und dass Aufsichtsratsmitglieder sich wegen Verletzung von Verschwiegenheitspflichten schadensersatzpflichtig oder sogar strafbar machen könnten. Es wird auch noch eingewandt, in der Gesellschafterversammlung - also beispielsweise in einem Stadtratsplenum - könnten Themen, die im Aufsichtsrat einer städtischen GmbH nichtöffentlich beraten worden sind, nachträglich der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Dies geht an der Realität vorbei. Wieso soll man denn eine Wiederholung von Beratungen in einem anderen Gremium vorschlagen, wenn es mit einem kleinen Federstrich des Gesetzgebers möglich wäre, sofort die Originalberatung der Öffentlichkeit zugänglich zu machen? Daher setzen sich diejenigen, die dem Anliegen der FDP nicht folgen, dem Verdacht aus, sie wollten in Wahrheit die von vielen Bürgerinnen und Bürgern gewünschte Transparenz kommunaler Entscheidungsfindung gar nicht herstellen. Sollte dieser Vorwurf unberechtigt sein, dann sind wir gespannt, welche Alternativen denn die Koalition vorschlägt. Bisher tragen CDU/CSU und SPD unverständlicherweise nichts zur Lösung des Problems bei.

Katrin Kunert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003795, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Gegen Geheimniskrämerei - Entscheidungen in kommunalen Gesellschaften sollen transparent gestaltet werden, und wir debattieren überhaupt nicht, geben zum zweiten Mal unsere Reden zu Protokoll. Transparenz sieht anders aus, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP! Wenigstens die Abschlussdebatte hätten wir führen können. Zum anderen frage ich mich ernsthaft, wenn Ihnen das Thema so wichtig erscheint, warum haben Sie keinen konkreten Antrag im Rahmen der GmbH-Novelle eingebracht? Und deshalb habe ich meinem ersten Redebeitrag nichts hinzuzufügen. Erstens: Kompliment an die FDP, sie hält ein SuperPlädoyer gegen die Privatisierung von Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge. Alle in ihrem Antrag aufgeführten Probleme würden sich heute nicht so drastisch darstellen, wenn die Aufgaben der Daseinsvorsorge kommunal erbracht würden. Es steht auch in der Begründung des Regensburger Urteils, dass mit zunehmender Privatisierung die öffentlich-rechtlichen Bindungen ausgehebelt werden können. Eine zweite Vorbemerkung: Würde man das Mitspracheund Entscheidungsrecht der Bürgerinnen und Bürger und der Kommune als Vertretungskörperschaft wirklich stärken wollen, wäre zunächst an eine Rekommunalisierung von Aufgaben der Daseinsvorsorge zu denken. Das haben inzwischen auch die Kommunen erkannt. In seiner Presseerklärung vom März dieses Jahres begrüßt der Deutsche Städte- und Gemeindebund ausdrücklich die Überlegungen einiger Städte und Gemeinden, bisher privat erbrachte Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge wieder zu kommunalisieren. Die neue Vorsitzende des Ausschusses für Finanzen und Kommunalwirtschaft des Städte- und GemeindeZu Protokoll gegebene Reden bundes, Frau Ursula Pepper, wies darauf hin, dass eine Rekommunalisierung von Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge dazu dienen könne, kommunale Gestaltungsmöglichkeiten zurückzugewinnen. Die Stadt Ahrensburg in Schleswig-Holstein, in der Frau Pepper BM ist, hat sich entschieden, die Gasversorgung in der Stadt nicht mehr von einem privaten Unternehmen, sondern von einer kommunalen Gesellschaft durchführen zu lassen. Und wenn Sie sich in der FDP-Fraktion Gedanken über die Transparenz bei kommunalen Unternehmen machen, frage ich, wie Sie mit Transparenz bei echten Privatisierungen umgehen wollen. Tatsache ist, dass bereits heute immer mehr Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge durch kommunale Unternehmen erbracht werden; zu 75 Prozent sind dies Unternehmen in der Rechtsform der GmbH. Tatsache ist auch, dass aus den unterschiedlichsten Gründen die Kommunen immer mehr an Einfluss auf ihre eigenen Unternehmen verlieren. Eine Ursache dafür ist, dass Öffentlichkeit und die Wahrung der Interessen der Unternehmen nicht unter einen Hut zu bringen sind. Kommunale Mandatsträger in den Aufsichtsräten sind zur Verschwiegenheit verpflichtet. Diese Verschwiegenheitspflicht kann dann zu Interessenkonflikten führen, wenn sie sich ihrer Gemeinde gegenüber verpflichtet fühlen, über Angelegenheiten des Unternehmens von besonderer Bedeutung berichten zu müssen. Es ist nicht definiert, in welchem Maße eine Verschwiegenheitspflicht der kommunalen Vertreter in den Aufsichtsräten im Interesse des Gemeinwohls - im Interesse der Kommune und damit der Bürgerinnen und Bürger - eingeschränkt werden kann. Dies ist in den Gemeindeordnungen der Länder sehr unterschiedlich geregelt. Es ist nämlich ein Aushandlungsprozess, der von Kommune zu Kommune unterschiedlich ausgehen kann, also nach dem Motto: einmal mehr und einmal weniger Transparenz. Die Leidtragenden sind in jedem Fall die Bürgerinnen und Bürger. Bestes Beispiel sind Unternehmen im Verkehrs- oder Versorgungsbereich, die nicht bereit sind, ihre Tarif- bzw. Preiskalkulation offenzulegen. Hier gibt es also tatsächlichen Handlungsbedarf. Das sehen wir nicht anders. Es müssen bundesweite einheitliche Standards in Bezug auf die Einschränkung der Verschwiegenheitspflicht im Interesse des Gemeinwohls vorgegeben werden. Dies kann nicht im Belieben der Länder oder einer Kommune oder gar des Bürgermeisters liegen. Insofern stimmen wir dem Grundanliegen Ihres Antrages zu. Allerdings geht uns der Antrag nicht weit genug. Erstens geht es Ihnen in der FDP um eine deutliche Erhöhung der Transparenz von Entscheidungen nur kommunaler Unternehmen. Und Ihre gewünschte Neuregelung soll sich ausschließlich auf kommunale GmbHs und AGs beziehen, die zu 100 Prozent kommunal sind. Das derzeit geltende GmbH- und AG-Recht bezieht sich aber ausdrücklich auf alle Unternehmen, das heißt mit jedem Gesellschafter, unabhängig von der Höhe der Beteiligung, wird ein umfassendes Informationsrecht gegenüber dem Unternehmen eingeräumt. Es stellt sich die Frage, was Sie mit dieser Einengung wirklich wollen. Zweitens werden in Ihrem Antrag Unternehmen, an denen Bund und Länder beteiligt sind, vollkommen ausgeblendet. Wir meinen, auch diese Beteiligungen müssen in die Diskussion um mehr Transparenz einbezogen werden.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

In der ersten Lesung zum Antrag der FDP-Fraktion erklärten die Rednerinnen und Redner von Union und SPD, dass sie es eigentlich für eine Zumutung halten, diesen Antrag überhaupt beraten zu müssen. Deshalb möchte ich eingangs an die Adresse der Regierungsfraktionen gerichtet feststellen: Dass der FDP-Kollege Max Stadler ein wahlkreisfolkloristisches Interesse daran hat, die mangelnde Transparenz von Aufsichtsräten kommunaler Gesellschaften hier zu thematisieren, ist wohl unbestritten. Es ist ihm allerdings auch unbenommen. Bezeichnend an Ihrer Haltung ist im Übrigen nicht, wie Sie mit Oppositionsanträgen umgehen, sondern dass Sie der Sache selbst überhaupt kein Gewicht beimessen. Denn es sollte sich auch zu Ihnen herumgesprochen haben, dass die Überführung kommunaler Aufgaben in privatrechtliche Gesellschaftsformen vor Ort zu sehr problematischen Entwicklungen geführt hat. Bezeichnend ist allerdings auch, dass die FDP-Fraktion ihren Antrag über beinahe zwei Jahre im Ausschuss vergilben lässt. Ich konnte der lokalen Berichterstattung - namentlich der „Passauer Neuen Presse“ - entnehmen, dass Herr Stadler sich öffentlichkeitswirksam darüber beklagt hat, dass die Koalition dem FDP-Antrag nicht folgt. Herr Kollege Stadler, ich bin der altmodischen Auffassung, dass das Werben um parlamentarische Mehrheiten damit beginnt, dass man einen Antrag auch auf die Tagesordnung des Ausschusses setzt. So eilig scheinen Sie es also nicht zu haben mit der Transparenz. Man erkennt das populistische Ansinnen und ist verstimmt. Doch nun zum Antrag selbst. Die Freien Demokraten beschreiben hier ein Problem, das auch wir als Bündnisgrüne sehen. So bedenklich, wie sich einige Privatisierungen öffentlicher Leistungen auf die politische Steuerungsfähigkeit der Kommunen ausgewirkt haben, so bedenklich sind auch die Folgen, wenn die Leistungserbringung zwar vollständig oder mehrheitlich in kommunaler Hand verbleibt, der Kontrolle der Öffentlichkeit jedoch aufgrund privatrechtlicher Vorschriften entzogen wird. Die Anwendung privaten Gesellschaftsrechts führt beispielsweise zu einer Situation, in der sich Stadtwerke in Eigentümerschaft einer Kommune am Bau eines Kohlekraftwerkes im Nachbarkreis beteiligen, ohne dass die Öffentlichkeit von der bevorstehenden Entscheidung informiert wird. Da zudem kleinere Gemeinderatsfraktionen in den Aufsichtsgremien dieser Gesellschaften oftmals nicht vertreten sind, wird den großen Fraktionen hier die Möglichkeit geboten, unbehelligt von öffentlichen Diskussionen und Auseinandersetzungen ihre politischen Ziele zu verfolgen. Das ist das Sinnbild dessen, was wir umgangssprachlich als „kommunalen Klüngel“ bezeichnen. Zu Protokoll gegebene Reden Der Antrag der Liberalen - so kann man bei der erstmaligen Lektüre denken - sieht das ganz genauso. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion: Manchmal reicht ein einzelner Satz in einem Antrag, um sein Ansinnen in das Gegenteil zu verkehren. Denn in Ihrem Antrag schreiben sie, dass „echte“ Privatisierungen ordnungspolitisch selbstverständlich vorzugswürdig wären. Das wirft Fragen auf. Sie bemängeln die fehlende Transparenz der privaten Gesellschaftsform kommunaler Unternehmen, wollen aber eigentlich viel lieber gleich alles privatisieren? Reden wir Klartext. Hier drängt sich doch der begründete Verdacht auf, dass ihr Ziel darin besteht, kommunalen Gesellschaften Sonderbedingungen aufzuerlegen, um einen Leidensdruck in Richtung Privatisierung zu erzeugen. Da gebe ich Ihnen den wohlmeinenden Ratschlag: Mauern Sie sich mit Ihrer „Privat vor Staat“-Ideologie in der kommunalen Daseinsvorsorge nicht ein. Denn eine solche Politik geht am Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger nach einer verlässlichen, bezahlbaren Daseinsvorsorge vorbei, und sie untergräbt das Vertrauen in die Gestaltungskraft der kommunalen Selbstverwaltung. Ihrem „Privat vor Staat“ setzen wir ein „Sicherheit in Vielfalt“ entgegen. Das heißt: Privatisierung oder Rekommunalisierung - diese Entscheidung muss sich am Einzelfall orientieren, und daran, wie eine Leistung am Besten zu erbringen ist -, am besten im Sinne der Kosteneffizienz, aber vor allem der ökologischen Nachhaltigkeit, demokratischen Transparenz und langfristigen Verlässlichkeit. Die Leistungserbringung in Form einer GmbH mit ausschließlicher oder mehrheitlich kommunaler Trägerschaft kann dabei ein geeigneter Weg sein. Die privatrechtliche Organisationsform ändert aber nichts am Wesen der Leistung. Aufgaben der Daseinsvorsorge sind dem Gemeinwohl verpflichtet und werden aus öffentlichen Mitteln finanziert. Sie haben sich deshalb auch hohen Anforderungen an die Transparenz unternehmerischer Entscheidungen zu stellen. Hier liegt die Notwendigkeit begründet, Öffentlichkeit bei Aufsichtsratssitzungen herzustellen, und nicht in einer Strategie, die Kommunen in die Privatisierung treiben soll. Ein weiterer Kritikpunkt an Ihrem Antrag ist aus unserer Sicht: Sie spitzen die Lippen, aber pfeifen nicht. Warum sind Sie in Ihren Forderungen so mutlos und wenig konkret? Wir wissen, dass es unterschiedliche rechtswissenschaftliche Auffassungen dazu gibt, ob Gemeinden die Öffentlichkeit selbst über das Satzungsrecht herstellen können oder ob es dazu einer Änderung im GmbH-Recht und Aktienrecht bedarf. Auch die Rechtsprechung ist hier uneinheitlich. Alleine dies weist darauf hin, dass es einer rechtlichen Klarstellung bedarf, und zwar ganz konkret einer Verpflichtung zur Öffentlichkeit von Aufsichtsratssitzungen kommunaler Gesellschaften durch eine entsprechende Ergänzung in § 52 Abs. 1 GmbH-Gesetz und § 109 Abs. 1 Aktiengesetz. Da müssen Sie die Bundesregierung nicht auffordern, zu prüfen; da brauchen Sie nur uns Grüne nach der Lösung zu fragen. Lassen Sie mich zusammenfassen: Der Antrag der FDP weist auf einen wichtigen legislativen Handlungsbedarf hin. Er ist allerdings ordnungspolitisch inkonsistent, widersprüchlich und springt zu kurz. Wir werden uns deshalb zu diesem Antrag enthalten. Aber, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ob Sie sich damit nun befassen wollen oder nicht: Wir werden dafür sorgen, dass dieses Thema, fundierter aufbereitet, erneut auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages auftaucht. Und dann ist Herr Stadler gerne eingeladen, mit mir gemeinsam im Ausschuss um parlamentarische Mehrheiten zu werben.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9732, den Antrag der FDP-Fraktion auf Drucksache 16/395 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 sowie Zusatzpunkt 12 auf: 35 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für eine qualitätsgesicherte und flächendeckende Arzneimittelversorgung - Versandhandel auf rezeptfreie Arzneimittel begrenzen - Drucksache 16/9754 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel Bahr ({1}), Martin Zeil, Heinz Lanfermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Auswüchse des Versandhandels mit Arzneimitteln unterbinden - Drucksache 16/9752 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Wolf Bauer, Marlies Volkmer, Daniel Bahr, Martina Bunge, Birgitt Bender und Rolf Schwanitz für die Bundesregierung geben dazu Reden zu Protokoll.

Dr. Wolf Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000108, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Für eine ausreichende und sichere Arzneimittelversorgung der Bevölkerung zu sorgen, ist eine grundgesetzlich verankerte Aufgabe des Staates - Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Die Erfüllung dieser Aufgabe liegt in den Händen der Präsenzapotheken. Sie haben sich über lange Zeit als verlässlicher Partner bewährt. Aus Sicht der CDU/CSUBundestagsfraktion sind sie der Garant für die ordnungsgemäße und sichere Arzneimittelversorgung unserer Bevölkerung. Nicht zuletzt im Interesse des Patientenschutzes unterliegt ihr Betrieb vor allem den strengen Anforderungen des Apothekengesetzes und der Apothekenbetriebsordnung - zum Beispiel Abgabe der Arzneimittel durch pharmazeutisches Personal, Vorhaltung eines Vollsortiments, Mindestgröße für Betriebsräume, Vorhaltung einer Rezeptur und eines Labors, Räumlichkeiten für Nachtdienstbereitschaft. Apotheken dürfen nur von approbierten Apothekern betrieben werden, Apotheken in der Hand von Kapitalgesellschaften sind verboten - Fremdbesitzverbot. Ursprünglich durfte die Abgabe apothekenpflichtiger Arzneimittel grundsätzlich nur innerhalb der Apothekenbetriebsräume erfolgen. Eine Abgabe von Arzneimitteln im Wege des Versandhandels war verboten. Dieses Versandhandelsverbot war im Jahr 2003 Gegenstand eines Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof. Im Vorfeld der Entscheidung und als Kompromiss bei den Verhandlungen zum Gesundheitsmodernisierungsgesetz 2003 wurde unter bestimmten Auflagen der Versandhandel mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln zugelassen. Dabei muss ein Höchstmaß an Verbraucherschutz und Arzneimittelsicherheit gewährleistet sein. Es müssen faire Bedingungen für den Wettbewerb von Versandapotheken mit Präsenzapotheken bestehen. Seitdem können deutsche Präsenzapotheken, die eine Versandhandelserlaubnis besitzen, und entsprechend qualifizierte Versandapotheken aus anderen EU-Ländern, apothekenpflichtige Arzneimittel im Wege des Versandhandels abgeben. Wie die nachfolgende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ergab, wäre eine solche generelle Zulassung des Versandhandels aber gar nicht nötig gewesen, da ein Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln mit europäischem Recht vereinbar ist. Ich zitiere wörtlich aus dem EuGH Urteil: Angesichts der Gefahren, die mit der Verwendung dieser Arzneimittel verbunden sein können, könnte das Erfordernis, die Echtheit der ärztlichen Verschreibungen wirksam und verantwortlich nachprüfen zu können und die Aushändigung des Arzneimittels an den Kunden selbst oder an eine von ihm mit dessen Abholung beauftragte Person zu gewährleisten, ein Verbot des Versandhandels rechtfertigen. Wie die irische Regierung dargelegt hat, könnte die Zulassung einer Ausgabe verschreibungspflichtiger Arzneimittel erst nach Erhalt der Verschreibung und ohne weitere Kontrolle das Risiko erhöhen, dass ärztliche Verschreibungen missbräuchlich oder fehlerhaft verwendet werden. Im Übrigen kann die tatsächlich gegebene Möglichkeit, dass ein Arzneimittel, das ein in einem Mitgliedstaat wohnender Käufer bei einer Apotheke in einem anderen Mitgliedstaat erwirbt, in einer anderen Sprache etikettiert ist als in der Sprache des Heimatstaats des Käufers, im Fall von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln gravierendere Folgen haben. Auch vor diesem Hintergrund hat der Gesetzgeber dafür Sorge getragen, dass nur solche Arzneimittel über den Versandhandel ausgeliefert werden dürfen, die zum einen für den deutschen Markt zugelassen sind und zum anderen Informationen in deutscher Sprache enthalten. Darüber hinaus gibt es hohe Anforderungen an die ausländischen Versandhandelsapotheken. So müssen auch diese eine durch einen Apotheker geleitete Präsenzapotheke vorweisen und in ihrem Heimatland zum Beispiel an der Nacht- und Notfallversorgung teilnehmen. Inzwischen hat sich beim Versandhandel neben der „klassischen“ Form des Direktversands an den Endverbraucher - Face-to-Face - eine zweite Vertriebsform über Bestell- und Abholstationen - Pick-up-Stationen entwickelt. Diese Stationen können in jeder Art von Gewerbebetrieb - Supermarkt, Getränkemarkt, Drogerieketten, Tankstelle etc. - eingerichtet werden. Im Unterschied zu Präsenzapotheken unterliegen die Pick-upStationen bei der Vor-Ort-Abgabe von Arzneimitteln nicht den Anforderungen der Apothekenbetriebsordnung. So wird zum Beispiel auf jegliche Apothekeninfrastruktur verzichtet. Die Vor-Ort-Abgabe kann durch nicht pharmazeutisches Personal erfolgen. Die in letzter Zeit entstandenen Pick-up-Stationen und die damit verbundenen Variationen des Versandhandels wurden zum Zeitpunkt der Gesetzgebung nicht vorhergesehen. Diese neue Versandform war Gegenstand mehrerer Gerichtsverfahren. Zuletzt entschied das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 13. März 2008, dass aufgrund der generellen Zulassung des Versandhandels mit allen apothekenpflichtigen Arzneimitteln die Abgabe im Wege des Versandes über Pick-up-Stationen rechtlich nicht zu beanstanden ist. Dieses Urteil mag sich vielleicht aus der derzeitigen Rechtslage ergeben, wirft aber aus meiner Sicht verschiedene Fragen auf: Während die Apotheker weiterhin an die umfassenden Anforderungen der Apothekenbetriebsordnung gebunden sind - zum Beispiel Vorhaltung von Laboren und Räumlichkeiten für den Nachtdienst, Mindestgröße der Betriebsräume -, sollen diese offenbar für Pick-up-Stationen nicht gelten. Dies hätte aus meiner Sicht eine ungerechtfertigte, verfassungswidrige Ungleichbehandlung der Präsenzapotheken zur Folge. Außerdem wird die aus Verbraucherschutzgründen wichtige Beratung durch Apotheker abgeschwächt, und es kommt zur Beliebigkeit bei der Abgabe von Arzneimitteln. Schließlich dürfen wir auch nicht übersehen, dass durch die Abgabe apothekenpflichtiger Arzneimittel über Pick-up-Stationen bei Schlecker, dm etc. die besondere Ware „Arzneimittel“ aus Sicht des Verbrauchers mit Konsumgütern - zum Beispiel Bonbons, Reinigungsmitteln oder Hygieneartikeln - gleichgestellt wird. Damit wird insbesondere der Gebrauch verschreibungspflichtiger Arzneimittel in den Augen der Verbraucher verharmlost. Auch die immer stärker stattfindende Werbung mit Niedrigpreisen kann die Verbraucher verleiten, mehr Arzneimittel als nötig zu verwenden. Beides fördert den Arzneimittelmissbrauch. Zu Protokoll gegebene Reden Vor diesem Hintergrund müssen wir überlegen, wie wir diesen Auswüchsen des Versandhandels durch Pickup-Stationen Einhalt gebieten. Erste Vorstöße wurden bereits gemacht. So haben die Bundesländer Bayern und Sachsen entsprechende Initiativen im Bundesrat ergriffen bzw. angekündigt, denen sich der jetzt vorgelegte Antrag der Partei Die Linke inhaltlich annähert. Auch der Antrag der FDP, der einen weniger umfassenden Ansatz liefert, zielt auf eine Beseitigung der Auswüchse ab. Damit wir uns über die entsprechenden Konsequenzen ausreichend Klarheit verschaffen können, ist es aus meiner Sicht erforderlich, die in den Initiativen angesprochenen Handlungsoptionen genau zu prüfen und zu bewerten. Gegenwärtig befinden wir uns innerhalb der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion in einem entsprechenden Bewertungsprozess. Erst wenn wir diesen abgeschlossen haben, können wir uns auf eine Handlungsoption festlegen.

Dr. Marlies Volkmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es ist sehr zu begrüßen, dass wir noch vor der Sommerpause die Gelegenheit haben, uns mit einem überaus wichtigen Thema zu befassen, nämlich der Frage, wie die Arzneimittelversorgung der Zukunft aussehen soll. Umso bedauerlicher ist die Qualität des zur Debatte stehenden Antrags. Auch wenn ich persönlich die Zielrichtung der Vorlage unterstütze: Wenn man möchte, dass ein Anliegen in jedem Fall abgelehnt wird, dann muss man es so begründen, wie Sie das getan haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Die Linke - nämlich gar nicht. Die Gefährdung der Arzneimittelsicherheit durch den Versandhandel mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln bleibt bei Ihnen leider eine bloße Behauptung. Dabei stellt uns das im März ergangene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts tatsächlich vor ein gewaltiges Problem. Zur Erinnerung: Das Gericht hatte geurteilt, dass der Arzneimittelbestell- und -abholdienst, der von einigen Drogeriemärkten in Kooperation mit Versandapotheken angeboten wird, zulässig ist. Ich sehe drei Gefahren: Erstens sehe ich eine Unübersichtlichkeit auf die bestehenden Arzneimittelvertriebswege zukommen, die die Arzneimittelsicherheit unmittelbar gefährdet: Jede Instanz, die zwischen die Abgabe durch die Apotheke und den Empfang des Patienten geschaltet ist, erhöht das Risiko der Verwechselung, der falschen Lagerung usw. Zweitens. Was beim Versandhandel für verzichtbar gehalten wird, kann in der Konsequenz auch nicht für die Versorgung in der öffentlichen Apotheke vorgeschrieben werden. Das hätte vor allem Konsequenzen für die Beratungsleistungen, aber auch für Notdienste und Laborleistungen - mit negativen Auswirkungen für die Bevölkerung. Drittens dürfen die Entwicklungen im Apothekenbereich nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Stellen Sie sich vor, dass das Fremdbesitzverbot fiele. Durch die Niederlassungsfreiheit könnten Kapitalgesellschaften nach ihrem Markteintritt unbegrenzt eigene Apotheken eröffnen - oder auch Pick-up-Stellen. Eine Kombination aus der Aufhebung des Fremdbesitzverbotes und des Abbaus von Mindestanforderungen an die Arzneimittelabgabe würde unserer Arzneimittelversorgung ein neues Gesicht geben. Arzneimittelsicherheit und Beratungsqualität, die Grundpfeiler unserer heutigen Versorgungslandschaft, würden leiden. Der Gesetzgeber hat die Sicherstellung der Arzneimittelversorgung nicht ohne Grund den Apotheken übertragen. Ich denke hier vor allem an das hochqualifizierte Personal, das jederzeit beraten kann, nicht nur auf Nachfrage und nicht nur telefonisch, und an die Verpflichtung zu Nacht- und Notdiensten. Was kann man also tun, um ein Ausfransen der Vertriebswege zu verhindern? Gewerbliche Abholstellen lassen sich nicht einfach verbieten, da dies in verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigender Weise in die Berufsfreiheit der potenziellen Betreiber eingreifen würde. Die einzige rechtliche Handhabe sehe ich persönlich in der Beschränkung des Versandhandels auf das europarechtlich gebotene Maß und damit auf nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel. Der Europäische Gerichtshof hatte den Versandhandel mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt, da von diesen besondere Risiken ausgehen. Allein deshalb unterliegen sie der Verschreibungspflicht. Warum hat sich die damalige rot-grüne Koalition mit Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion nicht schon 2003 gegen den Versandhandel mit diesen besonderen Arzneimitteln entschieden? Tatsächlich haben wir damals derart strenge Regelungen gesetzlich verankert, dass der direkte Versand aus einer deutschen Versandapotheke an einen Patienten sicher ist. Für den Versand aus einer Apotheke der Länder, deren Sicherheitsstandards den deutschen Regelungen entsprechen sollen, dürfte im Wesentlichen Gleiches gelten. Was der Gesetzgeber aber damals nicht vorhergesehen hat, war die Zulassung von Pick-up-Stellen und damit die Unterbrechung des Vertriebswegs. In den nun anstehenden parlamentarischen Beratungen werden wir natürlich alle Wege prüfen müssen, die eine qualitativ hochwertige und sichere Arzneimittelversorgung gewährleisten. So werden wir zu diskutieren haben, ob eine Kennzeichnung legaler Versandapotheken im Internet eingeführt werden kann. Denn nach wie vor geht das größte Sicherheitsproblem davon aus, dass die Patientinnen und Patienten heute nicht erkennen können, ob sie es mit einem seriösen Versender zu tun haben und in welchem Land er überhaupt ansässig ist. Ein anderer Vorschlag ist, dass spezifische Anforderungen an die Pick-up-Stellen formuliert werden. Auch hierüber werden wir eingehend zu beraten haben. Unsere Vorstellung einer Arzneimittelversorgung der Zukunft sieht im Zentrum ein kompetentes Arzneimittelmanagement, insbesondere bei chronisch Kranken und pflegebedürftigen Menschen. Hier liegen die Kernkompetenzen des Apothekers, die es zum Wohl der Patienten zu fördern gilt. Unsere Aufgabe ist es, dafür die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Zu Protokoll gegebene Reden

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz ist Apotheken ab 1. Januar 2004 die Möglichkeit eingeräumt worden, Versandhandel mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln zu betreiben. Es waren SPD, Grüne und CDU und CSU, die im Jahre 2003 den Versandhandel in Deutschland gegen die Stimmen der FDP beschlossen haben. Die FDP hat damals vor den Folgen gewarnt. SPD, Grüne und CDU und CSU hatten seinerzeit nicht die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes abgewartet, sondern schon zuvor den Versandhandel sowohl für rezeptpflichtige als auch für rezeptfreie Arzneimittel erlaubt. Das Gericht hat dann in seinem Urteil festgestellt, dass der Versandhandel mit rezeptfreien Arzneien in EU-Ländern zugelassen werden muss, die Länder aber bei rezeptpflichtigen Arzneien andere Bestimmungen treffen können. Der Versandhandel ist seit über vier Jahren zulässig, und damit wurden Fakten geschaffen. Apotheken haben sich auf Versandhandel eingestellt, und einige haben entsprechend investiert. Patienten haben sich an diesen Service gewöhnt. Jetzt braucht es sehr gute Gründe, um den Versandhandel wieder abzuschaffen. Laut Apothekervereinigung ABDA lösen 93 Prozent der Deutschen das zuletzt vom Arzt ausgestellte Rezept in einer unabhängigen und wohnortnahen Apotheke ein. Der Versandhandel macht heute noch nur einen kleinen Teil aus, stellt je nach Annahmen etwa 1 bis 3 Prozent des Marktes dar. Ob die in dem Antrag der Linken genannte Zunahme an Arzneifälschungen als Grund für ein Verbot des Versandhandels für rezeptpflichtige Arzneimittel ausreicht, ist rechtlich betrachtet aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse unwahrscheinlich. Die FDP ist genauso wie die Linken besorgt, dass die Zahl an Arzneimittelfälschungen zunimmt. Die FDP beobachtet daher die Entwicklungen genau. Die FDP will, dass der Verbraucher weitestgehend vor Fälschungen geschützt ist und sich auf eine hohe Arzneimittelsicherheit verlassen kann. Das Bundeskriminalamt jedenfalls schätzt das Risiko, eine Arzneimittelfälschung in einer niedergelassenen Apotheke zu erhalten, genauso niedrig ein wie in einer legalen Versandapotheke. Am meisten treten Fälschungen laut Bundeskriminalamt im Bereich Dopingmittel und Lifestyle-Präparate wie zum Beispiel Viagra auf. Die beiden Hauptvertriebswege sind Sportstudios und illegaler Internethandel. Leider ist zu befürchten, dass auch bei einem Verbot des Versandhandels von rezeptpflichtigen Arzneien weiterhin mit Arzneifälschungen zu rechnen ist. Deshalb ist dringend erforderlich, dass die Bundesregierung mit Apothekern und Pharmabranche darüber spricht, wie zum Beispiel durch verbesserte Kennzeichnungen oder andere Maßnahmen die Sicherheit erhöht werden kann. Falls der Versandhandel wieder verboten würde, ist auf jeden Fall mit Klagen zu rechnen, deren Ausgang schwer abzuschätzen ist. Einschränkungen des grundgesetzlich verbürgten Rechtes der Berufsfreiheit bedürfen immer einer besonderen Begründung. Ohne triftige Gründe des Gemeinwohls wäre damit die Wahrscheinlichkeit, dass Klagen von Betroffenen gegen die Wiedereinführung des Versandhandelsverbots erfolgreich sind, sehr groß. Den Versandhandel komplett wieder zu verbieten, halte ich für nicht mehr gangbar. Wir sollten deshalb gemeinsam an einem Weg arbeiten, wie die nicht gewollten Auswüchse verhindert werden können. Etwas anderes ist nämlich die nun durch das Bundesverwaltungsgericht Leipzig eröffnete Möglichkeit einer Abgabe von Arzneimitteln in Abgabestellen, die nicht die Bedingungen erfüllen, die an eine Apotheke gestellt werden. Damit ist es nach geltender Rechtslage möglich, dass anstelle des Apothekers auch zum Beispiel Kioskbetreiber oder Tankwarte unkontrolliert Rezepte einsammeln und die bestellten Arzneimittel ausgeben. Eine sachgemäße Behandlung und Lagerung ist damit nicht gewährleistet. Eine weitere Problematik entsteht dadurch, dass die Abgabestellen zum Teil Gutscheine für ihren eigentlichen Geschäftsbetrieb ausstellen, wenn Patienten Arzneimittel über sie beziehen. Damit schwindet das Bewusstsein dafür, dass es sich bei Arzneimitteln um ein ganz spezielles Gut handelt, das mit Nebenwirkungen verbunden ist und bei dem eine sorglose Ausweitung des Konsums auf jeden Fall verhindert werden muss. Arzneimittel gehören nicht zwischen Waschmittel und Schokoriegel. Eine solche Entwicklung kann weder unter Sicherheitsaspekten noch im Hinblick auf gleiche Wettbewerbsbedingungen gewollt sein. Wettbewerb kann nur unter fairen Bedingungen funktionieren. Es ist eine Benachteiligung, wenn Wettbewerber Pflichten zu erfüllen haben, die andere nicht erfüllen müssen. Die Apotheke vor Ort erfüllt wichtige Gemeinwohlaufgaben wie Nachtund Wochenenddienst, muss Labor und Mindestgrößen der Ladenfläche und entsprechend fachkundiges Personal gewährleisten. Wir alle haben ein Interesse daran, dass diese Pflichten erfüllt werden, damit die Arzneimittelversorgung auf einem entsprechend hohen Niveau erreicht wird. Wenn jetzt Drogerien oder andere versuchen, über die Ausnutzung des Versandweges sich den Anschein einer Apotheke zu geben, ohne die Pflichten zu erfüllen, dann sind das unfaire Wettbewerbsbedingungen für die Apotheken vor Ort. Hinzu kommt, dass Apotheken eine Vielzahl von Voraussetzungen erfüllen müssen, um den Sicherheitsstandard zu gewährleisten. Es könnte eine Gefahr für die Sicherheit und die Versorgung vor Ort entstehen. Diese Ausfransung durch Abholstellen war meines Erachtens selbst von der Mehrheit derjenigen nicht gewollt, die damals der Aufhebung des Versandhandelsverbotes zugestimmt haben. Das Gesetz ist insofern nicht exakt genug formuliert. In der Urteilsbegründung des Bundesverwaltungsgerichtes heißt es dazu: „Zwar dürfte der Gesetzgeber von dem ,klassischen‘ Versandhandelsmodell mit individueller Zustellung ausgegangen sein; doch hat er seine Regelung nicht auf dieses Modell beschränkt.“ Wir brauchen daher eine gesetzliche Klarstellung, dass ein Versand von Arzneimitteln nur aus Apotheken durch Apotheken selbst oder von diesen beauftragten Transportunternehmen unmittelbar an den Endverbraucher zulässig ist. Die FDP legt einen Antrag vor, der genau dieses Problem anpackt. CDU, CSU und SPD müssen sich jetzt bewegen. Sie haben den Versandhandel erlaubt und damit die Möglichkeit für solche Ausfransungen erst geschaffen. Bisher sagt die schwarz-rote Bundesregierung auf unsere Forderungen, dass sie nichts unternehmen wolle. Wenn Schwarz-Rot nichts macht, dann fördern Sie ungleiche Wettbewerbsbedingungen und Verzerrungen. Zu Protokoll gegebene Reden

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit ihrem Antrag fordert die Fraktion Die Linke im Bundestag die Bundesregierung auf, einmal vorausschauend zu agieren, nicht alles über den Markt „regeln“ zu lassen und hinterher vor einem Zustand zu stehen, den man eigentlich so nicht gewollt hatte. Alle proklamieren, es ginge ihnen um eine qualitätsgesicherte und flächendeckende Arzneimittelversorgung. Aber unübersehbar ist, dass der Anteil über das Internet bezogener rezeptpflichtiger Arzneimittel permanent steigt. Absehbar ist der Zeitpunkt, an dem dieser Umsatzverlust die Apotheken massiv unter Druck bringt, viele Apotheken in ihrer Existenz bedroht. Die Infragestellung des flächendeckenden Apothekennetzes wird über kurz oder lang ein Versorgungs- und Beratungsproblem der Bevölkerung insbesondere im ländlichen Raum und für ältere, zumeist mehrfach erkrankte Menschen bringen. Die Freigabe des Versandhandels auch für rezeptpflichtige Arzneimittel mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz ab 2004 ist für uns nicht zuvörderst ein Sicherheitsproblem hinsichtlich möglicher Gefahren des Bezugs „gepantschter“ Arzneimittel oder der Abwicklung des Vertriebs auch über Drogeriemärkte; insofern greift unseres Erachtens auch der ebenfalls zu dieser Debatte eingebrachte FDP-Antrag zu kurz. Für uns steht die Rettung der bewährten inhabergeführten Präsenzapotheke im Mittelpunkt. Die Apotheke mit einem ausgebildeten Pharmazeuten an der Spitze und vielen kundigen Angestellten soll auch in Zukunft eine qualitätsgesicherte und flächendeckende Arzneimittelversorgung für die Bevölkerung in der Bundesrepublik garantieren. Die Bedeutung bzw. Rolle des Apothekers und der Apothekerin als Heilberufler und Heilberuflerin ist angesichts der älter werdenden Bevölkerung und der Komplexität medizinischer Neuerungen bzw. permanenter Veränderungen im Gesundheitssystem eher noch zu stärken als zu schwächen. Hier ist der Gesetzgeber gefordert, die rechtlichen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass sie dieses Erfordernis unterstützen und nicht behindern. Nicht umsonst hat der Europäische Gerichtshof die Ausgestaltung des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln in das Ermessen der Länder gegeben. Die Freigabe des Versandhandels für alle zugelassenen Arzneimittel ab 2004 war eingebettet in die Kostendämpfungsbemühungen des Gesetzgebers. Sicher haben wir eine Vielzahl von Apotheken, womit wir allerdings „nur“ im europäischen Mittelfeld liegen. Aber die Apotheken sind nicht die Preistreiber der permanent steigenden Arzneimittelausgaben. So sind die Ausgaben für Arzneimittel von 1995 bis 2005 von 8,94 Milliarden Euro auf 15,44 Milliarden Euro gestiegen. Im gleichen Zeitraum haben sich aber die Rohgewinne der Apotheken und des Großhandels von 5 Milliarden in 1995 auf 4,94 Milliarden in 2005 sogar geringfügig reduziert. Kostentreiber sind folglich die Pharmakonzerne. Also nicht einmal das Argument der Minderung der Arzneimittelausgaben zieht bei der Ermöglichung des Versandhandels mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln. Sicher werden etliche Menschen auch zum Versandhandel vor allem aus finanziellen Aspekten „gelockt“, beispielsweise über den teilweisen oder gänzlichen Wegfall von Zuzahlungen. Aber hierzu ist zu sagen: Zuzahlungen passen prinzipiell nicht zur Bereitstellung medizinisch notwendiger Güter in einem solidarischen Gesundheitssystem. Die Zuzahlungen müssen weg - nicht die Apotheken. Mit einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung für alle wäre das auch möglich. Doch heute geht es um die Vorsorge, dass uns das Apothekensystem nicht zerbricht. Daher unser Appell an die Bundesregierung: Legen Sie sofort einen Gesetzentwurf vor, der den Versandhandel auf nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel begrenzt!

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Versandapotheken müssen Anforderungen an die Pa- tienteninformation und die Sicherheit ihrer Dienstleis- tung erfüllen, die denen entsprechen, die auch an eine Of- fizinapotheke gestellt werden. Dazu kommen besondere Anforderungen an die Sicherheit des Transports und die Art und Weise der Auslieferung. Wenn es hier rechtliche oder praktische Defizite geben sollte, wären diese konkret zu benennen. Das macht aber niemand von denen, die die Kampagne gegen den Versandhandel führen. Stattdessen werden diffuse Ängste geschürt. Als Hilfsargument wird häufig der Schutz vor Arznei- mittelfälschungen angeführt. Richtig ist, dass Arzneimit- telfälschungen nicht mehr ausschließlich ein Problem der Dritten Welt sind. Im Zuge der Globalisierung und auch über das Internet gelangen Medikamente, die gar keine oder nicht die auf der Packung angegebenen Wirkstoffe enthalten, zunehmend auch zu uns. Zwar bewegt sich nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation der Anteil der Fälschungen am Arzneimittelumsatz in den westlichen Industrieländern noch unter 1 Prozent. Aller- dings ist dieser vermeintlich kleine Anteil alles andere als beruhigend, zumal man von einer hohen Dunkelziffer und einem weiteren Anstieg ausgehen muss. Dem aber mit einem Verbot des Versandhandels be- gegnen zu wollen, ist völlig illusorisch. Der Großteil der Arzneimittelfälschungen stammt aus Ländern der Dritten Welt. Der Versand von Arzneimitteln von Ländern außer- halb des Europäischen Wirtschaftsraums direkt an End- verbraucher in Deutschland ist aber ohnehin verboten. Zudem ist die weit überwiegende Anzahl gefälschter Arz- neimittel nicht verschreibungspflichtig. Bei ihnen handelt es sich um „Lifestyle“-Medikamente, Potenzmittel, Ana- bolika, Schlafmittel und auch Nahrungsergänzungspro- dukte, die die Kundinnen und Kunden auf eigene Rech- nung bestellen. Dieser Versandhandel lässt sich aber - soweit er aus der Europäischen Union kommt - mit den Instrumenten des Arzneimittelrechts nicht verhindern, rechtlich, weil ein Versandhandelsverbot für rezeptfreie Arzneimittel nicht mit der Rechtsprechung des Europäi- schen Gerichtshofs zu vereinbaren wäre, aber auch „technisch“, weil man ein solches Verbot ohne die Ab- schaffung des Internets nicht umsetzen könnte. Das Nebeneinander unterschiedlicher Vertriebswege auf dem Arzneimittelmarkt ist eine Tatsache. Diese Plu- ralisierung wird nicht zuletzt durch die Rechtsprechung Zu Protokoll gegebene Reden des Europäischen Gerichtshofs weitergehen. Der da- durch entstehende Wettbewerb kann für die Verbraucher- innen und Verbraucher und das Gesundheitswesen vor- teilhafte Wirkungen haben. Voraussetzung ist allerdings, dass die wettbewerbliche Dynamik durch ein Gerüst von Qualitätsanforderungen und Kontrollmechanismen so eingehegt wird, dass die Arzneimittelsicherheit nicht in- frage gestellt wird. Dazu gehört zum Beispiel, dass Apo- theken auch weiterhin von ausgebildeten Apothekerinnen und Apothekern geleitet werden müssen. Und dazu gehört auch, dass die Abgrenzung zwischen frei verkäuflichen und apothekenpflichtigen Arzneimitteln erhalten bleibt. In diesem Zusammenhang wird man auch darüber re- den müssen, ob man - wie die FDP fordert - die Aushän- digung bestellter Arzneimittel zum Beispiel in Drogerie- märkten verbietet. Zwar glaube ich nicht, dass durch einen solchen Abholservice die Arzneimittelsicherheit un- mittelbar gefährdet wird. Gleichgültig, ob das bestellte Arzneimittel direkt an den Patienten oder die Abholsta- tion geschickt wird - für die Arzneimittelsicherheit bleibt auch weiterhin die Versandapotheke verantwortlich. Al- lerdings muss vermieden werden, dass ein solcher Abhol- service zum Türöffner für die Aufhebung der Apotheken- pflicht für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel wird. Rezeptfreie Arzneimittel könnten dann überall ver- kauft werden. Das würde ich mit Blick auf die Risiken des Arzneimittelkonsums für falsch halten. Die Verbreitung von Arzneimittelfälschungen werden wir aber nur sehr begrenzt mit apothekenrechtlichen Instrumenten verhin- dern können. Hier kommt es vor allem darauf an, dass sich die Verbraucherinnen und Verbraucher mündig ver- halten. Dazu muss mehr Transparenz geschaffen werden. Die mit falschen oder fehlenden Wirkstoffen verbunde- nen Risiken müssen noch stärker öffentlich thematisiert werden. Außerdem müssen die Verbraucherinnen und Verbraucher darüber informiert werden, wie sie unseriöse von seriösen Versandhändlern unterscheiden können. In diesem Zusammenhang ist die Zertifizierung von Ver- sandhandels-Apotheken besonders wichtig. Keinen Bei- trag zu mehr Arzneimittelsicherheit leisten aber Ruf- mordkampagnen, in denen seriöse Versandhändler mit dubiosen Geschäftemachern in einen Topf geworfen wer- den. Rolf Schwanitz, Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Gesundheit: Zum 1. Januar 2004 ist der Versandhandel mit Arznei- mitteln in Deutschland legalisiert worden. Wesentlich da- für war, dass chronisch Kranke, immobile Menschen und Beschäftigte einen besseren Zugang zu Arzneimitteln er- halten. Klar war, dass der Versandhandel nur in den Fäl- len infrage kommt, in denen Arzneimittel nicht akut benö- tigt werden. Damals wie heute werden die immer gleichen Szena- rien gegen den Arzneimittelversand herangezogen. Bis- her ist noch keines eingetreten. Heute gibt es über 2 000 Apotheken, die eine Erlaub- nis zum Versandhandel haben. Gleichzeitig sind diese Versandapotheken auch Präsenzapotheken. Damit betei- ligen sie sich an den Gemeinwohlaufgaben wie Nacht- und Wochenenddienst, und sie beraten ihre Patientinnen und Patienten. Wenn wir die Fakten ganz nüchtern ansehen, dann zeigt sich, dass seit der Einführung des Versandhandels die flächendeckende und ordnungsgemäße Versorgung der Menschen mit Arzneimitteln uneingeschränkt besteht und dass es kein Apothekensterben gibt. Seit Einführung des Versandhandels ist die Zahl der Apotheken um fast 200 auf rund 21 500 gestiegen. Es gibt keinerlei Hinweise auf eine regionale Unterversorgung mit Arzneimitteln. Der Anteil der Ausgaben der gesetzli- chen Krankenversicherung für Arzneimittel aus Ver- sandapotheken beträgt weniger als 1 Prozent der Arznei- mittelausgaben. Diese Fakten verdeutlichen, dass von einer Gefähr- dung der Präsenzapotheke keine Rede sein kann. Viel- mehr sind die Apotheker aufgefordert, stärker mit ihrem lokalen Standortvorteil zu werben. Das Argument der Arzneimittelfälschungen ist ge- nauso vielschichtig wie der Fälschungsbegriff selbst. Er reicht von der falschen Kennzeichnung der Arzneimittel- packung über Patentverstöße bis hin zur Fälschung von Wirkstoffen. Unbestritten ist, dass jede Fälschung eines Arzneimittels eine zuviel ist. Wenn wir die Zahlen des Zollberichts 2007 genauer ansehen, dann entfallen von den Arzneimittelfälschungen mit einem Warenwert von 8,3 Millionen Euro über 90 Prozent auf einen einzigen Fall, und dabei geht es um einen Patentstreit. Ohne die- sen Fall reduziert sich der Warenwert an gefälschten Me- dikamenten von 2,5 Millionen Euro in 2006 auf 0,6 Mil- lionen Euro in 2007. Dabei findet die Fälschungsproble- matik im illegalen und nicht im legalen Arzneimittelver- sandhandel statt. Das Bundesverwaltungsgericht hat im Versandhandel mit Einbeziehung eines Bestell- und Abholservice keine besonderen Risiken für den Endabnehmer gesehen. Für die Sicherheit der Lieferkette, also auch für Transport und Lagerung, ist der versendende Apotheker verant- wortlich. Dabei darf in den Bestell- und Abholstellen nicht der Anschein erweckt werden, dass dort Arzneimit- tel abgegeben würden. Für die Abgabe ist allein ein Apo- theker verantwortlich. Den Versandhandel auf verschreibungsfreie Arznei- mittel gesetzlich zu begrenzen, würde den illegalen Ver- sandhandel bestärken. Wir wollen jedoch, dass die Men- schen ihre Arzneimittel legal beziehen. Deshalb sehen wir keine Gründe, die Regelung des Versandhandels zu än- dern.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Es wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf Druck- sachen 16/9754 und 16/9752 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Es gibt keine Einwände. Dann sind die Überweisungen so beschlos- sen. Präsident Dr. Norbert Lammert Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a und 36 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg Rohde, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wettbewerb in der Eingliederungshilfe stär- ken - Wahlfreiheit und Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung erhöhen - Drucksache 16/9451 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard ScheweGerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Persönliche Budgets für berufliche Teilhabe jetzt ermöglichen - Drucksache 16/9753 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Hubert Hüppe, Silvia Schmidt, Jörg Rohde, Dr. Ilja Seifert und Markus Kurth geben dazu Reden zu Protokoll.

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In der Koalitionsvereinbarung haben wir uns darauf geeinigt, mehr für die berufliche Integration von Menschen mit Behinderungen zu tun. Wir haben uns entschieden, mehr behinderten Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, außerhalb von Werkstätten für behinderte Menschen ihren Lebensunterhalt im allgemeinen Arbeitsmarkt erarbeiten zu können. Ein Vorschlag, der behinderten Menschen mehr Möglichkeiten außerhalb von Werkstätten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eröffnet, wird zurzeit im Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter dem Titel „Unterstützte Beschäftigung“ erarbeitet. Durchgreifende Lösungen für verbesserte Teilhabe von behinderten Menschen am Arbeitsleben sind nur schwierig zu erreichen. Die Situation ist geprägt durch unterschiedliche Kostenträger, unterschiedliche Interessen von Bund und Ländern und eingefahrene Strukturen. Dieser Schwierigkeit sind sich offenbar auch die Antragsteller der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen bewusst. Bündnis 90/Die Grünen legen nicht etwa einen Gesetzentwurf vor, der eine ausdifferenzierte Lösung präsentiert. Vielmehr bleibt der Antrag bei eher vagen Forderungen auf ein Persönliches Budget für berufliche Teilhabe. In der Tat sehe ich den Zuwachs an belegten Plätzen in Werkstätten für behinderte Menschen kritisch. Von 1996 bis 2006 stieg die Anzahl der belegten Plätze um über 100 000 von 166 356 auf 268 046. Dies ist ein Zuwachs von über 60 Prozent innerhalb von zehn Jahren. Den mit Abstand höchsten Zuwachs gab es übrigens zu Zeiten der rot-grünen Bundesregierung mit über 25 000 behinderten Menschen im Jahre 2002 gegenüber 2001. Dieser Zuwachs war in etwa dreimal so hoch wie im Jahr zuvor und danach. Die außergewöhnlich starken Zuwächse fielen genau in die Zeit der rot-grünen Kampagne „50 000 Jobs für Schwerbehinderte“. Tatsächlich hatte die rot-grüne Bundesregierung von Oktober 1999 bis Oktober 2002 die Zahl arbeitsloser Schwerbehinderter um fast 50 000 gesenkt. Es stellte sich nur die Frage, wohin diese fast 50 000 weniger Arbeitslosen entschwunden waren. Ob hier zwischen der gesunkenen Zahl an arbeitslosen schwerbehinderten Menschen in Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarktes und dem außergewöhnlichen Zuwachs in Werkstätten im Jahre 2002 ein Zusammenhang bestehen könnte, kann jeder für sich selbst beantworten. Parallel zu der Entwicklung in Werkstätten für behinderte Menschen muss die Entwicklung bei Förderschülern betrachtet werden, die häufig nach Abschluss der Förderschule ausschließlich Leistungen in Werkstätten für behinderte Menschen erhalten. Von 1996 bis 2005 stieg die Zahl der Förderschüler alleine in WestfalenLippe, dort, wo ich wohne, bei körperbehinderten Kindern um 22 Prozent, bei Kindern mit sogenannter geistiger Behinderung um 33 Prozent und auf Förderschulen für Erziehungshilfe um 81 Prozent. Diese Entwicklung dürfen wir nicht weiter hinnehmen. Es muss in allen Bereichen mehr gemeinsame Lebensräume von Menschen mit und ohne Behinderung geben. Insbesondere im Bereich des Arbeitslebens und der Schule haben wir einiges aufzuholen. Klar ist: Wir brauchen die Werkstätten für die Menschen mit Behinderungen. Ich glaube, unter dem Dach der Werkstätten ist mehr möglich, beispielsweise bei ausgelagerten Werkstattplätzen. Bisher gibt es hier nicht genügend Möglichkeiten. Im Jahre 2006 gab es im Berufsbildungsbereich der Werkstätten für behinderte Menschen nur 1 Prozent ausgelagerte Werkstattplätze, im Arbeitsbereich waren dies lediglich 3 Prozent. Übergänge von Werkstätten für behinderte Menschen in eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt liegen unter 0,5 Prozent. Das muss sich ändern. Ich spreche mich dafür aus, behinderten Menschen, die in Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarktes ihre Teilhabemöglichkeiten in Anspruch nehmen wollen, diese Möglichkeit zu eröffnen, zum Beispiel in Integrationsfirmen. Neue Arbeitsmarktinstrumente, wie der Zuschuss zu den Arbeitsentgelten in § 16 a SGB II sollte genutzt werden, bevor ein Mensch mit Behinderungen in Werkstätten beschäftigt wird. Eine Möglichkeit, dem Wunsch- und Wahlrecht im Bereich der Teilhabe am Arbeitsleben in besonderer Weise Rechnung zu tragen, ist das Persönliche Budget. Lange bestand Unklarheit darüber, wie weit das Persönliche Budget im Bereich der Teilhabe am Arbeitsleben reicht. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat mir seine Position auf meine Nachfrage erläutert. Es vertritt eine eher enge Auffassung des Persönlichen Budgets. Aus meiner Sicht müssen wir hier weitergehen. Allerdings ist für mich nicht nachvollziehbar, warum in dem vorliegenden Antrag hauptsächlich jungen Leuten das Persönliche Budget im Arbeitsleben ermöglicht werden soll. Sollen behinderte Menschen, die schon länger in Werkstätten sind, nicht in gleicher Weise die Chance haben, eine Beschäftigung oder Berufsbildung in einem Betrieb des allgemeinen Arbeitsmarktes mithilfe des Persönlichen Budgets auszuüben? Wenn man das Persönliche Budget für Leistungen am Arbeitsleben stärken will, so muss es allen behinderten Menschen, die zurzeit ausschließlich Leistungen in Verantwortung von Werkstätten erhalten können, in gleicher Weise eröffnet sein. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen erfüllt diese Anforderungen nicht. Die FDP will mehr Wettbewerb zwischen Erbringern von Leistungen der Eingliederungshilfe. Auch ich kann mir vorstellen, mehr Wettbewerb im Bereich der Eingliederungshilfe zuzulassen. Hier muss dann aber für die entsprechenden Rahmenbedingungen gesorgt werden. Wenn die FDP im Bereich der Eingliederungshilfe mehr Wettbewerb fordert, so sind hiervon auch behinderte Menschen betroffen, die bisher ausschließlich vom Leistungserbringer Werkstatt für behinderte Menschen Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten können. Die behinderten Menschen in den Werkstätten haben besondere Nachteilsausgleiche, wie die besondere rentenversicherungsrechtliche Absicherung, die Aufnahmeverpflichtung der Werkstätten oder den Status des arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnisses. Mit keinem Wort erwähnt die FDP in ihrem Antrag diese besonderen Rahmenbedingungen. Es sind keine Ausführungen zu finden, ob oder wie diese Rahmenbedingungen gelten sollen, wenn nicht die Werkstatt für behinderte Menschen der Leistungserbringer ist. Der Antrag ist vielleicht gut gemeint, sieht aber sehr nach „aus der Hüfte geschossen“ aus. Er ist unausgegoren. Wichtig ist, das Recht behinderter Menschen auf Teilhabe am Arbeitsleben umfassend zu gewährleisten. Es ist auf eine hohe Qualität der Teilhabeleistungen zu achten. Eine gute soziale Absicherung der behinderten Menschen muss dabei gesichert sein. Teilhabe am Arbeitsleben ist im besonderen Maße geeignet, das Selbstwertgefühl behinderter Menschen zu stärken, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Das Wunsch- und Wahlrecht muss bei Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben noch mehr in den Mittelpunkt rücken. Veränderungen im Bereich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sind nur schwierig zu erreichen. Es lohnt sich aber, weiter für eine gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen zu kämpfen.

Silvia Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003217, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der vorliegende Antrag der FDP nimmt die Leistungsträgerstruktur in der Eingliederungshilfe auf. Es wird festgestellt, dass die Eingliederungshilfe des SGB XII im Gegensatz zur Sozialen Pflegeversicherung des SGB XI eine andere Trägerstruktur begünstigt. Herr Rohde kreidet der Eingliederungshilfe an, sie würde Träger von der Leistungserbringung ausgrenzen und so den Wettbewerb verhindern. Im Gegensatz zur FDP sind wir Sozialdemokraten nicht so sehr am Interesse der Träger und dafür umso mehr am Interesse der Bürgerinnen und Bürger mit Behinderung interessiert. Sicherlich muss es einen Schub für mehr Wettbewerb geben - aber nicht zum Wohle der Träger, sondern zum Wohle der Menschen mit Behinderung. Sie verkennen, dass es in der Pflegeversicherung natürlich einen offenen Wettbewerb gibt, dieser aber zumeist über den Preis und über die günstigste Preisgestaltung geführt wird. In der ambulanten und in der stationären Pflege wird die Minute zur Abrechnungseinheit für alles, was ein pflegebedürftiger Mensch braucht und was ihm zusteht. Das zum Beispiel wollen wir ändern. Deshalb haben wir eine Kommission zur Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs eingesetzt, die diese Grundlagen überarbeiten wird. Die Grundlagen für menschliche Zuneigung und für das Kümmern um die Menschen kommen zu kurz. Das haben Sie aus der Kohl-Ära mitzuverantworten. Weiterhin haben wir zunehmend ein Maß an Vergütung der Mitarbeiter, auch und gerade bei der wachsenden Zahl an privaten Pflegeheimen, die zum Teil als sittenwidrig zu bezeichnen ist. Tausende Mitarbeiter rackern Tag für Tag in der Pflege und bekommen nicht die ihnen zustehende Anerkennung. Das ist ein Wettbewerb, den wir bei der Eingliederungshilfe nicht wollen. Die Pflegeversicherung ist geradezu ein abschreckendes Beispiel für offenen Wettbewerb: Hier hat sich bisher nicht Qualitäts-, sondern Preiswettbewerb durchgesetzt. Heimstrukturen werden verfestigt. Die Menschen haben keine Chance zu wählen, welche Dienstleistung sie von wem kaufen wollen. Langfristig wird nichts daran vorbeiführen, den Wettbewerb über Qualität und Transparenz zu verstärken. Dazu haben wir mit der Pflegereform 2008 die Grundlagen geschaffen. Es ist daher eine trügerische Freiheit, die wir in der Eingliederungshilfe nicht wollen. Hier arbeiten die Leistungserbringer seit vielen Jahren erfolgreich mit den Kostenträgern zusammen. Die Wahlfreiheit der Menschen wird nicht durch die Anzahl der konkurrierenden Angebote gewährleistet - das ist ein alter und falscher Glaube der Wirtschaftsliberalen! Im Gegensatz zur Pflegeversicherung herrscht das Individualisierungsprinzip. Die Wahlfreiheit ergibt sich aus dem Anspruch eines jeden Einzelnen, bedarfsgerechte Leistungen selbst wählen zu können. Sie wird gefördert durch die Stärkung von persönlichen Budgets - eines der Instrumente des SGB IX. Wir fördern sie auch durch den Aufbau eines ambulanten Dienstleistungs- und Unterstützungssystems für gemeindenahe Hilfen. Wir fördern sie durch die Unterstützung für Eltern und Kinder mit Behinderung. All das sind Elemente unserer Politik, die sich ganz auf die Wahlfreiheit der Menschen und auf selbstbestimmte Teilhabe ausrichten. Einen Verdrängungswettbewerb um die Leistungserbringung brauchen wir nicht. Wir überlassen es den Trägern der Eingliederungshilfe zu entscheiden, welcher Bedarf an Ergänzungen der Trägerstruktur vor Ort besteht. Es gehört in die Entscheidungshoheit der Kostenträger, welche Maßnahme zur bedarfsgerechten Leistungserbringung angemessen ist. Daran soll sich auch die Trägerstruktur orientieren, Wir verzichten aber nicht darauf, die Kosten- und Leistungsträger weiter zu einer bedarfsgerechten und teilhabeorientierten Vorgehensweise anzuhalten. Wir drängen darauf, dass die Zumutbarkeit enger ausgelegt wird als bisher oder sogar eine Änderung erreicht wird. Wir wollen auch über die Deckelung des Persönlichen Budgets erneut beraten. Ich denke, das sind ausgezeichnete Wege, die Wahlfreiheit der Menschen zu stärken. Denn wir Zu Protokoll gegebene Reden Silvia Schmidt ({0}) wollen die Eingliederungshilfe als bedarfsdeckende individuelle Teilhabeleistung weiterentwickeln und neu ordnen. Lieber Herr Rohde, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns hier gemeinsam ansetzen. Es braucht eine Reform der Eingliederungshilfe - dass will ich nicht verhehlen -;aber Sie kennen auch die politischen Rahmenbedingungen. Zu den Schiedsstellen. Auch eine begrenzte Erweiterung der Schiedsstellenfähigkeit für den Bereich der Eingliederungshilfe dürfte aktuell keine Aussicht auf Erfolg haben. Die Länder lehnen es ab, die Leistungsvereinbarung in die Entscheidungskompetenz der Schiedsstelle zu legen. Diese könnte damit im Streitfall auf Antrag einer Partei auch die Leistungsstandards einschließlich der personellen Ausstattung einer Einrichtung bestimmen. Der Vorsitz der Schiedsstelle würde darüber befinden müssen, welcher Leistungsstandard für eine bedarfsgerechte Hilfe erforderlich ist. Diese Anforderungen an das fachpolitische und pädagogisch-therapeutische Beurteilungsvermögen dieser einen Person wären nicht zu erfüllen. Eine Leistungssteuerung im Sinne einer systematisch aufeinander abgestimmten Fach- und Finanzverantwortung bliebe dabei auf der Strecke. Darüber ist mit den Ländern schon ausgiebig verhandelt worden. Es besteht hier keine realistische Aussicht, und ich hielte sie auch fachlich für nicht gerechtfertigt.

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lassen Sie mich meine Rede mit einem Zitat beginnen. Im Koalitionsvertrag von 2005 haben Union und SPD Folgendes vereinbart: … Gemeinsam mit den Ländern, Kommunen und den Verbänden behinderter Menschen werden wir die Leistungsstrukturen der Eingliederungshilfe so weiterentwickeln, dass auch künftig ein effizientes und leistungsfähiges System zur Verfügung steht. Dabei haben der Grundsatz „ambulant vor stationär“, die Verzahnung ambulanter und stationärer Dienste, Leistungserbringung „aus einer Hand“ sowie die Umsetzung der Einführung des Persönlichen Budgets einen zentralen Stellenwert. Wir wollen, dass die Leistungen zur Teilhabe an Gesellschaft und Arbeitsleben zeitnah und umfassend erbracht werden. Hierzu bedarf es der effektiven Zusammenarbeit der Sozialleistungsträger. Die berufliche Integration von Menschen mit Behinderungen werden wir intensivieren. Wir wollen, dass mehr von ihnen die Möglichkeit haben, außerhalb von Werkstätten für behinderte Menschen ihren Lebensunterhalt im allgemeinen Arbeitsmarkt erarbeiten zu können. Dabei werden wir auch prüfen, wie die Eingliederungszuschüsse an Arbeitgeber ausgestaltet werden, um die Planungssicherheit für die dauerhafte Integration von behinderten Arbeitnehmern in neue Beschäftigung zu verbessern. Meine sehr verehrten Damen und Herren der Regierungskoalition: Wenn Sie dieses Versprechen eingelöst hätten, würden wir heute nicht die vorliegenden Anträge diskutieren. Denn die traurige Realität von drei Jahren schwarz-roter Behindertenpolitik ist: Es gibt sie nicht! Nichts ist passiert in all den Jahren. Weder ist es Ihnen von SPD, CDU und CSU gelungen, dem Trägerübergreifenden Persönlichen Budget zum Erfolg zu verhelfen, noch konnten Sie die Arbeitslosigkeit unter Behinderten nennenswert senken. Ihre Wahlversprechen und die Absichtserklärungen des Koalitionsvertrages haben sich in Schall und Rauch aufgelöst. Geblieben ist nichts. Einer grundlegenden Reform der Eingliederungshilfe ist man im Ministerium für Arbeit und Soziales keinen einzigen Schritt näher gekommen. Symptomatisch für die eingefrorene Behindertenpolitik der Großen Koalition ist auch die von der Behindertenbeauftragten der Bundesregierung betreute Homepage www.sgb-IX-umsetzen.de. Unter der Überschrift „Neuigkeiten“ wird einem hier ein Eckpunktepapier von 2005, also von vor vier Jahren, offeriert. Allein der Begrüßungstext wurde beim Wechsel von Karl-Hermann Haack zu Karin Evers-Meyer verändert, ansonsten sieht die Bundesregierung anscheinend keinen weiteren Umsetzungsbedarf mehr beim SGB IX. Menschen mit Behinderungen genießen bei der Bundesregierung ganz offensichtlich keine Priorität. Es muss deshalb nicht verwundern, dass allein die Fraktionen der Opposition immer wieder mit Vorschlägen zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe und damit auch zur Optimierung der Teilhabechancen von Menschen mit Behinderung in die Bresche springen. Damit komme ich zu den heute zur Beratung vorliegenden Anträgen. Mehr ambulante Angebote, mehr Leistungsvielfalt, ein funktionierendes Wunsch- und Wahlrecht - all das kann es nur geben, wenn der Vielzahl von Leistungsempfängern mit ihren individuellen Pflege- und Betreuungsbedürfnissen ein entsprechend plurales Leistungsangebot gegenübersteht. Daran mangelt es derzeit. Einer der Hauptgründe für die Existenz von Oligopolen im Sozialmarkt ist der schwierige Markteintritt für neue Leistungsanbieter. Wer Leistungen für behinderte Menschen anbieten möchte, muss vom Kostenträger dafür zugelassen werden. Einen Anspruch auf Zulassung gibt es aber nicht, die Entscheidung über eine Zulassung liegt im Ermessen des Trägers. Träger, denen die Zulassung verweigert wird, können auch keine Schiedsstellen anrufen, sondern müssen den Weg über die Gerichte suchen. Die Zahl der Leistungserbringer und damit die Pluralität des Leistungsangebotes kann somit, zum Nachteil der Menschen mit Behinderung, begrenzt werden. Bei der Pflegeversicherung geht man bereits andere Wege: Hier haben Leistungsanbieter, sofern sie bestimmte Qualitätsvorgaben erfüllen, einen Anspruch auf Zulassung zur Leistungserbringung. Die FDP fordert deshalb die Bundesregierung auf, die Zulassung zur Erbringung von Leistungen der Eingliederungshilfe offener zu gestalten. Wer gesetzlich zu definierende Qualitätskriterien erfüllt und die Leistungen zu einem marktgerechten Preis anbietet, muss wenigstens das Recht zugestanden Zu Protokoll gegebene Reden bekommen, vor einer Schiedsstelle gegen eine Ablehnung vom Kostenträger vorzugehen. Darüber hinaus fordern wir Liberale die Bundesregierung auf, zu überprüfen, ob die Schaffung eines Anspruchs auf Zulassung, wie es ihn bereits jetzt im SGB XI gibt, auch bei der Eingliederungshilfe zielführend wäre. Wunsch- und Wahlfreiheit des behinderten Menschen bedeutet, dass dieser sich nach Möglichkeit seinen Leistungsanbieter selbst aussuchen kann. Die Interessen des Kostenträgers bleiben auch bei unserem Vorschlag, etwa durch Fortbestand des Mehrkostenvorbehalts, gewahrt. Leistungs- und Anbietervielfalt kann es nur mit mehr Markt im Sozialmarkt geben. Dafür steht die FDP. Ausdrücklich begrüße ich den Ansatz der Initiative der Grünen, die Leistungsform des Persönlichen Budgets auch bei der beruflichen Teilhabe zu stärken. Immer mehr Menschen mit Behinderung befinden sich in der Klemme, dass sie in der Werkstatt unterfordert und auf dem regulären Arbeitsmarkt überfordert sind. Das Persönliche Budget kann hier ein geeignetes Instrument sein, behinderten Menschen berufliche Teilhabe individuell nach ihren Fähigkeiten und Unterstützungsbedarf zu ermöglichen. Ich freue mich darauf, im Ausschuss detailliert den Antrag der Grünen zu beraten.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Jedes Land dieser Welt muss sich künftig in der Behindertenpolitik an der Umsetzung der am 13. Dezember 2006 in der UN-Vollversammlung verabschiedeten und seit dem 3. Mai 2008 in Kraft getretenen UN-Konvention über die Rechte von behinderten Menschen messen lassen. Dies gilt auch für die Bundesrepublik Deutschland, welche zwar zu den Erstunterzeichnern der Konvention gehörte, diese aber noch nicht ratifiziert hat. Es geht um die umfassende Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, um Barrierefreiheit und Nachteilsausgleich. Notwendig sind also erstens eine breite Diskussion in der Gesellschaft über die Rechte von behinderten Menschen, bestehende Defizite und Barrieren, zweitens die nationale Gesetzgebung, einschließlich die der Bundesländer, im Sinne der UN-Konvention zu überprüfen, zu ergänzen bzw. zu ändern und drittens das dann neu geltende Recht in die Praxis umzusetzen. Die vorliegenden Anträge von FDP und Bündnis 90/ Die Grünen geben uns die Möglichkeit, hier im Hohen Haus abermals darüber zu reden, machen sie doch auf bestehende Probleme bei der beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen aufmerksam. In diesem Zusammenhang wichtige Artikel der UN-Konvention sind das Recht auf Bildung - Art. 24 - sowie auf Arbeit und Beschäftigung - Art. 27. Wie ist die Situation in Deutschland? Der Anteil an Menschen mit Behinderungen ist mit circa 10 Prozent ähnlich hoch wie in allen anderen Ländern der Erde. Es gibt körperliche Beeinträchtigungen, mentale, sogenannte geistige, Beeinträchtigungen der Sinnesorgane sowie chronische und psychische Erkrankungen. Es gibt Behinderungen von Geburt an, infolge von Krankheit und Unfällen oder altersbedingte. Die Mehrzahl der Menschen mit Behinderungen in Deutschland wird zwar irgendwie versorgt und betreut, hat aber nicht oder nur eingeschränkt die Möglichkeit der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Das beginnt mit dem Lernen in einer Sonderschule, geht weiter mit der Berufsausbildung in einer speziellen Einrichtung, der Arbeit in einer Behindertenwerkstatt und endet mit dem Lebensabend in einem Heim. Verwunderlich ist, dass es noch keine Sonderfriedhöfe gibt. Nur 14 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen lernen in einer Regelschule, Tendenz abnehmend, EU-Quote circa 60 Prozent. 80 Prozent von ihnen verlassen die Schule ohne Abschluss, statistisch gesehen, erreichen 0 Prozent das Abitur. Die Chance, von der Sonderschule den Übergang auf eine Regelschule zu schaffen, existiert so gut wie gar nicht. Inklusiv unterrichtet wird hauptsächlich in Grundschulen, in der Sekundarstufe nimmt die Integrationsquote deutlich ab. Der Bundesregierung - nimmt man ihren aktuellen Bildungsbericht zur Hand - scheint das egal zu sein. Lediglich die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Karin Evers-Meyer, spricht hier klare Worte: Der Weg des Aussonderns und Sortierens hat uns in eine Sackgasse geführt. Es wird Zeit, dass dieser Erkenntnis endlich Taten folgen. Wir brauchen Schulen für alle, in der jedes Kind individuell gefördert wird … Wer auf einer Sonderschule war, hat später kaum noch eine Chance auf berufliche Eingliederung. Im Schnitt gehen mehr als 80 Prozent dieser Kinder in eine Werkstatt für behinderte Menschen. Die beruflichen Chancen von behinderten Kindern, die auf einer Regelschule unterrichtet wurden, liegen dagegen um ein Vielfaches höher. Das ist nicht nur eine unfassbare gesellschaftliche Diskriminierung. Das ist volkswirtschaftlicher Unsinn. Leider scheint Evers-Meyer die einzige in der Bundesregierung mit behindertenpolitischer Kompetenz zu sein. Da sie aber nur Beauftragte der Bundesregierung ist, hat sie nichts zu entscheiden. Eine reine Alibifunktion braucht niemand. Ein Recht auf inklusive Bildung ist im nationalen Recht durchaus verankert: Im Grundgesetz - Art. 3 Abs. 3; Art. 7 Abs. 1 -, im Bundesgleichstellungsgesetz und im Allgemeinen Gleichstellungsgesetz. Langfristig muss deswegen meines Erachtens das Ziel die Etablierung einer Schule für alle sein. Das heißt mittelfristig Abschaffung der Sonderschulen. Wir müssen sie überflüssig machen. Das erfordert einen pädagogischen, personalen und baulichen Umbau der Regelschulen. Auch andere Zahlen sprechen für sich: Während sich die Zahl der in den Werkstätten beschäftigten Menschen mit Behinderungen von 1994 bis 2006 von circa 150 000 auf circa 270 000 erhöhte, bleibt die Zahl der bei den Arbeitsämtern und Jobcentern als arbeitsuchend registrierten Menschen mit Behinderungen überdurchschnittlich hoch - sie haben auch laut dem letzten Arbeitsmarktbericht der Bundesregierung am wenigsten von der Konjunktur profitiert. Wir brauchen, und dies sei auch mit Blick auf die vorliegenden Anträge gesagt, andere Grundlagen und RahZu Protokoll gegebene Reden menbedingungen für mehr Wahlfreiheit und Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen. Wir brauchen einen wirklichen Nachteilsausgleich der sich am Bedarf ausrichtet, unabhängig von der Ursache für die Behinderung und unabhängig von Einkommen und Vermögen der Betroffenen und ihrer Angehörigen. Meine Fraktion Die Linke hat mit ihrem Antrag auf Schaffung eines Nachteilsausgleichgesetzes, Drucksache 16/3698 vom 30. November 2006, entsprechende Vorschläge unterbreitet, und viele Sachverständige haben in der erst kürzlich stattgefundenen Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales die Notwendigkeit für solch ein Gesetz unterstrichen. Das schließt nicht aus - um auf den FDP-Antrag noch einmal zurückzukommen - dass wir etwas für eine breitere Angebotsvielfalt bei der Eingliederungshilfe tun. Aber dies mit dem Ziel, etwas für die Betroffenen zu tun und nicht, um einen Unterbietungswettbewerb mit immer schlechteren Bedingungen und Löhnen zu forcieren. Das schließt auch nicht aus, die von den Grünen aufgezeigten Widersprüche und Hemmnisse im Sozialrecht aufzulösen, denn es geht um die Förderung von Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und nicht um deren Verhinderung durch fehlende Kompatibilität der einzelnen Sozialgesetzbücher und anderen gesetzlichen Regelungen. Auch das vielgepriesene Wundermittel Persönliches Budget wird seine Wirkungen nicht entfalten können, wenn die Kardinalfehler bleiben: die Kopplung an die Bedürftigkeit und die Begrenzung der Leistungen auf dem Niveau bisheriger Sachleistungen anstatt auf den behinderungsbedingten Bedarf abzustellen. Auch bei der Eingliederungshilfe zeigt sich, dass die Betroffenen selbst und ihre Interessenvertretungen aktiv einzubeziehen sind. Dazu gehören unter anderem die Hinweise der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe, BAGüS, zur praktischen Umsetzung der Empfehlungen des deutschen Vereins zur Weiterentwicklung zentraler Strukturen in der Eingliederungshilfe vom Mai dieses Jahres. Mein Fazit: Berufliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wäre eine von vielen Maßnahmen auf dem Weg zur vollen Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die UN-Konvention gibt das Ziel vor. Wir haben noch lange Strecken zurückzulegen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Eingliederungshilfe hat es bislang nicht vermocht, den Bedürfnissen nach mehr Selbstständigkeit und Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen nachzukommen. Das System der Hilfen in seiner jetzigen Form wird den Lebenswirklichkeiten längst nicht immer gerecht und schöpft auch die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu Verwirklichung eines eigenständigen Lebens nicht aus. Eine Unterstützungslandschaft mit einer Vielfalt unabhängiger Leistungsanbieter steckt noch in den Kinderschuhen. Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat im Januar dieses Jahres einen umfassenden Antrag zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe in den Bundestag eingebracht mit dem Titel: „Die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen weiterentwickeln“, Drucksache 16/7748. Dieser Antrag sowie ein Antrag der Fraktion Die Linke, „Gesetz zum Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile vorlegen“, Drucksache 16/3698, waren am 2. Juni 2008 Gegenstand einer Anhörung im Ausschuss Arbeit und Soziales. Ohne der weiteren Diskussion im Ausschuss vorwegzugreifen, muss man doch feststellen, dass eine überwiegende Mehrheit der Sachverständigen die überwiegende Mehrheit unserer Forderungen ausdrücklich gut heißt. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger, BAGüS, erklärt in ihrer schriftlichen Stellungnahme, dass erste Ergebnisse zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe seitens der Länder „noch in diesem Jahr mit allen Beteiligten diskutiert werden“. Spätestens dann ist auch die Bundesregierung in der Bringschuld. Es liegen genügend vernünftige Vorschläge zu Gesetzesänderungen auf dem Tisch. Ein weiteres Ergebnis der Anhörung am 2. Juni 2008 war, dass natürlich auch der Bereich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe in das Zentrum der Bemühungen gerückt werden muss. Dieser Teil würde im Antrag der Grünen Bundestagsfraktion nur am Rande erwähnt, so der Vorwurf. Diesen Schuh ziehen wir uns gerne an. Nur in einem Punkt haben wir auf die Probleme im Zusammenhang mit den Werkstätten für behinderte Menschen, WfbM, hingewiesen, doch das aus gutem Grund. Schon jetzt ist unser Antrag zur Eingliederungshilfe mit insgesamt sechzehn Forderungen und zwölf Seiten äußerst umfangreich und komplex. Das Thema „Teilhabe am Arbeitsleben“ kann da nicht in einem Abwasch mitgenommen werden. Hierfür bedarf es ausgewogener und überlegter Initiativen, die einem abgestimmten Gesamtkonzept folgen müssen. Geschieht dies nicht, kommt so etwas heraus, was die Arbeit der Bundesregierung bzw. der Bundesagentur für Arbeit prägt: purer Aktionismus und die Gefahr der sequenziellen Betrachtung. Der jüngst vorgelegte Referentenentwurf zur unterstützten Beschäftigung sowie die Maßnahme „Diagnose-Arbeitsmarktfähigkeit“, DIA AM, sind die besten Beispiele für solch eine Politik. In dieses Horn bläst nun auch der Antrag der FDP „Wettbewerb in der Eingliederungshilfe stärken - …“, Drucksache 16/9451. Es steht außer Frage, dass die Inanspruchnahme ambulanter Leistungen in der Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch oft an der nicht ausreichend vorhandenen Angebotsvielfalt ambulanter Dienste scheitert. Die fehlenden Angebotsstrukturen wurden auch ganz klar von den Sachverständigen am 2. Juni kritisiert. Ebenso sollte außer Frage stehen, dass auch private Träger Leistungen anbieten sollen, sofern die Qualität stimmt. Jetzt hier aber mit einem Antrag „aufzukreuzen“, der diese hochkomplexe Thematik auf die Ausführungen eines einzigen Vorschlages beschränkt, ist politisches Harakiri. Die FDP hat die Debatte um die Eingliederungshilfe verschlafen. Wahrscheinlich hat sie sich sogar nie richtig dafür interessiert. Anders ist auch nicht zu erklären, welch unterschiedliche Töne von dieser Fraktion kommen. Erst im Mai des vergangenen Jahres wollte die FDP in einer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung, Zu Protokoll gegebene Reden Drucksache 16/5347, wissen, warum die Leistungen der Eingliederungshilfe nicht vergaberechtlich ausgeschrieben würden. Nur so könne ein Wettbewerb unter den Leistungserbringern um die effizienteste und wirtschaftlichste Dienstleistung entstehen. Eine vergaberechtliche Ausschreibung in diesem Fall schränkt aber gerade die Anzahl der Anbieter ein. Am Ende wird ein Anbieter vom Sozialhilfeträger ausgewählt, der womöglich aus Kostengründen einfach der billigste wäre. Die Qualität bliebe auf der Strecke. Außerdem würde das, was die FDP in ihrem jetzigen Antrag fordert - die Wahlfreiheit und Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderung -, auf der Strecke bleiben. Die Anhörung am 2. Juni zur Eingliederungshilfe hat hingegen ganz viele Hinweise gegeben, wie man zu einer größeren Angebotsvielfalt kommen könnte. So gibt es die Möglichkeit, die objektive Strukturverantwortung der Rehabilitationsträger nach § 19 SGB IX - gemeinsam auf die Entwicklung der notwendigen vielfältigen Angebotsstrukturen hinzuwirken - auch aufsichtsrechtlich durchzusetzen. Ein weiterer Vorschlag ist, die Transparenz des Leistungsangebotes zu erhöhen. Bisher sind Leistungsart und Leistungsintensität schwer zu entschlüsseln. Möglich wäre, diese einrichtungsübergreifend und überregional zu beschreiben. So würden differenzierte Leistungsangebote sichtbar und könnten individuell genutzt werden. Ein Problem ist auch, dass die Grundsätze der Investitionsförderung - das heißt Zweckbindung der Gebäude, Abschreibung sowie Tilgung von Darlehen - die Umsetzung ambulanter Vorhaben hemmen. Hier sollten die Förderbestimmungen hinsichtlich der Angleichung der Leistungsformen, ambulant/stationär, geändert und frühzeitig Klarheit zwischen Zuwendungsgeber und -nehmer getroffen werden. Außerdem sollten weitere Rahmenbedingungen geschaffen werden, wie wohnortintegrierte Leistungsangebote, Beratungs- und Begegnungsmöglichkeiten, barrierefreier Wohnraum, Kultur- und Freizeitangebote usw., eine ganze Palette an Vorschlägen also, die mit dem Antrag der FDP nicht leichtfertig übers Knie gebrochen werden dürfen. Um das Wunsch- und Wahlrecht sowie die Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen endlich konsequent durchzusetzen, hat die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen schon in dem Antrag zur Eingliederungshilfe entsprechende Forderungen aufgenommen. Damit dieses Wunsch- und Wahlrecht nun auch für den Bereich der beruflichen Teilhabe gilt, fordern wir die Bundesregierung in dem aktuellen Antrag „Persönliche Budgets für berufliche Teilhabe jetzt ermöglichen!“, Drucksache 16/9753, auf, die Schwierigkeiten bei der Inanspruchnahme des Persönlichen Budgets zu beheben. Denn es steht doch außer Frage: Nimmt man Selbstbestimmung, Wunsch- und Wahlrecht wirklich ernst, so muss den Menschen mit Behinderungen die Leistung direkt zukommen. Nur so können sie selbst entscheiden, welche Hilfe sie sich davon einkaufen. Das Persönliche Budget stellt das zentrale Instrument hierfür dar. Eine konsequente personenbezogene Sozialpolitik ist zudem der größte Garant dafür, auch Wettbewerb unter den Leistungserbringern zu erzeugen. Der oder die Einzelne achtet stärker auf Kosten und Qualität.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Es wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 16/9451 und 16/9753 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt keine Einwände. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung. Inzwischen ist abzusehen, wer der Gegner der deutschen Mannschaft am kommenden Sonntag in Wien sein wird. ({0}) - Bisher liegen keine Anträge auf Einberufung einer Sondersitzung des Bundestages am kommenden Sonntag vor. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 27. Juni 2008, um 9 Uhr, ein. Ich wünsche allen noch einen schönen Abend. Die Sitzung ist geschlossen.