Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/31/2002

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Bevor wir mit der Tagesordnung beginnen, möchte ich mitteilen, dass heute zum letzten Mal Herr Dr. Peter Eickenboom als Direktor beim Deutschen Bundestag hinter mir Platz genommen hat. Er hat dieses Amt in der vergangenen Wahlperiode, die mit der Verlegung des Sitzes des Parlaments nach Berlin höchste Anforderungen stellte, mit großer Kompetenz und - wie ich finde - sehr erfolgreich wahrgenommen. Dafür danke ich ihm persönlich und im Namen des Hauses. ({0}) Für seine Aufgabe im Bundesministerium der Verteidigung wünsche ich ihm viel Erfolg. ({1}) Wir kommen nun zum einzigen Punkt unserer heutigen Tagesordnung: Fortsetzung der Aussprache zur Regierungserklärung des Bundeskanzlers Ich erinnere noch einmal daran, dass wir am Dienstag für die heutige Aussprache drei Stunden beschlossen haben. Wir beginnen die heutige Aussprache mit den Themenbereichen Verbraucherschutz und Landwirtschaft. Ich gebe das Wort an die Bundesministerin Renate Künast.

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Warum ist Verbraucherschutz so wichtig? - Weil er uns alle angeht, weil er uns alle quasi in jeder Situation des Alltags und in fast allen Lebensbereichen betrifft. Schauen wir uns einmal die Neuentwicklungen an. Es gibt neue Technologien und dadurch neue Vertragsarten. Denken Sie zum Beispiel an den E-Commerce, wobei ich wetten möchte, dass ein Großteil der Mitglieder dieses Hauses das Medium E-Commerce überhaupt noch nicht genutzt hat. ({0}) - Natürlich ruft irgendwo einer „Doch!“, Frau Kopp. Das glaube ich sofort. Dies ist auch keine Abwertung. Aber noch nicht einmal 30 Prozent der Menschen nutzt dieses Medium. Was bedeutet das? Der Großteil der Menschen weiß gar nicht, wie die Vertragspartner dabei aussehen. Der Vertragspartner hat dabei gar kein persönliches Gesicht mehr. Die Vertragsgestaltung wird immer unübersichtlicher und komplizierter. Plötzlich stellt sich dem Verbraucher dann die Frage, wie er bloß in die Situation gekommen ist, finanzielle Verpflichtungen einzugehen, die jeden Rahmen sprengen. Habe ich überhaupt gewusst, dass ich einen Vertrag abschließe? Habe ich überhaupt ausreichend Informationen über die Vertragsgestaltung gehabt? Gerade mit Blick auf die neuen Vertragsarten, auf die neuen Technologien heißt Verbraucherschutzpolitik, die Menschen vor finanziellen Schäden und vor Täuschung zu schützen, indem man einen rechtlichen Rahmen setzt. ({1}) - Ich sehe, die CDU zeigt der Aufforderung der Fraktionsvorsitzenden entsprechend jetzt auch Interesse an dem Thema Verbraucherschutz, ({2}) weil sie gemerkt hat, dass in den Städten Verbraucher wohnen. ({3}) - Auf dem Land auch. Sehen Sie, ich merke, bei Ihnen gibt es einen richtigen Erkenntnisschub. ({4}) Ich habe immer schon und auch in der letzten Legislaturperiode gesagt: Auch Bauern sind Verbraucher, zum Beispiel wenn sie Saatgut kaufen. Gut, dass auch Sie es merken. Einer der brisantesten Punkte im Bereich Verbraucherschutz ist für uns immer noch das Thema Gesundheit. Manchmal steht nämlich auch die Gesundheit von Menschen auf dem Spiel. Hier geht es um Sicherheit. Für uns wird es immer heißen - das bekräftigen wir auch jetzt -: Der Schutz der Gesundheit hat Priorität vor wirtschaftlichen Interessen Einzelner. Was steht in dieser Legislaturperiode an? Als Erstes wieder das Verbraucherinformationsgesetz. Wir werden es neu einbringen, weil die Menschen ein Recht darauf haben, zu wissen, was enthalten ist: in den Verträgen, in allen Produkten, die sie kaufen, und in den Dienstleistungen. ({5}) Wir wollen, dass die Verbraucher von den Behörden über konkrete Gefahren informiert werden. Wir meinen auch, dass die Wirtschaft an dieser Stelle ein verlässlicher Partner werden und Auskünfte geben muss. Wir sind uns auf jeden Fall sicher, dass wir nicht mehr im Mittelalter leben und man Informationen vor der Bevölkerung nicht quasi geheim halten muss. ({6}) Zum Thema Sicherheit gehört auch das Produktsicherheitsgesetz. Produkte müssen grundsätzlich Mindestanforderungen an Sicherheit einhalten. Deshalb gibt es hier jede Menge Regelungsbedarf. Ich nenne ein Beispiel, das Sie alle aus den Zeitungen kennen und das nachgerade kurios erscheint: die Kordeln an Kinderjacken, die immer wieder, wenn sie zum Beispiel mit nicht entsprechend gebauten Geräten auf Kinderspielplätzen zusammenkommen, im wahrsten Sinne des Wortes zu Lebensgefahr führen. Daran erkennt man, dass ein Begriff wie Produktsicherheitsgesetz im Lebensalltag von Bedeutung sein kann. Wir haben uns in der Koalition darauf verständigt, in dieser Legislaturperiode die Aufgaben in einem Aktionsplan Verbraucherschutz zusammenzufassen, um ganz klar zu sagen, welche Details wir in den nächsten vier Jahren regeln wollen. Wir werden den Verbraucherschutz durch einen regelmäßigen Fortschrittsbericht auch immer wieder hier zum Thema machen - zum Schutze der Verbraucher. ({7}) Es ist längst klar, was erste Punkte eines solchen Aktionsplanes sein werden, bei denen akuter Handlungsbedarf besteht. Fangen wir mit dem Bereich Telekommunikation an. Hier geht es vor allem darum, die neuen Missbrauchstatbestände anzugehen. Technische Neuerungen führen zu mehr Missbrauchsmöglichkeiten. Lock-Anrufe oder -SMS im Mobilfunk fordern zur Benutzung von 0190-Nummern oder auch zu kostenpflichtigen Rückgesprächen auf. Das trifft am Ende nicht nur die Privathaushalte, sondern oftmals auch den Mittelstand. Im Wettbewerbsrecht geht es um das UWG. Es braucht eine grundlegende Reform. Zum Beispiel werden die Verbraucher in Zukunft nicht nur zweimal im Jahr die Möglichkeit haben, Rabatte zu genießen, sondern das ganze Jahr über. Dann muss das Ganze aber so gestaltet werden, dass nicht unter Einkaufspreis verkauft wird. Sonst könnte der Mittelstand am Ende überhaupt nicht mithalten und dort gingen Arbeitsplätze verloren. Auch hier werden wir tätig. ({8}) Der Bereich der Finanzdienstleistungen ist ein weiterer wichtiger Punkt. Täglich werden in erheblichem Umfange Versicherungen zu Bedingungen abgeschlossen, die von den Versicherungsnehmern am Ende gar nicht erfüllt werden können. Wir werden die Anbieter zu verbesserter Beratung verpflichten. Wir brauchen Rücktrittsrechte und Schadensersatzansprüche, wenn die Anbieter ihren Pflichten nicht nachgekommen sind. Meine Damen und Herren, Verbraucherschutz braucht eine feste Verankerung im öffentlichen Bewusstsein. Wir brauchen Verbraucher, die klugen Konsum praktizieren können. Deshalb werden Aufklärung, Information und Beratung von Verbrauchern für uns ein Thema sein. Sie alle kennen die Frage, wie Produkte, zum Beispiel Lebensmittel, überhaupt hergestellt worden sind. Jeder möchte gerne wissen, ob hinter einem Kakao oder einem Teppich Kinderarbeit steckt. Genau das werden wir erfüllen. ({9}) Das bedeutet - das sage ich ganz klar - für die einheimische Wirtschaft kein Problem, sondern einen Standortvorteil, da sie davon profitiert, dass die Verbraucher diese Produkte nicht kaufen. Früher hat man die Ersten bestaunt, die Umweltverpackungen für Joghurt wählten. Heute ist das selbstverständlich. Ich glaube, es wird in einigen Jahren auch selbstverständlich sein, dass Verbraucherschutz und Verbraucherinformation zum Image einer Firma gehören. ({10}) 425 Millionen Verbraucherinnen und Verbraucher in der EU wollen, dass ihre Interessen wahrgenommen werden. Sie wollen und werden ihre Macht entsprechend einsetzen. Wir wollen in Europa federführend in Sachen Verbraucherschutz sein. Wir sehen ganz klar, dass auch die Kommission und das Europäische Parlament den Verbraucherschutz ganz vorn auf ihre Arbeitslisten schreiben. Wir haben das Grünbuch Verbraucherschutz. Die Kommission hat für das nächste Jahr konkrete Vorschläge für den Bereich Finanzdienstleistungen angekündigt. Da wollen wir nicht hinten sein. Wenn wir schon einmal bei dem Thema des großen Europas und der Brüsseler Entscheidungen sind, können wir auch gleich auf die wichtige Brüsseler Entscheidung aus der letzten Woche zur Erweiterung und zur Finanzierung dieser Erweiterung der Europäischen Union zu sprechen kommen. Damit wurde eine verlässliche Entscheidung über die Frage der Finanzierung des Agrarbereichs getroffen. Wir wissen nun, welche Mittel hierfür zur Verfü296 gung stehen werden. 2006 werden dies 45,3 Milliarden Euro sein, 2013 48,5 Milliarden Euro. Nachdem das entschieden wurde und wir nicht mehr immer nur über Finanzen reden müssen, ist der Kopf endlich frei, um über die ganz konkreten Reformen nachzudenken, die im Agrarbereich nötig sind. ({11}) Ich freue mich, dass Kommissar Fischler gesagt hat, er werde seine Vorschläge in Form einer Gesetzesvorlage Ende des Jahres vorlegen. Ich stimme ihm darin ausdrücklich zu. Wir haben auch in der Koalition vereinbart, die gemeinsame Agrarpolitik auf europäischer Ebene weiterzuentwickeln. Dabei dürfen wir keine Zeit verlieren. In der Marktpolitik haben wir die Situation, dass alte Regelungen von Zahlungen an Landwirte auslaufen werden. Sie werden auch bei der WTO keine Verlängerung finden. Das heißt, man muss den Landwirten zeigen, wo es in Zukunft langgeht und welche Regeln gelten werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen eine Förderung des ländlichen Raums. Das heißt aber nicht, dass nur die Bauern gefördert werden. Manche begreifen das gerne als abgeschlossenen Bereich. Es geht vielmehr darum, lebensfähige Infrastrukturen auf dem Lande zu schaffen. Die ländlichen Räume müssen so attraktiv werden, dass dort Arbeitsplätze entstehen, und zwar sowohl im konkreten Bereich Landwirtschaft als auch in benachbarten Bereichen, ob das nun der Bereich Energie oder Tourismus ist. ({12}) Wir brauchen deshalb die Modulation - Fischler wird dazu Vorschläge machen -, weil 80 Prozent der Fläche der Bundesrepublik land- und forstwirtschaftlich bearbeitet werden. Wir brauchen aber auch deshalb Reformen, weil im September nächsten Jahres WTO-Verhandlungen in Cancun in Mexiko anstehen. Dort wird es darum gehen, alte handelsverzerrende Wirkungen von Direktzahlungen abzubauen. Gerade deshalb ist es gut und richtig, dass Kommissar Fischler vorgeschlagen hat, die Direktzahlungen zu entkoppeln; denn nur Direktzahlungen, die von der Produktionsmenge entkoppelt sind, werden die nächsten WTO-Verhandlungen überleben. ({13}) Wir wissen, dass dahinter aber noch ein anderer Aspekt steht, der mit globaler Gerechtigkeit zu tun hat: Für das Überleben der Landwirtschaft in der EU und in Deutschland ist es wichtig, der nächsten WTO-Runde zu einem Erfolg zu verhelfen. Wir wollen, dass im ländlichen Raum für die Landwirtschaft Zukunft besteht. Wir wollen aber auch, dass Menschen in anderen Ländern leben können und nicht wir auf ihre Kosten leben und sie von großen Konzernen ausgepresst werden. ({14}) Schon allein deshalb ist es also richtig, dass wir uns darum bemühen, dass die nächste WTO-Runde für uns, für die Entwicklungsländer sowie für den Umwelt-, den Tierund den Verbraucherschutz ein Erfolg wird. ({15}) Wir haben in dieser Koalition vereinbart, dass bei der Konsolidierung des Haushaltes - dieser Zwang besteht ja auch die Landwirtschaft mitmacht. Es werden zum Beispiel die ermäßigten Steuersätze abgeschafft. Auch die Privilegien müssen weg. Wir werden gleichzeitig aber auch die nötigen Spielräume für nachhaltige Landnutzung und artgerechte Tierhaltung schaffen und halten. Das hat Bestand auch vor der WTO. Wir werden mit dem Aktionsprogramm Ökologischer Landbau weitermachen und mit einem Aktionsprogramm Bäuerliche Landwirtschaft. Ich bitte Sie alle, folgenden Punkt zu sehen. Wir reden bei der Landwirtschaft nicht über einen abgeschlossenen Bereich. Wir reden hier vielmehr über den gesamten Bereich Landwirtschaft, der auch die Lebensmittel- und Ernährungsindustrie umfasst. Lebensmittel führen wir täglich unserem Körper zu. Deren Qualität entscheidet über unsere Gesundheit. Darüber hinaus findet sich in diesem Bereich jeder neunte Arbeitsplatz in der Bundesrepublik Deutschland. Deswegen ist es sinnvoll, dass sich das ganze Haus um den Agrarbereich kümmert. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Gerda Hasselfeldt, CDU/CSU-Fraktion.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Wählertäuschung geht auch in der Landwirtschaft munter weiter. ({0}) In der Koalitionsvereinbarung ist noch großspurig die Rede von einer Stärkung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der landwirtschaftlichen Betriebe. Ich habe deshalb nachgesehen und danach gesucht, wo etwas über die Maßnahmen zur Stärkung zu finden ist. Ich habe leider nichts gefunden. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Man findet Aussagen über zusätzliche Steuerbelastungen, über zusätzlichen bürokratischen Aufwand und damit verbundene zusätzliche Kosten für die landwirtschaftlichen Betriebe und Aussagen über nationale Alleingänge, insbesondere im Verbraucherbereich. Meine Damen und Herren, das ist keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung der Bedingungen für die Landwirtschaft. ({1}) Nun ist zu fragen, wo da denn die Stimme der Landwirtschaftsministerin ist. Wo ist die Stimme derjenigen, die nicht nur für diesen Berufsstand, sondern auch für die Entwicklung der ländlichen Räume, der landwirtschaftliBundesministerin Renate Künast chen Betriebe, der Infrastruktur usw. in diesem Land verantwortlich ist? ({2}) Frau Künast, ich empfehle Ihnen, dass Sie sich ein Beispiel an Frankreich nehmen. Vom Staatspräsidenten über den Landwirtschaftsminister bis in zahlreiche Politikbereiche hinein ist dort zu erkennen, dass man auf die Landwirtschaft stolz ist. ({3}) Bei uns im Land tut die Regierung hingegen alles, um das Bauernsterben zu beschleunigen. ({4}) Die deutschen Landwirte hatten Glück, dass der französische Staatspräsident bei den Agrarverhandlungen am letzten Wochenende auf die volle Laufzeit der Agenda2000-Beschlüsse pochte. Frau Ministerin, wenn es nach Ihnen und dem deutschen Bundeskanzler gegangen wäre, hätten die deutschen Landwirte keine Planungssicherheit bis zum Jahr 2006 bekommen. ({5}) Es war schon ein peinlicher Auftritt des Bundeskanzlers: Zwei Staatsmänner einigten sich auf die Deckelung der Agrarausgaben. Doch nach der Einigung wusste der deutsche Bundeskanzler nicht, auf was sie sich eigentlich verständigt hatten. ({6}) Ich empfehle dem Bundeskanzler, dass er künftig nicht nur Dolmetscher, sondern auch Fachleute mitnimmt und dass er sich vor allem auf solche Gespräche besser vorbereitet; ein Aktenstudium wäre nicht das Verkehrteste. ({7}) Bis 2006 haben die Landwirte nun Planungssicherheit. Sie haben aber auch die Gewissheit, dass die Direktzahlungen ab 2007 - nach der Erweiterung - sinken werden. Deshalb wäre es richtig, die nationalen Belastungen, die den Landwirten in den vergangenen Jahren durch die nationalen Alleingänge Ihrer rot-grünen Regierung aufgebürdet wurden, wieder zurückzunehmen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Hasselfeldt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höfken?

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte gerne im Zusammenhang vortragen. ({0}) Wir sollten jetzt die Zeit nutzen, um die Reformen ab 2006 vorzubereiten, damit die Landwirte wissen, was sie ab 2006 bzw. 2007 erwartet. Die Pläne von Kommissar Fischler - Frau Ministerin hat es vorhin angesprochen lassen noch viele Fragen offen, beispielsweise wie die betriebsbezogenen Prämien ausgestaltet werden. Wir sind für alle Diskussionen offen. Klar muss aber auch sein, dass von Anfang an eine Diskussion stattfinden muss, durch die die Konsequenzen für alle offen gelegt werden und durch die sichergestellt wird, dass das Geld für die Direktbeihilfen nicht irgendwo bei Infrastrukturmaßnahmen, sondern tatsächlich bei den Wirtschaftenden landet. Nun will ich auf das eingehen, was insbesondere die Landwirte ab dem nächsten Jahr zu erwarten haben. Frau Künast, das habe ich bei Ihrer Rede vermisst. Mit einem Halbsatz haben Sie die steuerlichen Bedingungen, auf die sich die Landwirte künftig einzustellen haben, erwähnt. Das ist Gegenstand Ihrer Koalitionsvereinbarung. Die Landwirte, die Bauern, in unserem Land haben ein Recht darauf, zu wissen, was tatsächlich darin steht, so, wie die Verbraucher ein Recht darauf haben - das haben Sie eben in Bezug auf das Verbraucherinformationsgesetz gesagt -, zu wissen, was auf sie zukommt. ({1}) Das will ich ihnen jetzt sagen. Sie wollen die Vorsteuerpauschale, die es seit 1968 gibt, abschaffen. Von dieser Maßnahme sind etwa 90 Prozent aller Landwirte betroffen. ({2}) Diese Möglichkeit der Umsatzsteuerpauschalierung ermöglicht es den Landwirten, auf umfangreiche Aufzeichnungs- und Abgabepflichten zu verzichten; sie bringt eine Verwaltungsersparnis und sie ist einfach zu handhaben. Mit Ihrer Regelung, also der Abschaffung der Pauschalierung, verursachen Sie enormen zusätzlichen Verwaltungsaufwand und Kosten für die Landwirte, ganz zu schweigen von den Kosten und dem Verwaltungsaufwand der Finanzämter. ({3}) Es sind überwiegend kleine Landwirte. Sie müssen sich vorstellen, wie diese Maßnahme die Landwirte trifft. Manche arbeiten den ganzen Tag draußen auf dem Feld und im Stall. Die anderen, die außerlandwirtschaftlich arbeiten, müssen die Arbeiten in der Landwirtschaft abends - bis 22 Uhr oder 23 Uhr - erledigen. Und dann sollen sie sich noch hinsetzen, alles aufzeichnen und ihre Abgabenpflichten erfüllen. Sie haben offensichtlich keine Ahnung, wie es in kleinen landwirtschaftlichen Betrieben zugeht; sonst würden Sie das nicht machen. ({4}) Ich komme zur zweiten Maßnahme, derAbschaffung der pauschalen Gewinnermittlung bei der Einkommensteuer. Auch diese Maßnahme trifft insbesondere die kleinen Betriebe.Siehabensieohnehinschon1999eingeschränkt. Jetzt profitieren davon nur noch die ganz kleinen Betriebe. Auch dies ist ein zusätzlicher Aufwand mit zusätzlicher Buchführung und zusätzlichen Kosten für den Steuerberater. ({5}) - Nein, das haben Sie gemacht. Nun hat der Wirtschaftsminister gestern von einem Masterplan für Bürokratieabbau gesprochen. ({6}) Im Kreieren von schönen, wohlklingenden Worten sind die Kameraden groß. Aber wenn es darum geht, tatsächlich Maßnahmen zu ergreifen, die Bürokratie wirklich abzubauen, dann ist nichts mehr da. Sie brauchen bloß diese beiden Maßnahmen nicht umzusetzen, dann haben Sie schon einen Bürokratieabbau par excellence. ({7}) Sie sehen weitere Maßnahmen wie die Streichung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes für Vorprodukte und für Gartenbauerzeugnisse vor. Meine Damen und Herren, das ist nichts anderes als eine Steuererhöhung, und zwar von 7 auf wohlgemerkt 16 Prozent. ({8}) Das kann man nicht einfach mit einem halben Satz abtun, wie Sie das gemacht haben. Hinzu kommen Verschlechterungen der Abschreibungsbedingungen und vieles mehr. Fast ein Viertel des gesamten Aufkommens aus dem Einsparvolumen erbringt die Landwirtschaft. Wo war denn das Wort der Ministerin bei den Koalitionsverhandlungen? Davon ist nichts zu spüren. Das ist ein Schlag ins Gesicht der Landwirte, wie man ihn sich schlimmer nicht vorstellen kann. ({9}) Die Ministerin hat heute wohlklingende Worte zur Bedeutung des Verbraucherschutzes gesprochen. Ich habe erwartet, dass Sie endlich ein schlüssiges Konzept vorlegt. Dagegen spricht sie von einem Aktionsplan für den Verbraucherschutz. Das ist schön und klingt gut. Die Überschriften sind alle gelungen. Aber die Probleme, die Sie angesprochen haben, Frau Künast, sind nicht neu. Wir haben sie auch schon in den letzten Jahren gehabt. Damals haben Sie sich nicht darum gekümmert. Vielleicht ist auch deshalb die von Ihnen angestrebte Kompetenzverlagerung von den anderen Ressorts in Ihr Ressort nicht erfolgt, weil bisher keine schlüssige Programmatik für den Verbraucherschutz erkennbar war. ({10}) Verbraucherschutz muss umfassend wahrgenommen werden, und zwar von der gesundheitlichen über die rechtliche bis hin zur wirtschaftlichen Ebene. ({11}) Es gibt eine ganze Menge von Problemen. Warum haben Sie sie denn nicht angepackt? Wissen Sie, was Sie in der Vergangenheit gemacht haben und was Sie gerade wieder machen? Ein reines Katastrophen-Hopping, aber keine grundsätzliche Lösung der Probleme. ({12}) Sie sprachen von den Finanzdienstleistungen, an die Sie jetzt herangehen wollen. Sie hatten in der letzten Legislaturperiode die Chance, beispielsweise beim Vierten Finanzmarktförderungsgesetz den Anlegerschutz zu verbessern. Wir haben es angeregt und beantragt. Sie haben das nicht gemacht. Bei der so genannten Riester-Rente haben wir jetzt das gleiche Problem. Wenn dieses groß angelegte und groß verkündete Produkt einer kapitalgedeckten Altersvorsorge, die zwingend notwendig ist, von nur 11 Prozent der Förderberechtigten in Anspruch genommen wird, dann wird doch schon deutlich, dass damit etwas nicht stimmt. Nun darf man aber nicht im Nachhinein mit ordnungsrechtlichen Maßnahmen dagegen ankämpfen, sondern das hätte man schon im Vorfeld machen müssen. Verbraucherschutz setzt nicht erst mit ordnungsrechtlichen Maßnahmen im Nachhinein ein, sondern Verbraucherschutz beginnt schon bei der Gesetzgebung in jedem Einzelfall. Dort muss der Verbraucherschutz gewahrt werden. ({13}) Wir haben in der Koalitionsvereinbarung vergeblich danach gesucht, wie nun die Lebensmittelsicherheit im Land verbessert werden soll. Dies wird landauf, landab immer wieder proklamiert. Es wird mehrmals und immer wieder versprochen. Von Brüssel wird es immer wieder angemahnt und kritisiert. Warum machen Sie eigentlich nichts? Warum sorgen Sie nicht für bundeseinheitliche Durchführungsbestimmungen im Lebensmittelrecht? Stattdessen machen Sie ständig nationale Alleingänge, von denen die Verbraucher nichts haben, die aber den deutschen Landwirten in besonderer Weise Nachteile bringen. Beispielsweise darf Obst, das in Südeuropa mit Pflanzenschutzmitteln behandelt wird, die Sie in Deutschland verboten haben, trotzdem in Deutschland verkauft werden. ({14}) Welchen Vorteil das für die Verbraucher haben soll, vermag ich nicht zu erkennen. Deutlich erkennbar ist aber, dass es zum Nachteil der deutschen Landwirtschaft ist. ({15}) Unser Ziel muss sein, weg von den nationalen Alleingängen hin zu EU-weit harmonisierten Bedingungen zu kommen. ({16}) Mit Ihren nationalen Alleingängen treten Sie die Interessen der deutschen Landwirtschaft mit Füßen. Mit diesem Weg der ständigen nationalen Alleingänge weg von den EU-weiten Harmonisierungsbedingungen werden Sie Ihrer Verantwortung als Ministerin für die deutsche Landwirtschaft nicht gerecht. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Jella Teuchner, SPD-Fraktion, das Wort.

Jella Teuchner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002816, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor vier Jahren hat an dieser Stelle der Aussprache zur Regierungserklärung ({0}) noch eine reine Agrardebatte stattgefunden. Heute hat kein Agrarminister, sondern unsere Ministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft gesprochen. ({1}) Allerdings gehört Ihr Redebeitrag, Frau Hasselfeldt, eher in eine Agrardebatte; denn was Sie zum Verbraucherschutz ausgeführt haben, ist in einigen Teilen bereits umgesetzt worden und stimmt in weiten Teilen nicht mit dem überein, was Sie in der vergangenen Wahlperiode versprochen haben. ({2}) Dass Ihr designierter Landwirtschaftsminister, der in der vergangenen Legislaturperiode Ausschussvorsitzender war, mit der Forderung durch die Lande reist, dass die bei uns verbotenen Pflanzenschutzmittel zugelassen werden sollen, ({3}) um gleiche Bedingungen im Handel zu schaffen, zeigt, dass diese Diskussion an den Tatsachen vorbeiführt. Mit einer ordnungsgemäßen Landwirtschaft hat das in keiner Weise zu tun. ({4}) Nichtsdestotrotz stehen in dieser Diskussion die Auswirkungen der Osterweiterung für die Landwirtschaft ebenso wie die Stellung der Verbraucher und der Gesundheitsschutz auf der Tagesordnung. Es war die BSE-Krise, die zur Folge hatte, dass aus dem Landwirtschaftsministerium ein Verbraucherministerium wurde. Deswegen blieben in der vergangenen Legislaturperiode leider nur zwei Jahre zur Durchsetzung der Verbraucherinteressen. Die Aufgaben beschränken sich allerdings nicht nur auf den gesundheitlichen Verbraucherschutz, sondern die Verbraucher haben eine Stimme bekommen, die die deutliche Aufwertung des Verbraucherschutzes im Koalitionsvertrag erst möglich gemacht hat. ({5}) Verbraucherpolitik ist eine Querschnittsaufgabe. Das haben wir in den vergangenen Jahren im Bundestag auch immer wieder zum Ausdruck gebracht. Wir handeln, und räumen dem Verbraucherministerium die dafür erforderlichen Kompetenzen ein: ein ressortübergreifendes Initiativrecht für Angelegenheiten von verbraucherpolitischer Bedeutung. Die Verbraucherpolitik wird nicht mehr von verschiedenen Ressorts mitbehandelt, sondern dieser Bereich wird nun selbstständig gestaltet. Auch das haben Sie offenbar dem Koalitionsvertrag so nicht entnehmen können, Frau Hasselfeldt. Wir packen aber in den nächsten vier Jahren weit mehr als die Sicherstellung der Produktion und des Vetriebs gesunder Lebensmittel an. Es geht darum, die Verbraucherrechte auch hinsichtlich der Sicherheit, Information und Wahlfreiheit zu stärken und diese Rechte international durchzusetzen. Wir sind uns darin einig, dass internationale Regelungen erforderlich sind. Ziel ist, dass sich Anbieter und Kunden auf gleicher Augenhöhe gegenüberstehen und dass Verbraucher Entscheidungen bewusst treffen können und vor missbräuchlichen Praktiken geschützt werden. Der Verbraucher soll seine Kaufentscheidungen bewusst und eigenverantwortlich treffen. Die Grundlagen dafür sind zum einen verlässliche Verbraucherinformationen über die Eigenschaften von Produkten und zum anderen Mindeststandards in Bezug auf Sicherheit, Haftung und Gewährleistung. Wir wollen den Verbraucher nicht an der Hand durch das Leben führen. Wir wollen dem Verbraucher vielmehr die Möglichkeit geben, loszulassen und eigenständig zu handeln. Dies muss sich auch in den Diskussionen über das Wettbewerbsrecht widerspiegeln, sei es in der von der Kommission angestoßenen Diskussion über das Grünbuch Verbraucherschutz oder in der Diskussion über die Novellierung des UWG. Das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb werden wir deshalb auch im Hinblick auf einen effektiven Verbraucherschutz überarbeiten. ({6}) Ein hohes Verbraucherschutzniveau und einen fairen Umgang mit dem Kunden sehen wir dabei nicht als Belastung für die Wirtschaft an. Gerade im Onlinehandel sind doch Transparenz und Investitionen in sichere Zahlungsmöglichkeiten die Grundvoraussetzungen für den Erfolg eines Unternehmens. Wir sehen deshalb im Verbraucherschutz eine Chance und vor allem auch einen Standortvorteil für die Wirtschaft. ({7}) Wir erleben, dass Eigeninitiative - zum Teil auch von der Politik angestoßen - oft staatliches Handeln ergänzt und dass gleichzeitig durch das Zusammenwachsen Europas ein breiteres, aber auch unübersichtlicheres Angebot an Dienstleistungen und Waren entsteht. Die private Altersvorsorge gewinnt deshalb genauso an Bedeutung wie die verschiedensten Angebote zur Aus- und Weiterbildung. Auch hier braucht der Verbraucher verlässliche Informationen und Kriterien, anhand derer er die Qualität einschätzen kann. Wir wollen deshalb einen Schwerpunkt in der Verbraucherpolitik im Bereich der Dienstleistungen setzen. Verbraucher sollen vor Fehlinformationen über Produkte, Verträge und Dienstleistungen geschützt werden und gegebenenfalls das Recht auf Schadensersatzansprüche erhalten. Vor allem bei den Finanzdienst300 leistungen wollen wir aussagekräftige Informationen und eine verlässliche Beratung sicherstellen. Sicherungsfonds können Insolvenzrisiken abfangen. Das Versicherungsvertragsrecht, das Telekommunikationsrecht und der Verbraucherschutz beim Eigenheimkauf oder -bau sind weitere Stichworte zu diesem Schwerpunkt. Bereits in der letzten Legislaturperiode haben wir beschlossen, dass wir eine Qualitätsoffensive für den öffentlichen Personenverkehr initiieren und eine umfassende Bestandsaufnahme vorlegen wollen. Wir wollen, dass, von den Verbesserungen der letzten Legislaturperiode ausgehend, geprüft wird, wo weitere rechtliche Maßnahmen notwendig und möglich sind. Die Verbesserung der haftungsrechtlichen Situation von Fahrgästen bei mangelnder Leistung und die Einrichtung von unabhängigen Schlichtungsstellen sind zwei der Eckpunkte, die bei dieser Bestandsaufnahme berücksichtigt werden müssen. Weitere sind die Harmonisierung der Vorschriften zwischen den Verkehrssystemen und zwischen den EU-Mitgliedstaaten sowie die Bereitstellung von Fahrplanauskünften auch über die Angebote konkurrierender Unternehmen. Verstärkt beachten müssen wir auch den Verbraucherschutz gerade im Hinblick auf Kinder. Wir müssen sicherstellen, dass von Spielzeug oder Kinderbekleidung keine Gefahr für Kinder ausgeht und dass bei der Festlegung von Grenzwerten die Wirkungen auf Kinder berücksichtigt werden. ({8}) Erst im Juni dieses Jahres hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts die Zulässigkeit staatlicher Verbraucherinformation bejaht. In der Presseerklärung des Bundesverfassungsgerichts heißt es: Aktuelle Krisen im Agrar- und Lebensmittelbereich zeigen beispielhaft, wie wichtig öffentlich zugängliche, mit der Autorität der Regierung versehene Informationen zur Bewältigung solcher Situationen sind. Das sehen wir genauso. Wir werden deshalb in dieser Legislaturperiode mit einem Verbraucherinformationsgesetz die Informationsrechte gegenüber Behörden und Anbietern nachhaltig verbessern. Als Anfang dieses Jahres Schinkenprodukte auftauchten, die zu viel Wasser enthielten, konnten die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht feststellen, ob in ihrem Einkaufswagen Schinken oder Wasser liegt. Eine Gesundheitsgefährdung lag nicht vor. Ross und Reiter durften von den Behörden nicht genannt werden. Die bisherige Rechtslage nimmt den Kunden die Wahlfreiheit und schützt die Anbieter, die täuschen und tricksen. Das soll in Zukunft anders werden. ({9}) Mit dem Verbraucherinformationsgesetz hätten die Kunden in Zukunft nicht mehr nur die Wahl zwischen „Schinken“ oder „kein Schinken“. Sie würden wissen, wer zu viel Wasser in den Schinken spritzt, und könnten von Anbietern kaufen, die fair mit ihren Kunden umgehen. Wir wollen den Kunden diese Wahlfreiheit geben und die Anbieter schützen, die weder täuschen noch tricksen. ({10}) Ich bitte Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, diesen Weg mit uns zu gehen. Der Wahlkampf ist vorbei. Jetzt können Sie zeigen, ob Sie den Verbrauchern marktbezogene Informationen zur Verfügung stellen oder weiterhin die schwarzen Schafe schützen wollen. ({11}) Verbraucherpolitik ist für viele eine Angelegenheit des Gefühls. Es geht zum Teil um Entscheidungen, die für den Einzelnen und auch für dessen Familie eine große Bedeutung haben: Wie finanziere ich meine Rente? Kann ich das Haus wirklich finanzieren? ({12}) Sind die Lebensmittel wirklich gesund? Es geht um Entscheidungen zu Bereichen, die vom Einzelnen nicht komplett überblickt werden können, ({13}) Entscheidungen, zu denen verlässliche Informationen notwendig sind. Verbraucherpolitik stellt für uns die Leitplanke dar, die dafür sorgt, dass der Einzelne seine Entscheidungen bewusst und eigenverantwortlich treffen kann. Unsere Aufgabe ist es, über Mindeststandards, Kontrollen und Informationen die Grundlagen für die Gleichberechtigung von Käufer und Anbieter zu legen. Auf dieser Grundlage können die Verbraucher und Verbraucherinnen ihre Kaufentscheidungen so treffen, dass ihre Interessen und die Interessen ihrer Familien gewahrt bleiben. ({14}) Dafür steht unser Koalitionsvertrag. Vor allem das werden wir in den nächsten vier Jahren umsetzen. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Hans Goldmann, FDP, das Wort.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich heute morgen „Frühstücksfernsehen“ guckte, hörte ich, dass wir heute über Verbraucherschutz und Gesundheit sprechen. Ich habe mich darüber eigentlich gefreut, habe mich aber gleichzeitig darüber geärgert, dass der traditionelle und leistungsfähige Bereich der Agrar- und Ernährungswirtschaft, aber auch zum Beispiel der Bereich der Gentechnik mit keinem Wort erwähnt wurden. ({0}) Da ich, wie Sie vielleicht wissen, aus dem Bereich der Ernährungswirtschaft, aus dem Bereich der Tiermedizin komme, bin ich ein bisschen sauer darüber, dass dieser im guten Sinne absolute Hochtechnologiebereich der Agrar- und Lebensmittelwirtschaft - weltweit gilt: deutsche Agrarprodukte sind im weltweiten Wettbewerb absolute Hochqualitätsprodukte - so hinten runterfällt. ({1}) Da ich aus Niedersachsen komme, weiß ich in punkto Arbeitsplätze, in punkto Investitionen und in punkto Infrastruktur im ländlichen Raum auch, wovon ich spreche. Deshalb bin ich traurig darüber, dass alles von dem hehren und wichtigen Ziel „Verbraucherschutz, Verbraucherschutz, Verbraucherschutz“ überlagert wird. Liebe Frau Künast, ohne ein gute Lebensmittelwirtschaft, ohne eine fachgerechte Agrarwirtschaft werden Sie in diesen sehr wichtigen, die Menschen tief berührenden Bereichen keinen Verbraucherschutz realisieren. Es geht hier nicht im Gegeneinander, sondern es geht hier nur in einem vernünftigen Miteinander der verschiedenen Beteiligten. ({2}) Frau Künast, liebe Kollegen von Rot-Grün, die Politik gegen die Bauern, die Sie in den letzten Jahren verwirklicht haben, kann und wird - Herr Weisheit hat es selbst zum Ausdruck gebracht - nicht erfolgreich sein. ({3}) Ich bin für den Schutz von Legehennen, aber ich bin auch dafür, Herr Weisheit, dass derjenige, der Legehennen hält, der Familienbetrieb, der Arbeitnehmer und die Arbeitnehmerin, die in diesem Bereich tätig sind, Zukunftschancen haben. Wir brauchen nicht nur den Schutz der Legehenne, sondern wir brauchen auch den Schutz der Familien, die mit der Agrarwirtschaft in Verbindung stehen. ({4}) Wir brauchen ebenfalls den Schutz der vor- und nachgelagerten Bereiche. Frau Künast, Sie sollten Ihrem Ministerkollegen Trittin entgegentreten, wenn er im Fernsehen Unwahrheiten sagt. So polemisch kennen wir ihn ja schon. Wenn er aber behauptet, dass es überhaupt nichts macht, wenn man Chemiedünger - die Wortwahl ist verräterisch - jetzt auch mit 16 Prozent Mehrwertsteuer belegt, zeigt das nur: Er hat keine Ahnung! ({5}) Der Chemiedünger wird schon längst so besteuert. ({6}) Was sollen diese Verunglimpfungen, die im Grunde genommen dazu beitragen, diesen Bereich zu zerstören? ({7}) Ich habe mir Ihre Koalitionsvereinbarung angeschaut. Bis jetzt war ich der Meinung, dass wir uns einig sind, dass wir von der Belastung der Arbeit in Deutschland eigentlich wegkommen müssen und mehr Freiheit und Kreativität entwickeln müssen. Was machen Sie? - Sie schaffen eine sehr vernünftige Regelung, die Durchschnittssatzbesteuerung, ab. Das bedeutet mehr Bürokratie und mehr Belastung. Ich habe mit der Kollegin Connemann morgen ein Gespräch mit dem Landvolk in unserer Region. Für unsere Betriebe bedeutet diese Veränderung ein Minus von 10 Prozent. ({8}) Die Betriebe wissen schon jetzt nicht mehr, wie sie sich auf dem Weltmarkt und auf dem europäischen Markt behaupten sollen. Die Niederländer lachen sich über das, was Sie hier machen, kaputt. Sie freuen sich ({9}) und erobern den Weltmarkt. Sie erobern den Osten und die Welt, weil sie auf dem globalen Markt agieren. Im Grunde genommen sind sie sogar ein wenig traurig darüber, dass in Deutschland eine Politik gegen die Bauern, gegen die Agrarwirtschaft, gegen die Lebensmittelwirtschaft gemacht wird. Sie machen eine Politik der Zunahme an Bürokratie, des Verwaltungsaufwandes, der Abgaben und Steuern. So werden Sie den Herausforderungen, vor denen dieser Bereich steht, nicht gerecht. ({10}) Sagen Sie zu den Chancen der grünen Gentechnik ein klares Ja und machen Sie nicht solche Dinge wie die Einschränkung der Absetzbarkeit von Werbeartikeln. Wissen Sie, was das zum Beispiel für den deutschen Weinbau bedeutet? Wissen Sie, wie viele Arbeitsplätze in diesem Bereich - völlig überflüssigerweise - verloren gehen? Diese Politik der nationalen Alleingänge ist nicht geeignet, weil sie unsere Lebensmittelwirtschaft, die Agrarwirtschaft nicht voranbringen wird. ({11}) Liebe Kollegin Teuchner, ich weiß - damit das völlig klar wird -, wovon ich rede, wenn ich über diesen Bereich spreche. Hier ist kein Mensch, der die schwarzen Schafe in dieser Branche schützen möchte. Es ist schlicht und ergreifend Blödsinn, so etwas zu behaupten. ({12}) - Nein, das stimmt nicht! Ich komme aus einer Region, in der sich alle - die Bauern und die Lebensmittelwirtschaft insgesamt vorweg intensiv darum bemühen, die schwarzen Schafe an den Pranger zu stellen, weil sie den gesamten Bereich kaputtmachen. Genau das wollen wir nämlich nicht. Lassen Sie mich aber auch klar sagen: Die Verrechtlichung des Verbraucherschutzes, sozusagen die Verordnung von oben herab, wird Ihnen nicht glücken. Deswegen sage ich: Wir brauchen sehr wohl die Querschnittsaufgabe Verbraucher302 schutz, aber keine Alleingänge auf dem Rücken anderer. Das können wir nicht mitmachen. ({13}) Ich habe Ihre Koalitionsvereinbarung mit Freude gelesen. Sie enthält Abschnitte, in denen Sie feststellen, dass Sie der Dritten Welt helfen wollen. Ich stehe in diesem Punkt hundertprozentig an Ihrer Seite. In der Koalitionsvereinbarung steht aber auch - man muss sich das einmal überlegen -, dass der Schutz der Verbraucher vor Gesundheitsgefährdung absoluten Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen hat. Das ist doch wohl selbstverständlich. Glauben Sie ernsthaft, dass hier irgendjemand im Haus ist, der das wirtschaftliche Interesse vor den Schutz der Verbraucher stellt? ({14}) Glauben Sie nicht auch, dass wir alle uns diesem ethischen Grundsatz in unserer politischen Arbeit verpflichtet fühlen? Das ist doch eine bare Selbstverständlichkeit! ({15}) Liebe Kollegin Teuchner, ich habe neuerdings für meine liberale Partei die politische Verantwortung für diesen Bereich übernommen. Ich bin sehr gerne bereit zum Kompromiss, aber ich lasse mich nicht in eine Ecke stellen, in der wir die Buhmänner sind, die die Menschen vergiften wollen, während Sie sich als Lebensretter darstellen. Das ist sachlich falsch. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Lieber Kollege Goldmann, Sie müssen zum Ende kommen.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lassen Sie uns gemeinsam für eine tüchtige und wettbewerbsfähige Agrarwirtschaft kämpfen. ({0}) Lassen Sie uns die hochleistungsfähige Lebensmittelwirtschaft nutzen, um Arbeitsplätze und Investitionen zu schaffen. Lassen Sie uns einen Verbraucherschutz realisieren, der dem Grundsatz der Eigenverantwortung des Verbrauchers mit staatlicher Hilfe gerecht wird. Ich biete ausdrücklich unsere Zusammenarbeit an. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Matthias Weisheit, SPDFraktion.

Matthias Weisheit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002458, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

HerrPräsident!GeschätzteKolleginnenundKollegen!Es ist ja ganz schön spannend geworden: lauter neue Gesichter in diesem Politikbereich. Herr Goldmann, ich freue mich mit Sicherheit auf konstruktive Zusammenarbeit. ({0}) Wenn Sie aber, wie es in Ihrer Rede gerade anklang, als Lobbyist derer auftreten, die die grüne Gentechnik mit aller Gewalt einführen wollen, ({1}) dann wird es schon einige Konflikte geben. Diese Absicht habe ich jedenfalls als Erstes aus Ihrer Rede herausgehört. ({2}) Insgesamt hatte ich hin und wieder den Eindruck, sowohl bei Ihrem Beitrag als auch bei dem der Kollegin Hasselfeldt - Peter Harry Carstensen wird das natürlich nachher noch bestätigen -, dass einige noch nicht gemerkt haben, dass der Wahlkampf vorbei ist. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass am 22. September eine Mehrheit der Bevölkerung die Politik der rot-grünen Bundesregierung und damit auch die Verbraucher- und Landwirtschaftspolitik dieser Regierung bestätigt hat, indem sie die sie tragenden Parteien wiedergewählt hat. ({3}) Sie müssen sich darauf einstellen, dass wir die Verbraucherschutz- und Landwirtschaftspolitik der letzten vier bzw. zweieinhalb Jahre fortsetzen werden. Ich will das an zwei Beispielen verdeutlichen. ({4}) - Die Einschränkung bezog sich auf die Verbraucherpolitik. Ich habe gesagt: vier bzw. zweieinhalb Jahre. Man sollte schon genau zuhören. Mit meinem ersten Beispiel gehe ich auch gleich bis zur deutschen Ratspräsidentschaft zurück, wo die Verhandlungen über die Agenda 2000 erfolgreich abgeschlossen wurden. Genau diesen Reformansatz der Agenda 2000 werden wir fortsetzen. Da können Sie lachen oder hämisch sein. Ich erinnere mich recht gut, wie damals bezüglich der Umsetzung der Agenda 2000 aus der Opposition die Kassandrarufe kamen, das sei der Untergang der deutschen Landwirtschaft. In der Zwischenzeit schreit jeder, wenn man an dieser etwas ändern will, da sie doch so gut sei, dass man daran nichts ändern dürfe. ({5}) Das ist übrigens Ihr eigentliches Problem, dass Sie immer auf dem beharren, was da ist, und notwendigen, zukunftsorientierten Reformen eine Absage erteilen. ({6}) Bundeskanzler Gerhard Schröder ({7}) hat auf dem jüngsten europäischen Gipfel erfolgreich verhandelt, ob Sie, Frau Hasselfeldt, das nun wahrhaben wollen oder nicht. ({8}) Der zwischen ihm und dem französischen Staatspräsidenten Chirac ausgehandelte Kompromiss zur zukünftigen Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik bietet den Landwirten in Europa einen Rahmen, auf den sie sich auch über das Jahr 2006 hinaus verlassen können. Wir begrüßen diesen Beschluss außerdem, weil er den Beitritt der zehn Kandidaten ermöglicht, ohne dass der in der Agenda beschlossene Finanzrahmen überschritten wird. ({9}) Damit wird sowohl den finanziellen Interessen der Bundesrepublik als auch dem Interesse der deutschen Landwirtschaft an Verlässlichkeit Rechnung getragen. Natürlich gab es auf beiden Seiten mehr Forderungen. Wie es bei einem Kompromiss üblich ist, konnte es am Schluss nur so Gewinner geben, indem jeder ein kleines bisschen nachgab. Ich sage Ihnen dazu nur eines: Im Zuge der WTO-Verhandlungen wird für den französischen Staatspräsidenten die Stunde der Wahrheit noch kommen. Ich bin ziemlich optimistisch, dass durch den Zwang, der von den WTO-Verhandlungen ausgehen wird, die sture Haltung des französischen Präsidenten in Sachen Entkopplung der Zahlungen nicht durchgehalten werden kann und dass es zu einer Reform kommen wird. ({10}) Die Halbzeitbewertung der gemeinsamen Agrarpolitik und die fakultative Modulation sind Bestandteile der Agenda 2000. Deshalb ist es folgerichtig, wenn wir dafür eintreten, den Spielraum, den die Agenda 2000 vorgibt, auszuschöpfen. In der europäischen und in der deutschen Öffentlichkeit bis weit in die Landwirtschaft hinein wird kritisch hinterfragt, ob die Gelder aus Brüssel optimal eingesetzt werden. Es stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit etwa im Hinblick auf Grünland und Ackerland. ({11}) - Ich spreche vom Einsatz des Geldes. Da schneiden das Grünland und die Futterbaubetriebe ganz schlecht ab. Das weiß doch jeder von euch. Aber ihr seid die Bewahrer, ihr wollt das belassen, was derzeit ist. ({12}) Es stellt sich auch die Frage nach Beschäftigungseffekten und dem Sinn der Fortsetzung von Marktordnungen. Auch darüber wird in der Öffentlichkeit diskutiert. ({13}) Wir müssen Antworten darauf geben, ob Umwelt-, Tierschutz- und Landschaftspflegeleistungen stärker zu honorieren sind. ({14}) Die nächste Welthandelsrunde und die Zusagen gegenüber den ärmsten Entwicklungsländern erfordern weitere Reformen der gemeinsamen Agrarpolitik. Die EU wird es sich nicht leisten können, die WTO-Runde scheitern zu lassen. Wir werden in den nächsten Monaten unsere Positionen in die Diskussion über die Halbzeitüberprüfung einbringen. ({15}) - Nein, in dieser Diskussion heute brauchen wir sie nicht. ({16}) Wir haben schon vor der Bundestagswahl deutlich gemacht - ich zum Beispiel von diesem Mikrofon aus -, dass wir die Richtung der Positionen von Franz Fischler voll unterstützen. Daran hat sich nichts geändert. Die Entkoppelung, die Modulation und die Einhaltung von Umwelt- und Tierschutzstandards als Grundlage für Direktzahlungen werden wir weiterhin unterstützen. Der zweite Bereich, auf den ich angesichts meiner Redezeit nur noch kurz eingehen kann, ist: Wir werden die erfolgreiche Arbeit der Bundesregierung im Hinblick auf Lebensmittelsicherheit und die Bewältigung von Krisen fortsetzen. Ich will an Folgendes erinnern: Aus der BSEKrise sind wir letztendlich deshalb erfolgreich herausgekommen, weil es schonungslose Aufklärung, offene Diskussionen und ein sehr schnelles Handeln auch des Gesetzgebers gab. ({17}) Dort, wo es notwendig ist, wird der Gesetzgeber weiter handeln, um für die Verbraucher Offenheit und Klarheit herzustellen. Von diesen Bemühungen haben nicht nur die Verbraucher profitiert, sondern auch die Landwirte. ({18}) Betrachtet man die Entwicklung des Rindfleischpreises, so ist festzustellen, dass wir heute wieder auf einem normalen Niveau sind. Die Krise ist überwunden. Wir sind aber auch der Überzeugung, dass wir in Zukunft allein mit Gesetzen und Verordnungen sowie schlagkräftigen Behörden Lebensmittelskandale nicht verhindern können. Diese wird es immer geben, solange es Menschen gibt; denn es gibt überall kriminelle Energie. Deshalb ist eine selbstkritische Auseinandersetzung auf allen Ebenen der Agrarerzeugung, vor allen Dingen in den vorgelagerten Bereichen, erforderlich. Hier hat die Landwirtschaft selbst - dazu gratuliere ich all den Verantwortlichen, die das durchgesetzt haben - mit der Schaffung des QS-Systems Konsequenzen gezogen. ({19}) Wir unterstützen diese Arbeit massiv. Ich bin der Überzeugung: Weitere Fortschritte sind nur durch eine Ausweitung der Zertifizierungs- und Sicherungssysteme zu erreichen, und dies auch in anderen Bereichen als in denen, in denen das QS-System im Moment gilt. ({20}) Meine Damen und Herren, die Umsatz- und Absatzeinbrüche infolge von BSE haben wir mit traditionellen Marktregulierungen, mit verstärkten subventionierten Exporten und Interventionseinkäufen bewältigt. Auf Dauer soll und kann das nicht mehr so weitergehen. Wir erwarten, dass sich die landwirtschaftliche Produktion stärker an Qualität und an der Nachfrage auf den Märkten ausrichtet, damit Marktintervention wirklich die Ausnahme ist. ({21}) - Dieser Zwischenruf ist nun absolut nicht richtig, Herr Kollege Deß. Natürlich hat es Qualität gegeben. Aber wir müssen mit höherer Qualität werben und entsprechende Marken aufbauen. Es darf keine Ware mehr produziert werden, die in diesem Land oder in der Europäischen Gemeinschaft nicht zu verkaufen ist. Das ist der springende Punkt, um den es hier geht. ({22}) Wir können unsere Marktanteile nur dann vergrößern, wenn die Waren von besonders hoher Qualität sind. Leider bekomme ich signalisiert, dass meine Redezeit zu Ende ist. Gestatten Sie mir aber noch eine letzte Bemerkung zu den Steuern. Warum soll ein Bauer, ein Landwirt oder ein Gärtner steuerlich nicht gleich behandelt werden wie der Besitzer einer Pommesbude? Beantworten Sie mir irgendwann einmal diese Frage. Dann werden Sie aufhören herumzujammern, weil es die Durchschnittsbesteuerung nach § 13 a EStG in Zukunft nicht mehr geben wird. ({23})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Peter Carstensen, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Matthias Weisheit, ich möchte gleich die letzte Frage aufgreifen und eine Gegenfrage stellen: Warum soll ein Bauer für das Futtermittel für seine Kühe 16 Prozent Mehrwertsteuer bezahlen, während du für das Chappi für deine Hunde keine 16 Prozent Mehrwertsteuer bezahlst? ({0}) Entschuldigung, ich begreife eure Logik nicht mehr. ({1}) Lieber Matthias, auch du hast davon gesprochen, wir sollten nicht Wahlkampf machen. ({2}) - Dann macht das doch; das ist in Ordnung. - Der Unterschied zwischen euch und uns liegt darin - die SPD will davon ablenken; deswegen spricht sie immer von Wahlkampf -, dass wir dasselbe sagen wie vor der Wahl. Es ist doch die SPD, die sofort nach der Wahl etwas anderes gesagt hat! ({3}) Die Ministerin hat schon Recht, wenn sie sagt, dass Verbraucherschutz damit zu tun hat, Menschen vor Täuschung zu schützen. Das gilt auch für die Zeit nach der Wahl. ({4}) Deswegen sollten wir den Koalitionsvertrag in unserem Ausschuss behandeln und einmal untersuchen, ob er die damaligen Ankündigungen enthält oder ob es Änderungen gibt. ({5}) Es ist schon interessant, was im Koalitionsvertrag steht. ({6}) Es ist interessant, wie viel der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung über Verbraucherschutz und Landwirtschaftspolitik gesagt hat. ({7}) - Diesen Zwischenruf sollten wir uns merken. Daran sehen wir, welchen Wert die Landwirtschaftspolitik und der ländliche Raum für die Koalition überhaupt noch hat. Jella Teuchner hat gesagt, das Ministerium sei nun ein völlig anderes. Matthias Weisheit sieht das glücklicherweise ein bisschen anders; denn er hat wieder über Agrarpolitik gesprochen. Wenn wir über den ländlichen Raum reden, müssen wir über die Landwirte reden. Ohne die Landwirte dort werdet ihr eine Politik für den ländlichen Raum nicht mehr machen können, weil sie die Stützen für diesen Raum sind. ({8}) Peter H. Carstensen ({9}) Es ist nicht nur interessant, was man darüber im Koalitionsvertrag findet und wie lustlos Sie darüber reden, sondern es ist auch interessant, was nicht darin steht. Wir wissen, welche Herausforderungen in der Landwirtschaft auf uns zukommen. Es gab nicht ein Wort über die agrarsoziale Sicherung, nicht ein Wort über die Berufsgenossenschaften, nicht ein Wort über die landwirtschaftlichen Krankenkassen, nicht ein Wort über die Probleme, die wir in den nächsten Jahren in diesem Bereich haben werden. ({10}) Wenn man die Regierungserklärung betrachtet und dann sieht, wie gehandelt wird, dann muss man feststellen: Sie wollen zwar zukunftsfähige Landwirte haben - so ist es in Ihrem Koalitionsvertrag festgelegt -, aber Sie tun genau das Gegenteil. Sie nehmen nämlich den Landwirten die Zukunftsfähigkeit. ({11}) Wenn Sie vor Ort sind, dann können Sie feststellen, dass die Menschen die Schnauze voll haben von dem, was im Moment auf sie zukommt. ({12}) Sie haben die Schnauze voll von zusätzlichen Belastungen. Sie möchten arbeiten und möchten nicht, dass ihre Arbeit bürokratisiert wird. Sie möchten ihre Betriebe weiterentwickeln. Sie möchten Eigenkapital bilden, sie möchten investieren. Aber sie haben inzwischen keine Lust mehr dazu - dies bereits nach zweieinhalb Jahren Künast. Ich weiß nicht, wie das nach weiteren vier Jahren Künast aussehen soll. ({13}) Sie wissen gar nicht, was bei den Bauern los ist, weil Sie nicht wissen, wie die Bauern leben, denken, arbeiten und investieren. ({14}) - Ja, ich weiß es. ({15}) Sie wissen nicht, wie sehr sich die Bauern Tag für Tag für ihre Betriebe, ihre Tiere und ihr Land einsetzen und auch dafür - sie sind ja gut ausgebildet -, dass ihre Produkte gut sind. ({16}) Sie sagen ihnen: Wir haben nichts für euch übrig; ihr interessiert uns nicht. Wir sind Rechner und entscheiden über euch, ohne dass ihr eingebunden werdet. ({17}) Sie zeigen eine unerträgliche Abneigung gegen die konventionelle Landwirtschaft. Sie stellen die ökologische Landwirtschaft als gut und die konventionelle Landwirtschaft als schlecht dar. ({18}) Das hat die Landwirtschaft nicht verdient! ({19}) Meine Damen und Herren, Sie vergessen, dass landwirtschaftliche Betriebe auch Wirtschaftsbetriebe sind. ({20}) Sie müssen Einkommen erwirtschaften und Eigenkapital bilden und wollen auch investieren. Diesen Unternehmen nehmen Sie die Chance, dies im ländlichen Raum umzusetzen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Carstensen, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Griefahn?

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gerne.

Dr. Monika Griefahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003136, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Carstensen, sind Sie nicht mit mir einer Meinung, ({0}) dass gerade die aktive Gestaltung, die Aufklärung und die Transparenz, im Verbraucherschutzbereich einen Schutz für die Landwirte im ländlichen Raum darstellt, weil sie sonst aufgrund des mangelnden Vertrauens der Bevölkerung ihre Produkte nicht mehr absetzen könnten? Dies war doch nach der BSE-Krise zu beobachten. ({1})

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Griefahn, Sie waren ja einmal Ministerin in Niedersachsen. Deswegen möchte ich Ihnen einmal zitieren, was Ihr Ministerkollege, Herr Bartels, vor einigen Wochen auf dem Bauerntag in Münster gesagt hat. Er hat gesagt: Wir haben noch nie eine solch gute Qualität in der landwirtschaftlichen Produktion gehabt. ({0}) Wir haben noch nie so sicher produziert. Wir haben noch nie so wenig Pflanzenschutzmittel eingesetzt. ({1}) Wir haben noch nie so effektiv produziert. - Dies ist aber doch nicht dank Rot-Grün der Fall. Sehen Sie sich doch einmal die Entwicklung der letzten Jahre an! ({2}) - Nein, ich habe mich überhaupt nicht vertan. - Nicht dank Rot-Grün, sondern dank der Intelligenz und der Ausbildung unserer Landwirte ist es dazu gekommen. ({3}) Sie tun laufend so, als seien unsere Landwirte diejenigen, die durch Gift in den landwirtschaftlichen Produkten den Menschen Krankheiten bringen. Nein, in der konventionellen Landwirtschaft wird genauso gut gearbeitet wie in der ökologischen Landwirtschaft. ({4}) Beides hat seinen Stellenwert und beides sollte von der Regierung und auch von Rot-Grün anerkannt werden. ({5}) Meine Damen und Herren, Sie haben gesagt, dass Sie die Gemeinschaftsaufgabe, die auch von den Ländern finanziert wird, gezielt zum Instrument zur Förderung der nachhaltigen Entwicklung im ländlichen Raum einsetzen wollen. Sehen wir uns die Situation einmal an! Es gibt Länder, die überhaupt nicht zur Kofinanzierung in der Lage sind. Schleswig-Holstein zum Beispiel hat einen Anspruch auf 54 Millionen Euro aus der Gemeinschaftsaufgabe, ruft aber in diesem Jahr 20 Millionen nicht ab. Das heißt, Schleswig-Holstein verhindert 30 Millionen an Zuschüssen aus der Gemeinschaftsaufgabe, von Bund und Land gemeinsam getragen. Zusammen mit den Mitteln der EU könnte man 60 Millionen Euro generieren. Insgesamt werden dadurch rund 180 Millionen an Investitionen im ländlichen Raum nicht getätigt, weil ein Land nicht in der Lage ist, seinen Eigenanteil zu finanzieren. Deswegen ist die Gemeinschaftsaufgabe leider nicht mehr das geeignete Instrument. Sie müssen sich auch einmal die Situation vergegenwärtigen, die demnächst auf uns zukommt. Sie werden nämlich genau das tun, was Sie laut Koalitionsvertrag eigentlich nicht tun wollen. Sie wollen wirtschaftende und entwickelte Betriebe, sorgen aber mit Ihrer Steuergesetzgebung dafür, dass viele aus der Landwirtschaft ausscheiden müssen. Sie werden das feststellen. Ich darf aus dem „Stern“ zitieren. Es ist schon interessant, dass „Stern“ und „Spiegel“ - das sind ja nicht unbedingt die Kampfblätter der CDU - sich im Moment gegen diese Koalition wenden. Im „Stern“ heißt es: Nehmen wir den Kanzler. „Wir haben nicht die Absicht, die Steuern zu erhöhen“, ulbrichte Gerhard Schröder Ende Juli übers Fernsehen den Bürgern zu. Jetzt bittet er sie zur Kasse ... Schauen Sie sich einmal an, welche Auswirkungen in der Landwirtschaft das hat: Die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 7 auf 16 Prozent für so genannte Vorprodukte - das ist Saatgut, lebende Tiere, Futterpflanzen wird 1,842 Milliarden Euro kosten. Die Erhöhung der Umsatzsteuer von 7 auf 16 Prozent für gartenbauliche Erzeugnisse - Blumen, Zierpflanzen - wird 345 Millionen Euro kosten. Die Abschaffung der umsatzsteuerlichen Durchschnittsbesteuerung wird 209 Millionen Euro kosten. Die Abschaffung der ertragsteuerlichen Durchschnittsbesteuerung nach § 13 a des Einkommensteuergesetzes wird 30 Millionen Euro kosten. ({6}) - Alles Subventionen? Nicht Steuern zahlen heißt Subventionen? Das ist ja eine ganz tolle Diskussion, die wir im Moment führen. Zunächst einmal gehört den Leuten das Geld und erst dann hat der Staat einen Anspruch auf einen Teil. Sie können doch nicht sagen, wenn ein geringerer Anspruch bestünde, bekäme man eine höhere Subvention! Nein, erst einmal müssen sie ihr Geld verdienen und dann können wir uns darüber unterhalten, ob hohe Steuern richtig oder falsch sind. Hier sind sie falsch. ({7}) In der Situation, in der wir uns befinden, sind bei den Bauern Entlastungen und nicht zusätzliche Belastungen angesagt. ({8}) Wir haben eine Deckelung bei den EU-Kosten. Glücklicherweise gibt es eine Einigung mit Frankreich. Wir haben sie begrüßt. Frankreich sei Dank, dass der Bundeskanzler nicht informiert war, dass er schlecht vorbereitet in das Gespräch ging und offensichtlich auch schlechte Dolmetscher hat. Die Dolmetscherin müsste einen Orden dafür bekommen, dass sie ihm das nicht richtig gesagt hat! ({9}) Sonst wäre nämlich bei 39 Milliarden Euro gedeckelt worden, so sind es 48 Milliarden Euro in 2013. Das bedeutet mehr Geld für die Landwirtschaft und das ist richtig. Wenn Sie nach Polen, Slowenien, Tschechien und Ungarn gehen und die Diskussion dort führen, werden Sie sehen, dass man dort mit dem Phasing-in von 25 Prozent nicht auskommen wird und die Landwirte bei uns mit dem Phasing-out von wahrscheinlich 75 Prozent oder weniger Pleite machen werden. Das ist die Situation, mit der Sie im Moment spielen. Darum sage ich Ihnen: Wir brauchen mehr Entlastung und weniger Kosten für die Landwirtschaft, um die schwieriger werdende Situation bei uns überhaupt noch bewältigen zu können. Fischler hat kürzlich ganz deutlich gesagt: Wo sonst als von den Direktzahlungen für die Bauern der bisherigen EU-Länder sollen wir das Geld für die neuen Mitglieder herholen? Das heißt, die Landwirte werden belastet und zahlen für die Osterweiterung, die wir alle gerne wollen. Wir werden uns noch wundern, wie sich der Strukturwandel in der Landwirtschaft fortsetzen wird. Es war erstaunlich, wie wenig Applaus gerade von der SPD kam, als die Ministerin geredet hat. ({10}) Peter H. Carstensen ({11}) Peter H. Carstensen ({12}) Ihr wisst es, aber ihr lasst euch im Moment die Kompetenz für die Agrarpolitik völlig aus der Hand nehmen. ({13}) - Ja, das ist eine Belehrung und vielleicht auch eine Hilfe. Wir werden in eine Situation kommen, die gekennzeichnet sein wird durch schwieriger werdende Bedingungen in der Landwirtschaft durch WTO-Verhandlungen und durch die Osterweiterung. Fischler hat gestern in einer Rede gesagt - auch das will ich zitieren -: Die Einigung schafft Planungssicherheit für die Politik, heißt aber auch, dass künftig alle neuen Reformkosten von den bisherigen Nutznießern des Agrarbudgets getragen werden müssen. - Das heißt Belastung für die Landwirtschaft. Wenn wir in diese Situation kommen, dann brauchen wir eine Entlastung auf der Kostenseite. Deswegen wundert es mich, dass im Koalitionsvertrag nicht ein einziges Wort über die agrarsozialen Sicherungen steht, nicht ein einziges Wort über eine Neuordnung, die dringend notwendig ist, nicht ein einziges Wort über Kostenentlastung bei Steuern; stattdessen werden zusätzliche Kosten durch Steuern beschlossen. ({14}) Da die obligatorische Modulation der EU offensichtlich weit nach hinten geschoben wird - so wird es zumindestens behauptet -, fordere ich Sie, Frau Künast, auf: Nehmen Sie Abstand von der Durchführung Ihres Modulationsgesetzes! ({15}) Sorgen Sie dafür, dass dieses Gesetz am 1. Januar nicht in Kraft tritt! Dieses unsinnige Gesetz belastet die Landwirte und es bringt nichts ({16}) für diejenigen Produkte und für diejenigen Vorstellungen, die Sie mit dem Modulationsgesetz fördern wollen. Sie werden ein bürokratisches Monstrum aufbauen, ({17}) das dazu führt, dass Bayern - Bayern gibt 800 Millionen DM bzw. 400 Millionen Euro für Naturschutz im ländlichen Raum aus - nicht weiß, was es mit den zusätzlichen Mitteln machen soll. ({18}) Dieses bürokratische Monstrum führt außerdem dazu, dass Schleswig-Holstein nicht weiß, wie es die Kofinanzierung bezahlen soll, und dass Rheinland-Pfalz 1,3 Millionen DM an Verwaltungskosten haben wird, um 800 000 DM ausgeben zu können. Frau Künast, sorgen Sie dafür, dass dieses unsinnige Gesetz nicht in Kraft gesetzt wird! Damit würden Sie den Bauern helfen. ({19})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Carstensen, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das werde ich sofort tun, Herr Präsident. - Auch im landwirtschaftlichen Bereich gilt - ich zitiere meine Fraktionsvorsitzende -: Rot-Grün macht arm. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nicht vor. Wir kommen schließlich zu den Themenbereichen Soziales und Gesundheit. Ich erteile das Wort der Bundesministerin Ulla Schmidt.

Ulla Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002019

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ({0}) - Die fliehen nicht, die wechseln nur die Plätze. - Am 22. September haben die Wählerinnen und Wähler uns den Auftrag gegeben, unsere Reformpolitik fortzusetzen. ({1}) Die Menschen wissen, dass wir eine Politik der Erneuerung, der sozialen Gerechtigkeit und der Nachhaltigkeit machen. Wir sind es gewesen, die in den letzten vier Jahren dafür gesorgt haben, dass in Zukunft keine Rentnerin und kein Rentner zum Sozialamt gehen muss, weil die Rente nicht ausreicht. Wir haben dafür gesorgt, dass Rentnerinnen und Rentner, die unseren Wohlstand jahrzehntelang mit erarbeitet haben, künftig Anspruch auf eine soziale Grundsicherung haben, auch wenn sie keine ausreichenden Rentenansprüche erworben haben, weil sie Familienarbeit geleistet haben oder geringfügig beschäftigt waren. Dieses Vorhaben wird ab dem 1. Januar 2003 umgesetzt. ({2}) Wir sind es gewesen, die dafür gesorgt haben, dass bei der Rente zukünftig eine private Säule die gesetzliche ergänzt. Damit haben wir die Altersvorsorge zukunftsfest gemacht. Wir sind es gewesen, die dafür gesorgt haben, dass schwerbehinderte Frauen und Männer wieder neue Chancen am Arbeitsmarkt erhalten und ihre Leistungsfähigkeit anerkannt wird. ({3}) Wir sind es gewesen, die dafür gesorgt haben, dass die medizinische Versorgung in Zukunft verbessert wird, insbesondere für chronisch kranke Menschen. Wir sind es gewesen, die von den Wählerinnen und Wählern den Auftrag erhalten haben, in den nächsten vier Jahren unsere Reformpolitik der sozialen Sicherung bei der Rente und bei der Gesundheit konsequent fortzusetzen. ({4}) Für uns ist klar: Eine starke soziale Sicherung und wirtschaftliches Wachstum sind keine Gegensätze, sondern sie gehen Hand in Hand. Deutschland ist auch im internationalen Vergleich mit seinem solidarischen System der sozialen Sicherung in den letzten Jahrzehnten wirtschaftlich gut gefahren. Unser ökonomischer Erfolg basiert zu einem guten Teil auf einer starken sozialen Sicherung. Es sollte nie vergessen werden: Solidarität macht Leistungsfähigkeit erst möglich. ({5}) Dies ist auch der Grund dafür, warum viele Menschen uns um unseren Sozialstaat, um unser Rentensystem und um unser Gesundheitswesen beneiden. Weil dies so ist, werden wir den Sozialstaat für die Zukunft sichern. Wir wissen alle, dass Handlungsbedarf besteht, Handlungsbedarf, der sich aus der demographischen Entwicklung ergibt, der sich auch aus der erfreulichen Entwicklung ergibt, dass die Menschen heute älter werden als früher, der sich aus dem medizinischen Fortschritt und veränderten Erwerbsbiografien ergibt. Handlungsbedarf ergibt sich auch aus der aktuellen konjunkturellen Situation, die mit einem Einbrechen der Einnahmen einhergeht. Dadurch werden die sozialen Sicherungssysteme zusätzlich herausgefordert. Das neu geschaffene Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung ist eine Antwort auf diese Herausforderungen. Es eröffnet Chancen, die Kräfte zu bündeln, Chancen, die Reformen der sozialen Sicherungssysteme künftig aus einer Hand auf den Weg zu bringen. Wir werden diese Chancen nutzen. Wir werden Synergieeffekte nutzen, um deutlich mehr Effizienz in die - seien wir einmal ehrlich - manchmal auch schwerfälligen Systeme zu bringen. ({6}) - Wenn ich Ihren Reden zuhöre, habe ich manchmal das Gefühl, die Größe von manchen zeigt sich auch darin, wie sie in der Lage sind, eine Niederlage zu verarbeiten. ({7}) In der heutigen Arbeitswelt sind Flexibilität und Mobilität gefordert. Die wenigsten Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmer sind heute lebenslang in einem Beruf tätig, geschweige denn bei einem Arbeitgeber beschäftigt. Einmal erworbene Qualifikationen reichen immer weniger für das ganze Berufsleben aus. Von den Menschen wird sehr viel Mut zur Veränderung gefordert. Ich sage aber auch deutlich: Wer diesen Mut zur Veränderung fordert, der muss gleichzeitig dafür sorgen, dass niemand auf sich allein gestellt bleibt, sondern dass die Solidargemeinschaft da ist, um ihn, wenn es nötig ist, aufzufangen. ({8}) Deswegen modernisieren wir den Arbeitsmarkt. Wir sichern gleichzeitig den sozialen Rückhalt für die Menschen. Wir stehen dafür, dass Risiken wie Krankheit, Unfall oder Behinderung auch in Zukunft vom Sozialstaat abgesichert sind. Wir stehen dafür, dass der Sozialstaat ein Leben im Alter in Würde und sozialer Sicherheit garantiert. Wir stehen dafür, dass unsere Gesellschaft ihr soziales Gesicht behält. ({9}) Die Bundesregierung wird die notwendigen Strukturreformen am Arbeitsmarkt und im Gesundheitswesen durchführen. ({10}) Bei der Rente werden wir das Besteuerungsurteil sozial und gerecht umsetzen. Auch dies ist eine Strukturreform, die weit in die Zukunft weist. Unsere Ausgangsposition ist gut. Wir haben in Deutschland in den letzten 50 Jahren ein hervorragendes soziales Netz geschaffen. Wir müssen den Sozialstaat nicht neu erfinden, aber wir müssen das Haus der sozialen Sicherung in Deutschland dort, wo es notwendig ist, ausbauen, modernisieren und zukunftsfähig machen. Wir haben mit der Rentenreform in der letzten Legislaturperiode den Grundstein dafür gelegt, dass mit dem Aufbau der kapitalgestützten Säule neben der umlagefinanzierten Säule eine Antwort auf die demographische Entwicklung gegeben wird, die auch in Zukunft die Rente sicher machen wird. Wir werden mit der Gesundheitsreform im kommenden Jahr eine Strukturreform auf den Weg bringen, die sich vorrangig mit der Ausgabenentwicklung im Gesundheitswesen befasst und dafür sorgt, dass wir über Effizienz- und Effektivitätssteuerung dahin kommen, dass in diesem System jeder Euro zielgenau ausgegeben wird. Dies ist notwendig für die Menschen und für die Akzeptanz. ({11}) Langfristig werden wir uns mit der Sicherung der Einnahmesituation in allen sozialen Sicherungssystemen auseinandersetzen müssen. ({12}) Deshalb werde ich eine Kommission einsetzen, die die langfristigen Finanzierungsgrundlagen der sozialen Sicherungssysteme an den vielfältigen Anforderungen des gesellschaftlichen, des sozialen Wandels und auch des Wandels in der Arbeitswelt und in den Erwerbsbiografien orientiert, sie aber auch daran orientiert, dass wir ein Europa wollen, in dem die Freizügigkeit für die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Alltagsleben gilt, insbesondere bei der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. Diese Freizügigkeit soll im Alltag tatsächlich spürbar und erfahrbar werden. Die Kommission wird uns Vorschläge unterbreiten. Wir werden nach einer breiten Diskussion, hoffentlich auch hier im Hause, die notwendigen Konsequenzen daraus ziehen. Wir werden das Haus der sozialen Sicherung für die Zukunft gut ausrüsten, indem wir Qualität und Effizienz in der sozialen Sicherung voranbringen. Für die Rente heißt das: Wer jahrelang gearbeitet und Beiträge gezahlt hat, hat im Alter Anspruch auf ein anständiges Auskommen. Junge Beitragszahler werden nicht über Gebühr beansprucht. Wir haben dafür gesorgt - wir werden das auch in Zukunft tun -, dass die Lasten gerecht zwischen den Generationen verteilt werden, weil nur so die Rente zukunftsfähig bleiben kann. Für die Gesundheit heißt das: Wer krank wird, hat einen Anspruch auf das medizinisch Notwendige und Angemessene, unabhängig von seinem Geldbeutel. Auch morgen muss gelten, dass die Jungen für die Alten einstehen; die, die mehr verdienen, für die, die weniger verdienen; die Gesunden für die Kranken. Nur so bleibt auch die Gesundheitsversorgung zukunftsfähig. ({13}) Bei allen Reformen halten wir an der Solidarität fest. Wir werden sie stärken, in der Renten- wie in der Krankenversicherung. Aber eines ist ebenfalls klar: Solidarität funktioniert nur, wenn alle mitmachen. Wir wollen, dass möglichst viele Menschen erwerbstätig sind und ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten. Wir wollen, dass aus Menschen, die heute arbeitslos sind, morgen wieder Steuerund Beitragszahler werden. ({14}) Das ist das Ziel unserer Arbeitsmarktreform und das ist auch die Grundlage für die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme. ({15}) Neben kurzfristig greifenden Maßnahmen bei der Rente und im Gesundheitswesen werden wir strukturelle Erneuerungen vornehmen, die die Zukunft sichern. ({16}) Lassen Sie mich eines klarstellen - das wird ja wohl niemand bezweifeln; ich sage das noch einmal an die Adresse der Kollegin Hasselfeldt -: Die Riester-Rente ist ein Erfolg. ({17}) Sie ist ein Erfolg, weil wir mit der Riester-Rente etwas geschafft haben, wozu Sie 16 Jahre lang nicht in der Lage waren, nämlich den Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, sich neben der umlagefinanzierten Rente eine kapitalgestützte Säule der Altersversorgung aufzubauen. ({18}) Die jungen Menschen von heute sollen wissen, dass sie dann, wenn sie in Rente gehen, eine ihren Lebensstandard sichernde Altersversorgung haben und ein ausreichend hohes Einkommen erhalten werden. ({19}) Wir haben mit diesen beiden Säulen einen Weg eröffnet, der es möglich macht, dass diejenigen, die Hilfe nötig haben, sie durch staatliche Unterstützung bekommen. Wir werden am Ende dieses Jahres Bilanz ziehen müssen. ({20}) Denn es gibt viele Tarifverträge, in denen die RiesterRente abgesichert worden ist. Viele Menschen werden sich noch im Dezember dazu entscheiden, für sich die kapitalgestützte Säule aufzubauen. ({21}) Es bringt überhaupt nichts, wenn man Erfolge kaputtredet. Wir werden die Entwicklung am Ende dieses Jahres und auch darüber hinaus weiter beobachten müssen. Wir wollen die zweite, die kapitalgestützte Säule als tragendes Element der Alterssicherung der Zukunft aufbauen. Wir werden die notwendigen Begleitmaßnahmen auf den Weg bringen. ({22}) Wir stehen dafür, dass die über 50-Jährigen nicht zum alten Eisen gehören werden. Wir brauchen ihre Kompetenz und Fähigkeiten dringender denn je. Ich finde es beklagenswert, dass viele Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen in dieser Frage viel zu kurzfristig denken. Wir sind uns in diesem Hause alle darüber einig, dass wir alles dafür tun müssen, dass das faktische Renteneintrittsalter mit dem gesetzlichen Renteneintrittsalter übereinstimmt. Wir müssen dafür sorgen, dass diejenigen, die 50, 55 oder 58 Jahre alt sind, bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter erwerbsfähig sein können und Arbeitsplätze finden. ({23}) Deswegen appelliere ich von dieser Stelle aus an diejenigen aus dem Unternehmerlager, die immer wieder danach rufen, dass wir eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit brauchen, endlich dafür zu sorgen, dass die Frauen und Männer, die bis zum 65. Lebensjahr erwerbstätig sein wollen, dies auch sein können. Das muss zunächst angegangen werden, bevor man sich weitergehenden Forderungen zuwendet. ({24}) Darüber sind wir uns einig. Wir sehen ja in diesem Hause: Mit 50 gehört niemand zum alten Eisen. Wenn hier gelten würde, was in der Wirtschaft gilt, wäre ein Großteil von uns überhaupt nicht mehr hier. ({25}) Deshalb, meine Damen und Herren, wird mein Kollege Clement bei der Arbeitsmarktreform meine Unterstützung ({26}) und die Unterstützung des Hauses haben. Es muss unsere gemeinsame Aufgabe sein, dafür zu sorgen, dass Menschen in Arbeit kommen und so zu Beitragszahlern und Beitragszahlerinnen werden. In der Gesundheitspolitik fördern wir die Eigenverantwortung der Menschen. Wir definieren Eigenverantwortung aber etwas anders, als es manchmal von der rechten Seite dieses Hause zu hören ist. ({27}) Eigenverantwortung bedeutet für uns nicht, dass die Menschen immer mehr Geld privat auf den Tisch legen müssen. Eigenverantwortung bedeutet für uns, die Kompetenz der Menschen, für ihre eigene Gesundheit sorgen zu können, zu stärken sowie Anreize für Prävention und für Vorsorge zu setzen. Den Menschen muss bewusst sein: Jeder hat nur dieses eine Leben. Wer fit ins Alter gehen will, der muss früh anfangen, vorzusorgen und Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen. Das ist Eigenverantwortung im besten Sinne des Wortes. ({28}) Wir haben hierzu mit der Stärkung der Patientenrechte, den strukturierten Behandlungsprogrammen für chronisch Kranke und dem Ausbau von Prävention und Gesundheitsförderung die Voraussetzungen geschaffen. Diesen Weg werden wir in den nächsten vier Jahren fortsetzen und wir werden die Möglichkeiten ausbauen. Selbstverständlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind weitere strukturelle Veränderungen im Gesundheitswesen nötig. Die Leistungsseite muss dabei in den Mittelpunkt rücken. Qualität und Wirtschaftlichkeit, Steuerungseffizienz und Transparenz, solidarischer Wettbewerb um die besseren Behandlungskonzepte, das sind die Ziele, um die es gehen muss. Jeder muss auch in Zukunft die Behandlung bekommen, die medizinisch angemessen und notwendig ist. Wir werden aber genau prüfen müssen, was wir uns im Interesse der Patientinnen und Patienten leisten müssen und was wir uns nicht leisten sollten. ({29}) Das wird die Aufgabe sein. Ich bin entschieden dafür, dass die Krankenkassen nur noch die Leistungen bezahlen, die wirklich, wissenschaftlich nachgewiesen, nutzen, ({30}) um eine Krankheit zu erkennen und zu bekämpfen oder Schmerzen zu lindern. Ich bin entschieden dafür, dass die Krankenkassen die Qualität der erbrachten Leistungen zur Voraussetzung für Verträge machen und nicht Gewohnheitsrecht. Ich sage hier ganz klar: Ich akzeptiere, dass hochwertige medizinische Leistungen ihren Preis haben. Leistungen müssen ihren Preis aber auch wert sein. In unserem Gesundheitswesen muss durchgängig auf qualitätsgesicherter Basis und effizient gearbeitet werden. ({31}) Leistungen müssen aufeinander abgestimmt werden. Doppel- und Parallelbehandlungen müssen vermieden werden. Nur so können wir auch in Zukunft Gesundheit für alle bezahlen. Nur so kann jeder eine hoch stehende medizinische Versorgung erhalten. ({32}) Letztlich geht es bei unserer Gesundheitsreform um die Lebensqualität der Menschen, um den Verbraucherschutz und um das Kostenbewusstsein. Die konsequente Prüfung des Nutzens von Therapien, Technologien und Arzneimitteln, die Fortbildungsverpflichtung für Ärztinnen und Ärzte und die Behandlungsleitlinien für die großen chronischen Volkskrankheiten werden dynamische Qualitätsstandards setzen, die Lebensqualität der Menschen erhöhen und gleichzeitig die Kosten senken. Wir werden den Rahmen für eine Wettbewerbsordnung um die beste Versorgungsqualität schaffen, die alle im Gesundheitswesen Tätigen anspornt, qualitätsgesichert und effizient zu arbeiten. Mit der Möglichkeit, Informationen über die Qualität zu erhalten, werden wir dafür sorgen, dass der Qualitätswettbewerb angeregt und intensiviert wird. Damit ermöglichen wir es den Patienten und Patientinnen, mit ihren Füßen abzustimmen; sie wissen nämlich, wo sie Qualität erhalten. ({33}) Der Ausbau der integrierten Versorgung, die Stärkung der Hausärzte als Lotsen, die verbesserte Abstimmung zwischen Haus- und Fachärzten, Krankenhäusern und Gesundheitszentren und die flächendeckende Einführung der elektronischen Gesundheitskarte - all dies wird den Patienten nutzen, die Kosten senken und die Beiträge stabil halten. ({34}) Wir werden diese Strukturreformen angehen und durch ein Vorschaltgesetz kurzfristig erste Schritte unternehmen, damit wir Luft schaffen, um diese Reformen umzusetzen. ({35}) Dieses Vorschaltgesetz wird von allen Leistungserbringern einen Beitrag zum Sparen einfordern. Es wird aber kein Gesetz sein, durch das notwendige Behandlungen und Strukturmaßnahmen blockiert werden. ({36}) Es wird zum ersten Mal ein Vorschaltgesetz erlassen - das steht im Gegensatz zu den Vorhaben während Ihrer Regierungszeit -, durch das Sparpotenziale erschlossen werden, ohne medizinisch notwendige Leistungen für die Versicherten zu kürzen oder sie über Zuzahlungen zur Finanzierung dieser Sparbeiträge heranzuziehen. ({37}) Meine Damen und Herren, den Weg, den wir in der Behindertenpolitik eingeschlagen haben, werden wir weitergehen. Wir sind nämlich der Meinung, dass es allen Menschen mit Behinderungen ermöglicht werden muss, an allen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens gleichberechtigt und selbstbestimmt teilzuhaben. Dies wird mit dem SGB IX, dem Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch -, gesetzlich geregelt. ({38}) Es wird darauf ankommen, dafür zu sorgen, dass das, was wir gesetzlich geregelt haben, im Alltag auch überall umgesetzt wird. Das wird auch in der Behindertenpolitik die Hauptaufgabe sein. Wir werden eine Sozialhilfereform auf den Weg bringen, durch die das Konzept von „Fördern und Fordern“ auch in der Sozialhilfe umgesetzt wird und durch die den Menschen die Möglichkeit gegeben wird, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten. Damit geben wir ihnen die Chance, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Wir haben in den kommenden vier Jahren viel vor. ({39}) Ich hoffe, dass wir - jenseits von aller Wahlkampfrhetorik - in diesem Hause über die für Deutschland sehr wichtigen Fragen der sozialen Sicherung und der sozialen Gestaltung unseres Gemeinwesens gemeinsam beraten und zu gemeinsamen Beschlüssen kommen werden. Vielen Dank. Ich glaube, gemeinsam schaffen wir das. ({40})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Horst Seehofer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Horst Seehofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002140, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu allererst ist es bemerkenswert, dass ein größerer Teil der SPD-Bundestagsfraktion den Saal wieder betreten hat, nachdem sich abzeichnete, dass Frau Schmidt mit ihrer Rede zum Ende kommt. ({0}) Der zweite Punkt. Es ist ärgerlich: Die deutsche Sozialversicherung befindet sich in der größten Krise seit ihrem Bestehen und Frau Schmidt speist das deutsche Parlament mit nichts sagenden Allgemeinplätzen ab. ({1}) Wir werden es in den nächsten Tagen erleben: In Wahrheit plant sie drastische, schamlose Eingriffe in das deutsche Sozialsystem. ({2}) Drastisch und dreist, weil ich vor gut einem Monat noch ganz andere Töne von Frau Schmidt gehört habe. Ich habe mit ihr etliche Fernsehdiskussionen bestritten. Ich habe auf die wahre dramatische Lage der deutschen Sozialversicherung hingewiesen. Frau Schmidt hat auch in der Öffentlichkeit immer geantwortet: Das alles ist Panikmache. Die Krankenversicherung wird Ende des Jahres einen ausgeglichenen Haushalt haben. Jetzt sind vier Wochen vergangen. Die deutsche Krankenversicherung schwebt in akuter Lebensgefahr. Nun kann es nicht schnell genug gehen. In der nächsten Woche soll ein Gesetz eingebracht werden, das noch im November verabschiedet werden soll. Das ist bei einem so ernsten Thema ein schamloses Verfahren gegenüber dem deutschen Parlament. Bevor der Gesetzentwurf überhaupt eingebracht ist, bittet man uns, Sachverständige für eine Anhörung zu benennen, obwohl wir gar nicht wissen, was in dem Gesetzentwurf steht. Das ist ein reines Tollhaus. ({3}) Es ist dreist, Frau Schmidt, dass Sie noch vor gut vier Wochen gesagt haben: Die Finanzen der Krankenversicherung sind ausgeglichen. Jetzt müssen Sie Milliar312 dendefizite einräumen. Lügen haben kurze Beine. Sie wussten um die Situation der deutschen Krankenversicherung. Sie haben die deutsche Öffentlichkeit wider besseres Wissen angelogen. Sie haben sich moralisch disqualifiziert. Sie haben den Menschen vor der Wahl die Unwahrheit gesagt. ({4}) Deshalb, Frau Schmidt, glauben wir Ihnen kein Wort mehr. Keine Prognose von Ihnen trifft zu. Ihre Auffassungen zu den Dingen drehen sich schneller als ein Ventilator. Es ist schamlos, was Sie jetzt vorhaben. Man muss sich einmal vergegenwärtigen, worauf die Probleme des deutschen Gesundheitswesens zurückzuführen sind. ({5}) Es ist nicht das Unvermögen der Bevölkerung, wie uns der Kanzler einreden wollte, die nicht leistungsbereit sei und zu wenig für unser Land tue. Es ist nicht das Unvermögen der Beteiligten des Gesundheitswesens. Die aktuellen Probleme des deutschen Gesundheitswesens sind alleine auf das Unvermögen dieser Bundesregierung zurückzuführen. ({6}) Die Spitzenverbände der deutschen Krankenversicherungen haben vor wenigen Tagen erklärt: Die in der Vergangenheit praktizierte Schwächung der Finanzen der GKV zur Entlastung anderer Sozialversicherungszweige bzw. der öffentlichen Haushalte - das sind die berühmten Verschiebebahnhöfe, mit denen sich die Bundesregierung zulasten der deutschen Krankenversicherung entlastet ({7}) schwächt die gesetzlichen Krankenkassen in den Jahren 2002 und 2003 bereits mit 4,5 Milliarden Euro. So die deutschen Krankenkassen. ({8}) Die deutschen Krankenkassen haben festgehalten: Ohne diese Belastung hätten die Beitragssätze in der Krankenversicherung stabilisiert werden können. Jetzt aber folgt die Kontinuität im Irrtum. Mit diesen Verschiebebahnhöfen geht es nämlich weiter. Das meiste, was Herr Clement hier gestern vorgestellt hat, ({9}) ist ein Verschiebebahnhof zulasten der Kranken- und Rentenversicherung. Die Einnahmeschwächung, die Frau Schmidt beklagt hat, ist zuallererst darauf zurückzuführen, dass diese Regierung die Beiträge für die Arbeitslosenhilfebezieher an die Krankenversicherung drastisch gesenkt hat. Das hat nicht nur dazu geführt, dass diese Menschen später eine niedrigere Rente haben werden, insbesondere in den neuen Bundesländern, sondern auch dazu, dass die Einnahmen der Krankenversicherungen drastisch vermindert wurden. ({10}) Auf diesem fehlerhaften Weg wird fortgefahren. Der neue Verschiebebahnhof nach den neuen politischen Maßnahmen wird die Krankenversicherung erneut mit weit über 1 Milliarde Euro belasten. Ich halte fest: Erste politische Ursache für die akute Finanznot der gesetzlichen Krankenversicherung sind die politischen Fehler, die Rot-Grün in den letzten Jahren und in der Gegenwart gemacht hat. ({11}) Hinzu kommt, dass allein zwei Leistungsbereiche durch politisches Unvermögen in den Sand gesetzt worden sind. Den einen Fehler haben Sie persönlich zu verantworten, Frau Schmidt. Sie haben die Arzneimittelbudgets aufgehoben, ohne gleichzeitig eine Strukturreform im Gesundheitswesen durchzuführen. ({12}) Das hatte zur Folge, dass die Arzneimittelausgaben in Ihrer Regierungsverantwortung um 30 Prozent oder um annähernd 9 Milliarden DM gestiegen sind. ({13}) Sicherlich wird niemand behaupten, dass der Bedarf an medizinischer Versorgung in diesem Sektor in demselben Umfang gestiegen ist. Sie haben den weiteren Fehler begangen, die von uns eingeführte Selbstbeteiligung so zu ändern, dass in der gesetzlichen Krankenversicherung derjenige der Dumme ist, der sich nicht die größte Packung verordnen lässt. Für eine kleine Packung mit 25 Pillen sind vier Euro Zuzahlung zu leisten, für eine große Packung mit 100 Pillen fünf Euro - in unserer Regierungsverantwortung war die Spreizung wesentlich größer -; das hat zur Folge, dass verständlicherweise niemand mehr bereit ist, bei nur einem Euro Unterschied auf die 75 Pillen in der größeren Packung zu verzichten. Das war ein verheerender politischer Fehler, der zu der Explosion der Arzneimittelausgaben geführt hat. ({14}) Die Verwaltungskosten innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung sind in Ihrer Regierungsverantwortung um 15 Prozent oder annähernd 2 Milliarden gestiegen, und zwar nicht, weil die Krankenkassen unwirtschaftlich arbeiten, sondern weil Sie durch Paragraphen, Reglementierung, Gesetze und planwirtschaftliche Maßnahmen die Bürokratie in den Krankenkassen verstärkt haben. ({15}) Beides zusammengenommen - die politisch indizierte Arzneimittelexplosion plus der explosionsartige Anstieg der Bürokratie und der Verwaltungskosten - belastet die gesetzliche Krankenversicherung gegenwärtig mit 10 Milliarden DM bzw. 5 Milliarden Euro. Das heißt, wenn Sie diese politischen Fehler nicht begangen hätten, würde die gesetzliche Krankenversicherung trotz der schwierigen Wirtschaftslage im Moment kein Defizit schreiben. ({16}) Die akute Finanznot der gesetzlichen Krankenversicherung ist Ausdruck des Unvermögens dieser Regierung. Das ist die Folge Ihres Verschiebebahnhofs und politisch falscher Maßnahmen. Was ist zu tun? Es muss vor allem mit dem Irrglauben Schluss gemacht werden, dass soziale Gerechtigkeit, hohe Qualität in der medizinischen Versorgung und wirtschaftliche Effizienz durch Reglementierung und staatliche Bürokratie gewährleistet werden können. ({17}) Die Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit durch eine staatlich kontrollierte Verteilungsorganisation hat sich endgültig als wirklichkeitsblind erwiesen. ({18}) Das Ergebnis Ihrer Politik ist, dass die Menschen in unserem Lande so hohe Krankenversicherungsbeiträge zahlen wie nie zuvor und gleichzeitig die Versorgungsqualität so schlecht geworden ist wie nie zuvor. Beitragserhöhungen und Leistungssenkungen sind das Ergebnis Ihrer verfehlten Politik. ({19}) Was ist zu tun? - Wir sagen es seit Jahren. Wir haben es auch im Wahlkampf gesagt und haben im Gegensatz zu Ihnen keinen Anlass, unsere Position nach der Wahl zu ändern. Die erste und wichtigste Aufgabe ist eine andere Wirtschafts-, Finanz-, Haushalts- und Steuerpolitik, um in Deutschland eine wirtschaftliche Dynamik auszulösen und mehr Arbeitsplätze zu schaffen; denn dies ist das A und O für die Einnahmen der Krankenversicherung. An dieser Stelle müssen Sie ansetzen. ({20}) Das Zweite, was Sie tun müssen, Frau Schmidt, ist, die neuen Verschiebebahnhöfe zugunsten des Ministers für Wirtschaft und Arbeit zu verhindern. Es wäre richtig und ein Ausdruck von Tapferkeit, die Fehler im eigenen Laden zu vermeiden, statt die Öffentlichkeit zu beschimpfen, dass sie sich angeblich falsch verhalte. ({21}) In der Strukturreform haben Sie den großen Fehler gemacht, unsere Gesundheitsreform zurückzunehmen. ({22}) Wenn Sie die Gesundheitsreform des Jahres 1997 nach der Bundestagswahl nicht aufgehoben hätten, dann hätten Sie gegenwärtig weder die Finanzierungs- noch die Qualitätsprobleme in der gesetzlichen Krankenversicherung. ({23}) Das war ein kolossaler politischer Fehler. Hinzu kommen noch Ihre eigenen Fehler in den vergangenen vier Jahren. Bei einer Strukturreform müssen Sie von den planwirtschaftlichen Elementen Abschied nehmen und im Kern drei oder vier Punkte realisieren, die zu mehr Qualität und zu einer höheren wirtschaftlichen Effizienz führen als Ihre Ansätze der Bürokratie und Reglementierung. An erster Stelle muss gerade mittel- und langfristig stehen, das deutsche Gesundheitswesen aus dem Reparaturbetrieb herauszuholen und in der Bundesrepublik Deutschland mehr Prävention durch finanzielle Anreize zu realisieren. ({24}) Zweitens. Das deutsche Gesundheitswesen muss aus der Dunkelkammer heraus. Bisher weiß niemand der Beteiligten, was dort stattfindet. Es ist höchste Zeit, dass die Versicherten eine Rechnung bekommen, aus der sich ergibt, was geleistet und wie abgerechnet worden ist. Es ist höchste Zeit, dass die Ärzte eine Gebührenordnung bekommen, anhand derer sie zum Zeitpunkt der Leistungserbringung wissen, was sie für ihre Leistungen erhalten. ({25}) Es ist schlimm, dass die Ärzte der einzige Berufsstand sind, der zum Zeitpunkt der Dienstleistung nicht weiß, was er für seine Leistung erhält. ({26}) Drittens. Besinnen Sie sich endlich auf ein tragendes Element der sozialen Marktwirtschaft, nämlich auf den Wettbewerb. Dezentralisieren Sie das deutsche Gesundheitswesen. Geben Sie den Ärzten, den Krankenhäusern, den Apothekern und den anderen vor Ort Tätigen durch Wettbewerb und freie Vertragsgestaltung - nicht durch staatliche Bevormundung - die Chance, die bestmögliche Versorgung der Patienten vor Ort sicherzustellen. Entscheiden Sie nicht alles zentralistisch, einheitlich und hinter verschlossenen Türen in Berlin. ({27}) Geben Sie den Beteiligten im Gesundheitswesen vielmehr die Gestaltungsmacht, in einen Wettbewerb um die bestmögliche Versorgung der kranken Menschen einzutreten. ({28}) Viertens. Diejenigen, die die Krankenversicherung mit ihren Beiträgen finanzieren, also die Beitragszahler, haben bisher so gut wie kein Mitspracherecht, wenn es um die Gestaltung der Krankenversicherung geht. Deshalb halten wir es für ein wichtiges Gestaltungselement, die deutsche Sozialversicherung ein Stück weit zu demokratisieren, also auch denjenigen, die Beiträge zahlen, ein Mitspracherecht zu geben. ({29}) Den Gedanken des Gemeinsinns mit dem der Freiheit und den Gedanken der Eigenverantwortung mit dem der freien Entscheidungsmöglichkeit des Bürgers zu verbinden sind Elemente eines freiheitlichen Gesundheitswesens. Räumen Sie den Versicherten endlich ein Mitgestaltungsrecht bei den Versicherungskonditionen und beim Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung durch Wahlmöglichkeiten ein! Das heißt, wer sich selbst finanziell stärker an den Leistungen beteiligt, der hat einen geringeren Beitragssatz. ({30}) Lassen wir das die Menschen und nicht die Bürokraten entscheiden. ({31}) Führen Sie endlich Mitentscheidungsmöglichkeiten von chronisch kranken Menschen in der gesetzlichen Krankenversicherung ein. Machen wir Schluss damit, dass Funktionäre über die Köpfe der chronisch kranken Menschen hinweg entscheiden. Beziehen wir die chronisch kranken Menschen und ihre Selbsthilfegruppen vielmehr in die Politikberatung und in die Entscheidungen der gesetzlichen Krankenkassen mit ein. Das wäre die richtige Antwort in der deutschen Gesundheitspolitik. ({32}) Sie fallen in die Zeiten der Reglementierung zurück. Sie verordnen Nullrunden und wollen den Menschen weismachen, dass damit keine Qualitätseinbußen in der Gesundheitsversorgung verbunden seien. Nullrunden für die deutschen Krankenhäuser bedeuten aber in Wahrheit, dass die Krankenhäuser im nächsten Jahr nur noch zwei Möglichkeiten haben: Entweder entlassen sie Personal oder sie schränken Leistungen ein. Die meisten Krankenhäuser werden beides tun müssen. Frau Schmidt, Sie tragen die Verantwortung dafür, dass in Deutschland noch nie so viel Zweiklassenmedizin realisiert wurde wie derzeit. Diese Entwicklung wird sich auch noch fortsetzen. ({33}) Dann gibt es noch einen Scherbenhaufen, den Rot-Grün angerichtet hat. Das ist die Rentenreform. Ich habe einmal herausgesucht, was bei der Verabschiedung dieser angeblichen Jahrhundertreform vor einem Jahr von diesem Rednerpult aus gesagt worden ist. Walter Riester sagte damals: Wir werden sicherstellen, dass in einem Zeitraum von zehn Jahren der Rentenversicherungsbeitrag nicht über 19 Prozent und in einem Zeitraum von 20 Jahren nicht über 20 Prozent steigen wird. ({34}) Ein Kollege aus meiner Fraktion hat damals dazwischengerufen: „Daran werden wir Sie erinnern!“ ({35}) Das tun wir heute. Ich habe schon vor einigen Monaten gesagt - ich wiederhole es, auch wenn Herr Müntefering nicht hier ist -: Der Rentenversicherungsbeitrag von 19,1 Prozent ist nicht zu halten, obwohl die Menschen jetzt ab 1. Januar mehr als 15 Milliarden Euro Ökosteuer an der Tankstelle sozusagen als Rentenbeitrag zahlen. ({36}) Wenn Sie ehrlich mit dem Thema umgehen, ({37}) müssen Sie die Beiträge von 19,1 Prozent auf mindestens 19,8 Prozent erhöhen. Weil ich zum Optimismus aufgefordert worden bin, habe ich zugunsten der Regierung sogar noch optimistisch gerechnet, nämlich nur mit einer Steigerung von 19,1 Prozent auf 19,5 Prozent. Frau Schmidt, mindestens werden es aber 19,8 Prozent sein. Sie gehen jetzt auf 19,3 Prozent und versuchen die Differenz durch einen schamlosen Griff in die Rentenreserven auszugleichen. Das wird dazu führen, dass im nächsten Herbst, also im Herbst 2003, zum ersten Mal in der Geschichte der deutschen Rentenversicherung die Rente auf Pump finanziert werden muss. Das zerstört das Vertrauen in die Rentenversicherung und ist des deutschen Sozialstaats unwürdig. ({38}) Außerdem erhöhen Sie die Beitragsbemessungsgrenze. Diese beiden systemwidrigen Eingriffe werden aber nicht ausreichen, um die Einnahmendifferenz bei dem von Ihnen angepeilten Rentenversicherungsbeitrag von 19,3 Prozent und dem tatsächlich notwendigen von 19,8 Prozent auszugleichen. Deshalb prognostiziere ich heute wieder: ({39}) Entweder korrigieren Sie das schon jetzt, also noch bevor Sie den Gesetzentwurf einbringen, und gehen auf einen höheren Satz als 19,5 Prozent - das wäre nichts Neues; jeder zurzeit handelnde Minister dieser Regierung hat sich seit der Vereidigung in diesem Haus, also seit gut einer Woche, in seiner Meinung, die öffentlich gemacht wird, mindestens einmal korrigiert ({40}) oder Sie machen es später, aber Sie werden es - das ist bombensicher - machen müssen, und dies bei der Aussage: Wir garantieren der deutschen Öffentlichkeit, dass der Rentenversicherungsbeitrag über zehn Jahre hinweg nicht über 19 Prozent steigen wird. Herr Riester sagte dann noch: Deswegen ist diese Reform - gemeint ist die, die vor Jahresfrist verabschiedet wurde die größte Sozialreform, die in der Nachkriegszeit gemacht worden ist. ({41}) Man glaubt es nicht, wenn man hört, dass die größte Nachkriegsreform aller Zeiten, die am 1. Januar mit der Riester-Rente in Kraft getreten ist - nicht irgendwann, sondern am 1. Januar dieses Jahres -, im Oktober völlig aufgehoben wird, und zwar dadurch, dass der Bundeskanzler erklärt: Jetzt werden wir eine Kommission einsetzen, die eine echte Rentenreform macht. ({42}) Dass eine Jahrhundertreform nach zehn Monaten am Ende ist, ist eine Welturaufführung. ({43}) Ich sage ganz freimütig: Wir haben auch nicht immer Reformen gemacht, die ein Jahrhundert gehalten haben, aber sie haben wenigstens einige Jahre gehalten. Eine Reform, die als Jahrhundertreform gepriesen worden ist, hält nur Monate. Was sollen sich eigentlich all die Kommentatoren denken, die diese Reform gepriesen haben, weil sie der Propaganda des Ministers geglaubt haben? Was sollen die 2 Millionen Menschen denken, die einen Vertrag zur Riester-Rente abgeschlossen haben und jetzt feststellen, dass sich alle Rahmenbedingungen ändern werden? ({44}) Es ist ein Treppenwitz der Sozialgeschichte: Nach zehn Monaten ist eine große Reform am Ende und es wird eine Kommission eingesetzt, um die nächste Reform vorzubereiten. ({45}) Das deutsche Sozialversicherungssystem war in Europa über viele Jahrzehnte Modellfall. Es war ein Vorzeigemodell. ({46}) Es hat vieles überstanden und bewältigt, Millionen Vertriebene und Flüchtlinge mit guten Renten- und Gesundheitsleistungen sozial integriert, viele wirtschaftliche Rezessionen überdauert und die deutsche Einheit sozial gestaltet. Es war eines der schönsten Ereignisse: die innere Einheit im sozialen Bereich mit den Renten und der schnellen Übertragung des Gesundheitswesens, das optimal funktioniert hat. ({47}) Das alles hat das gute deutsche Sozialsystem bewältigt. Vier Jahre Rot-Grün haben genügt, um dieses Sozialsystem zum Kollaps zu bringen. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. ({48}) Frau Schmidt, für Ihre Planwirtschaft bestand und besteht keine Zukunft. Sie müssen einen grundlegenden Richtungswechsel in Ihrer Politik herbeiführen: mehr Eigenverantwortung, mehr Flexibilität und freiheitliche Muster. Dadurch werden mehr Qualität und Versorgungssicherheit gewährleistet als durch Ihre Bürokratie und Reglementierung. Wenn Sie das nicht tun, werden Sie in der deutschen Sozialgeschichte nicht als Superministerin in Erinnerung bleiben, sondern Sie werden als die Ministerin in die deutsche Sozialgeschichte eingehen, die dieses Sozialsystem auf dem direkten Weg in den Supergau geführt hat. Ich danke Ihnen. ({49})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Zur Geschäftsordnung erteile ich das Wort dem Kollegen Kauder.

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich beantrage im Namen meiner Fraktion, dass der Herr Bundeskanzler, der Herr Bundesfinanzminister und der Herr Bundeswirtschaftsminister an dieser Debatte teilnehmen. Ein zentrales Thema deutscher Politik - wie können Lohnzusatzkosten gesenkt werden? - wird besprochen. Die zuständigen Fachminister und der Bundeskanzler halten es nicht für nötig, an dieser Debatte teilzunehmen. Das ist ein unerträglicher Zustand. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Küster das Wort.

Dr. Uwe Küster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kauder, ich richte mich besonders an Ihre Adresse und an Ihre Fraktion. Sie wissen, dass zwei, drei Minister derzeit aufgrund internationaler Verpflichtungen unterwegs sind und darum an der Debatte nicht teilnehmen können. Dass Sie diese üblichen Regeln des parlamentarischen Lebens auch jetzt wieder missbrauchen, zeigt, dass Sie Ihre Rolle als Opposition bisher noch nicht gefunden haben. ({0}) Des Weiteren haben Sie gesehen, dass in dieser Debatte alle Ministerien vertreten waren. Ich glaube, Sie wollen ein Spielchen treiben. Wenn Sie dieses anstatt einer ordentlichen Beratung wollen, lassen wir uns gerne darauf ein und wir können über Ihren Antrag entscheiden. Sie werden - wie immer - verlieren. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Beck, Sie haben das Wort. ({0})

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! - Nun kommen Sie erst einmal zur Ruhe. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Es steht in der Geschäftsordnung: Rede und Gegenrede! - Wie bitte? ({0}) - Machen Sie das mit dem Präsidium aus. Wenn der Präsident mir das Wort erteilt, habe überwiegend ich das Wort und Sie das Recht zu Zwischenrufen. ({1}) Selbstverständlich ist es das gute Recht der Opposition, Regierungsmitglieder herbeizuzitieren, wenn sie das für sinnvoll hält. Trotzdem muss man sich fragen, ob ein solcher Antrag jetzt, nach einer dreitägigen Debatte zur Regierungserklärung, bei der der Bundeskanzler und viele Mitglieder des Kabinetts ständig anwesend waren, wirklich Sinn macht. ({2}) Ich meine, wir sollten die Mittel und Möglichkeiten unserer Geschäftsordnung nicht durch Spielchen überstrapazieren, sondern die Debatten in diesem Hause so führen, dass sie der Würde dieses Hauses auch gerecht werden. Ich habe große Zweifel, ob dieser Antrag diesem Anliegen dient. Deshalb stimmen wir dagegen. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Thiele das Wort.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Die FDP tritt dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU bei. Auch wir bitten um die Anwesenheit der zuständigen Minister und des Bundeskanzlers. Es handelt sich immerhin um eine Diskussion über die Regierungserklärung. ({0}) Die zuständigen Minister der Bundesregierung und der Bundeskanzler an der Spitze sollten bei dieser Debatte anwesend sein. Da der Bundeskanzler selbst erklärt hat, dass die demographische Entwicklung unseres Landes eines der Hauptprobleme, die von dieser Regierung gelöst werden müssen, darstellt, erwarten wir die Anwesenheit des Kanzlers und der zuständigen Minister. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag, den Kollege Kauder gestellt hat. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wir sind uns hier vorne nicht einig. ({0}) Meine Schriftführerin zur Rechten sagt, rechts sei die Mehrheit. Mein Schriftführer zur Linken sagt, links sei die Mehrheit. Also kommen wir zu unserem geliebten Hammelsprung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, den Plenarsaal zu verlassen und dann wieder durch die entsprechende Tür - Ja, Nein oder Enthaltung - hereinzukommen. Können wir mit der Auszählung beginnen? - Ich bitte, mit dem Einlass und der Zählung zu beginnen. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich bitte die Geschäftsführer um ein Signal, ob alle in der Lobby versammelten Kolleginnen und Kollegen Gelegenheit hatten, sich an der Abstimmung zu beteiligen. ({0}) - Dann möchte ich die Geschäftsführer bitten, die noch nicht in den Saal zurückgekehrten Kolleginnen und Kollegen zur Abgabe ihrer Stimme aufzufordern. Wir wollen die Abstimmung in einer Minute schließen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die Abstimmung - ({1}) - Vor einer Minute gab es auf meine Ankündigung, die Abstimmung in Kürze zu schließen, keine gegenteiligen Signale. ({2}) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert Nunmehr werden solche zunehmend registriert. Herr Geschäftsführer, es gehört zur gefestigten parlamentarischen Erfahrung, dass sich bei beliebiger Dauer des Abstimmungsverfahrens immer noch einzelne Kolleginnen und Kollegen finden. Wir müssen die Abstimmung aber in einer überschaubaren und zumutbaren Zeit zum Abschluss bringen. ({3}) Deswegen schließe ich jetzt die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mir das Ergebnis mitzuteilen. Ich teile das Abstimmungsergebnis mit. Für den Antrag auf Herbeirufung der Mitglieder der Bundesregierung haben gestimmt 218 Mitglieder des Bundestages, gegen diesen Antrag haben gestimmt 266 Mitglieder, ({4}) Enthaltungen gab es keine. Damit ist dieser Antrag mit Mehrheit abgelehnt. Wir setzen die Aussprache fort. ({5}) - Ich bitte um wenigstens ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit, insbesondere für die unmittelbar folgende Rednerin. Als nächster Kollegin erteile ich Birgitt Bender für Bündnis 90/Die Grünen das Wort. ({6})

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe dem Geschäftsordnungsantrag der Opposition entnommen, dass das Thema Gesundheit und Soziales für Sie das Thema überhaupt ist. Deswegen freue ich mich, jetzt vor vollem Hause reden zu können. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder hat Verständnis dafür, dass sich nach dieser spektakulären Unterbrechung die Interessen neu ordnen. Diejenigen, die der Debatte nicht weiter folgen können oder wollen, mögen bitte den Plenarsaal verlassen, damit diejenigen, die der Debatte folgen wollen, den Rednern konzentriert zuhören können. Ich bedanke mich für das Verständnis. Bitte schön.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön, Herr Präsident. Damit wende ich mich gleich der Opposition zu. Herr Seehofer, Sie haben ja hier schwer zugeschlagen. Was hat man da alles gehört: „drastisch“ und „dreist“, „schamlos“, „Unvermögen der Bundesregierung“. ({0}) Wissen Sie, ich bin neu im Bundestag und ich bringe Erfahrungen aus der Opposition im baden-württembergischen Landtag mit. Deswegen habe ich ein Verständnis von der Oppositionsrolle. Wir Grüne haben es uns als Opposition zur Aufgabe gemacht, nicht nur die Regierung zu bekritteln, sondern auch selbst Reformalternativen vorzulegen. ({1}) Davon habe ich bei Ihnen nichts gehört. Heute haben wir zum einen die alte Leier „Die Patienten sollten mehr zuzahlen“ gehört. Das kennen wir schon. Ansonsten habe ich Vorschläge gehört, deren Umsetzung im Koalitionsvertrag vereinbart ist, Stichwort Patientenquittung, Herr Seehofer. Da freue ich mich doch auf die Zustimmung der Opposition, wenn wir das entsprechende Reformgesetz verabschieden. ({2}) Wir können die Behauptung politischer Fehler im Einzelnen behandeln. Bei Herrn Seehofer hieß es: Verschiebebahnhöfe, wie schrecklich! Wie war denn das noch? Auch ich bin nicht mehr so ganz jung und verfüge über ein gewisses Gedächtnis: Mir ist so, als hätte die Regierung Kohl die deutsche Einheit über die Belastung der Beitragszahler in den Sozialversicherungssystemen bezahlt. ({3}) Wir, Rot-Grün, sind es schließlich gewesen, die erst einmal dafür gesorgt haben, dass alle versicherungsfremden Leistungen in der Rentenversicherung steuerfinanziert werden. ({4}) Lassen Sie sich im Übrigen auch einmal gesagt sein, dass unter der Regierung Kohl sowohl die Sozialversicherungssysteme belastet als auch immer weitere Schulden gemacht wurden. Wir aber konsolidieren den Haushalt. Es muss wohl möglich sein, die Arbeitslosenhilfe zu reformieren, auch wenn dabei Belastungen in der Sozialversicherung entstehen, die wir dann ausgleichen. ({5}) Herr Seehofer, Sie haben gesagt, die Kostenentwicklung in den Sozialversicherungen sei allein politischen Fehlern der Bundesregierung geschuldet. ({6}) Dazu muss ich sagen: Ganz offensichtlich übersteigt unsere Politik Ihren politischen Intelligenzquotienten. ({7}) Ich schaue mir ab und zu einmal die Tickermeldungen an. Vor zwei Tagen, am 29. Oktober dieses Jahres, wurde ein gewisser Kollege Seehofer zitiert: Dass die Ministerin nun plötzlich zu derartigen Sparmaßnahmen greife, geschehe nicht aus Einsicht, sondern sei dem Druck der Ereignisse geschuldet; diese seien unter anderem die konjunkturbedingt wegbrechenden Einnahmen der Krankenkassen. - Dazu kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch zu dieser Erkenntnis! Wenn die politische Halbwertszeit noch etwas länger wäre, dann wäre es noch besser. ({8}) Jetzt sage ich ein Wort zu den kurzfristigen Maßnahmen. Es wird diese Maßnahmen geben. Wir zimmern dieses Sparpaket mit den Werkzeugen, die für Notmaßnahmen vorgesehen sind. Keine Frage, was einzelne dieser Maßnahmen angeht, haben wir in der Koalition noch Beratungsbedarf. Es besteht aber Einigkeit - das will ich deutlich sagen -, dass wir durch ein solches Sparpaket, das den Beitragsanstieg verhindern wird, den Rücken für Strukturreformen, die im nächsten Jahr anstehen, freibekommen. ({9}) Das ist unser vorrangiges Ziel. Wir werden diese Reformen durchführen, ob sie Ihnen gefallen oder nicht. ({10}) Dass angesichts der kurzfristig zu erwartenden Maßnahmen jetzt der Aufschrei der Lobbyisten einsetzt, gehört dazu wie die Kirchenglocken zum Sonntag. Damit können wir leben. Dass sich die Opposition an die Spitze der Lobbyistenbewegung setzen wird, ist zu erwarten. Auch damit können wir leben. Leitlinie für Strukturreformen - das sage ich auch klar - wird nicht der staatliche Dirigismus sein. ({11}) Leitlinie unserer Strukturreformen wird eine Stärkung des Wettbewerbs im Gesundheitswesen sein, und zwar eines Wettbewerbs um die beste Versorgung und um die beste Prävention. ({12}) Anders als die Opposition organisieren wir nicht Ausstiege oder Teilausstiege aus der gesetzlichen Krankenversicherung; wir wollen und werden das Solidarsystem zukunftsfähig machen. ({13}) Deswegen bekommen die Patientinnen und Patienten eine neue Rolle gegenüber Ärzten und Kassen. Sie werden gleichberechtigte Partner. Ihre Rechte und Mitwirkungsmöglichkeiten werden gestärkt. Wir werden bessere und umfangreichere Beratungen durch unabhängige Beratungsstellen haben. ({14}) - Hören Sie gut zu! - Wir werden die Patientenquittung einführen. Ich bin gespannt, was Sie dann sagen. ({15}) Es wird auch im Zusammenhang mit Fragen der Sicherstellung der Versorgung Anhörungsrechte geben. Schließlich wird es einen Patientenbeauftragten oder eine Patientenbeauftragte geben, der oder die Erfahrungen und Anregungen bündeln und in Reformprozesse einbringen kann. ({16}) Dies sind Aspekte demokratischer Teilhabe, durch die das Gesundheitswesen an Qualität gewinnen und die Eigenverantwortung der einzelnen Menschen steigen wird. Dies ist uns wichtig. ({17}) Für die Kassen heißt dies, dass sie in Zukunft nicht nur über den Preis konkurrieren, sondern auch über Qualität; Qualität in der Versorgung ebenso wie in der Prävention. Sie werden also auch Einzelverträge mit den Leistungsanbietern mit festgelegtem Qualitätsniveau schließen. Anders gesagt: Mit uns wird es keinen Naturschutz für Monopole in der Gesundheitsversorgung geben. Kassen werden unterschiedliche Profile durch Anreiz- und Bonussysteme bilden. ({18}) Für die Versicherten heißt das, dass sie sich bewusst für Wege entscheiden können, um Krankheiten zu vermeiden. Im Krankheitsfalle haben sie Wahlmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Therapiemöglichkeiten. ({19}) Die Prävention wird eine eigenständige Säule, denn es geht um die Vermeidung von Krankheiten, um die bessere Bewältigung von gesundheitlichen Belastungen. Wenn wir wissen, dass jedes fünfte Kind bei Schuleintritt übergewichtig ist, wissen wir auch, welche große gesellschaftliche Aufgabe wir im Interesse der Menschen wie auch der Wirtschaftlichkeit des Gesundheitswesens zu bewältigen haben. ({20}) Solche Reformen verlangen von allen Beteiligten im Gesundheitswesen die Bereitschaft, aus alten Denkmustern und Konfliktstrategien auszusteigen. Wer diese Bereitschaft hat, ist zur Mitgestaltung eingeladen. Nun noch ein Wort zur Rente. Wir haben mit der Rentenreform für Generationengerechtigkeit gesorgt, indem wir der gesetzlichen Altersversorgung eine weitere Säule in Form der privaten Altersversorgung hinzugefügt haben. Wir werden jetzt auch kurzfristig Maßnahmen ergreifen, um Belastungen des Faktors Arbeit zu vermeiden. Es ist eben nicht so - wie Sie, Herr Seehofer, gesagt haben - dass wir hierbei in Omas Sparstrumpf langen. Es wird vielmehr so sein, dass die Rente gezahlt wird, egal welches Katastrophenszenario die Opposition an die Wand malt. In die Zukunft gerichtet sage ich: Wir werden auch darüber nachdenken müssen, ob die alleinige und ausschließliche Finanzierung der Sozialversicherungen über die abhängige Arbeit das Modell der Zukunft sein kann. ({21}) Dies wird auch eine Aufgabe der anvisierten Kommission sein. Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir wissen, es gibt viel zu tun. Seien Sie sicher: Rot-Grün packt es an! Danke. ({22})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Bender, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere. ({0}) Es gibt einfachere Situationen, als unmittelbar im Anschluss an einen Hammelsprung hier zu reden. Unter diesem Gesichtspunkt haben Sie das Schlimmste fast schon hinter sich. ({1}) Ich erteile als nächstem Redner dem Kollegen Kolb für die FDP-Fraktion das Wort.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man den Inhalt der Rede der Ministerin auf die Formel bringen: Wegen Beitragsexplosion macht Frau Schmidt ’ne Kommission. ({0}) Frau Ministerin, abgesehen von dieser Ankündigung hat sich Ihre Rede in Allgemeinplätzen erschöpft. ({1}) Dies ist beschämend, insbesondere angesichts einer Ankündigung im Koalitionsvertrag, in dem es heißt: „Wir machen unsere sozialen Sicherungssysteme zukunftsfähig.“ So steht es in der Präambel. Wir kaschieren die auftretenden Probleme so lange es irgend geht, hätte es heißen müssen. Noch nie hatte das Wort Zukunftsfähigkeit so viel von einer Drohung wie im rot-grünen Koalitionsvertrag. ({2}) Die Menschen in Deutschland verstehen sehr gut - glauben Sie mir das -, dass diese Politik ihre Zukunft nicht sicherer macht, sondern sie um ihre Zukunft bringt. ({3}) Denn statt die sozialen Sicherungssysteme auf die Belastungen durch eine alternde Bevölkerung einzustellen, verschiebt die rot-grüne Regierung die Lasten in die Zukunft und die Beiträge steigen und steigen. In keinem anderen Politikfeld ist - aus meiner Sicht folgerichtig - das öffentliche Echo auf Ihre Vorschläge im Koalitionsvertrag so vernichtend wie in der Renten- und Gesundheitspolitik und dies mit Recht. ({4}) Denn die Heraufsetzung der Beitragsbemessungsgrenze in der Renten- und Arbeitslosenversicherung von 4500 auf 5100 Euro hat doch nichts, aber auch gar nichts mit der Herstellung von Zukunftsfähigkeit zu tun. Sie ist nichts anderes als eine Aktion zur kurzfristigen Geldbeschaffung, die vor allem die Leistungsträger in unserer Gesellschaft bestraft. ({5}) Besonders schlimm ist Folgendes: Schon jetzt ist klar, dass die betroffenen Versicherten aus der Erhöhung der Beiträge wohl später keine zusätzlichen Leistungen erwarten dürfen. ({6}) Betroffen, Frau Kollegin Lotz, ist die von Ihnen so genannte Neue Mitte, die gut verdienenden Angestellten und Facharbeiter, die nun bis zu 1 200 Euro pro Jahr mehr in die Sozialkassen einzahlen müssen. Meine Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, ist Ihnen eigentlich klar, dass Sie mit dieser Maßnahme systematisch nicht nur wirtschaftlichen Leistungswillen vernichten - und zwar bei denen, die jetzt eigentlich die Voraussetzungen für einen neuen konjunkturellen Aufschwung schaffen müssten -, sondern auch die Bereitschaft - und die objektive Möglichkeit - der Bürger, mehr für ihre private Altersvorsorge zu tun? ({7}) Nicht weniger dramatisch ist die Folge der Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze auch für den Arbeitsmarkt. In Firmen, in denen viele Mitarbeiter mit Monatseinkünften über 4 500 Euro arbeiten, werden die Lohnnebenkosten regelrecht explodieren. Damit steigen die Arbeitskosten gerade in einem Bereich, in dem derzeit ohnehin bereits besonders viele Menschen von Entlassungen bedroht sind: bei Banken und Versicherungen, bei Medienunternehmen, in der Werbeindustrie. ({8}) Frau Ministerin Schmidt, wann erkennen Sie, wann erkennt diese Bundesregierung endlich diesen Teufelskreis? Jede Steigerung der Beitragssätze kostet Arbeitsplätze, da die Unternehmen die steigenden Lohnnebenkosten bei stagnierenden oder sinkenden Umsätzen durch Rationalisierung und Entlassungen auffangen müssen. Es ist ja keine Frage des Wollens, sondern eine des Müssens. Eine verantwortliche Geschäftsführung kann überhaupt nicht anders, als in einer solchen Situation so zu reagieren, wenn sie nicht den Verlust aller Arbeitsplätze des Unternehmens durch Insolvenz riskieren will.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nichts lieber als das. Bitte sehr.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte, Herr Kollege Dreßen. ({0})

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kolb, Sie haben gerade die Erhöhung der Lohnnebenkosten angesprochen. In dieser Frage gebe ich Ihnen ja in gewisser Weise Recht. Wieso haben Sie es dann eigentlich in Ihrer Regierungszeit zugelassen, dass die Lohnnebenkosten von 34 Prozent auf 43 Prozent erhöht wurden? Wieso haben Sie diese Erkenntnis damals nicht berücksichtigt und die Lohnnebenkosten nicht bei 34 Prozent gehalten? Wenn wir heute von den 34 Prozent ausgehen könnten, dann wäre uns sehr viel wohler. Warum haben Sie in Ihrer Regierungszeit eine derart drastische Steigerung gehabt? Eine solche Steigerung hatten wir nie; wir haben ja angefangen, die Lohnnebenkosten abzusenken. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Dreßen, ich glaube, diese Frage erklärt auch ein Stück weit die Probleme, die Sie aktuell in der Gesundheits- und Rentenpolitik haben. Sie richten den Blick immer nur nach hinten, ({0}) anstatt in der konkreten Entscheidungssituation die Lösungen anzubieten, mit denen die Beiträge stabilisiert werden können, sodass dazu beigetragen werden kann, Entlassungen zu vermeiden. Es nützt einem von Arbeitslosigkeit bedrohten Menschen in unserem Land überhaupt nichts, wenn Sie auf die Vergangenheit verweisen. Die Menschen wollen jetzt wissen, wie ihnen geholfen werden kann und wie ihnen diese drohenden Beitragssteigerungen erspart bleiben können. ({1}) Herr Dreßen, das Schlimme ist doch, dass in allen Zweigen der Sozialversicherung - ob das die Rentenversicherung, die Krankenversicherung, die Arbeitslosenversicherung oder die Pflegeversicherung ist - Feuer unter dem Dach ist. Und was machen Sie? - Sie betreiben eine Politik nach dem Motto: Als wir nicht mehr weiter wussten, verdoppelten wir unsere Anstrengungen. Das kann es wirklich nicht sein. Angesichts täglich neuer Schreckensmeldungen rennt Rot-Grün den Problemen atemlos hinterher. Anders kann man das nicht beschreiben. Was bei Ihnen zählt, ist Aktionismus, kurzfristiges Handeln. ({2}) Wie anders soll man es denn bezeichnen, wenn in der nächsten Woche, am 5. November, ein Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag eingebracht wird und zehn Kalendertage später - Anhörung und Ausschussberatung inklusive - das Gesetz fertig sein soll? Das kann man doch nicht mehr verantwortliche Beratung nennen. ({3}) Ich frage mich, wie Sie ein solches Vorgehen mit Ihrem Selbstverständnis als Parlamentarier vereinbaren können. ({4}) Den Menschen, die angesichts all dessen versuchen, der Beitragsexplosion auszuweichen, antworten Sie - wie schon früher bei der von Ihnen so genannten Scheinselbstständigkeit - mit einer Politik der Zwangsjacke. Die Anhebung der so genannten Versicherungspflichtgrenze in der Krankenversicherung soll - erst nur für Berufsanfänger; jetzt, wie wir hören und lesen können, für alle Versicherten - den Wechsel in eine private Krankenkasse erschweren. Wir Liberale im Deutschen Bundestag befürchten: Durch derart tagesflüchtiges Handeln wird massiv Vertrauen in die Verlässlichkeit politischer Rahmenbedingungen und in die Zukunft der Sozialversicherung zerstört. ({5}) Vor diesem Hintergrund lässt auch die Ankündigung des Bundeskanzlers, für die Sozialversicherung eine Kommission à la Hartz einsetzen zu wollen, wirklich nichts Gutes erwarten. Mit rund geschliffenen Konzepten à la Hartz lassen sich die Probleme nicht lösen. Es ist hier schon gesagt worden: Auch die als Jahrhundertwerk angekündigte riestersche Rentenreform hat nicht einmal zwei Jahre gehalten. Rot-Grün steht in der Rentenpolitik vor einem Scherbenhaufen. Deswegen gilt es jetzt, mit einer mutigen und beherzten Politik die Strukturprobleme in der Renten- und Gesundheitsversicherung zu lösen und nicht kopflos daran herumzudoktern. Wir sind zur Mitarbeit bereit, aber nicht mit heißer Nadel. Hier darf nichts - das sage ich sehr deutlich - über das Knie gebrochen werden. Es ist viel Zeit verloren gegangen, weil Sie die Probleme bisher geleugnet haben. ({6}) Es ist Zeit, dass sich die rot-grüne Koalition, die vieles verdrängt, der Einsicht stellt und wir gemeinsam ans Werk gehen. Dieses Land hat es verdient. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Gudrun Schaich-Walch, SPD-Fraktion. ({0})

Gudrun Schaich-Walch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001939, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir sind schon ziemlich geschlagen. ({0}) Der eine scheut den Blick zurück, weil er nichts anderes sieht als einen Scherbenhaufen. Der Nächste tritt hier an und lässt erkennen, dass er offensichtlich alles vergessen hat. Er hat vergessen, dass er derjenige war, der die zarte Pflanze der Prävention ausgerissen hat ({1}) und dass die Prävention und die Unterstützung der Selbsthilfe von dieser rot-grünen Koalition erst wieder eingeführt werden mussten. ({2}) Im Prinzip machen Sie heute genauso weiter wie vor der Wahl. Sie zeigen schlechte Alternativen auf. Ich denke an den Vorschlag der FDP zur Privatisierung unserer sozialen Sicherungssysteme oder an den der CDU/CSU zur Teilprivatisierung mit dem Ansatz von Wahlleistungen. ({3}) In beiden Fällen hat man Ihnen sehr deutlich gemacht, dass das nicht gewünscht ist. Es wäre wenigstens zu erwarten gewesen, dass Sie für die Zukunft die Kraft haben, Konsequenzen daraus zu ziehen und inhaltlich etwas anderes anzubieten. Aber anstatt Lösungen aufzuzeigen, machen Sie nur eins: Sie verunsichern die Menschen, Sie reden unsere sozialen Sicherungssysteme schlecht. Ein konstruktiver Beitrag kommt von Ihnen nicht. ({4}) Sie haben eben gesagt, wir müssten die Probleme an der Wurzel anpacken. Das werden wir gemeinsam tun, ({5}) allerdings nicht prinzipienlos. Wir werden dabei immer das Prinzip vor Augen haben, dass die Modernisierung des Sozialstaates auf Solidarität gründen muss und auf Verlässlichkeit für jeden, der zur Bewältigung schwerer Lebenskrisen Hilfe braucht. Wir werden sie an der Generationengerechtigkeit und an dem Gedanken der Nachhaltigkeit orientieren. ({6}) Deshalb werden die Ziele unserer Gesundheitspolitik in den grundlegenden Punkten an dem ausgerichtet sein, was wir in der letzten Legislaturperiode begonnen haben. Wir werden die Prävention gemeinsam weiterentwickeln und die Qualität im deutschen Gesundheitswesen entscheidend verbessern, weil davon auch die Wirtschaftlichkeit abhängt. Wir werden mithilfe der Patientenkarte und der Patientenquittung - die Kollegin hat das eben gesagt - die Transparenz erhöhen. Wir werden das alles unter dem Gesichtspunkt tun, meine Damen und Herren von der FDP, nicht ein möglichst hohes Einkommen für diejenigen zu sichern, die im Gesundheitswesen tätig sind. Vielmehr werden wir das vorrangig am Wohl der Patientinnen und Patienten orientieren und wir werden die Beschäftigten dabei nicht aus dem Auge verlieren. ({7}) Wir werden in der Zukunft diese Ansätze, die wir erarbeitet haben, weiterverfolgen. Wir werden im Krankenhausbereich mit dem eingeschlagenen Weg der leistungsorientierten Vergütung der Fallpauschale einen wesentlichen Schritt zu mehr Qualität und Transparenz tun. Wir tun das in gleichem Maße in der ambulanten Versorgung mit der Einführung der Desease-Management-Programme, die, wie ich denke, die Struktur der ambulanten Versorgung in den kommenden Jahren entscheidend verändern werden. Wir werden dadurch zu mehr Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Gruppen kommen. Patientinnen und Patienten werden bei der Bewältigung ihrer Krankheit endlich eine entscheidende und wichtige Rolle spielen und werden damit zu ihrem Heilungserfolg selbst einen wesentlichen Beitrag leisten können. Das verstehen wir unter Selbstbeteiligung. Es geht eben nicht darum, sich entweder ein Paket zu wählen oder kräftig zuzuzahlen. ({8}) Wir sind uns allerdings auch darüber im Klaren, dass wir zu einer Steigerung der Qualität in diesem Gesund322 heitssystem mehr Wettbewerb benötigen. Entscheidend für uns ist aber, dass wir dabei immer berücksichtigen, dass Gesundheit ein elementares Gut ist. Es ist eines der wichtigsten Güter für die Menschen überhaupt. Deshalb werden wir natürlich keinen Wettbewerb durchführen, durch den an dem solidarischen System und an den Finanzierungsstrukturen etwas verändert wird. Bei diesem Wettbewerb werden wir eigene Regeln, die auf das Gesundheitswesen abgestimmt sind, benötigen. Diese dürfen uns nicht die Probleme bereiten, die wir in der Vergangenheit von Ihnen übernommen haben. Sie haben den Wettbewerb letztendlich nicht an der Qualität und an der Patientenversorgung, sondern nur am Beitragssatz ausgerichtet. ({9}) Die Basis eines so verstandenen Wettbewerbs - wir laden Sie zum Mitmachen ein - ist ein ständig an den Stand der Bedürfnisse und an die Ergebnisse der Wissenschaft anzupassender Leistungskatalog. ({10}) Es wird ein einheitlicher und gemeinsamer Leistungskatalog sein, der all das, was zur medizinischen Versorgung notwendig ist, umfasst. ({11}) Mehr Wettbewerb heißt in Zukunft allerdings auch mehr Vertragsfreiheit für die Kassen und für die Leistungserbringer. ({12}) Neben Kollektivverträgen brauchen wir Einzelverträge. Die Kassen müssen die Freiheit haben, Verträge mit denen abzuschließen, die für die Patienten die besten Angebote machen, die die besten Qualitäten versprechen und die andere Versorgungsformen einbeziehen. Die Kassen müssen durchaus auch die Freiheit haben, Verträge mit denen, die diese Qualität nicht versprechen, nicht schließen zu müssen. ({13}) Das gilt in Zukunft sowohl für den ambulanten als auch für den stationären Bereich. ({14}) Diese Flexibilität wird es allerdings nicht nur aufseiten der Ärzte und der Anbieterseite geben müssen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir im ambulanten Bereich dafür Sorge tragen müssen, dass bei den Kassen der Zwang, einheitliche und gemeinsame Verträge abzuschließen, wegfällt. ({15}) Abgesehen von diesen langfristigen Maßnahmen, die Ihnen meine Kollegin von den Grünen teilweise schon vorgestellt hat - ein Ausschnitt wurde Ihnen gerade von mir vorgestellt; weitere Kollegen unserer Fraktionen werden noch reden -, ist festzustellen, dass wir augenblicklich Probleme haben, weil wir mit einer höheren Arbeitslosenzahl als erwartet zu kämpfen haben, weil die Prognosen der Schätzerkreise nicht richtig waren. Deshalb sind wir aufgefordert, kurzfristig zu reagieren und dafür zu sorgen, dass die Beitragssätze stabil bleiben, damit all unsere Anstrengungen, die wir im arbeitsmarktpolitischen Bereich unternehmen, nicht durch Beitragssatzsteigerungen in der gesetzlichen Krankenversicherung konterkariert werden. Das verlangt von allen in diesem System Abstriche. Ihnen ist allerdings nichts anderes eingefallen, als permanent Zuzahlungen für die Patienten zu beschließen sowie die Rehabilitation und Kur in Gänze zu streichen. Und im letzten Jahr haben Sie dann wie die Pharisäer darüber geklagt, was aus den Müttergenesungskuren geworden sei. ({16}) Sie haben damals das Grab für Rehabilitation und Kur geschaufelt und wir hatten die Aufgabe, das, was sinnvoll war, wiederherzustellen. ({17}) Wir werden ein Paket ausgewogener Maßnahmen vorlegen. Dabei geht es im Wesentlichen um die Preisgestaltung bei den Arzneimitteln. Wir werden aber auch vor den Krankenkassen und deren Verwaltungskosten nicht Halt machen. Auch sie werden wie die anderen im Gesundheitssystem in eine Nullrunde eingebunden werden. Für die weitere Zukunft gelten in der Rente die gleichen Prinzipien wie im Gesundheitsbereich. Wir haben die Rente verändert. Wir haben die Rente sicherer gemacht. ({18}) Wir haben dafür gesorgt, dass sie auch für die älteren Menschen sicher ist. Wir haben dafür gesorgt, dass die Rente für jüngere Menschen bezahlbar ist. Wir haben einen staatlich geförderten Anteil für die private Altersvorsorge in einer Höhe bereitgestellt, wie ihn diese Bundesrepublik noch nie gekannt hat. Der Staat stellt für dieses Förderprogramm fast 13 Milliarden Euro zur Verfügung. Das ist das größte Programm, das es in diesem Land zum Aufbau eines Vermögens für die Altersvorsorge je gegeben hat. ({19}) Allerdings müssen wir neben diesen strukturellen Problemen auch bei der Rente kurzfristigen Herausforderungen begegnen und Antworten geben. Genau wie in der Krankenversicherung sind unsere Hauptprobleme die schwache Weltkonjunktur und ihre Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation. ({20}) Aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit den Schritten, die wir in der Rentenversicherung gehen werden, auch zur sicheren Entwicklung am Arbeitsmarkt einen guten Beitrag leisten. Wir werden deshalb an der Ökosteuer festhalten. Ich sage Ihnen: Wäre man Ihren Anregungen gefolgt, dann wüsste ich nicht, wie der Rentenbeitragssatz heute aussähe. ({21}) Sie haben zum Rentenbeitragssatz und zu seiner Entwicklung offensichtlich ein gestörtes Verhältnis; denn Sie haben schlicht und einfach vergessen, dass Sie uns 1998 einen Rentenbeitragssatz von 20,3 Prozent hinterlassen haben. ({22}) Mit dem, was Sie jetzt vorgeschlagen haben, würde er noch weiter steigen. Herr Seehofer, Sie haben auch vergessen, dass Sie in den Jahren 1996 und 1997 in der Situation waren, zum Jahresende eine Schwankungsreserve von gerade einmal 60 Prozent einer Monatsausgabe zu haben. Ich möchte Sie auch daran erinnern, dass in unserer Regierungszeit die Auszahlung der Rente zu keinem Zeitpunkt gefährdet gewesen war. Deshalb kann ich überhaupt nicht verstehen, weshalb Sie jetzt glauben, den Teufel an die Wand malen zu müssen. Damit säen Sie bei den Menschen letztendlich nur Verunsicherung, ohne irgendeinen Lösungsweg aufzuzeigen. ({23})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Gudrun Schaich-Walch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001939, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Noch ein Wort zur FDP. Wenn wir jetzt die Bemessungsgrenze auf 5 100 Euro anheben, um die Lasten auf mehr Schultern zu verteilen, dann frage ich mich, woher Sie die Erkenntnis haben, dass nur die Menschen mit einem Einkommen von über 4 500 Euro in dieser Gesellschaft leistungsbereit sind. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Schaich-Walch, ich hatte Sie vor Ende Ihrer Redezeit nicht unterbrechen, sondern nur fragen wollen, ob Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Fuchtel hätten zulassen wollen, die, wie Sie wissen, Ihre Redezeit insoweit verlängert hätte. ({0}) Ich erteile nun als nächstem Redner das Wort dem Kollegen Andreas Storm für die CDU/CSU.

Andreas Storm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

({0}) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir erleben in diesen Tagen, wie die alte und neue Bundesregierung fast alles über Bord wirft, was sie den Wählern vor dem 22. September vollmundig versprochen hat. Ich habe Ihnen eine Anzeige mitgebracht, die die SPD am 18. Juni dieses Jahres in der „Frankfurter Rundschau“ veröffentlicht hat. Dort steht: „CDU/CSU und FDP: Rentenbeiträge werden erhöht. SPD: Rentenbeiträge bleiben stabil. “ ({1}) Selten hat eine Bundesregierung die Menschen so hinters Licht geführt wie Rot-Grün in diesem Jahr. ({2}) Wirklich keiner zweifelt mehr daran, dass Sie schon lange vor der Wahl ganz genau wussten, wie die Dinge stehen. Sie haben die Wählerinnen und Wähler mit voller Absicht getäuscht und belogen. Das war systematische Wählertäuschung. Das war Rentenbetrug. ({3}) Der Geschäftsführer des Verbandes der Deutschen Rentenversicherungsträger, Professor Franz Ruland, hat dieser Tage mehrfach klipp und klar festgestellt: „Wenn die Bundesregierung den Bürgern die Wahrheit sagen würde, dann müsste sie den Beitragssatz auf 19,8 Prozent heraufsetzen.“ ({4}) Der neue Generalsekretär der SPD, Olaf Scholz, hat vor zwei Tagen eingeräumt, dass der Beitrag auch über die 19,3 Prozent, von denen Sie offiziell immer noch ausgehen, steigen könnte. Herr Scholz sagte wörtlich: Wir bleiben in jedem Fall unter 20 Prozent. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: unter 20 Prozent! ({5}) Mit anderen Worten: Sie haben es geschafft, dass der Rentenbeitragssatz im Jahr 2003 eine Höhe erreichen wird, die nach der Riester-Reform bzw. nach dem, was uns im vergangenen Jahr angekündigt worden ist, eigentlich erst im Jahr 2018 erreicht werden sollte. Meine Damen und Herren, die rot-grüne Jahrhundertreform ist kläglich gescheitert. Selbst der Bundeskanzler hat dieses Scheitern am Dienstag eingeräumt. Denn er hat nicht nur den Namensgeber sozusagen in die RiesterRente geschickt, sondern er hat in seiner Regierungserklärung eine große Rentenreform für die neue Wahlperiode angekündigt. Was für ein Armutszeugnis für die Rentenpolitik der vergangenen vier Jahre, wenn der Kanzler bereits jetzt eine neue große Reform ankündigt! ({6}) Sie versuchen nun panisch, den massiven Anstieg des Rentenbeitragssatzes irgendwie zu begrenzen. Dabei sind Sie auf zwei Ideen verfallen, die man folgendermaßen zusammenfassen kann: Die Leistungsträger unserer Gesellschaft werden geschröpft und Sie spielen mit den Rentenfinanzen Vabanque. Zu Ihrem ersten Vorschlag ist festzustellen: Schon vor einem Jahr haben Sie sich nicht anders zu helfen gewusst, um den Offenbarungseid zu vermeiden, dass die Rentenbeiträge trotz steigender Steuersätze bei der Ökosteuer steigen würden. Deshalb haben Sie vor einem Jahr den Griff in die Rücklage der Rentenkasse gewagt. Wenn Sie nun die Schwankungsreserve, also den Notgroschen der gesetzlichen Rente, auf nur noch 50 Prozent einer Monatsausgabe reduzieren, dann riskieren Sie sehenden Auges, dass die Rentenkassen im nächsten Herbst zahlungsunfähig sind. In dem Fall müsste die Auszahlung der Renten durch ein Darlehen des Bundes sichergestellt werden. ({7}) Das bedeutet zwar nicht, dass die Renten nicht gezahlt würden, aber es bedeutet, dass Sie der Rentenversicherung ihre finanzielle Unabhängigkeit nehmen. ({8}) Die Rentenversicherung kommt an den Tropf des Finanzministers. Das bedeutet, dass dann die Rente nach Kassenlage, wie wir es beim Sparpaket 1999 erlebt haben, an der Tagesordnung ist. Deshalb verspielen Sie mit einer Absenkung der Schwankungsreserve das letzte bisschen Vertrauen, das die gesetzliche Rentenversicherung bei den Menschen noch genießt. Deshalb appelliere ich an Sie: Lassen Sie die Finger von der Schwankungsreserve, sonst kommt es noch in dieser Wahlperiode zu dem finanziellen GAU der Sozialsysteme! Zu Ihrem zweiten Vorschlag: Sie wollen die Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung und damit - das wird in der Diskussion oft vergessen - automatisch auch in der Arbeitslosenversicherung auf 5 100 Euro anheben. Das ist ein Musterbeispiel für eine kurzatmige und kurzsichtige Politik. Denn zum einen führen die höheren Beiträge, die gut verdienende Versicherte zahlen müssen, unweigerlich zu höheren Rentenansprüchen, die in einigen Jahren und Jahrzehnten bedient werden müssen. Professor Raffelhüschen von der Universität Freiburg bezeichnete dieses Vorhaben als „das Dümmste, das man machen kann“. Recht hat er; denn um die Finanzlöcher von heute zu stopfen, vergrößern Sie die Lasten, die künftige Generationen zu tragen haben. ({9}) Sie verschärfen damit noch die enormen Probleme, die aufgrund der demographischen Entwicklung auf die Alterssicherung zukommen. Was das noch mit Nachhaltigkeit zu tun haben soll, liebe Kollegin Schaich-Walch, bleibt Ihr Geheimnis. ({10}) Es kommt aber noch etwas hinzu: Wer monatlich 5 100 Euro verdient - dabei handelt es sich nicht um Superreiche, sondern um viele Facharbeiter, also die Leistungsträger unserer Gesellschaft, die hart für ihr Geld arbeiten -, darf bei einem Rentenbeitrag von 19,5 Prozent im nächsten Jahr Monat für Monat mehr als 67 Euro mehr für die Rentenversicherung und fast 20 Euro mehr für die Arbeitslosenversicherung bezahlen. Das macht mehr als 1 000 Euro Verlust für die Betroffenen aus, die auf diese Weise geschröpft werden. Der Bundeskanzler hat am Dienstag erklärt: In der Rentenpolitik haben wir mit der zusätzlichen kapitalgedeckten Altersvorsorge begonnen, das Sicherungssystem zukunftstauglich zu machen. Den Weg zu mehr Eigenverantwortung und mehr Wettbewerb, den wir mit der Errichtung der zweiten Säule in der Altersvorsorge eingeschlagen haben, werden wir fortsetzen, um so auf Dauer die Renten sicherer zu machen und die Rentenbeiträge bezahlbar zu halten. So weit der Bundeskanzler. Aber wer so etwas ankündigt und auch ernst nimmt, der kann doch nicht im gleichen Atemzug die Bürger zwingen, immer höhere Anteile ihres Einkommens in die umlagefinanzierte Sozialversicherung zu stecken. Sie nehmen den Menschen durch massiv steigende Beitragslasten jeglichen Freiraum, um selbst ergänzende Vorsorge für das Alter treffen zu können. ({11}) Dabei geht es an den Kern der Riester-Rente. Diese vom Grundsatz her richtige Idee haben Sie handwerklich total vermurkst. Sie entpuppt sich deshalb immer mehr als Ladenhüter. Wenn bislang weniger als 10 Prozent der Förderberechtigten einen Vertrag abgeschlossen haben, ({12}) dann müssen auch Sie zugestehen, dass diese gute Idee kläglich gescheitert ist. Auch hier brauchen wir einen Neuanfang. ({13}) Konzeptioneller Dilettantismus ist geradezu zum Markenzeichen der sozialpolitischen Aussagen in der Koalitionsvereinbarung geworden. Das gilt nicht nur für die Rentenpolitik, sondern auch für die Gesundheitspolitik. Nehmen wir das Beispiel der Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze. Das, was sich hier abgespielt hat, hat schon den Charakter einer Seifenoper. Wenn man sich das Drehbuch anschaut, könnte man lachen, wenn das Thema nicht so ernst wäre. Erster Tag, Freitag, 11. Oktober: SPD und Grüne einigen sich in den Koalitionsverhandlungen darauf, die Versicherungspflichtgrenze in der Krankenversicherung nur für Berufsanfänger auf das Niveau der Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung, auf 4 500 Euro, anzuheben. Zweiter Tag, Montag, 14. Oktober: Die Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung soll nun, zwei Tage später, von 4 500 Euro auf 5 000 Euro angehoben werden. Aber noch weiß niemand im Koalitionslager Bescheid, ob das auch Konsequenzen für die Krankenversicherung haben wird. Dritter Tag, Dienstag, 15. Oktober: Nun soll die Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung nicht mehr auf 5 000 Euro, sondern auf 5 100 Euro angehoben werden. Ob das Konsequenzen für die Krankenversicherung haben wird, weiß man noch immer nicht. Vierter Tag, Donnerstag, 17. Oktober: Nun hat man endlich auch im Gesundheitsministerium die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen begriffen. Es wird klargestellt, dass es bei der Kopplung der Versicherungspflichtgrenze in der Krankenversicherung an die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung bleibt. Beide sollen also auf 5 100 Euro ansteigen. Um das Fass voll zu machen: Gestern durften wir über die Nachrichtenagenturen erfahren, dass zum Stichtag 7. November 2002 die Versicherungspflichtgrenze nur noch auf 3 825 Euro erhöht werden soll, dafür aber für alle Versicherten, also nicht nur für die Berufseinsteiger. Da weiß die rechte Hand nicht, was die linke tut. ({14}) Die rot-grüne Wirklichkeit schreibt traurige Geschichten. Das hat bei Rot-Grün anscheinend Methode. Erst werden die sozialen Sicherungssysteme absichtlich deformiert. Dann sagt der Bundeskanzler: Wir gründen eine Kommission und es wird reformiert. In diese Kategorie fallen auch die Verschiebebahnhöfe, mit denen sich der Bund seit dem eichelschen Sparpaket von 1999 zulasten der Beitragszahler immer wieder einseitig saniert hat. Die Vorschläge der Hartz-Kommission, die nach dem Willen des Kanzlers 1 : 1 umgesetzt werden sollen, werden große Löcher in die Sozialkassen reißen. Die Ausweitung der Minijobs wird alleine in der Krankenversicherung Beitragsmindereinnahmen in Höhe von 600 Millionen Euro hervorrufen. Eine weitere Lücke in Höhe von 700 Millionen Euro werden die Kürzungen bei der Arbeitslosenhilfe verursachen. Hinzu kommen Beitragsausfälle durch die vermehrte Inanspruchnahme der Entgeltumwandlung. Schließlich soll die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Zahnersatz - das ist ein ganz entscheidender Punkt - dem Bundesfinanzminister 400 Millionen Euro einbringen. Allein diese wenigen Maßnahmen, die in der Koalitionsvereinbarung beschlossen worden sind, werden den Krankenkassen und damit den Beitragszahlern 2 Milliarden Euro entziehen und zu einem weiteren Anstieg der Krankenkassenbeiträge um 0,2 Prozentpunkte führen. Ähnliche Belastungen dürften auch auf die Rentenversicherung und die Pflegeversicherung zukommen. Zur Pflegeversicherung hat es übrigens ein Urteil des Verfassungsgerichts gegeben, das dem Gesetzgeber auferlegt, bis zum 31. Dezember 2003 eine Reform der Finanzierung vorzunehmen. Zu diesem Thema, Frau Ministerin, haben wir von Ihnen kein Wort gehört. ({15}) Die Situation der Pflegeversicherung wird immer dramatischer. Konzeptionell: totale Fehlanzeige! Als Ergebnis ist festzuhalten: Wenn die Ankündigung des Bundeskanzlers, strukturelle Reformen in der Rentenund Krankenversicherung anzupacken, wirklich ernst gemeint wäre, dann müsste der größte Teil der Koalitionsvereinbarungen zur Sozialpolitik wieder rückgängig gemacht werden; denn das schafft erst die Probleme, die dann nachher gelöst werden sollen. ({16}) Das ist ein ganz entscheidender Punkt und er ist in dieser Debatte immer mal wieder angeklungen. Die Probleme sind schon heute sehr groß, aber sie werden in 20 und 30 Jahren gewaltig sein. Die Veränderung der Alterspyramide unserer Gesellschaft führt dazu, dass wir nicht nur in der Rentenversicherung, sondern auch im Gesundheitswesen und in der Pflegeversicherung vor dramatischen Herausforderungen stehen. ({17}) Der Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“, der Ostern dieses Jahres dem Bundestagspräsidenten überreicht worden ist, zeigt, dass ohne Reformen in der Krankenversicherung in den nächsten vier Jahrzehnten eine Verdoppelung des Beitragssatzes in der Krankenversicherung droht. Sie haben nicht den Hauch eines Ansatzes dazu, wie Sie damit umgehen wollen. ({18}) Da heute Morgen so oft der Begriff der Nachhaltigkeit bemüht worden ist, sage ich hier: Eine nachhaltige Politik, die die berechtigten Interessen der älteren Generation mit den berechtigten Interessen der jungen Generation zum Ausgleich bringt, müsste diese Probleme angehen und dürfte diese Probleme nicht verdrängen. Deswegen, meine Damen und Herren: Kehren Sie um! Dann und nur dann wäre Ihnen auch unser Beifall sicher. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Helga KühnMengel, SPD-Fraktion. ({0})

Helga Kühn-Mengel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Uns ist wieder nur aufgezeigt worden, was nicht geht, was nicht gut ist. Es sind keine Konzepte vorgestellt worden. ({0}) Wir haben von Ihnen, meine Herren von der Opposition, gehört, dass Sie alles besser machen würden. Aber es genügt ein Blick zurück, um das einzuordnen. Das ist schon wichtig, wenn es um Konzeptionen geht. An Ihre Taten erinnern wir uns alle noch. Auch ich selbst habe noch einen Rest Ihrer Regierungszeit hier mitbekommen. ({1}) Ich kann mich gut daran erinnern, wer vor den Lobbyisten in die Knie gegangen ist. ({2}) Ich kann mich daran erinnern, wer den Bürgerinnen und Bürgern ununterbrochen in die Tasche gefasst hat, ein Krankenhausnotopfer gefordert hat und bei der Prävention drastisch gekürzt hat. Ich weiß auch, dass die Aussage der Sachverständigen, wir hätten das teuerste Gesundheitssystem in der Europäischen Union und das drittteuerste in der Welt, und die Aussage, wir bezahlten einen Mercedes und bekämen einen Golf, in Ihrer Regierungszeit gemacht worden sind. ({3}) Wir können uns gut daran erinnern, dass bei Ihnen niemals von Qualität die Rede war. ({4}) Erst wir haben die Qualität und die Qualitätssicherung zum Thema gemacht und in der GKV verankert. Noch eines sei dazu gesagt: Die Wähler und Wählerinnen haben ganz klar entschieden. ({5}) Sie, Herr Seehofer, sind mehrmals gescheitert, als Gesundheitsminister bei den Wahlen 1998 und jetzt auch bei den Wahlen 2002. Die Bürger und Bürgerinnen haben zu Ihren Privatisierungskonzepten und zu Ihrer Zweiklassenmedizin Nein gesagt. ({6}) Unser Konzept wurde gewählt. Wir werden die Qualitätsund die Wirtschaftlichkeitsoffensive, die wir in der vergangenen Legislaturperiode begonnen haben, fortsetzen. Diese Ministerin hat - ich sage es noch einmal - Prävention und Qualität befördert. Wir werden die Qualitäts- und Effizienzdefizite in der medizinischen Versorgung abbauen, und zwar mit höchster Priorität. Dazu benötigen wir einen ganz intensiven Wettbewerb um mehr Qualität unter und zwischen den Leistungserbringern. Neben die kollektivvertraglichen Strukturen werden wir Einzelverträge setzen oder - wie in der ambulanten Versorgung - solche mit Gestaltungsmöglichkeiten. In diesem Zusammenhang kommt auch den strukturierten Behandlungsprogrammen und den evidenzbasierten Behandlungsmöglichkeiten eine Schlüsselfunktion zu. Ich setze darauf, dass sich in der verfassten Ärzteschaft diejenigen eines Besseren besinnen, die im Wahlkampffieber die rot-grüne Gesundheitspolitik verteufeln wollten. ({7}) Wir werden uns von dem eingeschlagenen Weg der Qualität und Patientenorientierung nicht abbringen lassen. ({8}) Disease-Management-Programme als Billigmedizin abzutun und Behandlungsleitlinien als Kochbuchmedizin abzuqualifizieren zeugt von der Wagenburgmentalität rückwärts gewandter Mediziner. Der Halbgott in Weiß gehört der Vergangenheit an und wir sollten ihm keine Träne nachweinen. ({9}) Disease-Management-Programme stellen Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt. Sie verbessern die Lebensqualität, Folgeschäden können verhindert oder hinausgezögert werden. Vor allem sorgen diese Programme für Transparenz. Die Patientin und der Patient wissen, wo es allererste Qualität gibt. Darauf müssen die Patientinnen und Patienten vertrauen können. Mit diesen Programmen schaffen wir die Verbindung von Qualität und Wirtschaftlichkeit. Das dient der Gesundheit und auch der Beitragssatzstabilität. Es geht darum, medizinisch nicht angezeigte Mengensteigerungen auszuschließen und die Vergütung auch an die Qualität der Leistung anzubinden. Den Eintritt in die behandlungs- und kostenintensiven Volkskrankheiten wollen wir verhindern, zumindest aber hinausschieben. Dazu gehört auch die Eigenverantwortung der Patientinnen und Patienten. Wir verstehen unter Eigenverantwortung aber etwas anderes als Sie: Wir wollen die Patientin und den Patienten stärken, sie besser informieren und kein Eintrittsgeld. Wir wollen Eigenverantwortung nicht mit Zuzahlung gleichsetzen. ({10}) Wir werden die Prävention weiter stärken und befördern. Das sind wichtige Investitionen in die Zukunft unseres Gesundheitssystems. Wir werden auch die Schnittstellen zwischen GKV und Pflegeversicherung auflösen: Prävention, Gesundheitsförderung, kurative Medizin, Rehabilitation und Pflege sollen den gleichen Stellenwert im Gesundheitssystem haben. Dazu gehört auch die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen am gesellschaftlichen Leben. Wir haben auf diesem Gebiet eine erfolgreiche Politik vorzuweisen: das Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter, das SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, das Gleichstellungsgesetz. Diesen Prozess werden wir fortsetzen. Im nächsten Jahr beHelga Kühn-Mengel gehen wir das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderungen. Auch diesen Anlass werden wir nutzen, um bei diesem Thema voranzukommen. ({11}) Unser Sparpaket beschränkt sich auf monetäre Regelungen, die nur für das Jahr 2003 gelten. Es greift der Gesundheitsreform 2003 in keinem Punkte vor. Das Sparpaket schmälert die Ansprüche auf Versorgung mit medizinisch notwendigen Leistungen nicht. Anders als unsere Vorgänger greifen wir den Patientinnen und Patienten nicht in die Tasche, um die Finanzprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung durch höhere Zuzahlungen oder durch Eigenanteile zu lösen. ({12}) Dass wir diejenigen zu einem größeren Beitrag auffordern, die in den letzten Jahren auch sehr starke Gewinne hatten, die Akteure aus dem Pharmabereich, ist, glaube ich, nachvollziehbar und verständlich. ({13}) Unser Ziel bleibt die hochwertige medizinische und gesundheitliche Versorgung für alle Bürgerinnen und Bürger, unabhängig vom Einkommen, von sozialer Stellung und vom Wohnort. Ich danke Ihnen. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Dieter Thomae für die FDP-Fraktion.

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Man kann nur sagen: Lügen haben kurze Beine. Das bewahrheitet sich jetzt. ({0}) Vor der Wahl gab es keine Defizite, es sollte keine Beitragssatzerhöhungen geben. Jetzt, nachdem die Wahlen vorbei sind, haben wir über Nacht Defizite, und Beitragssatzerhöhungen werden zur Selbstverständlichkeit. Das ist, Frau Ministerin, schon eine verfehlte Politik. ({1}) Ich finde, dass die Bürgerinnen und Bürger hier vor den Wahlen richtig belogen und betrogen worden sind. Sie sollten sich dafür einfach schämen, Frau Ministerin. ({2}) Nun haben Sie auch noch eine ganz verrückte Idee: das so genannte Vorschaltgesetz. Eine Nullrunde ist die brutalste Budgetierung, die man sich überhaupt vorstellen kann. Schauen Sie sich einmal die Honorarsituation im östlichen Teil Deutschlands, aber auch in den alten Bundesländern und die Situation der Krankenhäuser an: Ich frage mich da, wie Sie angesichts der Erhöhungen, die bei den Tarifverhandlungen durchgesetzt wurden, überhaupt eine Nullrunde erreichen wollen. Eigentlich bleibt nur ein Ausweg: ({3}) Verdi müsste Sie davonjagen. ({4}) Ihre Vorschläge bedeuten nämlich Arbeitsplatzabbau. Eine andere Alternative hat ein Krankenhaus heute nicht mehr. Ich möchte Ihnen dies an einem Beispiel darstellen. Ein Verwaltungschef aus meiner Region hat mir einen Brief geschrieben und mir gesagt: Thomae, wenn die Nullrunde kommt, bedeutet das für Rheinland-Pfalz ein Minus von rund 100 Millionen Euro; das bedeutet, dass wir 2 600 Arbeitsplätze abbauen müssen; für mein Krankenhaus bedeutet das, dass ich 36 qualifizierten Mitarbeitern kündigen muss, weil ich sie nicht mehr finanzieren kann. ({5}) Sagen Sie das einmal den Patienten draußen. Sie sagen, den Patienten passiere nichts, aber die Patienten werden von der Nullrunde genauso getroffen wie alle anderen Leistungserbringer. Das ist das Problem. ({6}) Fragen Sie doch einmal einen normalen Bürger, wie lange er heute schon warten muss, bis er einen Termin im Krankenhaus oder bei einem Arzt bekommt. Wir haben Sie permanent davor gewarnt, dass es hier ständig zu Wartezeiten kommt. Diese werden noch weiter zunehmen; Sie werden die Folgen zu tragen haben, denn die Versorgung durch freiberufliche Ärzte in den neuen Bundesländern wird dramatisch abnehmen. ({7}) - Ja, ich weiß, dass Sie für Polikliniken sind. Aber auch für Polikliniken brauchen Sie Ärzte. Das Vertrackte dabei ist: In hohem Maße verlassen junge Ärzte Deutschland und gehen ins Ausland. ({8}) - Schauen Sie doch in die Statistiken. Sie scheinen völlig weltfremd zu sein. ({9}) Schauen Sie sich doch einmal an, wie viele Ärzte nach Skandinavien gehen und wie viele junge Mediziner in die Schweiz gehen. Lassen Sie sich die Zahlen geben. Sie tun immer, als ob alles zum Besten stünde. ({10}) Die jungen Mediziner sind gar nicht so dumm, wie Sie denken. Das ist der Unterschied. ({11}) Meine Damen und Herren, jetzt fällt Ihnen ein, dass wir noch stärker in den Arzneimittelbereich eingreifen müssen. Vielen gefällt zunächst dieser Vorschlag, denn er ist populär. ({12}) - Moment. - Aber Sie wissen doch, dass es nur noch zwei kleine bzw. mittlere Pharmafirmen gibt, die in Deutschland Forschung betreiben. Alle anderen sind weg. Sie treffen mit Ihrem Konzept gerade die mittelständische Pharmaindustrie in Deutschland, obwohl Sie permanent davon reden, dass Sie Arbeitsplätze erhalten wollen. Warten wir es einmal ab. ({13}) Bringen Sie Ihr Konzept ein. Ich bin gespannt, was Ihnen die entsprechende Gewerkschaft dazu sagt. Die werden Ihnen noch Feuer unter dem Hintern machen. ({14}) Ansonsten vernichten Sie Arbeitsplätze. Das Vertrackte ist doch: Frau Schmidt hat sich in der Koalition gegenüber Clement nicht durchgesetzt. Das muss jetzt die Gesundheitspolitik bezahlen. Das ist der entscheidende Grund und die Situation, die wir zu bewältigen haben. ({15}) Ich kann an Sie nur appellieren: Folgen Sie den Überlegungen, die wir uns schon vor den Wahlen gemacht haben! ({16}) Ich war erstaunt, als die Ministerin auf einmal sagte: Wir wollen das medizinisch Notwendige definieren. Das sind ganz neue Töne. Die Grünen sprechen auf einmal - vielleicht bin ich nicht richtig informiert - von Wahltarifen. Ich bin ganz erstaunt. Ich bin gespannt, wie Sie diese Vorstellungen in einem Gesetz umsetzen. Meine Damen und Herren, ein weiterer wichtiger Punkt ist: Sie können zwar über Prävention sprechen, aber wie wollen Sie bei dem Defizit, das Sie im gesetzlichen Krankenversicherungssystem haben, ({17}) Prävention finanzieren? Ich bin für Prävention. Ich freue mich auf Ihre Vorschläge, wie Sie dies machen wollen. Was hilft es, wenn wir massiv Präventionen einführen - das wäre wunderschön -, wir aber dem Normalbürger aktuell keine medizinischen Leistungen gewähren? Er muss darauf wochenlang warten. Sieben Wochen musste eine Patientin in meinem Wahlkreis warten, bis sie einen Termin für eine Röntgenaufnahme bekam. Das ist Ihre Politik und die wollen wir nicht. ({18}) - Das ist kein dummes Zeug. Sie haben keine Ahnung; das ist Ihr Problem. Sprechen Sie mit den Patienten! Was mich erstaunt hat, ist: Es kam kein Wort zur Pflege. Ist das für Sie kein Thema mehr? ({19}) Sie wissen doch: Die Pflege hängt genauso am Fliegenfänger wie die Krankenversicherung. Sie gaukeln der älteren Bevölkerung manches vor.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Thomae, denken Sie bitte an die Redezeit!

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Seit 1995 haben Sie nichts mehr getan, um die unterschiedlichen Pflegestufen besser zu finanzieren. Die Tarifverträge von 1995 sind massiv ausgeweitet worden. Das alles geht zulasten der Patienten. Das ist Ihre verlogene Sozialpolitik. Dieser werden wir nicht folgen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat der Kollege Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Thomae, ich hoffe, dass sich Ihre fast schon gesundheitsgefährdende Erregung gelegt hat. Denn dann können Sie vielleicht jetzt zuhören. Eine kleine Korrektur zu dem, was Sie soeben gesagt haben: Wir sprechen nicht von Wahltarifen, sondern von der Wahlfreiheit zwischen verschiedenen qualitätsgesicherten, gleichwertigen Angeboten. Das ist ein großer Unterschied. ({0}) Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte diese Gelegenheit dazu nutzen, den Fokus ein bisschen weiter aufzumachen und die Linse etwas mehr zu öffnen. Wir stehen in der Debatte um die Ausgestaltung sozialer Sicherheit in Deutschland längst nicht mehr nur vor der Frage, wie die Systeme zu finanzieren und zu optimieren sind, sondern mindestens genauso dringlich vor der Frage, wie wir die Akzeptanz und die Legitimität unserer sozialen Sicherungssysteme gewährleisten. Die gesellschaftliche Anerkennung und die Mitwirkungsbereitschaft der Hilfeleistenden und Beitragszahler hängen eng miteinander zusammen. Die Frage, wer besondere staatliche Zuwendung braucht und wie sie effizient zu erbringen ist, muss plausibel beantwortet werden. Dazu nenne ich ein Beispiel: Sehen Sie sich einmal die Vielzahl bizarrer Gerichtsverhandlungen an, die um einmalige Beihilfen im Rahmen der Sozialhilfe geführt werden. Dort werden zusätzliche Unterhosen, Weihnachtskerzen und Heizdecken erstritten. Die jeweiligen Streitwerte stehen in einem geradezu grotesken Missverhältnis zu den Prozesskosten. Worum geht es in diesen Prozessen? Es geht längst nicht mehr nur um eine Feststellung des objektiven Bedarfs. Nein, ich behaupte, diese Prozesse haben auch eine gesellschaftspolitische Funktion. Hier wird der Kampf „öffentliche Hand alias Steuerzahler versus illegitime Bittsteller“ inszeniert. ({1}) Allein dieses eine Beispiel zeigt die Notwendigkeit einer Neudefinition und vor allem einer Neubegründung der Legitimität sozialer Sicherungssysteme. ({2}) Rot-Grün stellt sich dieser Aufgabe der Neubegründung und schlägt - ganz im Gegensatz zur Opposition eben nicht den Weg der fortgesetzten Delegitimierung und des Abbaus verlässlicher sozialer Sicherung ein. Wenn unsere Sozialsysteme in ihrer heutigen Form nicht mehr auf herkömmlichem Weg finanzierbar sind und viel zu oft entmündigen anstatt befähigen, dann lautet unsere Antwort eben nicht wie bei Ihnen planloser Abbau, sondern effiziente Reform. ({3}) Wir brauchen und wir befördern ein Verständnis vom Sozialstaat, das mehr als einen bloßen Versorgungsauftrag umfasst. ({4}) Die Befähigung zu Teilhabe und Selbstentfaltung, die Eröffnung von Chancen zur Selbsthilfe sind unsere Ansprüche an den Sozialstaat, an einen integrationsfördernden Sozialstaat, der seinen materiellen und immateriellen Leistungsauftrag so gestaltet, dass wir die Voraussetzungen für eine wirksame Aktivierung nicht gefährden. ({5}) Auf dem Weg zu einem integrierenden Sozialstaat sind wir in der 14. Wahlperiode schon ein gutes Stück weit gekommen. Ich nenne die wichtigsten Stichworte: Altersgrundsicherung, das Gleichstellungsgesetz für Menschen mit Behinderungen - SGB IX -, das Modellprojekt MoZArT zur Zusammenarbeit von Arbeitsämtern und Trägern der Sozialhilfe und auch die systematische Berichterstattung über Reichtums- und Armutsentwicklung. ({6}) Wir werden den Weg der Erweiterung von Zugangsund Chancengerechtigkeit weitergehen und ausbauen. Wir werden eine Gesamtreform der Sozialhilfe auf den Weg bringen, diese letzte soziale Sicherung weiterhin als Rechtsanspruch verankern und dafür sorgen, dass sie weitgehend pauschaliert und ohne Diskriminierung ausgezahlt wird. Wir wollen die Eingliederungshilfen für Menschen mit Behinderungen weiterentwickeln. Wir wollen, dass die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung für alle Sozialhilfebeziehenden verbindlich gilt. Dies sind Schritte zu einem unverzichtbaren Ausbau der Selbstbestimmung, einer Selbstbestimmung, die das notwendige Vertrauen schafft, um dann bei den Betroffenen die Bereitschaft und den Mut zur eigenen Veränderung zu erhöhen. ({7}) - Sie werden es kaum glauben: Das ist die Lösung. Eine Umgestaltung der sozialen Sicherung, die gleichermaßen Verteilungsgerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit und Effizienz ermöglicht, verschafft der Sozialversicherung auch wieder die öffentliche Akzeptanz, die sie braucht, um weiter bestehen zu können. Die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Zuge der Umsetzung des Hartz-Konzepts wird hier eine wichtige Rolle spielen. Wir werden mit der Einführung des Arbeitslosengelds II das System der Sozialhilfe endlich so reformieren, dass die herkömmliche Sozialhilfe in kommunaler Verantwortung nicht mehr die Rückfalloption für Lücken in der Arbeitslosenversicherung ist. Ein armutsfestes Arbeitslosengeld II wird mit neuen Brücken verbunden werden, die den Sozialhilfebeziehenden den Zugang zu Personal-Service-Agenturen und zu Job-Centern ermöglichen. Dies zeigt: Die Frage, wie viel Sicherheit auf welche Weise für wen bereitgestellt wird, wollen wir eben nicht einseitig mit Leistungskürzungen beantworten, ({8}) sondern mit Angeboten und mit gesteigerter Effizienz der Transferleistungen. ({9}) Sie von der Opposition befördern doch dauernd die begriffliche und auch die politische Engführung des Sozialstaatsbegriffs, indem Sie von Missbrauch reden, wo man über Beschäftigungshemmnisse sprechen muss und darüber, wie man sie beseitigen kann. Sie glauben, Sie könnten Kosten sparen und die Statistik verbessern, indem Sie US-amerikanische Modelle im Sinne eines neoliberalen Anti-Hartz 1 : 1 übertragen. ({10}) Doch die vorgeblich Arbeitsunwilligen, deren Sie sich zu entledigen trachten, bleiben in dieser Gesellschaft, auch wenn keine Statistik sie mehr ausweist. Sie wissen: Vererbte Armut, verfestigte Sozialhilfeabhängigkeit und dauerhafte Ausgrenzung sind bereits heute in einem nicht vertretbaren Ausmaß vorhanden. ({11}) Die Kosten, die Sie einzusparen glauben, kehren zurück als gesellschaftliche Kosten, verursacht durch Sucht, Kleinkriminalität und verwahrloste Stadträume. Nachhaltig ist Ihre sozialpolitische Philosophie nicht. ({12}) Ihre Rhetorik und Ihr In-Abrede-Stellen sozialer Bürgerrechte verhindern eine Modernisierung der Leistungsgewährung. Damit verhindern Sie auch die Wiedergewinnung sozialstaatlicher Handlungsfähigkeit. Warum sollte etwa der Weg, den die Arbeitsämter nun bei der Umgestaltung zu Jobcentern beschreiten, nicht auf die Sozialämter übertragbar sein? Wir brauchen auch hier endlich eine Dienstleistungsorientierung. Wir müssen auch hier das tun, was viele Ämter im Zuge der Verwaltungsmodernisierung längst als Handlungsmaxime verankert haben: die Bürgerinnen und Bürger als ernst zu nehmende Klienten und nicht als lästige Kostgänger begreifen. Meine Damen und Herren, eine Gesellschaft, die sich in ihren Grundstrukturen wandelt, braucht neue, vielfältige und verlässliche Formen der sozialen Sicherung. Wir werden mit einer möglichst sparsamen, aber auch möglichst wirksamen Inanspruchnahme der Ressourcen den Weg in Richtung einer Bürgersicherung für alle von allen beschreiten. Danke. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Kurth, ich gratuliere auch Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Ich beziehe ausdrücklich in den Glückwunsch ein, dass es Ihnen gelungen ist, sich auch an die angemeldete Redezeit zu halten, was vielen erfahreneren Kollegen nicht immer gelingt. ({1}) Nun erteile ich der Kollegin Annettte Widmann-Mauz für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Nach dieser Rede möchte ich wieder zur politischen Praxis zurückkommen, zur Baustelle des sozialen Gesundheitswesens. ({0}) Herr Kollege Kurth, wenn Sie von dem planlosen Abbau und der Notwendigkeit effizienter Reformen sprechen, müssen Sie die linke Seite des Hauses anschauen. Denn Sie sind es doch, die einen planlosen Abbau im Gesundheitswesen betreiben, seit Sie an der Regierung sind. Von effizienten Reformen ist weit und breit nichts erkennbar. ({1}) Ich wollte jetzt eigentlich die Ministerin ansprechen. Sie scheint aber schon gegangen zu sein. ({2}) - Ich denke doch, dass sie Interesse an der Diskussion über ihre Regierungserklärung hat. Sie hat mit diesem Ministerium die Verantwortung für den größten Reformsektor in Deutschland übertragen bekommen. Führungsstärke, Schwung, Mut und Reformwille sind in diesem Amt gefordert. Frau Schmidt aber hat von alledem nichts. In der Bevölkerung gilt sie mittlerweile als die schwächste Ministerin im Kabinett; das hat Gründe. Dass sie noch nicht einmal die Diskussion in diesem Hohen Hause erträgt, unterstreicht diese Schwäche noch deutlicher. ({3}) Die Bilanz der bisherigen Amtsführung könnte nicht katastrophaler sein. ({4}) Die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung waren noch nie so hoch wie heute und sie steigen weiter. ({5}) Die Versorgung der Patientinnen und Patienten wird nicht besser, sondern schlechter. Der demographische Wandel, der medizinische Fortschritt und die Veränderungen im Erwerbssektor werden von ihr schlichtweg ignoriert. Damit wird keines der Zukunftsprobleme in der gesetzlichen Krankenversicherung angegangen. Im Gegenteil: Statt alle Beteiligten im Gesundheitswesen - es geht nur im Miteinander -, Patienten, Versicherte, Ärzte, Apotheker und alle anderen Leistungserbringer, mit auf den Weg zu einer gemeinsamen Reform zu nehmen, hat sie das Vertrauen gänzlich verspielt. ({6}) Das mangelnde Vertrauen aufseiten der Versicherten und der Patienten beruht aber nicht auf bösem Willen. Wer soll denn zu dieser Ministerin noch Vertrauen haben, wenn weder das Ziel noch der Weg der Reise bekannt sind? Wer wie Sie, Frau Schmidt, noch nicht einmal zur Reiseleiterin taugt, der wird nie Superministerin werden. ({7}) Sie verstehen das Gesundheitswesen einfach nicht. Sie haben weder die Dynamik noch die Wechselwirkungen im System erkannt. Deshalb sind alle Ihre Maßnahmen, sowohl die in der Vergangenheit als auch die jetzt zur Diskussion stehenden, Flickwerk ohne Konzept. Das bestätigt die heutige Debatte wieder eindrucksvoll. Doch für uns ist das kein Grund zur Freude; denn die Auswirkungen für die Menschen in unserem Land sind verheerend. Mit einer so konzeptionslosen Politik kann man kein Vertrauen aufbauen. Fangen wir einmal an: Zu Beginn Ihrer Amtszeit haben Sie zur Beruhigung der Ärzte und Patienten die Budgetierung der Arzneimittelausgaben ohne ein wirksames Steuerungsinstrument aufgehoben - Wirkung: katastrophal. Dann kam die Aut-idem-Regelung. Jetzt wollen Sie Ihre Drohung wahr machen und die Überschreitung der Obergrenze für die Arzneimittelausgaben mit einem Regress bei den ärztlichen Honoraren bestrafen. Aber noch nicht genug: Sie wollen mehr Vertragsmöglichkeiten schaffen. Das ist ein hehres und gutes Ziel, das wir unterstützen. Aber wie machen Sie das? Sie strapazieren das Vertrauen der Ärzteschaft weiter, indem Sie den ärztlichen Sicherstellungsauftrag aufheben und einzelne Ärzte der Übermacht der Kassen ausliefern werden. ({8}) Gehen wir in den Arzneimittelbereich, zu den Arzneimittelherstellern und Apothekern. Es ist noch kein Jahr vergangen, seit Sie hier im Haus ein Arzneimittelausgaben-Begrenzungsgesetz verabschiedet haben. Teile davon haben Sie sich vorher von der Pharmaindustrie abkaufen lassen, gegen die Zusage, keine Preisregulierungen im innovativen Arzneimittelsektor vorzunehmen. Jetzt drohen Sie erneut Kassenrabatte, Versandhandel und Preissenkungen an und wollen außerdem Festbeträge für patentgeschützte Medikamente einführen. Auch hier ein klarer Wortbruch. ({9}) Wie soll so Vertrauen in die Arzneimittelversorgung entstehen? Nehmen wir die Versicherten. Sie haben noch bis zur Wahl behauptet, es gebe in diesem Jahr kein Defizit und im kommenden Jahr keine Beitragserhöhungen. Jedoch nicht einmal eine Woche nach der Wahl ist die Katze aus dem Sack; über Nacht gibt es wieder milliardenschwere Defizite. Jetzt drohen Sie mit der Anhebung der Versicherungspflichtgrenze - an einem Tag nur für Berufsanfänger, am anderen Tag für alle. In der Koalitionsvereinbarung heißt es: Bei der Beitragsbemessungsgrenze gibt es keine Änderungen. Schon jetzt hören wir aus gut informierten Kreisen, dass auch die Beitragsbemessungsgrenze angehoben werden soll. 300 000 Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung haben sich Ihrem ständigen Hin und Her schon entzogen und der GKV den Rücken gekehrt. 1 Milliarde Euro hat Ihr unverantwortliches Gerede unser Versicherungssystem bereits gekostet. ({10}) Dieses Eintrittsgeld für Ihre Show ist den Menschen in unserem Land mittlerweile zu hoch. Auch das Programm, das geboten wird, steht in keinem Verhältnis zum Eintrittspreis. Zweiklassenmedizin ist doch längst kein drohendes Schlagwort mehr; ({11}) es ist bittere Realität in unserem Land. Sie drängen die Menschen in ein Zwangssystem und geben ihnen keine wirklichen Mitwirkungs- und Entscheidungsmöglichkeiten. ({12}) Da helfen auch solche Beruhigungspillen, wie Sie sie heute wieder verteilt haben, wie Beauftragte für Patientinnen und Patienten, Patientencharta, Patientenquittung und wie die ganzen Dinge heißen, wenig. ({13}) - Hören Sie mal zu, Frau Kumpf: Stärkung der Patientenrechte und Ausbau des Patientenschutzes wie auch die Stärkung des Hausarztes standen schon in Ihrer Koalitionsvereinbarung von 1998. Sie haben nichts davon umgesetzt. Ich sage Ihnen eines: Wir brauchen nicht mehr Beauftragte für Bittsteller, sondern wir brauchen wirkliche Rechte für Beteiligte im Gesundheitswesen. ({14}) Ich kann Ihnen nur sagen: Mit all diesen Maßnahmen haben Sie das Vertrauen der Menschen in Ihre Politik verspielt. Sie hätten jetzt eigentlich die Chance, einen wirklichen Neuanfang zu wagen. Aber Sie setzen Ihre Politik der Prinzipien-, der Konzeptions- und Mutlosigkeit fort. Der Koalitionsvertrag, über den wir und auch Sie gesprochen haben, enthält wieder einmal sehr viel Lyrik, aber keine wirklich konkrete Antwort auf die drängenden Finanzprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung und der Pflegeversicherung. ({15}) Es rächt sich, dass Sie keine wirkliche Analyse der Ist-Situation erstellt haben. So weiß die Koalition weder, in welcher fatalen Lage sie sich befindet, noch, wie die Probleme gelöst werden können. Auch die Anhebung der Versicherungspflichtgrenze ist nicht geeignet, die Einnahmeproblematik zu entschärfen. Der Vorsitzende des Sachverständigenrates - darauf legen Sie ja immer großen Wert - für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Professor Wille, hat in der vergangenen Woche erklärt, dass selbst bei Einbeziehung aller Arbeitnehmer in die Pflichtversicherungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung in 16 Jahren nur eine Entlastung von 0,1 Beitragssatzpunkten zu erwarten wäre. Das ist geradezu lächerlich. Damit lösen Sie die Probleme nicht. ({16}) Vielmehr verschärfen Sie auf der anderen Seite die Probleme in der privaten Krankenversicherung. Wenn Sie die private Krankenversicherung austrocknen, müssen Sie den Menschen auch sagen, dass ihnen dann kontinuierlich höhere Prämien drohen. Frau Schmidt, ich hätte von Ihnen eigentlich erwartet, dass Sie Ihren Kollegen „Superminister“ Clement in seiner Arbeit ein bisschen unterstützen und ihm durch höhere Beiträge, höhere Prämien und damit steigende Lohnnebenkosten nicht immer mehr Arbeitslose vor die Tür setzen. Dass er Sie nicht unterstützt, sehen wir ja; sonst wäre er bei dieser Debatte dabei. Die Verschiebebahnhöfe, die während der letzten Legislaturperiode, also in Ihrer Regierungszeit, entstanden sind, lassen nichts Gutes erwarten. Allein die Umsetzung der Hartz-Vorschläge bedeutet, dass Ihnen 600 Millionen Euro aus der Tasche gezogen werden. Aber das ist noch nicht genug. Auch Herr Eichel - wo war der heute eigentlich? - scheint es mit Ihnen nicht gut zu meinen. Von dem lassen Sie sich zum wiederholten Male in die Kasse greifen. Anstatt die Leistungsausgaben durch Senkungen, zum Beispiel der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel, zu verringern, lassen Sie zu, dass Herr Eichel die Umsatzsteuer für zahntechnische Leistungen anhebt und damit die Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung erhöht. Die Reduzierung der Beiträge aus der Arbeitslosenhilfe nutzt Herrn Eichel; sie reißt aber ein weiteres Loch in Höhe von 0,9 Milliarden Euro in den ohnehin schon völlig durchlöcherten Geldbeutel der gesetzlichen Krankenkassen. Wenn Herr Eichel meint, er könne damit den blauen Brief aus Brüssel vermeiden, dann täuscht er sich wohl gewaltig. Auch Sie, liebe Frau Schmidt, tragen mit den Defiziten in den Sozialversicherungen dazu bei, dass die Gesamtverschuldung des Staatshaushaltes wächst und wächst und wächst. Sie waren und Sie sind eine schwache Ministerin und Sie haben sich schon nach einer Woche von Ihren Kollegen in diesem Haus über den Tisch ziehen lassen. Die Situation ist klar: Berücksichtigt man alle Vorschläge, die auf dem Tisch liegen, dann liegt das Gesamtdefizit bei 4,7 Milliarden Euro. Mit den von Ihnen geplanten Maßnahmen werden Sie nicht die Einsparsumme aufbringen, die Sie aufbringen müssen, um diese Lücke zu schließen. Wir sollten uns schon einmal darüber unterhalten - Sie haben heute kein Wort dazu gesagt -, wie die finanzielle Lage der Krankenkassen angesichts ihrer hohen Verschuldung auf dem privaten Kapitalmarkt aussieht. In der Vergangenheit mussten sich zahlreiche Kassen sehr stark verschulden. Die Finanzreserven einer Reihe von Kassen sind deutlich abgebaut. Die Mindestrücklage der gesetzlichen Krankenversicherung ist um circa 1,6 Milliarden Euro unterschritten. Die Krankenkassen haben zur Sicherstellung ihrer Leistungsfähigkeit nämlich ebenfalls eine Rücklage zu bilden. Dieser Notgroschen ist mittlerweile vielfach aufgebraucht. Das heißt, die ersten Krankenkassen sind eigentlich konkursreif. Obwohl Sie das alles wissen und obwohl Ihnen bekannt ist, dass die geplanten Einsparungen diese Kassen nicht retten können, weigern Sie sich, den Kassen zu helfen. Sie wollen den Beitragssatz für das gesamte Jahr 2003 festschreiben und Sie treiben diese Kassen damit in den wirtschaftlichen Exitus. Offensichtlich schwant Ihnen das; deshalb verfallen Sie jetzt auf eine ganz perfide Idee: Sie wollen den über die Kassen wachenden Ländern die Möglichkeit nehmen, ihren rechtsstaatlichen Verpflichtungen nachzukommen und den Kassen auf die Finger zu schauen. Die Länder haben das Finanzgebaren der Kassen in der Vergangenheit zwar oftmals mit einem zugedrückten Auge toleriert; doch jetzt soll diese - rechtlich höchst fragwürdige - Haltung salonfähig gemacht werden. Damit ist der finanzielle Ruin der Krankenkassen politisch vorprogrammiert. Ich sage Ihnen: Die Patientinnen und Patienten, die Versicherten, haben sowohl aus diesem Grund als auch aus anderen Gründen das Nachsehen. Rot-Grün plant für das kommende Jahr eine Nullrunde für Ärzte, Zahnärzte und Krankenhäuser. Das heißt für die Patienten, dass ihre Versorgung noch schlechter wird, als sie es bisher schon ist. Der Vorsitzende des Marburger Bundes, Herr Montgomery, hat es auf den Punkt gebracht - ich zitiere ihn -: Weil die Bundesregierung offensichtlich kein sachgerechtes Konzept gegen das chronische Finanzdefizit des Gesundheitswesens hat, will sie nun den Versicherten per Gesetz vorschreiben, wann und wie oft sie krank werden dürfen. Ist das gemeint, wenn Sie in Ihrem Koalitionsvertrag davon sprechen, die Qualität im Gesundheitswesen weiterzuentwickeln und die Interessen der Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt Ihrer Gesundheitspolitik zu stellen? Vor der Wahl haben Sie den Ärztinnen und Ärzten in den Krankenhäusern versprochen, Maßnahmen zu ergreifen, um das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Arbeitszeit umzusetzen. Angesichts der Tatsache, dass im Krankenhaus etwa 70 Prozent der Kosten Personalausgaben sind, liegt es doch auf der Hand, dass bei einer Nullrunde keine Finanzmittel für die Einstellung weiterer Ärzte vorhanden sind. Im Gegenteil: Die Ärzte müssen mit Entlassungen oder damit rechnen, dass der Druck auf ihre Arbeitskraft noch größer wird. Sie lassen die Krankenhäuser im Stich und schaden damit der Versorgung in der Fläche und den Menschen, die darauf angewiesen sind. ({17}) Es gäbe noch viel zu sagen; aber nur noch kurz zum Stichwort Bürokratisierung im System. Hier haben Sie es geschafft, dass 3 800 Menschen mehr in der Verwaltung beschäftigt sind, aber 15 000 Pflegekräfte weniger für die Versorgung zur Verfügung stehen. Dies ist die Bilanz Ihrer Politik. ({18}) Die sozialen Sicherungssysteme sind dringend auf einen wirtschaftlichen Aufschwung angewiesen. Aber ohne grundlegende Reformen in der gesetzlichen Krankenversicherung wird sich dieser konjunkturelle Aufschwung nicht einstellen. Deshalb ist die rot-grüne Politik des „Weiter so“ höchst fahrlässig. Deshalb wird es Zeit, dass Sie Konsequenzen ziehen. Frau Schmidt, Sie sind den Problemen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht gewachsen. Irgendwann werden Sie es auch selbst merken. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat der Kollege Klaus Kirschner für die SPDFraktion das Wort. ({0})

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie werden es hören, lieber Kollege Parr. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Reden haben deutlich gemacht, warum sich die Wählerinnen und Wähler am 22. September dieses Jahres für die bisherige Koalition und damit für den Erhalt und die Weiterentwicklung der solidarischen Krankenversicherung entschieden haben, ({0}) und zwar basierend auf den Grundprinzipien der Solidarität zwischen Gesunden und Kranken, Jungen und Alten, gut Verdienenden und weniger gut Verdienenden, Singles und Familien sowie der paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Sie haben sich für einen umfassenden Leistungsanspruch entschieden, und zwar - unabhängig vom Einkommen - orientiert am medizinisch Notwendigen. ({1}) Die Wählerinnen und Wähler haben sich also gegen die Aufspaltung des Leistungskatalogs in Grund- und Wahlleistungen und damit die Verlagerung der Krankheitskosten weg von der Solidargemeinschaft auf die Geldbeutel der einzelnen Patienten und auch gegen die Abwahl von Leistungen entschieden. Vor der Wahl hieß dies noch auf Neobayerisch „opting out“. So steht es im Programm der CSU. ({2}) Die Debatte hat gezeigt: Außer Ihrer Kritik ist nichts gekommen. ({3}) Lieber Herr Kollege Seehofer, lieber Herr Kollege Dr. Thomae und liebe Frau Kollegin Widmann-Mauz, wer selbst im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. ({4}) Wenn der Kollege Seehofer der Frau Ministerin Allgemeinplätze vorwirft ({5}) und sagt, der Wert der Prävention müsse angehoben werden, kann ich nur fragen: Wer hat denn den § 20 SGB V auf eine Restgröße zusammengestutzt? Waren Sie das oder wer war das? Wer hat denn den § 20 SGB V wieder zum Leben erweckt? - Sie doch nicht! ({6}) Lieber Herr Kollege Seehofer - dies gilt auch für Ihre damalige Koalition zu der Zeit, in der Sie Regierungsverantwortung getragen haben -, wenn Sie Verschiebebahnhöfe anprangern, sollten Sie auch wissen, dass auf denjenigen, der mit einem Finger auf andere zeigt, drei Finger zurückzeigen. ({7}) Wer hat denn beispielsweise damit begonnen, die Bemessungsgrundlage bei Arbeitslosen zu senken? Waren Sie das? ({8}) - Das waren Sie nicht? Ihr Gedächtnis ist aber wirklich verdammt kurz; das muss ich Ihnen schon sagen. Lieber Herr Kollege Seehofer, zur Ihren Vorwürfen bezüglich der Jahrhundertreform muss ich fragen: Wie lange hat denn Ihre Jahrhundertreform von 1989 gedauert? War nicht 1992 eine erneute Reform fällig? ({9}) - Entschuldigen Sie bitte, aber damals hat Herr Blüm gesagt, wir machen eine Jahrhundertreform. Ihr Jahrhundert hat zweieinhalb Jahre gedauert, nicht mehr und nicht weniger. ({10}) Lieber Herr Kollege Seehofer, wenn Sie hier - dies ist unbestritten - die Leistungen im Rahmen der deutschen Einheit ansprechen, aber gleichzeitig sagen, die Beitragssätze seien zu hoch, dann sagen Sie doch auch klipp und klar, ob Sie beispielsweise den Finanzkraftausgleich im gesamtdeutschen RSA abschaffen wollen, immerhin eine Finanzsumme, die - von West nach Ost - jährlich 2 Milliarden Euro beträgt. Das kostet Geld. Ich frage Sie: Sind Sie dafür? Ja oder nein? Wenn ja, dann müssen Sie sich auch dazu bekennen. ({11}) Es geht jedenfalls nicht so, wie Sie das hier versuchen. Ich will bei dieser Gelegenheit an das PflegeleistungsErgänzungsgesetz erinnern. Haben Sie nicht da einen Antrag eingebracht, in dem Sie fordern, dass ab dem Jahr 2002 die Behandlungspflege auf die GKV übertragen werden soll? Das wäre mit Kosten von jährlich 1,5 Milliarden verbunden. Haben Sie das nicht gemacht? Erinnern Sie sich eigentlich nicht mehr an diesen Antrag? Noch einmal, lieber Herr Kollege Seehofer: Wer hat denn dem damaligen Hauptgeschäftsführer des BPI zu seinem 60. Geburtstag die Positivliste geschreddert überreichen lassen? ({12}) Das ist doch in Ihrem Auftrag geschehen. Oder etwa nicht? Wir wären ein gewaltiges Stück weiter, ({13}) wenn Sie sich an die gemeinsame Abmachung von Lahnstein gehalten hätten. ({14}) - Darf ich Sie einmal daran erinnern, wer denn die Stufen zwei und drei der Festbetragsregelung 1996 gestrichen hat? - Das waren doch Sie, Ihre Koalition. ({15}) Dies hat nach vorsichtigen Rechnungen die gesetzliche Krankenversicherung bis heute rund 5 Milliarden Euro Mehrausgaben gekostet. ({16}) Wir werden dieses rückgängig machen. ({17}) Dann werden wir sehen, wie Sie eigentlich zu diesen Dingen stehen. ({18}) Wer hier die Höhe von Beitragssätzen anprangert und selbst eine solch lange Liste von eigenen Sünden zu vertreten hat, der sollte in dieser Frage etwas leiser sein. ({19}) Lieber Herr Kollege Dr. Thomae, wenn Sie sagen - ich hoffe, dass ich Sie jetzt richtig zitiere -, das Vorschaltgesetz sei die brutalste Budgetierung, die man sich denken könne, ({20}) dann frage ich Sie: Wie war das denn mit dem Beitragssatzentlastungsgesetz? Haben Sie nicht die Beiträge per Gesetz generell um 0,4 Prozentpunkte gesenkt? ({21}) - Moment mal! Sie haben das an entsprechende Senkungen gekoppelt. Sie haben der GKV per Gesetz eine Beitragssatzsenkung von 0,4 Prozentpunkten aufoktroyiert. ({22}) - Herr Kollege Dr. Thomae, ich glaube, wir tun uns keinen Gefallen - das gilt auch für Sie, Frau Widmann-Mauz -, wenn wir immer nur das Schreckgespenst einer Unterversorgung an die Wand malen. ({23}) Unbestritten ist ja, dass es in Deutschland ein paar solcher Gebiete gibt. Aber Regelungen dafür sind im Gesetz enthalten, nämlich dass dann, wenn es eine Unterversorgung gibt, die KVen - das ist der Sicherstellungsauftrag, den sie wahrzunehmen haben - alles dafür tun müssen, sie zu beseitigen. Das muss innerhalb der KVen geschehen. Es wird hier ständig das Schreckgespenst an die Wand gemalt, dass wir einen Ärztemangel hätten. Dazu sage ich: Wir haben die höchste Ärzte- und Zahnärztedichte überhaupt. Da kann man doch nicht von einem Ärztemangel reden. ({24}) Es ist unverantwortlich, was Sie gemacht haben. ({25}) - Lieber Herr Kollege Parr, mit „fliehen“ wäre ich ein bisschen vorsichtig. Die jüngsten Zahlen für Studenten, die sich für Medizin eingeschrieben haben, zeigen doch: Wir hatten noch nie so hohe Zahlen. ({26}) Offensichtlich ist dieser Beruf nach wie vor für viele attraktiv. ({27}) Ich kann nur sagen: Hören Sie auf, Gefährdungen anzuprangern, ({28}) die es nicht gibt! Ansonsten werden Sie in vier Jahren die gleiche Quittung von den Wählerinnen und Wählern bekommen wie am 22. September. ({29}) Nur alles schlecht zu machen und alles anzuprangern, das ist keine glaubwürdige Alternative. Merken Sie sich das! ({30}) Sie haben am 22. September dafür letzten Endes die Quittung bekommen. ({31}) Wie sehen denn Ihre Vorschläge aus? ({32}) Sie erschöpfen sich doch darin, weniger Geld für mehr Leistungen zu bieten. Sie werden auch in der Zukunft für Ihre Art von Gesundheitspolitik von den Wählerinnen und Wählern abgestraft werden. ({33}) Ihr ständiges Mosern und das Schielen auf die Geldbeutel der Kranken stellen keine glaubwürdige Alternative für die Versicherten dar. ({34}) Ich sage Ihnen auch Folgendes: Sie agieren im Gleichklang mit den starken Lobbygruppen der Leistungserbringer; Sie heulen doch mit denen mit. ({35}) - Aber ich bitte Sie, Herr Kollege Dr. Thomae. Das haben wir vor der Bundestagswahl doch gesehen. Da war ja diese schöne Anzeige - sie hat Ihnen sicherlich gut gefallen -, ({36}) in der gefragt wurde: Was verstehen Politiker von Medizin und was verstehen Mediziner von Politik? Es ging um die Konzepte, die zu einer besseren Versorgung der Patientinnen und Patienten führen sollen, nämlich um unsere Disease-Management-Programme. Sind Sie nun für oder gegen bessere Qualität? Sie können hier doch nicht einfach sagen, sie wollten eine bessere Qualität, und in den Ausschusssitzungen haben Sie - zumindest was die Vergangenheit angeht; vielleicht haben Sie sich ja geändert; ({37}) das wollen wir in Zukunft einmal abwarten - diese abgelehnt, und zwar obwohl mit den Disease-ManagementProgrammen eine bessere Medizin für die Patientinnen und Patienten gewährleistet ist. ({38}) - Lieber Herr Kollege Dr. Thomae, Sie kennen sich ebenso wie der Kollege Zöller in der Gesundheitspolitik doch genauso gut aus wie ich; Sie beschäftigen sich doch schon seit langem damit. ({39}) Das, was Sie da sagen, ist wirklich das Letzte. Sie wissen doch ganz genau: Es gibt derzeit einen fatalen Wettbewerb der gesetzlichen Krankenkassen um Gesunde. ({40}) Wettbewerb ist ja notwendig. Aber das Ziel muss eine Verbesserung der Qualität und der Wirtschaftlichkeit sein. Die Kassen sind - das kennen wir aus der Vergangenheit keine Engel, sondern Institutionen. Wenn bestimmte Krankenkassen heute einen besonders niedrigen Beitragssatz anbieten können, dann ist das nicht ihr Verdienst, sondern nur Ausdruck dafür, dass sie einen hohen Anteil an Gesunden unter ihren Versicherten haben, während bei anderen Krankenkassen auch viele Kranke versichert sind. Die Kopplung von Disease-Management und Risikostrukturausgleich wird dazu führen, dass die Jagd auf gesunde Versicherte aufhört und dass die Kassen letzten Endes für eine Optimierung der Krankenversorgung belohnt werden. Das haben Sie offensichtlich nicht begriffen oder wollen es auch nicht begreifen; denn Sie wollen das schließlich ablehnen. Denken Sie einmal darüber nach! ({41}) - Wenn der Gedanke richtig ist, lieber Kollege Zöller, dann kann es nicht verkehrt sein. ({42})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, bevor Sie sich in eine unnötige private Auseinandersetzung verstricken, möchte ich Sie daran erinnern, dass Ihre Redezeit überschritten ist. Ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich denke, ich habe den Kolleginnen und Kollegen das Notwendige gesagt, nämlich dass das, was Sie hier vorgelegt haben, keine Alternative darstellt. ({0}) Wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie dafür in vier Jahren, so wie am 22. September, wieder die Quittung bekommen. Vielen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Als letzte Rednerin in der Debatte erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch.

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Ich bin Abgeordnete der PDS. Ich würde es begrüßen, wenn wir unsere Debatten zur Gesundheitspolitik so führen würden, dass auch diejenigen unter den Zuschauerinnen und Zuschauern, die keine ausgesprochenen Expertinnen und Experten sind, sie verstehen könnten. ({0}) Ich kenne das Gesundheitssystem aus eigenem Erleben und höre, was mir meine Wählerinnen und Wähler über ihre Erfahrung mit dem Gesundheitssystem berichten. Ich nenne Ihnen ein Beispiel, sehr verehrte Herren in der ersten und zweiten Reihe: Eine Berliner Mutter geht mit ihrem Kind zum Arzt, wartet eine oder zwei Stunden im Wartezimmer, wird dann hereingebeten. Das Kind zieht sich aus, wird untersucht und darf sich dann wieder anziehen. Die Mutter geht dann mit dem Kind zur Apotheke, kauft den Impfstoff und wartet wieder beim Arzt. Das Kind zieht sich aus und wird geimpft. Dann geht die Mutter zu ihrer Krankenkasse und bekommt die Kosten ersetzt. ({1}) Der Hintergrund ist Ihnen sicher bekannt: Krankenkassen und kassenärztliche Vereinigung konnten sich über die Finanzierung der Grippeschutzimpfung in Berlin nicht einigen. Die Leidtragenden dieser Auseinandersetzung sind die Patienten. Nun ist es nach langer Zeit und nach Eingreifen der PDS-Gesundheitssenatorin gelungen, eine Einigung zwischen Krankenkassen und kassenärztlicher Vereinigung, die ja bekanntermaßen die Ständevertretung der Ärztinnen und Ärzte ist, zu erreichen. ({2}) - Ich habe Ihnen das gerade gesagt, verehrter Herr Kollege. Die Gesundheitssenatorin ist von der PDS und nur durch ihr Eingreifen und ihr Verhandlungsgeschick ist es gelungen, diesem misslichen Zustand ein Ende zu bereiten. ({3}) Ich denke, meine Damen und Herren, dieses Beispiel zeigt sehr deutlich, welche Stellung die Patienten und Patientinnen in unserem Gesundheitssystem haben. Ich merke aber an, dass es „den“ Patienten nicht gibt. Ich denke, dass die Mehrheit von Ihnen privat versichert ist und die Probleme, die ich gerade beschrieben habe, aus eigenem Erleben gar nicht kennt. Hier wurde von einer Zweiklassenmedizin gesprochen. Die haben wir bereits; wer Geld hat, lebt länger. Hier wurde auch viel über Geld gesprochen und darüber, dass die Krankenkassen unterfinanziert sind. Doch ich denke, es geht nicht nur um mehr Geld für die Krankenkassen. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als einen Umbau des Gesundheitssystems. Jeder weiß, dass andere Länder ihren Bürgerinnen und Bürgern mit weniger Geld eine bessere Gesundheitsversorgung bieten, als dies die Bundesrepublik tut. Das Problem ist jedoch, dass in unserem Land sehr viele sehr gut an diesem Gesundheitssystem verdienen. Damit meine ich nicht in erster Linie die Ärzte. Die Prognosen besagen, dass in Berlin dieses Jahr 500 Ärzte ihre Praxen schließen werden, weil sie sie nicht mehr finanzieren können. Darunter befinden sich auch Ärzte aus dem Ostteil der Stadt, die nach der Wende hohe Kredite aufnehmen mussten, um sich niederzulassen. Sie stehen jetzt vor dem Nichts. ({4}) Offensichtlich verdienen die Pharmaindustrie und die Industrie für medizinische Geräte besonders gut an diesem System. ({5}) Die Bürgerinnen und Bürger werden mit Medikamenten vollgestopft und schon bei einer Erkältung in modernste medizinische Geräte geschoben, weil es sich rechnet. Der Effekt für die Gesundheit ist oft fraglich. ({6}) Unter meinen Wählerinnen und Wählern gibt es auch - Sie werden es nicht glauben - einen mir bekannten Pharmavertreter. Ich dachte immer, er verkauft Medikamente an die Ärzte. Nach Gesprächen mit ihm habe ich allerdings den Eindruck gewonnen, dass er eher Mitarbeiter eines Reisebüros ist. Er ist nämlich mit den Ärzten in der ganzen Welt unterwegs, um ihnen Medikamente nahe zu bringen. Da stimmt doch etwas nicht. ({7}) Die Pharmaunternehmen haben in diesem System offensichtlich sehr gute Geschäfte gemacht, sodass sie sich solche kleinen Extras leisten können. Der Patient soll in diesem Gesundheitssystem immer mehr zum Kunden werden. Ich weiß nicht, wie ich das finden soll, und ich weiß auch nicht, ob dieser Anspruch wirklich ernst gemeint ist. ({8}) Wie kann es sonst sein, dass ältere Kunden von den Krankenkassen nicht gern gesehen, junge Kunden aber mit Kusshand genommen werden? Ich finde es wirklich beängstigend, dass Krankenkassen ihr Zweigstellennetz aus Kostengründen reduzieren und auf den Nebeneffekt hoffen, dass ältere Bürgerinnen und Bürger aufgrund der dann gegebenen schlechteren direkten Beratungsmöglichkeiten vielleicht doch die Krankenkasse wechseln. Meine Damen und Herren, in vielen Reden wurde das Solidarprinzip beschworen. Ich habe jedoch den Eindruck, dass dieses wichtige Prinzip ein frommer Wunsch bleibt. ({9}) Ich denke, dass das Geld, welches sich im Gesundheitssystem befindet, an vielen Stellen falsch verteilt ist. Zu viel Geld fließt an die Pharmaindustrie. An dieser Stelle muss angesetzt werden. Dann werden wir sehen, dass hinten, so, wie es Ihr ehemaliger Kanzler Kohl zu sagen pflegte, mehr herauskommt. ({10}) Mit diesem Spruch hatte er ausnahmsweise mal Recht. Herzlichen Dank. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache zur Regierungserklärung. Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 6. November, 13 Uhr, ein. Gleichzeitig möchte ich darauf aufmerksam machen, dass in dieser Sitzung sowohl die Regierungsbefragung als auch die Fragestunde stattfinden werden. Bis zum Beginn der nächsten Woche wünsche ich Ihnen einige ruhigere Tage. Die Sitzung ist geschlossen.