Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/1/2004

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Haltung der Bundesregierung zur Finanzsituation beim Fernstraßenbau ({0}) ZP 2 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({1}) a) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({2}) zu dem Gesetz zur Förderung der Ausbildung und Beschäfti- gung schwerbehinderter Menschen - Drucksachen 15/1783, 15/2357, 15/2557, 15/2830 - Berichterstattung: Abgeordnete Gudrun Schaich-Walch b) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({3}) zu dem Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Anfech- tung der Vaterschaft und das Umgangsrecht von Be- zugspersonen des Kindes und zur Einführung von Vor- drucken für die Vergütung von Berufsbetreuern - Drucksachen 15/2253, 15/2492, 15/2716, 15/2831 - Berichterstattung: Abgeordneter Hans-Joachim Hacker c) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({4}) zu dem Gesetz zur Umsetzung des Beschlusses ({5}) des Rates vom 28. Februar 2002 über die Errichtung von Eurojust zur Verstärkung der Bekämpfung der schweren Kriminalität ({6}) - Drucksachen 15/1719, 15/2484, 15/2717, 15/2832 - Berichterstattung: Abgeordneter Hans-Joachim Hacker d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({7}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2003/96/EG im Hinblick auf die Möglichkeit der Anwendung vorübergehender Steuerermäßigungen und Steuerbefreiungen auf Energieerzeugnisse und elektrischen Strom durch bestimmte Mitgliedstaaten KOM ({8}) 42 endg.; Ratsdok. 5850/04 - Drucksachen 15/2636 Nr. 2.40, 15/2848 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Schultz ({9}) Georg Fahrenschon e) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({10}) Übersicht 6 über die dem Deutschen Bundestag zugelei- teten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Drucksache 15/2834 - f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11}) Sammelübersicht 108 zu Petitionen - Drucksache 15/2835 - g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12}) Sammelübersicht 109 zu Petitionen - Drucksache 15/2836 - h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13}) Sammelübersicht 110 zu Petitionen - Drucksache 15/2837 - i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14}) Sammelübersicht 111 zu Petitionen - Drucksache 15/2838 - j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15}) Sammelübersicht 112 zu Petitionen - Drucksache 15/2839 - ZP 3 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur optionalen Trägerschaft von Kommunen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch ({16}) - Drucksache 15/2816 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({17}) Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Verteidigungsausschuss Redetext Präsident Wolfgang Thierse Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Verabschiedung eines Optionsgesetzes - Drucksache 15/2817 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({18}) Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Von der Frist für den Beginn der Beratung soll - soweit erforderlich - abgewichen werden. Darüber hinaus sollen abgesetzt werden: Tagesordnungspunkt 17 - Alterseinkünftegesetz -, Tagesordnungspunkt 20 - Allokationsplan-Gesetz -, Tagesordnungspunkt 23 h - Sperrzeiten für Außengastronomie -, Tagesordnungspunkt 23 i - Arbeitserlaubnis für ausländische Saisonarbeitskräfte. Des Weiteren sollen der Tagesordnungspunkt 5 - Reform des Sanktionsrechts - erst nach Tagesordnungspunkt 7 und der Tagesordnungspunkt 19 - ErneuerbareEnergien-Gesetz - vor Tagesordnungspunkt 18 aufgerufen werden. Außerdem mache ich auf nachträgliche Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 63. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zur Mitberatung überwiesen werden. Gesetzentwurf zur Änderung der Abgabenordnung - Drucksache 15/904 überwiesen: Finanzausschuss ({19}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Kultur und Medien Der in der 98. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zur Mitberatung überwiesen werden. Antrag der Abgeordneten Günter Nooke, Dr. Friedbert Pflüger, Bernd Neumann ({20}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik stärken - Drucksache 15/2647 überwiesen: Ausschuss für Kultur und Medien ({21}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung und Förderung des Fachkräftenachwuchses und der Berufsausbildungschancen der jungen Generation ({22}) - Drucksache 15/2820 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({23}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Christoph Hartmann ({24}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ausbildungsplatzabgabe verhindern - Wirtschaft nicht weiter belasten - Berufsausbildung stärken - Drucksache 15/2833 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({25}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Präsident Wolfgang Thierse Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Jörg Tauss, SPD-Fraktion, das Wort. ({26})

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir beraten heute einen Gesetzentwurf, der mit Sicherheit zu den bedeutenden Gesetzentwürfen gehört; schließlich geht es um die Zukunft der jungen Generation. ({0}) Es wäre also wichtig, dass dieses Thema ernsthaft debattiert wird. Ich muss Ihnen aber sagen, dass die Diskussion um diesen Gesetzentwurf noch vor Vorlage des Textes in einem Maße von Propaganda, Desinformation, falschen Zahlen und falschen Behauptungen begleitet war, wie ich es selten erlebt habe. Ich hoffe, dass die Debatte am heutigen Tag dazu beiträgt, die Diskussion zu versachlichen. ({1}) Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen. Die „Financial Times Deutschland“, ein Blatt, von dem man erwarten könnte, dass die Redakteure die normale Multiplikation mit der Zahl Tausend beherrschen, hat sich bei den ohnehin übertriebenen Verwaltungskosten, die ermittelt wurden, um eine blanke Null getäuscht. Es wurde darin geschrieben, die Kosten betrügen 730 Millionen Euro. Das ist falsch. Es sind 73 Millionen Euro. Niemanden hat das aber daran gehindert, die Zahl 730 Millionen Euro weiter abzuschreiben. - So viel zum Thema Desinformation mit falschen Zahlen. Ich hoffe, dass sich hier etwas ändert. ({2}) Wir haben diese Woche Interviews sehen können, in denen Kleinunternehmer als vermeintlich Betroffene befragt wurden. Wie sich herausgestellt hat, bekämen die Betriebe, die dort genannt wurden, nach unserem Gesetz Geld. Auf die Frage, warum das so gesendet wurde, wurde uns mitgeteilt, es handle sich um Funktionäre des Arbeitgeberverbandes. Das ging aus den Berichten aber nicht hervor. Ich habe also die herzliche Bitte an alle, auch an diejenigen, die oben auf der Tribüne sitzen, um über diese Debatte zu berichten, zur Sachlichkeit zurückzukehren. Wer nicht zu Wort kam, das waren die Jugendlichen in diesem Land, das waren junge Menschen, die Ausbildungsplätze suchen und brauchen. Um diejenigen sollten wir uns kümmern. ({3}) Wer bedauerlicherweise auch nicht zu Wort kam, das waren jene Betriebe, die in diesem Lande ohne Gedöns ausbilden und es als selbstverständlich ansehen. Ihnen gilt unser Dank. ({4}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich war in meinem Wahlkreis kürzlich in einem Unternehmen, das sein 25-jähriges Jubiläum gefeiert hat. Der Chef hat bei seiner Ansprache gesagt, er erfülle sich nun einen Herzenswunsch, indem er eine Ausbildungswerkstatt einrichten werde. Das brauchen wir: Wir brauchen Unternehmer, deren Herzensanliegen es ist, der jungen Generation eine Zukunft zu geben, und keine Unternehmer, die sich aus ihrer Verantwortung verabschieden. ({5}) Aus diesem Grunde bedanke ich mich nochmals ausdrücklich bei den 23 Prozent der Betriebe, die ausbilden und ohne Entlastung heute allein die Verantwortung für die Ausbildung der jungen Generation im dualen Bereich übernehmen. Ich bedauere es sehr, dass sich nun auch Funktionäre der Unternehmerverbände - damit meine ich durchaus auch Herrn Hundt -, die in der Vergangenheit selbst einen Beitrag dazu geleistet haben, solche Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, zum Sprachrohr derer machen, die nicht ausbilden. Das ist eine verkehrte Welt. Wir brauchen Unternehmerfunktionäre, die sich hinter die Betriebe stellen, die ausbilden, und nicht hinter die, die nicht ausbilden. Vor dieser gesellschaftlichen Herausforderung stehen wir. ({6}) Weil nur 23 Prozent der Betriebe ausbilden - ich sage noch einmal: bei diesen bedanken wir uns herzlich -, hat sich die Zahl der Ausbildungsplätze seit dem Jahr 2000 um weitere 11 Prozent reduziert. Wir haben fast wieder die Situation des Jahres 1998, die Sie uns überlassen haben. Dieser Trend, der sich über viele Jahre fortgesetzt hat, setzt sich auch weiterhin fort. Heute Morgen stand in einer Tickermeldung, dass die Zahl der Ausbildungsanfänger auf ein Rekordtief gefallen ist. Im vergangenen Jahr gab es 3 600 weniger neu besetzte Lehrstellen. Mit diesen nackten Zahlen haben wir es trotz aller Anstrengungen vieler in der Wirtschaft und der Politik, die an keiner Stelle gering geschätzt werden sollen, zu tun. In diesem Zusammenhang bedanke ich mich ausdrücklich bei Bundeswirtschaftsminister Clement und Bundesministerin Edelgard Bulmahn, die alles getan haben, was möglich war, um dafür zu werben, dass die Wirtschaft auf freiwilliger Basis genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung stellt. Herzlichen Dank allen in der gesamten Bundesregierung und auch vielen Kolleginnen und Kollegen hier, die sich hierum gekümmert haben! ({7}) - Frau Kollegin Flach, ich konnte Sie nicht verstehen, es war zu leise. Sie haben irgendetwas angemerkt, soweit ich das verstanden habe. Wir können uns aber gerne noch einmal unterhalten. Zum Ende des letzten Ausbildungsjahres waren 35 000 Jugendliche unversorgt. Das sind 11 000 mehr als im Vorjahr. Das bedeutet ein Plus bei der Zahl der Unversorgten um fast 50 Prozent. Diesen standen nur 15 000 unbesetzte Ausbildungsplätze gegenüber. Die Lücke hat sich gegenüber dem Vorjahr also vervierfacht. Dabei sind die Jugendlichen, die in Ersatzmaßnahmen gehen, nicht mit eingerechnet. Ich meine damit insbesondere diejenigen, die in ein Berufsvorbereitungsjahr gehen. 2003 waren das - das müssen wir hinzurechnen 46 700 Jugendliche. Weil in diesem Zusammenhang immer gefragt wird, was der Staat tue, sage ich Ihnen: Jeder neunte Ausbildungsplatz wird heute voll aus Steuern finanziert. Damit dies möglich ist, haben wir 733 Millionen Euro aus Steuermitteln aufgebracht. Daneben wenden wir 2,2 Milliarden Euro für die Berufsvorbereitung und Qualifizierung auf. Dies zeigt deutlich: Der Staat zieht sich aus seiner Verantwortung nicht zurück. Ganz im Gegenteil: Wir nehmen unsere Verantwortung insbesondere auch für die Jugendlichen, die noch nicht berufsreif sind - wir wissen, dass es welche gibt -, wahr. Die teilweise erhobenen Vorwürfe der Wirtschaft, die Umlage führe zu einer Verstaatlichung der Berufsausbildung, ist angesichts dieser Zahlen falsch. ({8}) Es gibt einen schleichenden Prozess der Verstaatlichung. Diesen wollen wir stoppen, indem wir wieder stärker an die Verantwortung der Wirtschaft appellieren. ({9}) Die Ausbildung in der Wirtschaft hat Priorität; dies ist für uns klar. Deshalb führen wir mit diesem Gesetz ein Umlagesystem ein, mit dem zusätzliche betriebliche Ausbildungsplätze gefördert werden. Diesen Punkt halte ich für wichtig. Wir haben ihn mit unserem Koalitionspartner ausdrücklich besprochen. Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir die betriebliche Ausbildung stärken. Das hat absolute Priorität. ({10}) Umlagepflichtig werden alle Betriebe mit zehn und mehr Beschäftigten sein. Selbstverständlich werden Teilzeitbeschäftigte entsprechend einem Schlüssel angerechnet. Alle Betriebe - das ist die gute Nachricht für diejenigen, die die Ausbildungsquote von 7 Prozent erfüllen - werden gefördert. Wer seine Ausbildungsleistung nachweislich steigert, wird ebenfalls gefördert. Dies ist ein ganz wichtiges Signal. Außerdem ist es ein wichtiges Signal, dass auch Betriebe gefördert werden, die nicht umlagepflichtig sind, also kleinere Betriebe. Sie können durch unser Gesetz von der Umlage profitieren. ({11}) Gelegentlich wird gefragt: Wie kommt es zu der Quote von 7 Prozent? Interessanterweise sind es gerade die kleinen und mittleren Betriebe, die ihrer Verantwortung nachkommen. Herr Brüderle, Sie sollten sich beim Thema Mittelstand nicht vor den Karren der großen Betriebe spannen lassen. Die Großbetriebe mit 500 oder mehr Beschäftigten sind es, die diese Quote von 7 Prozent nicht erfüllen. Aus diesem Grunde tun wir hier wirklich etwas für kleine und mittlere Betriebe, die ihrer Verantwortung nachkommen. Alle anderen Betriebe wollen wir in der Tat an Kosten und Lasten von Ausbildung beteiligen. Es kann, wie gesagt, nicht sein, dass wenige Betriebe für alle anderen die Ausbildung des Fachkräftenachwuchses übernehmen. Ich will nochmals festhalten: Ausbildung ist keine Wohltätigkeitsveranstaltung und kein soziales Engagement. Es ist vielmehr eine Pflicht und liegt im Eigeninteresse der Wirtschaft zur Sicherung ihrer Zukunft. Dies muss man einigen immer wieder deutlich machen. ({12}) Es geht um die Sicherung des Nachwuchses. Über Fachkräftemangel zu klagen und gleichzeitig nicht auszubilden ist nicht nur dreist, sondern ein teilweise sehr kurzsichtiges Verhalten. Wir wollen - auch das möchte ich deutlich machen den öffentlichen Dienst nicht ausnehmen. Es gab solche Forderungen. Ich kann mir aber nicht ernsthaft ein Gesetz vorstellen, das die Wirtschaft in die Pflicht nimmt und den öffentlichen Dienst außen vor lässt. Das wollen wir nicht. Wir werden prüfen, wie andere Ausbildungsleistungen, die bereits heute im Umlagesystem erbracht werden, beispielsweise in der Krankenpflege, angerechnet werden können. Aber auf die Forderung, die Wirtschaft solle allein ausbilden und öffentliche Arbeitgeber sollten ausgenommen werden, wollen wir nicht eingehen. Reden wir einmal von den Belastungen, über die im Moment so viel geschrieben und gejammert wird. Nach unserem Gesetzentwurf würde ein Betrieb mit 100 Beschäftigten und ohne einen einzigen Auszubildenden rund 23 000 Euro an Umlage für fehlende Ausbildungsplätze zahlen müssen. Ich habe mir gestern in ein paar Katalogen der deutschen Automobilindustrie angesehen, welche Autos ich für 23 000 Euro bekommen würde. Ich habe nicht sehr viele Fahrzeuge gefunden, mit denen man wirklich etwas anfangen kann. Die Aufwendungen für die Umlage erreichen noch nicht einmal den Preis für einen Mittelklassewagen. Ich glaube, einem Betrieb mit 100 Beschäftigten wäre es zumutbar, Aufwendungen zu erbringen, die unter dem Preis für ein Auto liegen, um etwas zur Zukunftssicherung beizutragen. Jeder zusätzliche Auszubildende reduziert diese Summe. ({13}) Zum Abschluss: Jahrelange Appelle und Absichtserklärungen haben nachweislich nicht zu dem erhofften Ergebnis geführt. Wir wollen mit diesem Gesetz ein Signal setzen, damit sich die Tarifvertragsparteien, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer, die Gewerkschaften und die Verbände, zusammensetzen, um Tarifverträge zu diesem Thema abzuschließen, so wie das in einigen Branchen schon getan wurde. Ich erinnere an die Bauund die Chemieindustrie, den Garten- und Landschaftsbau sowie die Metallindustrie. Wir begrüßen es sehr, dass die Industriegewerkschaft Metall und die Metallarbeitgeberverbände zugesichert haben, zu prüfen, ob sie in Tarifverhandlungen eintreten, um zu Lösungen im Sinne der jungen Generation zu kommen. Genau das wollen wir. Uns geht es nicht prinzipiell um ein Gesetz, sondern uns geht es in diesem Zusammenhang um eine Lösung des Problems. ({14}) Der Bundeskanzler hat am 14. März letzten Jahres in seiner Rede zur Agenda 2010 ganz klar gesagt: Wenn nicht genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen, müssen wir zu gesetzlichen Regelungen kommen. Dies wollen wir jetzt tun. Ich will dies mit einem Hinweis auf die junge Generation verbinden, über die Franz Müntefering völlig berechtigt mehrmals erklärt hat: Vielen Jugendlichen, die aus der Schule kommen, wird gesagt, ihr habt euch zwar angestrengt, aber ihr bekommt keine Lehrstelle und damit auch keinen Job; es gibt nur Stütze und mit 25 Jahren werdet ihr abgeschrieben. Aber haltet den Mund und lasst uns in Ruhe! - Eine solche Gesellschaft stellen wir uns nicht vor. Wir wollen eine Gesellschaft, in der die Verantwortung für die junge Generation von allen übernommen wird: von der Wirtschaft, vom Staat und allen anderen Beteiligten. ({15}) Ich hoffe, das gilt ein Stück weit auch für die Opposition. Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu! Beteiligen Sie sich konstruktiv an diesem Prozess! Ich bedanke mich. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Friedrich Merz, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer will bestreiten, dass wir allen Grund haben, uns Sorgen um die Ausbildung der jungen Menschen in Deutschland zu machen? Wer will bestreiten, dass dies eine der wichtigsten Aufgaben ist, vor die Politik und Gesellschaft in Deutschland gestellt sind, nämlich dafür zu sorgen, dass unter schwierigsten wirtschaftlichen Bedingungen gerade junge Menschen - ich stimme Ihnen hinsichtlich dessen, was Sie zum Schluss gesagt haben, ausdrücklich zu, Herr Tauss - eine Perspektive haben? Wenn sie aus dem Schulleben heraustreten und in die berufliche Bildung gehen wollen, muss ihnen diese Gesellschaft ein Angebot machen und sie müssen eine Chance haben. Aber die Lautstärke des Vortrages meines Vorredners steht in auffallendem Widerspruch zur Überzeugung in den eigenen Reihen. ({0}) Es ist doch ganz offenkundig so, Herr Tauss, dass das, was Sie hier heute Morgen vorlegen - es hat etwas Tragikomisches, dass dies ausgerechnet am 1. April vorgelegt wird ({1}) - in auffallendem Gegensatz zu dem steht, was aus den Reihen der Bundesregierung zu hören ist. ({2}) - Ihre Zwischenrufe zeigen nur, wie nervös Sie geworden sind, nachdem Ihr neuer Vorsitzender dies zu seinem zentralen Projekt der nächsten Wochen gemacht hat. Wenn eine SPD-Bundestagsfraktion tagt und nicht einmal die Hälfte der Abgeordneten anwesend ist und anschließend ein Viertel der Abgeordneten gegen diesen Gesetzentwurf stimmt, dann zeigt das, in welchem Zustand Ihre Fraktion ist und was Sie uns heute Morgen vorgelegt haben. Es ist unglaublich, wie Sie arbeiten! ({3}) Sie können mit Ihren Zwischenrufen versuchen, mich zu stören; aber das wird Ihnen nicht gelingen. Schauen Sie einmal auf die Regierungsbank. Da sitzt nicht ein einziger der Minister, die eigentlich für diese Aufgabe zuständig wären. ({4}) Frau Bulmahn sitzt dort hinten. In der ersten Reihe fehlt der Bundeswirtschaftsminister, der sich ausdrücklich dagegen ausgesprochen hat. In der ersten Reihe fehlt der Bundesfinanzminister. ({5}) Es ist gerade Kernzeit des Deutschen Bundestages und nicht irgendeine Nachtsitzung. In der Kernzeit fehlen die beiden zuständigen Ressortminister, die sich ausdrücklich gegen dieses Gesetz ausgesprochen haben. Es ist doch keine Überraschung, dass sie heute Morgen fehlen. ({6}) Nun müssen wir uns in der Tat fragen, welche Ursachen es hat, dass wir im Jahr 2004 erneut ein solches Problem mit Ausbildungsplätzen haben. Ich kann Ihnen nicht ersparen, darauf hinzuweisen, dass dies nach einer solchen Insolvenzwelle - wir haben im letzten Jahr 40 000 Unternehmensinsolvenzen in Deutschland verzeichnet; im Jahr davor waren es 36 000 - nicht ausbleiben kann. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Bundesregierung und diese Insolvenzwelle sind wesentliche Ursachen dafür, dass in Deutschland nicht genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt werden. Es sind nicht die Unternehmer in Deutschland, denen es an Patriotismus mangelt. Das ist der eigentliche Hintergrund. ({7}) Nun sind Sie sich über die Wirkung dessen, was Sie heute Morgen vorgelegt haben, offensichtlich nur zum Teil im Klaren. Ich will Sie auf zwei Sachverhalte hinweisen, die von erheblicher Bedeutung sein werden, wenn dieses Gesetz jemals Wirklichkeit würde. Zum einen haben Sie das Stichwort selbst genannt: Wir steuern mit einer solchen Entscheidung auf eine endgültige und dauerhafte Verstaatlichung der beruflichen Bildung zu. ({8}) Wenn die Unternehmer in Deutschland wissen, dass sie diese Abgabe zahlen müssen, dann werden sie jede Anstrengung, auch über den eigenen Bedarf hinaus auszubilden, einstellen und die Abgabe zahlen. Als Ergebnis wird das duale System der beruflichen Bildung, das auf der Welt noch immer als Vorbild gilt, endgültig zu Grabe getragen. Die Ausbildungsplatzabgabe, die Sie heute Morgen vorgeschlagen haben, wird die Ursache sein. Sie sind sich offensichtlich über einen zweiten Sachverhalt nicht im Klaren, der noch dramatischer ist. Selbst wenn Sie das Erste, was ich gesagt habe, bestreiten, können Sie das Zweite nicht bestreiten. Stellen Sie sich vor, eine solche Abgabe würde eingeführt. Das hätte doch zur Folge, dass sich diejenigen, die in besonders anspruchsvollen Berufen ausbilden, wodurch Kosten in den Unternehmen verursacht werden, die über die Summe dieser Ausbildungsplatzabgabe hinausreichen, von ihren Ausbildungsverpflichtungen freikaufen werden, weil sie sich ausrechnen können, dass es betriebswirtschaftlich sinnvoller ist, die Abgabe zu zahlen als auszubilden. ({9}) Von dieser Abgabe werden diejenigen profitieren, die in relativ einfachen Berufsbildern ausbilden, mit der fatalen Folge, dass die Qualifikation in den Berufen, in denen der Ausbildungsbedarf am höchsten ist, in den Betrieben nicht mehr vermittelt wird und dass die weniger gut qualifizierten Berufsbilder durch die Abgabe subventioniert werden. Das ist das Gegenteil von Qualifikation und wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen, die wir gegenwärtig in Deutschland brauchen. ({10}) Welche Konsequenzen hat das auf die öffentlichen Haushalte? Die Länder, die Gemeinden und auch der Bund, die allesamt aus unterschiedlichen Gründen die Verpflichtungen, die Sie im Gesetzentwurf vorsehen, nur zum Teil oder gar nicht erfüllen, werden in Zukunft selbstverständlich die Abgabe zahlen müssen. Das heißt, Sie belasten die öffentlichen Kassen insbesondere der Gemeinden und Länder - diese machen den größten Anteil des öffentlichen Dienstes aus, nicht der Bund -, ({11}) mit der Folge, dass die öffentlichen Kassen durch eine solche Abgabe zusätzlich belastet werden. Der Finanzminister hat völlig Recht, dass eine zusätzliche Belastung dadurch entsteht, dass die Ausbildungsabgabe der Betriebe als Betriebsausgabe und -aufwand abzugsfähig ist und dass auf die öffentlichen Haushalte erhebliche zusätzliche Steuerausfälle zukommen. ({12}) Das ist das Gegenteil dessen, was die öffentlichen Finanzen in diesen Tagen und Wochen brauchen. ({13}) Sie haben auf die freiwilligen Vereinbarungen - besser: auf die Tarifvereinbarungen - Bezug genommen. Es hätte den Tarifvertragsparteien in Deutschland aber nichts im Wege gestanden, schon in früheren Jahren bessere Ausbildungstarifverträge zu verabschieden. ({14}) - Ich bedanke mich sehr für den Beifall. Ich habe das an dieser Stelle auch schon bei anderer Gelegenheit festgestellt. Es hätte den Tarifvertragsparteien durchaus gut angestanden, in ihren Ausbildungstarifverträgen die Frage zu beantworten, ob nicht etwa die berufliche Bildung in den Betrieben mittlerweile ein wenig zu teuer geworden ist ({15}) und ob nicht möglicherweise die Ausbildungsordnungen dahin gehend überprüft werden müssen, ob es nicht besser wäre, wenn die Auszubildenden längere Zeiten in den Betrieben und weniger in den Berufsschulen verweilten. Alle diese Fragen hätten die Tarifvertragsparteien längst beantworten können, wenn sie sich ihrer Verantwortung gestellt hätten. Sie haben das aber nicht getan, weil sie auch von Ihrer Seite immer wieder ermuntert worden sind, auf diesem Weg weiter voranzuschreiten. Durch die Ausbildungsplatzabgabe bekommen sie jetzt die Bestätigung der Richtigkeit ihres Vorgehens in den letzten Jahren, das aber - objektiv gesehen - auch schon in diesem Zeitraum falsch gewesen ist. ({16}) - Herr Tauss, regen Sie sich nicht so auf! Wir sind langsam um Ihre Gesundheit besorgt. ({17}) Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch darauf hinweisen, dass die freiwilligen Vereinbarungen nur dann erfolgreich sein können, wenn diese auch die regional unterschiedlichen Arbeitsmarktbedingungen ausreichend berücksichtigen. Solche freiwilligen Vereinbarungen oder Tarifvereinbarungen, die Sie heute Morgen zu Recht als möglich und notwendig dargestellt haben, werden nicht zustande kommen, wenn mit dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf im Deutschen Bundestag und möglicherweise im Bundesrat ein bundesweit einheitliches Gesetz verabschiedet wird. Denn Sie haben keine Öffnungsklauseln vorgesehen, die regional unterschiedliche Antworten auf sehr unterschiedliche Arbeitsmarktund Ausbildungsplatzbedingungen zulassen. Das heißt, was Sie heute Morgen als richtig anerkannt haben, ist in Ihrem Gesetzentwurf nicht enthalten. Es sind keine regionalen Bündnisse für Ausbildung möglich, weil der Gesetzentwurf keine entsprechende regionale Differenzierung zulässt. Sie wissen im Übrigen selbst, warum Sie keine entsprechende Regelung in den Gesetzentwurf aufgenommen haben. Denn mit ziemlich großer Sicherheit wäre ein solcher Gesetzentwurf zustimmungspflichtig. Dann müsste der Bundesrat dem Gesetzentwurf zustimmen und damit wäre richtigerweise das Ende dieses Gesetzes endgültig besiegelt gewesen. ({18}) Abschließend erlaube ich mir, die Frage zu stellen, auf welcher Rechtsgrundlage Sie eine solche Abgabe staatlicherseits erheben zu können meinen. ({19}) Worum geht es in dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf eigentlich? Eine solche Abgabe erfordert nach unserem Grundgesetz eine entsprechende Grundlage. ({20}) Dafür brauchen Sie eine entsprechende Gesetzgebungskompetenz. Handelt es sich bei der Abgabe um eine Gebühr? Mit ziemlich großer Sicherheit nicht; denn es handelt sich ja nicht um eine unmittelbare Gegenleistung für die Inanspruchnahme eines staatlichen Angebots. Handelt es sich möglicherweise um eine Steuer? Wenn die Abgabe eine Steuer wäre, dann bin ich ziemlich sicher, dass Ihnen dafür die entsprechende verfassungsrechtliche Grundlage fehlen würde. Es ist also kein Wunder, dass nicht nur der Bundeswirtschafts- und -arbeitsminister sowie der Bundesfinanzminister - der eine aus wirtschaftspolitischen, der andere aus finanzpolitischen Gründen ihre Bedenken gegen das Gesetz geäußert haben. ({21}) Ganz offensichtlich hat es auch in der ersten Ressortabstimmung der Bundesregierung erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen ein solches Gesetz gegeben. Es wäre gut, wenn heute Morgen der eine oder andere von der Koalition, vielleicht sogar jemand von der Bundesregierung, ({22}) zu der Frage Stellung nehmen würde, ob das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland es Ihnen überhaupt erlaubt, eine solche Abgabe zu erheben. ({23}) Ich sage Ihnen das alles nicht, um formelle Einwendungen gegen ein in der Sache falsches Gesetz zu erheben, sondern deshalb, weil Sie in diesem Staat nicht einfach tun und lassen können, was Sie wollen, je nachdem wie Ihre innerparteiliche Diskussionslage dies erfordert. Sie haben sich an Regeln zu halten. Das gilt auch und insbesondere bei diesem Gesetz. ({24}) In diesem Sinne werden wir in den nächsten Wochen die Debatte mit Ihnen über den Gesetzentwurf streitig führen. Ich möchte zum Abschluss nur sehr deutlich sagen, dass wir jeden konstruktiven Beitrag, selbst wenn er von Ihnen kommt, unterstützen werden, ({25}) der dazu führt, dass am Ende des Jahres 2004 möglichst alle Jugendlichen in Deutschland einen Ausbildungsplatz haben. Nur eines scheint mir bei Fortsetzung der Wirtschafts-, der Finanz- und der Sozialpolitik der rotgrünen Koalition wirklich sicher zu sein: Im Verlauf des Jahres 2004 wird es nicht besser, sondern weiter schlechter werden. Die Zahl der Insolvenzen in diesem Land wird weiter steigen. Mit der Zunahme bei Insolvenzen und Arbeitsplatzverlusten werden leider auch immer mehr Ausbildungsplätze in Deutschland verloren gehen. Dann können Sie so viele Abgaben - in welcher Höhe auch immer - erheben, wie Sie wollen, Sie werden am Ende des Jahres vor einem riesengroßen, zusätzlichen Scherbenhaufen stehen. Dann wird dieses Gesetz bedeutungslos sein. Das Einzige, was man dem mit einigem Zynismus abgewinnen könnte, wäre, dass dies den Niedergang der Bundesregierung weiter beschleunigen würde. Aber es ist ein verdammt hoher Preis, den dieses Land dafür zahlen muss. ({26})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Dr. Thea Dückert, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Merz hat am Anfang etwas Richtiges angemerkt: Jeder Jugendliche, jede junge Frau und jeder junge Mann, in diesem Land braucht ein Ausbildungsangebot - das ist völlig klar. Sie brauchen eine Perspektive. Wir wissen schließlich, dass Jugendliche, die keinen Ausbildungsabschluss haben, eine ganz schlechte Erwerbsbiografie vor sich haben und dass in Zukunft unsere Wirtschaft mit einem Fachkräftemangel kämpfen wird. Deswegen ist die Anmerkung von Herrn Merz richtig. Aber seine einzige Antwort auf die Frage, was wir tun können, war: Wir sollen die Ausbildungsvergütungen senken. Lieber Herr Merz, ich finde, dass das der Aprilscherz des heutigen Tages ist. ({0}) Ich sage Ihnen eines: Die von uns vorgeschlagene Umlage, die nichts anderes als ein Konzept des Handelns ist, wird jedem Betrieb, der ausbildet, mehr bringen als das, was Sie auf Kosten der Auszubildenden vorschlagen, nämlich die Senkung der Ausbildungsvergütungen. ({1}) Ein weiterer Punkt: Herr Merz, Sie haben darauf hingewiesen, dass die hohe Zahl der Insolvenzen des letzten Jahres zwangsläufig zu einem Rückgang der Zahl der Ausbildungsplätze führe. Herr Merz, auch Sie leiden offenbar unter dem kollektiven Gedächtnisschwund Ihrer Fraktion; das muss ich ganz klar sagen. Die Zahl der Ausbildungsplätze geht nämlich bereits seit 1992 zurück. Heute gibt es in den Betrieben 100 000 Ausbildungsplätze weniger. Herr Merz, das Problem, mit dem wir zu kämpfen haben, ist, dass sich die großen Betriebe Stück für Stück aus der notwendigen Ausbildung zurückziehen. Es gab es in den vergangenen Jahren immer Betriebe - es gibt sie auch jetzt -, die wirtschaftlich stark waren und sich dennoch aus der dualen Ausbildung zurückzogen. Gleichzeitig gab es auch Betriebe, denen es nicht so gut ging, die aber trotzdem ihrer Ausbildungsverpflichtung nachkommen. ({2}) Herr Merz, Sie haben hier davon gesprochen, wir brächten mit unserem Gesetz eine Verstaatlichung auf den Weg. ({3}) Eine schleichende Verstaatlichung findet durch den sukzessiven Attentismus jener Betriebe statt, die sich Jahr für Jahr aus der Ausbildung heraushalten. Dagegen werden wir mit einem Gesetz ansteuern, das diejenigen Unternehmen stärken will, die die Aufgabe der betrieblichen Ausbildung noch wahrnehmen. ({4}) Ich weiß, dass es besser wäre, wenn die Wirtschaft selbst handelte, und dass Eigeninitiative Vorfahrt haben muss. Das werden wir in diesem Gesetz verankern. Aber ich weiß auch, dass die heutige Situation für die jungen Leute unerträglich ist. Wir Politikerinnen und Politiker haben bisher die Hände in den Schoß gelegt, obwohl vielen jungen Leuten eine Perspektive fehlt. Ich weiß auch, dass die heutige Situation gegenüber den Unternehmen unverantwortlich ist, denen in der Zukunft ein Facharbeitermangel droht. ({5}) Nur noch 24 Prozent der Unternehmen bilden aus. 700 000 Unternehmen könnten ausbilden. Wenn nur jedes zehnte dieser Unternehmen einen Ausbildungsplatz anböte, dann wäre dieses Problem schon gelöst. In den letzten Jahren wurden uns gegenüber Versprechungen gemacht und die Regierung ist aktiv geworden; aber am Ende sind dies leere Versprechungen gewesen. ({6}) Deswegen müssen wir an dieser Stelle handeln. Das Handeln der Wirtschaft wäre die beste Lösung. Es bleibt allerdings aus. Wir können aber nicht die Augen verschließen und wir dürfen uns nicht abwenden. Das Geschrei ist groß. Aber woher kommt es? 57,9 Prozent derjenigen Betriebe, die ausbilden, die sich auf diesem Gebiet also wirklich anstrengen, sind für eine Ausbildungsplatzumlage. ({7}) Daran sieht man doch ganz deutlich, worum es geht: Diese Betriebe wollen Unterstützung und die anderen, also diejenigen Betriebe, die nicht ausbilden, machen gegen die Ausbildungsplatzabgabe Front. Ich weiß, dass diese Diskussion sehr schwierig ist. Ich weiß auch, dass wir alles tun müssen - in dem Gesetz haben wir diesen Gedanken aufgegriffen -, um die Eigeninitiative zu stärken. In dieser Debatte wird aber auch ein politischer Popanz aufgebaut. ({8}) Hier wird behauptet, wir führten eine Strafabgabe ein. Ich weiß nicht genau, inwieweit PISA auf Ihre Reihen zutrifft. Wenn Sie sich diese Vorlage anschauen, dann werden Sie feststellen, dass es sich um eine Umlage handelt. ({9}) Durch diese Umlage unterstützen die Betriebe, die nicht ausbilden, diejenigen, die ausbilden. Diese Umlage wird in die betriebliche Ausbildung fließen. Das Geld der Wirtschaft wird in der Wirtschaft bleiben. Es wird nicht abkassiert. ({10}) Es gibt im Vorfeld dieser Debatte eine Initiative, die darauf abzielt, Stimmung zu machen und dem Attentismus ein moralisches Gütesiegel aufzudrücken. Es ist aber so: Die Betriebe tragen für sich selbst Verantwortung und müssen betriebswirtschaftlich rechnen. Wenn sie das tun, wird sich zeigen, dass sich jeder Ausbildungsplatz, den sie anbieten, in ihrer Bilanz positiv darstellen wird: Wenn sie unter der Quote liegen, dann wird das ihre Abgabenlast reduzieren; wenn sie über der Quote liegen, dann werden sie eine Unterstützung bekommen. Es geht um die Unterstützung der betrieblichen Ausbildung. ({11}) Ich will noch eines sagen: Es gibt in diesem Gesetz sicherlich Punkte, die wir noch verändern müssen, um die betriebliche Ausbildung stark zu machen. Von der Opposition habe ich hier aber kein einziges Wort über die Situation der Jugendlichen gehört. Stattdessen haben Sie darüber philosophiert, ob das Gesetz zustimmungsbedürftig ist oder nicht. Das interessiert die Jugendlichen nicht. ({12}) Sie brauchen Angebote. ({13}) - Ich sitze nicht auf den Ohren, Herr Merz. Ich habe ganz genau gehört, was Sie gesagt haben. Ihr einziger Vorschlag war, die Vergütung für Auszubildende zu senken. Keinen anderen Vorschlag haben Sie gemacht. Das ist billig. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. - Unsere Jugendlichen brauchen ein Angebot. Unsere Jugendlichen brauchen eine wirkliche Perspektive. Die Betriebe brauchen Facharbeitskräfte. Deswegen führen wir eine Umlage ein. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Cornelia Pieper, FDP-Fraktion, das Wort.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Dückert, ob das nun Ausbildungsplatzabgabe oder -umlage heißt, ist völlig egal. ({0}) Der Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, wird Ausbildungsplätze in Deutschland vernichten und nicht neue Ausbildungsplätze schaffen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition. ({1}) Sie haben Recht: Der Mittelstand, das Handwerk schafft 80 Prozent der Ausbildungsplätze in Deutschland. Der Mittelstand ist in diesem Land das Rückgrat der Wirtschaft. Aber Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, treiben den Mittelstand in den Ruin. Ökosteuer, Tabaksteuer, Erbschaftsteuer - und nun kommt auch noch die Ausbildungsplatzsteuer. ({2}) Sie treiben die Steuerspirale in die Höhe. Die Abgaben und Steuern steigen in Deutschland. ({3}) Sie belasten den Mittelstand und - da können Sie schreien, wie Sie wollen - treiben die Kosten für die Ausbildung in die Höhe. - Ich weiß, dass ich ins Schwarze treffe; sonst würden Sie ja nicht so reagieren. ({4}) Es geht hier - auch das will ich einmal sagen - um die Situation von jungen Menschen in diesem Land. Sie schaffen für die jungen Menschen eine Situation, die sie wirklich in die Verzweiflung treibt. ({5}) Das kann so nicht weitergehen. ({6}) Ihre Politik in Sachen Wirtschaft, Steuern, Ausbildung und Bildung ist gescheitert. Der Ifo-Index für das Wirtschaftsklima ist erneut abgesackt. Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln sagt ganz deutlich: Ausbildungsplätze werden geschaffen, wenn das Bruttoinlandsprodukt um 2 Prozent wächst. - Sie haben uns und den jungen Menschen im letzten Jahr damit gedroht, dass Sie die Folterwerkzeuge für die Wirtschaft herausholen werden. Sie setzen das nun mit einem Berufsausbildungssicherungsgesetz um. Dieses Gesetz, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ist ein bürokratisches Monster und nichts anderes. ({7}) Eine neue Mammutbehörde mit 100 Beamten, in die 500 Beamte noch zusätzlich eingestellt werden müssen, um diese Ausbildungsplatzabgabe einzukassieren, ({8}) ist ein fragwürdiger Beitrag zur Innovationsoffensive der Bundesregierung, Herr Tauss. ({9}) Ein Markt lässt sich nun mal nicht per Gesetz regulieren. Da hat Herr Merz durchaus Recht: Sie betreiben die schleichende Verstaatlichung der Berufsausbildung. Das bewährte System der betrieblichen Ausbildung blutet durch Ihre Politik aus. Der europäische Vergleich zeigt, dass in einem staatlichen Ausbildungssystem die Jugendarbeitslosigkeit viel höher liegt. Deswegen setzen wir auch weiterhin auf die betriebliche Ausbildung, auf die duale Berufsausbildung in Deutschland. Sie machen sie jedoch kaputt. ({10}) Sie haben selbst den Beweis dafür angetreten. Schauen Sie sich das JUMP-Programm der Bundesregierung an! ({11}) Jeder dritte Jugendliche wird aus dem JUMP-Programm in die Arbeitslosigkeit entlassen. Das ist keine Lösung. ({12}) Wie gesagt: Dieses neue Gesetz wird Ausbildungsplätze vernichten. Sie bestrafen die kleinen mittelständischen Unternehmen, die ausbilden wollen. ({13}) Auch die, die ausbilden wollen, aber nicht können, weil es an Nachfrage fehlt, zum Beispiel bei den Berufen der Elektrotechnik oder im Fleischerhandwerk, werden bestraft. ({14}) Selbst dann, wenn ein Lehrling seine Berufsausbildung kurz vor dem Abschluss abbricht, wird der Betrieb zur Kasse gebeten. ({15}) Was Sie hier vorgelegt haben, ist eine Katastrophe! ({16}) Die Spitze des Eisbergs, Herr Tauss, ist, dass Ihre eigene Regierung Ihren Gesetzentwurf nicht akzeptiert. ({17}) Das Justizministerium erhebt verfassungsrechtliche Bedenken. Nach der Idee der Strafandrohung bzw. Kontrolle der Putzfrauen durch Steuerfahnder in Bezug auf Schwarzarbeit folgt nun der große Lauschangriff für den Mittelstand und das Handwerk in Deutschland. ({18}) Finanzminister Eichel habe den Gesetzentwurf wegen zu hoher Steuermindereinnahmen eigentlich abgelehnt, heißt es. Sie haben in Ihrer eigenen Regierung und auch in der Bevölkerung keine Mehrheit für diese Ausbildungsplatzabgabe. ({19}) Ich kann nur sagen: Ziehen Sie diesen Gesetzentwurf zurück! Sie machen die Wirtschaft kaputt und verspielen die Zukunft der jungen Menschen in diesem Land. Die beste Mittelstandspolitik für dieses Land wäre es, wenn diese Bundesregierung endlich zurückträte. Sie bringen es einfach nicht! ({20}) Geben Sie den Jugendlichen eine Chance! SachsenAnhalt hat eine Bundesratsinitiative eingebracht. In der Tat, Herr Tauss, wir schlagen eine flexiblere Ausbildungsvergütung vor. ({21}) Warum soll sich der Unternehmer mit den Lehrlingen nicht auf eine andere Ausbildungsvergütung einigen? ({22}) Sie wollten doch Politik mit Herz machen! Ich sehe die jungen Leute in Sachsen-Anhalt mit dem Handwerksmeister bei der Kammer stehen. Sie wollen einen Ausbildungsvertrag über 300 Euro abschließen und die Kammer darf das nicht unterschreiben. Das ist eine unmenschliche Politik, ({23}) die verhindert, dass ein Ausbildungsplatz entsteht. Besser ein Ausbildungsplatz mit weniger Lehrgeld als gar kein Ausbildungsplatz! ({24})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit schon deutlich überschritten. ({0})

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. - Greifen Sie unsere Vorschläge auf, auch zur Novellierung des Berufsausbildungsgesetzes, dann kommen Sie weiter! ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Bundesministerin Edelgard Bulmahn. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Wenn es eine gesellschaftspolitische Aufgabe gibt, die wir vor allen anderen zu lösen haben, dann ist es die, für alle jungen Menschen eine qualifizierte Ausbildung zu gewährleisten. ({0}) Nur so gewinnen wir die jungen Menschen für unsere Gesellschaft und nur so können wir auch sicherstellen, dass wir in zehn, 20 Jahren Menschen haben, die bereit sind, für dieses Land, für diese Gesellschaft zu arbeiten, Wohlstand zu sichern und eine Zukunftsperspektive zu schaffen. ({1}) Wir haben ein Ziel: Wir wollen erreichen, dass kein junger Mensch von der Schulbank in die Arbeitslosigkeit geschickt wird, ({2}) dass keinem jungen Menschen die Türe vor der Nase zugeknallt wird, statt dass ihm Zukunftschancen eröffnet werden. Herr Merz, dazu habe ich von Ihnen kein einziges Wort gehört. ({3}) Zu allem Nein zu sagen, ({4}) aber mit keinem einzigen Wort zu erläutern, wie Sie erreichen wollen, dass alle Jugendlichen eine Ausbildung erhalten, das ist zu billig. ({5}) Eine qualifizierte Ausbildung sicherzustellen ist auch deshalb eine der wichtigsten politischen Aufgaben, weil sich Unternehmen nur mit gut ausgebildeten Menschen im internationalen Wettbewerb behaupten können. Das ist unsere große Stärke, unser Vorteil gegenüber anderen Volkswirtschaften. ({6}) Qualifizierte Menschen sind die Innovationskraft unseres Landes. Das muss man begreifen. ({7}) Es gibt in diesem Land viele Unternehmen - ich habe viele besucht und kennen gelernt -, in denen Unternehmer mit ganz hohem persönlichem Engagement hervorragend ausbilden, ({8}) sich jedes Jahr einbringen, damit ausgebildet wird, damit junge Leute eine Zukunftschance haben. Diese Unternehmen entziehen sich eben nicht ihrer Verantwortung. ({9}) Diese Unternehmen sollen für ihre Leistung Anerkennung erhalten, auch finanzielle Anerkennung. ({10}) Das halte ich für einen richtigen Weg. Diese Unternehmen kommen ihrer Verantwortung nach und erhalten deswegen eine entsprechende Unterstützung. ({11}) Für das Ausbildungsjahr 2003 haben wir zum vierten Mal in Folge einen Rückgang der Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge feststellen müssen. ({12}) Wir sind wieder auf dem Stand des Jahres 1998. Sie haben damals die negative Entwicklung einfach hingenommen. ({13}) Ich sage ausdrücklich, dass ich diese Entwicklung für problematisch halte. Inzwischen wird jede neunte Lehrstelle voll aus öffentlichen Mitteln finanziert. ({14}) Inzwischen gehen rund 10 Milliarden Euro aus Steuermitteln und aus Mitteln der BA in die berufliche Ausbildung. Offensichtlich ist das für Sie akzeptabel. Das ist aber eine schleichende Verstaatlichung der beruflichen Bildung. ({15}) Diese schleichende Verstaatlichung halten wir für äußerst problematisch. Sie wollen sie ja offensichtlich; dann müssen Sie aber auch Farbe bekennen: ({16}) Wollen Sie dies? - Dann muss man den Weg der Verstaatlichung der beruflichen Bildung mit allen Konsequenzen gehen. Ich habe aber dagegen größte Bedenken und halte diesen Weg für falsch. Aber darüber kann man streiten. Wenn Sie es wollen, dann müssen Sie es allerdings ehrlich sagen. ({17}) Eines geht nicht: zu allem Nein zu sagen und sich nicht darum zu kümmern, wenn Tausende von Jugendlichen auf der Straße stehen und keine Perspektive haben. ({18}) Fast die Hälfte der Betriebe mit mehr als zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bildet nicht mehr aus. ({19}) - Herr Merz, Sie haben jederzeit die Möglichkeit, hier zu sagen, was Sie wollen. Tun Sie es endlich! ({20}) Machen Sie konkrete Vorschläge und lehnen Sie nicht alles ab! Ich habe bis jetzt keinen einzigen konkreten Vorschlag gehört. ({21}) Was Sie hier leisten, ist billige Politik. ({22}) Ich sage noch einmal ausdrücklich: Fast die Hälfte der Betriebe mit mehr als zehn Mitarbeitern bildet nicht aus. ({23}) Ich will aber auch ausdrücklich sagen, dass die andere Hälfte - genau: 51 Prozent - hervorragend ausbildet und in den allermeisten Fällen ihren Ausbildungsverpflichtungen nachkommt. Diese Leistung will ich ausdrücklich anerkennen. ({24}) Wenn sich in einem dualen System zu viele Unternehmen ihrer Ausbildungsverantwortung entziehen, ({25}) dann wird damit dem Ausbildungssystem die Existenzgrundlage entzogen. Dieses Problem kann man nicht einfach ignorieren. Wir brauchen vielmehr Vorschläge, wie wir es lösen können. ({26}) Die Koalitionsfraktionen haben heute den Entwurf für ein Berufsausbildungssicherungsgesetz in den Deutschen Bundestag eingebracht. Ich will hier nicht in die Details gehen. Ich will aber eine Anmerkung zu der Frage der Rechtmäßigkeit machen. Herr Merz, man sollte sich nicht auf Gerüchte verlassen, sondern man sollte sich mit Fakten und Tatsachen auseinander setzen. Das ist vernünftig. ({27}) Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil von 1980 eindeutig bestätigt, dass der Bund die Kompetenz für diesen Bereich hat. ({28}) Das ist im Übrigen auch die Auffassung des Bundesjustizministeriums. ({29}) Ich will noch auf zwei entscheidende Punkte in dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen hinweisen. ({30}) Erstens. Die Wirtschaft hat es selber in der Hand. Die im Gesetzentwurf der Koalition vorgesehene Ausbildungsplatzumlage wird nicht ausgelöst und darf auch nicht ausgelöst werden - das ist für mich ein ganz wichtiger Punkt -, wenn es Ausbildungsplätze in ausreichender Zahl gibt. ({31}) Wie gesagt: Die Wirtschaft hat es selber in der Hand. Wenn sie ihrer Verantwortung nachkommt - ich hoffe und wünsche mir dies - und Ausbildungsplätze in ausreichender Zahl schafft, dann wird die Ausbildungsplatzumlage nicht ausgelöst. So sieht es der Gesetzentwurf vor. Das ist auch richtig; denn die Verantwortung für die berufliche Ausbildung liegt aufseiten der Wirtschaft. Da gehört sie hin und da muss sie auch bleiben. ({32}) Zweitens. In dem Gesetzentwurf wird ausdrücklich festgestellt, dass die Förderung zusätzlicher Ausbildungsplätze - ich sage: absoluten - Vorrang hat. Denn wir wollen eben keine Verstaatlichung der beruflichen Ausbildung. Es darf auch keine Verlagerung in außerbetriebliche Ausbildung geben. Diese gab es in den letzten 15 Jahren leider viel zu oft. Es geht also nicht, wie Sie es sagen, um einen störenden Eingriff, sondern um eine Stärkung des dualen Systems. Das ist die Zielsetzung. ({33}) Ich will ganz kurz auf einen weiteren Gesichtspunkt eingehen, der mir selber ein wichtiges Anliegen ist. Ich bin nämlich der Auffassung, dass wir vor dem Hintergrund dieser Diskussion nicht die strukturellen Reformen in der Berufsausbildung aus den Augen verlieren dürfen. ({34}) Die Bundesregierung wird alles dafür tun, dass die duale Berufsausbildung ein Markenzeichen, ein Aushängeschild des deutschen Bildungssystems bleibt. In diesem Zusammenhang möchte ich kursorisch einige Punkte nennen: Die Bundesregierung unterstützt die Anstrengungen der Wirtschaft, ein ausreichendes Ausbildungsplatzangebot zur Verfügung zu stellen, auch weiterhin durch verbesserte Rahmenbedingungen und finanzielle Hilfen. ({35}) Wir haben in den vergangenen Jahren durch unsere Maßnahmen eine ganze Menge erreicht. ({36}) Ich nenne die Unterstützung beim Aufbau von Ausbildungsverbünden, die inzwischen besonders in den neuen Bundesländern, aber auch in den alten eine große Rolle spielen. ({37}) Ich nenne das Programm STARegio, das aufseiten der Wirtschaft auf großes Interesse stößt. Auch den Einsatz von Ausbildungsplatzentwicklern, der von der Wirtschaft gewollt wird, unterstützen wir. Ich nenne die Modernisierung der Berufe. Inzwischen haben wir mehr als die Hälfte der gängigen Berufe modernisiert. Ich nenne auch besondere Unterstützungsmaßnahmen für diejenigen Jugendlichen, die die Schulen mit sehr schlechten schulischen Ergebnissen verlassen. ({38}) Da haben auch Sie in den von Ihrer Partei regierten Ländern eine Menge zu tun, um bessere Ergebnisse zu erreichen. Ich nenne ausdrücklich die Novelle des BBiG, mit der wir ({39}) auf der einen Seite mehr Freiräume für die Betriebe schaffen und auf der anderen Seite eine bessere Abstimmung und Passgenauigkeit zwischen den Anteilen der Ausbildung in der Berufsschule und denen in den Betrieben erzielen wollen. Kurz gesagt, unser Ziel ist es, die berufliche Ausbildung als ein Markenzeichen unseres Bildungssystems und unserer Wirtschaft aufrechtzuerhalten. Darüber lohnt es sich zu streiten. Aber man muss dann auch Argumente und Vorschläge auf den Tisch legen. Vielen Dank. ({40})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Friedrich Merz hat eine Kurzintervention angemeldet. - Bitte schön.

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Bulmahn, wir können uns hier im Deutschen Bundestag lange und streitig über die Frage unterhalten, wie wir ein Problem lösen. Dabei kann man - auch in der Bundesregierung - höchst unterschiedlicher Auffassung sein. Aber Sie haben es mit Bezug auf meinen Redebeitrag für richtig gehalten, mir und den Kollegen in der Fraktion der CDU/CSU abzusprechen, dass wir an der Lösung dieses Problems interessiert seien. ({0}) - Herr Tauss, wenn ich Sie höre, fühle ich mich an das erinnert, was Ihnen Herr Schäuble einmal gesagt hat: Seitdem Sie im Deutschen Bundestag sind, hat das Wort „Morgengrauen“ eine ganz andere Bedeutung bekommen. ({1}) Frau Bulmahn, ich weise hier den Vorwurf, den Sie hier erhoben haben, nämlich dass uns das Schicksal der jungen Leute ohne Ausbildungsplätze gleichgültig sei, entschieden zurück. Hier sitzen Abgeordnete, die sich in ihren Wahlkreisen teilweise in mühevollster Kleinarbeit bei Unternehmern darum bemühen, jungen Leuten zu Ausbildungsplätzen zu verhelfen, und sich bemühen, im Kleinen zu reparieren, was die Bundesregierung in Deutschland im Großen kaputtgemacht hat. ({2}) Das, was Sie, Frau Bulmahn, hier gesagt haben, geht weit über das hinaus, was eine parlamentarische Auseinandersetzung erlaubt. Das, was Sie hier an unsere Adresse gerichtet gesagt haben, ist eine schiere Unverschämtheit gewesen. ({3}) Ich weise das mit Empörung zurück und fordere Sie auf, das, was Sie hier gesagt haben, zurückzunehmen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Ministerin, Sie haben Gelegenheit zu antworten. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Herr Merz, ich habe Sie persönlich angesprochen. Ich will ausdrücklich sagen: Ich habe nicht Ihre Kollegen angesprochen. Wenn ich „Herr Merz“ sage, sind Sie, Herr Merz, gemeint. Dass Ihre Kollegen, um Sie zu unterstützen, applaudieren, ist etwas anderes. Aber ich will ausdrücklich sagen: Ich kenne aus dem Fachausschuss einige Kollegen Ihrer Fraktion, die sich persönlich sehr einsetzen. Ich spreche das auch niemandem ab. Herr Merz, Ihre Redezeit betrug 16 Minuten. Sie haben in diesen 16 Minuten keinen einzigen konkreten Vorschlag vorgelegt. Das halte ich für billige politische Argumentation. ({0}) Sie haben keinen Vorschlag dazu auf den Tisch gelegt, wie Sie es erreichen wollen, den Tausenden von Jugendlichen, die zurzeit auf der Straße stehen, weil sie keinen Ausbildungsplatz gefunden haben - manche suchen zum zweiten oder sogar zum dritten Mal einen Ausbildungsplatz -, eine Perspektive zu eröffnen. Sie haben den Jugendlichen kein einziges Angebot gemacht. Das erwarte ich aber von Ihnen. ({1}) Herr Merz, es ist eine Unverschämtheit, dass Sie hier zu allem Nein gesagt, aber keinen einzigen konkreten Vorschlag unterbreitet haben. ({2}) Das ist keine politische Kultur. Zur politischen Kultur gehört es, sich über konkrete Vorschläge auseinander zu setzen. Es liegen konkrete Vorschläge auf dem Tisch und über diese müssen wir uns auseinander setzen. Ich erwarte darüber hinaus aber von jeder Politikerin und jedem Politiker, dass sie Gegenvorschläge machen. Herr Merz, ich kritisiere, dass Sie keinen einzigen konkreten Gegenvorschlag gemacht haben. Die jungen Leute in diesem Land erwarten zu Recht Ihre Gegenvorschläge; sie wollen sich nämlich zwischen Ihren und unseren Vorschlägen entscheiden können. Das ist politische Kultur. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat die Kollegin Katherina Reiche, CDU/CSUFraktion, das Wort. ({0})

Katherina Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Ministerin, Sie hatten gerade die Chance, Ihre unverschämten Anschuldigungen gegenüber dem Kollegen Merz zurückzunehmen. ({0}) Sie haben diese Chance vertan und verschärfen damit die Debatte in einer unzulässigen Art und Weise. Sie tun damit weder der Debatte noch den jungen Menschen in Deutschland einen Gefallen. ({1}) Die Wirtschaft schaut mit Angst auf diese Koalition und ihre eigene wirtschaftliche Situation. Die Lage am Ausbildungsmarkt ist mehr als angespannt und Sie überziehen das Land mit neuen Regulierungen und Steuern. Andere Vorschläge haben Sie in der Tat nicht. Tobinsteuer, Erbschaftsteuer, Vermögensteuer und jetzt eine Ausbildungsplatzsteuer: ({2}) Damit demotivieren Sie die Unternehmen und die Menschen in diesem Land. Sie glauben immer noch, dass man mit Zentralismus und Bürokratie den Herausforderungen der Zukunft begegnen könnte. Ihre Politik bewältigt nichts, sie bringt zum Ausdruck, dass Ihr ordnungspolitisches Verständnis gleich null ist. ({3}) Bundeskanzler Schröder hat in der letzten Woche in seiner Regierungserklärung gesagt: „Wir sind noch längst nicht am Ende unseres Weges.“ Wenn ich mir den Gesetzentwurf ansehe, dämmert mir, wohin dieser Weg geht: schnurstracks in die Staatswirtschaft. ({4}) Es ist eine Unverschämtheit, wenn Herr Müntefering behauptet, er sei der Interessenvertreter der jungen Generation. Herr Müntefering, Sie sind der Totengräber des dualen Ausbildungssystems in Deutschland und Sie betreiben Politik auf Kosten der jungen Menschen. ({5}) Anfang März hat eine DIHK-Unternehmensbefragung offen gelegt: Eine Ausbildungsplatzabgabe würde die Situation zusätzlich verschärfen. Wir müssten dann sogar eine Verdoppelung der Ausbildungsplatzlücke gegenüber 2003 befürchten. Seit dem 11. November des vergangenen Jahres - das ist der Tag, an dem die SPD-Bundestagsfraktion Eckpunkte zur Einführung einer Ausbildungsplatzabgabe beschlossen hat - nimmt der Wahnsinn seinen Lauf. ({6}) Die Ministerpräsidenten - auch Ihre eigenen - haben es Ihnen gesagt, der Bundeswirtschaftsminister hat es Ihnen gesagt, der Bundesfinanzminister warnt, das Bundesjustizministerium hat verfassungsrechtliche Bedenken angemeldet wie übrigens auch Ihr eigener Gutachter, Professor Däubler. Alle Experten und Studien, vom IfoInstitut bis zum Bundesinstitut für Berufsbildung, kommen zu dem Schluss: Mit einer Zwangsabgabe ist keinem geholfen, aber allen geschadet. ({7}) Ihre engsten Mitstreiter, die Gewerkschafter, verlassen Sie. Ich zitiere den Vorsitzenden der GdP, Konrad Freiberg, der in der „FAZ“ vom 30. März 2004 gesagt hat: Wenn wir die Abgabe gegen die Wirtschaft, die CDU, die SPD-Ministerpräsidenten und wichtige Teile der Bundesregierung durchsetzen: Was bleibt denn dann an Glaubwürdigkeit übrig? Er spricht von „Gewürge“. - Recht hat der Mann. Doch der Wahnsinn geht weiter. Erst hat das BMBF eine Formulierungshilfe vorgelegt mit einer Formel, wie sie komplizierter nicht hätte sein können, und nun haben Sie noch einmal nachgebessert. ({8}) Das heißt im Klartext: Sie haben die Sache noch verschlimmert. Nun wird die Ausbildungsplatzabgabe im Ergebnis ein jährliches Volumen von bis zu 3,45 Milliarden Euro statt wie bisher geplant 2,45 Milliarden Euro erreichen. Erst wurden die Teilzeitbeschäftigten rausgerechnet, jetzt werden sie wieder reingerechnet. Erst wurden Branchenausnahmen restriktiv behandelt, jetzt sind sie weit gefasst. Ihre geniale Formel haben Sie mittlerweile pauschaliert und im Ergebnis weiß niemand, was Sache ist. Keiner kennt die Anzahl der Betriebe, die aufgrund von Branchenausnahmen herausgerechnet werden. Woher nehmen Sie eigentlich das Geld für die Vorund Zwischenfinanzierung der Verwaltungskosten? Bundesfinanzminister Eichel hat schon abgewinkt. Er hat keine Mittel dafür. ({9}) Er hat Frau Bulmahn aufgefordert, die entsprechenden Ausgaben aus dem Forschungshaushalt zu nehmen. Im Ergebnis heißt das, dass Ideologieprojekte durch Forschungskürzungen finanziert werden. Das nenne ich Innovation à la SPD! ({10}) Kaum ist der Gesetzentwurf auf dem Markt, werden Ausnahmeregelungen in alle Richtungen gefordert, Herr Tauss: Ausnahmen für Pflegeeinrichtungen, für Krankenhäuser, für öffentliche Einrichtungen der Jugendhilfe; Ausnahmen für Existenzgründer und vor allen Dingen für die Bundesressorts. Hier hinzuschauen ist besonders interessant. Ausbildungsquote im Kanzleramt: 2 Prozent; Bundesfinanzministerium: 0,8 Prozent; Verbraucherschutzministerium: 0,4 Prozent. Selbst das Bundesbildungsministerium kommt nur auf 2,8 Prozent, ({11}) weit entfernt von den von Ihnen geforderten 7 Prozent. Aber, meine Damen und Herren von der Koalition, es gibt tatsächlich auch Klarheiten: Klar ist zum Beispiel das Bußgeld. Wer fehlerhafte Angaben macht, dem werden drakonische Strafen von bis zu 50 000 Euro auferlegt. Klar sind auch die Steuerausfälle für Bund, Länder und Kommunen. Bundesfinanzminister Eichel rechnet mit mindestens 600 Millionen Euro. Hinzu kommt die Abgabenlast, die sich die Kommunen angesichts der leeren Stadtkassen kaum leisten können. Ein paar Zahlen: Die Stadt Leipzig hätte 5,4 Millionen Euro zu zahlen, für München wären es 3,5 Millionen Euro und für Berlin sogar 48 Millionen Euro. Wenn Sie das beschließen, treiben Sie die Kommunen noch weiter in den Ruin. Klar ist, dass die Zwangsabgabe die Bürokratie verschärft. Ihre internen Berechnungen gehen von ungefähr 1 000 Mitarbeitern aus. ({12}) Ihre eigene Formulierungshilfe gibt an, dass pro Person Kosten von 72 000 Euro im Jahr verursacht werden. Nach Adam Riese belaufen sich die Kosten für den Verwaltungsaufwand also auf mehr als 70 Millionen Euro; und das noch bevor irgendetwas passiert. Klar ist auch, dass die Ausbildungsplatzabgabe eine Sondersteuer Ost ist, denn die Ausbildungsplatzlücke ist gerade in den neuen Bundesländern besonders groß. ({13}) Zudem ist in den neuen Bundesländern die Verbeamtungsquote geringer. Die Beamten haben Sie in Ihrem Gesetzentwurf jedoch bewusst nicht mitgerechnet. So haben die ostdeutschen Kommunen dann noch weniger Spielraum für Investitionen zum Beispiel in Kindergärten oder Schulen. Das ist ein wirklicher Skandal. ({14}) Die Ausbildungsplatzabgabe ist zudem wirkungslos. Ein Lehrstellenangebot lässt sich nun einmal nicht gesetzlich festlegen. Sie aber legen willkürliche Quoten fest. Die Quote von 7 Prozent ist willkürlich gewählt. Danach sollen 15 Prozent mehr Ausbildungsplätze angeboten werden. Auch das ist eine willkürliche Quote. Das Ausbildungsplatzangebot richtet sich vor allen Dingen nach der wirtschaftlichen Situation der Unternehmen und ihren Zukunftserwartungen. Und die sind in Deutschland dank Rot-Grün so schlecht wie nie. Der Kollege Merz hat auf die hohe Zahl der Unternehmensinsolvenzen hingewiesen. Sie ruinieren den Mittelstand und rufen nun nach einer Ausbildungsplatzabgabe. ({15}) Was ist mit denen, die trotz intensiver Suche keine Lehrlinge finden? Was ist mit den Bäckern, den Fleischern, den Dachdeckern und den Landwirten? All die werden von Ihnen abgestraft. Klar ist, dass die Ausbildungplatzabgabe das Ende des dualen Systems ist. Sie wollen sich gegen Verstaatlichung wenden, betreiben aber genau den Prozess, gegen den Sie sich angeblich wehren: Sie produzieren Ersatzmaßnahmen und Warteschleifen. ({16}) Sehen Sie sich die Wirkungen des JUMP-Programms an: In Sachsen-Anhalt haben 30 000 junge Leute am JUMPProgramm teilgenommen. 22 000 von ihnen sind, nachdem sie JUMP durchlaufen hatten, wieder auf der Straße gelandet. Die Wirkung war gleich null. Klar ist, dass Arbeit in Deutschland durch Ihre Zwangsabgabe noch teurer wird. Meine Damen und Herren, die teuerste Auszubildende sitzt derzeit im Bundesbildungsministerium. ({17}) Klar ist, dass die Abgabe nicht den Mangel an geeigneten Bewerbern beseitigt. Viele junge Leute sind schlicht nicht ausbildungsfähig. 90 000 von ihnen haben keinen Schulabschluss. Diese Bemerkung richte ich auch an die Adresse Ihrer Bildungsminister. Hier müssen die Schulen und auch die Elternhäuser besser werden. ({18}) Klar ist, dass diese Abgabe zu Wettbewerbsverzerrungen zwischen lohn- und kapitalintensiven Unternehmen führen wird. Die Ausbildungplatzabgabe ist und bleibt ein Ideologieprojekt, eine Morgengabe für die Ewiggestrigen. Bei Ihnen herrscht Endzeitstimmung. ({19}) Sie sind bis aufs Messer zerstritten. Ein Drittel der Grünen ist gegen die Ausbildungsplatzabgabe. 25 Abgeordnete aus Ihrer Fraktion haben dagegen gestimmt. Würden Sie nicht ständig Druck auf Ihre Kolleginnen und Kollegen ausüben, hätten Sie in diesem Haus keine Mehrheit mehr. ({20}) Weder der Bundeskanzler noch der Wirtschafts- oder der Finanzminister besitzen politische Gestaltungskraft. Sie machen miserable Politik, entziehen den Unternehmen ihre wirtschaftliche Basis und bestrafen sie anschließend dafür. ({21}) Heute die Ausbildungsplatzabgabe, morgen der Emissionshandel, übermorgen das Gentechnik- und Chemikalienrecht - das nimmt kein gutes Ende. ({22}) Sie haben von uns konkrete Vorschläge gefordert. Jetzt werde ich sie Ihnen nennen. ({23}) Entriegeln Sie zunächst den Arbeitsmarkt! Lassen Sie nicht nur betriebliche Bündnisse für Arbeit, sondern auch betriebliche Bündnisse für Ausbildung zu! ({24}) Bauen Sie die Bürokratie ab und reformieren Sie die berufliche Bildung! Frau Bulmahn, seit fünf Jahren kündigen Sie ein Berufsbildungsgesetz an. Bislang liegt aber nichts auf dem Tisch. ({25}) Wir brauchen moderne Berufsbilder. Wir brauchen differenzierte Angebote für junge Menschen, die ihre unterschiedlichen Begabungen berücksichtigen. ({26}) Wir brauchen ein modernes Prüfungswesen und mehr Flexibilität für Betriebe in Bezug auf Ausbildungsvergütung und Ausbildungsinhalte. Meine Damen und Herren von der Koalition, in dieser Woche haben wir in unserer Bundestagsfraktion ein modernes Berufsbildungsrecht beschlossen, ({27}) mit dem die duale Ausbildung in Deutschland ihren Glanz zurückgewinnen kann. Wenn Sie selbst keine Kraft zu guter Politik mehr haben - wir haben sie. ({28})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Jörg Tauss zu einer Kurzintervention das Wort. ({0})

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Reiche, ich lasse den polemischen Gehalt Ihrer Rede weg und sage Ihnen zu Ihrer sachlichen Information: Niemand in diesem Lande ist daran gehindert, ein betriebliches oder regionales Bündnis für Ausbildung zu organisieren, es mit Leben zu füllen und jungen Menschen Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Was ich allerdings in aller Deutlichkeit zurückweise, ist Ihre Behauptung, dass beispielsweise das Bundesministerium für Bildung und Forschung seine Ausbildungsverpflichtung nicht erfüllt und unterhalb der Quote ausbildet. Liebe Frau Reiche, die Ausbildungsquote des Bundesministeriums für Bildung und Forschung liegt bei 8,6 Prozent. ({0}) Das ist es, was ich vorhin gesagt habe: dass bewusst mit falschen Zahlen argumentiert wird. ({1}) Das Gesundheitsministerium beispielsweise weist eine Ausbildungsquote von 7 Prozent auf. Aber hier ist die unterschiedliche Struktur der Ministerien zu berücksichtigen. Ich habe klar gesagt: Auch der öffentliche Dienst und die Ministerien haben ihre Verpflichtung zu erfüllen. Das ist selbstverständlich. ({2}) Abschließend sage ich Ihnen, liebe Frau Reiche: Auch die SPD-Bundestagsfraktion bildet aus und erfüllt die Ausbildungsquote. Sie gibt jungen Menschen eine Chance. Aber die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bleibt unterhalb der Quote. Das zeigt symbolisch Ihr Interesse an der jungen Generation. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Reiche, Sie haben Gelegenheit zur Antwort.

Katherina Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Tauss, ich weise Sie darauf hin, dass das Bundesbildungsministerium nicht nur die Auszubildenden des Ministeriums in seine Ausbildungsplatzquote einrechnet, sondern auch die der Ressortforschungseinrichtungen. Dass sich dann solche Quoten ergeben, ist kein Wunder. Wenn das zeigen soll, dass Sie Forschung verstaatlichen, sind wir in der Tat auf einem guten Weg. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Grietje Bettin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. ({0})

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon so häufig haben wir das Problem sinkender Ausbildungsplatzzahlen in diesem Hause diskutiert, das uns seit so vielen Jahren begleitet. Im Gegensatz zu Ihnen, liebe Opposition, suchen wir zumindest nach Lösungen; Sie haben außer Polemik und platten Sprüchen absolut nichts beizutragen. ({0}) Und unter „Wahnsinn“, liebe Kollegin Reiche, verstehe ich wirklich etwas anderes: ({1}) Tausende junger Menschen stehen jedes Jahr nach ihrem Schulabschluss ohne Ausbildungsvertrag auf der Straße. Der Staat versucht alljährlich mit großen Kraftanstrengungen und viel Geld, kompensatorische Maßnahmen anzubieten. Aber der Staat kann die Rolle der Betriebe nicht ersetzen. Wir haben in Deutschland ein auch über Deutschlands Grenzen hinaus viel gelobtes duales Ausbildungssystem, das gerade von der Ausbildung im Betrieb lebt. Eine Ausbildung mit großen praktischen Anteilen sichert den Unternehmen den stetigen Nachwuchs von Fachkräften, den sie für die wirtschaftliche Weiterentwicklung brauchen. Leider ist im letzten Ausbildungsjahr das Angebot an betrieblichen Ausbildungsplätzen im Vergleich zum Vorjahr wieder um mehr als 2 Prozent gesunken. Auf freiwilliger Basis - das müssen auch Sie eingestehen konnte wieder kein Durchbruch erzielt werden, obwohl viele junge Menschen sich enorm um einen Ausbildungsplatz bemüht haben: Für eine Lehrstelle würden die meisten sogar weit von zu Hause wegziehen, und das mit 16 oder 17 Jahren! Vergleichbares Bemühen hätten wir uns von der Wirtschaft gewünscht. Ihr einziges Angebot lag darin, die Ausbildungsvergütung zu senken. Sagen Sie mir einmal, liebe Kollegin Pieper, wie Sie von 180 Euro im Monat - im Westen - bzw. 150 Euro im Monat - im Osten - auf eigenen Füßen stehen wollen! ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Kollegin Bettin, Sie wissen ja, dass außerbetriebliche Ausbildungsvergütungen weit unter den betrieblichen Ausbildungsvergütungen liegen. Halten nicht auch Sie es für vernünftiger, die Ausbildungsvergütungen - welche ja einem Tarifsystem unterliegen - zu flexibilisieren und dadurch Ausbildungsplätze zu schaffen? ({0}) Sollten wir nicht versuchen, die Lehrlinge in Bezug auf die Ausbildungsvergütung besser zu stellen, anstatt sie von staatlich subventionierten Ausbildungsplätzen abhängig zu machen?

Grietje Bettin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003439, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kollegin Pieper, ich halte die Debatte über die Ausbildungsvergütung für eine absolute Ablenkungsdebatte. ({0}) Das Problem liegt in einem ganz anderen Bereich, nämlich darin, dass die duale Ausbildung Stück für Stück ausgehöhlt wird, indem immer mehr außerbetrieblich ausgebildet wird. Entsprechend nimmt der praktische Anteil der Ausbildungen - der Teil, den wir alle uns im Interesse der Zukunftsfähigkeit unseres Landes wünschen - immer weiter ab. Hier müssen wir gegensteuern; über die Ausbildungsvergütung können wir das Problem sicherlich nicht lösen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte die Wirtschaft nicht mit einer pauschalen Kritik überziehen. Mit der Ausbildungsplatzumlage wollen wir Unternehmen fördern, die ihre Ausbildungsverpflichtung ernst nehmen und um eigenen Fachkräftenachwuchs bemüht sind. Es geht uns darum, die Kosten der Ausbildung gerecht zu verteilen; das haben wir den Arbeitgebern seit fast einem Jahr zu vermitteln versucht. Es gab viele Initiativen, die für einzelne Regionen erfolgreich waren; Schleswig-Holstein ist für mich ganz besonders hervorzuheben. Flächendeckend hat es aber nicht gereicht; das müssen auch Sie eingestehen. Deshalb legen wir heute einen Gesetzentwurf vor, der diese vielfältigen Bemühungen nach unseren Vorstellungen entsprechend berücksichtigt. An dieser Stelle ist mir wichtig, zu betonen, dass für die gesetzliche Lösung ein Auslösemechanismus vorgesehen wurde - das wurde auch von Frau Bulmahn schon angesprochen -: Ob es zu der Umlage kommt, liegt jedes Jahr aufs Neue in der Hand der Unternehmen. ({2}) Wir freuen uns - das können Sie mir glauben -, wenn der Mechanismus nicht ausgelöst wird. Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang auch noch ein paar Worte zu der von uns schon häufig vorgeschlagenen Stiftung Betriebliche Bildungschance. Wir Grüne wollen damit über die bisher vorgeschlagene Lösung hinausgehen, um die gesellschaftspolitische Dimension der beruflichen Bildung besonders hervorzuheben. Wir wollen die Mittel einer solchen Stiftung vor allem dazu nutzen, die dringend notwendige Modernisierung der beruflichen Bildung voranzubringen; sie ist unabhängig von der Umlage notwendig. Dazu wollen wir Modellprojekte fördern, in denen die Modularisierung und unser gemeinsames Ziel der Internationalisierung auch der beruflichen Bildung beispielhaft umgesetzt werden. Förderfähig im Sinne der Stiftung wären nach unseren Wünschen betriebliche, aber auch außerbetriebliche Modellprojekte. Im Rahmen der heute hier vorgelegten gesetzlichen Lösung zielen wir aber ausdrücklich auf die Förderung betrieblicher Ausbildungsplätze in einzelnen Unternehmen oder Ausbildungsverbünden. Wir Grüne wollen mit diesem Mechanismus der Umlage einen Ausgleich zwischen ausbildenden und nicht ausbildenden Betrieben schaffen. Geld aus der Wirtschaft soll in die Wirtschaft zurückfließen. Es gibt im Detail durchaus noch Präzisierungsbedarf. Beispielhaft sei hier der Fall eines Unternehmens genannt, welches mehr als zehn Beschäftigte hat, aber in einem Berufsfeld tätig ist, in dem keine anerkannte Ausbildung vorzuweisen ist. Zudem müssen noch spezifische Härtefallregelungen ausgearbeitet werden. Das betrifft aus unserer Sicht zum Beispiel Träger der Jugendhilfe, der Behindertenintegration oder Ähnliches. Insgesamt wollen wir zu einem Gesetz kommen, das einerseits den Interessen der jungen Menschen in unserem Land gerecht wird und andererseits ausgewogen und zielgenau einen gerechten Ausgleich zwischen ausbildenden und nicht ausbildenden Betrieben schafft, ohne allzu viel Papierkram für Wirtschaft und Verwaltung zu verursachen. ({3}) Dies ist zugegebenermaßen keine einfache, aber dennoch eine lohnenswerte Aufgabe. Liebe Opposition, allein zu sagen, was man alles nicht möchte, hilft den jungen Menschen und unserem dualen System absolut nicht weiter. Wir haben einen Großteil unserer Hausaufgaben gemacht. Wir werden aber zugegebenermaßen noch weiter arbeiten müssen. Sie können sich, unter anderem im Anhörungsverfahren, konstruktiv an einer Verbesserung der Ausbildungssituation beteiligen. Ich bin gespannt auf Ihre Vorschläge. Danke schön. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat Kollege Christoph Hartmann, FDPFraktion. ({0})

Christoph Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003548, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In einem Punkt hat die Regierung Recht: Wir müssen die Situation verbessern. Das ist aber der einzige Punkt, in dem die Regierung Recht hat. Sie monieren unter anderem, dass es keine Anträge und keine konkreten Vorschläge gibt. Die FDP hat in dieser Legislaturperiode in diesem Zusammenhang schon vier Anträge eingebracht. Sie haben alle abgelehnt. Heute liegt wieder ein konkreter Antrag vor. Auch diesen werden Sie ablehnen. Vor diesem Hintergrund können Sie doch nicht guten Gewissens sagen, dass wir nicht an Lösungen interessiert seien! ({0}) Sie belasten mit dem Gesetz den Steuerberater, der keinen geeigneten Bewerber findet, und den Metzger mit 15 Angestellten, der überhaupt keinen Bewerber findet. Sie wollen Unternehmen, die von Insolvenz bedroht sind, eventuell von der Ausbildungsabgabe befreien. ({1}) - Ja, weil Sie eine Ausnahmegenehmigung schaffen wollen, die Sie der Verwaltung aufoktroyieren. Das heißt, die Verwaltung darf darüber entscheiden, ({2}) ihr obliegt es, darüber zu entscheiden, ob eine Ausbildungsplatzabgabe erhoben wird oder nicht. Sie wollen Unternehmen belasten, die zwar ausbilden, aber nicht im Rahmen einer dualen Ausbildung, zum Beispiel Medienunternehmen, die Volontäre ausbilden, und Firmen, die in Berufsakademien ausbilden. Sie belasten Zeitarbeitsfirmen, deren Arbeitnehmer bei anderen Unternehmen beschäftigt sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Gesetz ist ein Ausbildungsplatzkiller und nicht ein Ausbildungsplatzschaffer. ({3}) Sie betreiben Gleichmacherei. Sie unterscheiden nicht nach Branchen: Es ist Ihnen vollkommen gleich, ob es um die IT-Branche oder um die Landwirtschaft geht. Sie wollen, dass die deutsche Steinkohle ausbildet, obwohl die Politik von ihr verlangt, dass Arbeitsplätze abgebaut werden. Sie unterscheiden nicht nach Unternehmensgrößen: Es ist vollkommen irrelevant, ob es um 15 Arbeitsplätze oder um 15 000 Arbeitsplätze geht. Das ist Planwirtschaft! Das ist der falsche Weg. ({4}) Es gibt einen Bereich, die Bauindustrie, in dem es eine freiwillige Umlage gibt. Diese Umlage wird immer wieder sehr gerne von Ihnen als Beispiel herangezogen. Seit 1995 hat sich die Zahl der Ausbildungsplätze in der Bauindustrie - trotz der freiwilligen Umlage - von 55 000 auf 24 000 verringert. ({5}) An diesem Punkt kommen Sie immer mit Ihrer Argumentation, die Bauindustrie bilde über dem Durchschnitt aus. Aber das ist doch nur deshalb der Fall, weil die Bauindustrie Teil des Handwerks ist und das Handwerk insgesamt überdurchschnittlich ausbildet. Die einzigen Ausbildungsplätze, die Sie mit diesem Gesetz schaffen, sind Ausbildungsplätze im Bundesverwaltungsamt, dem Amt, das für die Verwaltung der Ausbildungsplatzabgabe nötig ist. ({6}) - Frau Kollegin Kressl, ich selbst bin Mitinhaber eines kleinen Unternehmens. Ich weiß, wie ein solches Gesetz auf diejenigen wirkt, die in einer ähnlichen Situation sind wie ich. Es wird nicht dazu führen, dass auch nur ein Ausbildungsplatz mehr geschaffen wird. Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Gesetz löst keine Probleme, dieses Gesetz schafft Probleme. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Berufsausbildungssicherungsgesetz - oder kurz, wie es auf der Drucksache steht, das „BerASichG“ - ist allgemein unter „Ausbildungsumlage“ bekannt. Ihr Sinn ist übersichtlich: Wer nicht ausbildet, obwohl er es könnte, soll sich wenigstens finanziell an der Ausbildung beteiligen. Wer ausbildet, obwohl es ihm schwer fällt, soll finanziell entlastet werden. Eine solche Umlage ist nur recht und billig. Die PDS im Bundestag fordert sie seit langem. Rot-Grün steht im Wort. Das zu lösende Problem wird deutlich, sobald man die Fakten sprechen lässt. Seit Jahren ist die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze rückläufig. Nach Angaben des DGB bildet heute nur noch jeder vierte der 2,1 Millionen Betriebe in Deutschland aus. Zugleich wächst die Zahl derjenigen, die vergebens eine Lehrstelle suchen. Nach Angaben der Bundesregierung waren es im Herbst 2003 circa 35 000 Jugendliche. Die Zahlen des DGB sind wahrscheinlicher. Wenn man nämlich all diejenigen dazuzählt, die in Warteschleifen geparkt sind, kommt man auf über 200 000 Betroffene. SPD und Grüne betonen das große Potenzial der Wirtschaft, das brachliegt, wenn nicht ausgebildet wird. Ich betone das schlimme Signal für die Jugendlichen, die sich wert- und nutzlos fühlen. Das kann in der Zukunft nicht gutgehen. Besonders dramatisch ist die Lage in den neuen Bundesländern. Immer mehr Jugendliche bleiben ohne Chance auf eine betriebliche Ausbildung. Sie werden in Ersatzmaßnahmen geparkt oder werden außer Landes gedrängt. Das hat Folgen für die Regionen. Ihnen kommt nämlich die Jugend abhanden und damit auch die Zukunft. Der „Spiegel“ schrieb dazu sarkastisch: „Zurück bleiben Alte, Kranke und Dumme“. Das ist ein zusätzliches Problem im Problembereich Ausbildungsplätze und darf den neuen Bundesländern nicht alleine überlassen werden. Nun weht ein Sturm der Entrüstung durch das Land, seitdem Rot-Grün mit der Ausbildungsabgabe ernst macht. Ein Argument wird auf das nächste getürmt, um das Berufsausbildungssicherungsgesetz, wie es amtlich heißt, zu verhindern. Unternehmerverbände malen Horrorszenarien und drohen mit noch weniger Ausbildung. Die FDP warnt vor einer Bußsteuer. Die CDU/CSU sieht den Standort Deutschland bedroht. Ist Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch nie aufgestoßen, dass andersherum ein Schuh daraus wird? ({0}) Hunderttausende Unternehmen bilden nicht aus, obwohl sie es könnten. Diese gefährden den Standort Deutschland. Sie bürden den anderen Lasten auf, anstatt sie zu teilen, und sie lassen immer mehr junge Menschen hängen. Dagegen muss etwas getan werden. Wir sind hier, um politisch zu intervenieren. ({1}) Das viel gelobte duale Ausbildungssystem hinkt seit langem. Immer weniger Jugendliche werden betrieblich und immer mehr ersatzweise außerbetrieblich ausgebildet. Das ist weder im Sinne des Erfinders noch im Interesse der Jugendlichen. Hinzu kommt: Die Unternehmen, die nicht ausbilden, sparen Kosten. Stattdessen müssen die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler für die Ersatzmaßnahmen aufkommen. Es ist dasselbe Trauerspiel, das wir auch auf anderen Gebieten erleben: Viele Unternehmen entziehen sich ihrer Sozialpflicht. Die Opposition zur Rechten findet das gut, die Opposition zur Linken findet das nicht gut. Eine Ausbildungsumlage ist nicht nur ein Gebot der Vernunft und der Moral - beides ist der Marktwirtschaft, wie wir wissen, nicht naturgegeben -, sie ist auch rechtlich geboten, und zwar spätestens seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahre 1980. In diesem Urteil hat das Gericht allen Jugendlichen das Recht auf eine praxisbezogene Ausbildung eingeräumt und die Arbeitgeber verpflichtet, für die Verwirklichung dieses Anspruchs zu sorgen. Daneben hat es dem Staat, der Politik, bedeutet - ich zitiere aus dem Urteil -: Das gilt auch, wenn das freie Spiel der Kräfte zur Erfüllung dieser Aufgabe nicht mehr ausreichen sollte. Kurzum: Das Recht steht aufseiten von Rot-Grün, wenn die Koalition die Umlage nun endlich einführt. In der ganzen Debatte wird der Ball nun zurückgespielt, zum Beispiel mit dem Argument, viele Unternehmen seien zwar ausbildungswillig, aber immer mehr Jugendliche seien gar nicht ausbildungsfähig. Dem will ich im Einzelfall gar nicht widersprechen. Die Klagen über das Ausgangsniveau an deutschen Schulen sind nicht neu und nicht erst seit der PISA-Studie im internationalen Vergleich belegt. Allerdings ist das eher ein gutes Argument für eine gründliche Bildungsreform und ein schlechtes Argument gegen eine Ausbildungsumlage. Das heißt, die PDS im Bundestag ist grundsätzlich für eine solche Umlage. Über die Details muss man im weiteren Verfahren miteinander reden. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Ernst Dieter Rossmann, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Merz von der CDU ist hier ganz gewaltig und polemisch eingestiegen. Andere haben es ihm nachgemacht. Ich möchte nur ganz nüchtern sagen: Mit Schaum vor dem Mund lässt sich schlecht denken. ({0}) Mit Schaum vor dem Mund wird man zum Dogmatiker. Vielleicht können wir uns auf eine solche Unterscheidung einigen: Wir sollten gemeinsam dogmatisch sein in dem Ziel, dass alle jungen Menschen eine Ausbildungsund Qualifizierungschance erhalten. ({1}) Ihr Dogmatismus aber ist ein anderer: Sie wollen über alles Mögliche diskutieren, aber eine Erweiterung des Instrumentariums, mit dem wir uns in Deutschland diesem Problem und dessen Bewältigung nähern können, unter keinen Umständen auch nur bedenken. Mit einem solchen Dogmatismus schließen Sie lediglich das Instrument aus, konzentrieren sich aber nicht auf das, worauf es eigentlich ankommt, nämlich darauf, in der Gesellschaft, bei den Unternehmen und bei uns Politikern dafür zu werben, dass auch die letzten Chancen erörtert werden, die wir eröffnen können, damit junge Menschen einen Ausbildungsplatz erhalten. ({2}) Deshalb muss selbst in Ihre Kreise hinein und bei der Wirtschaft dafür geworben werden, sich ganz nüchtern zu fragen, ob das Instrument der Ausbildungsplatzumlage, das in den Kasten der zur Verfügung stehenden Instrumente aufgenommen werden soll, nicht durchaus modern ist. Das Gesetz ist modern, weil es subsidiär ist. Von ihm wird nur dann Gebrauch gemacht, wenn die in der Gesellschaft freiwillig entwickelten Lösungen nicht zur Erreichung der entsprechenden Ziele führen. Das ist klassisch, modern und subsidiär. ({3}) In Gesprächen mit Unternehmerinnen und Unternehmern kann sich über dieses Instrument - hoffentlich mit Ihrer Unterstützung - die Frage, weshalb nicht ausgebildet wird, zum Positiven wenden: Ja, weshalb bilden wir denn eigentlich nicht aus? Welche Chancen liegen denn in der Verbundausbildung, in Kooperationen mit Schulen, in neuen Ausbildungsordnungen, in ausbildungsbegleitenden Hilfen, die von der Regierung und der Bundesagentur für Arbeit zur Verfügung gestellt werden? So muss gedacht werden, wenn man die Zielvorgabe Subsidiarität - was Sie von uns erwarten und was unser Anspruch an ein modernes Gesetzesinstrumentarium ist - ernst nimmt. ({4}) Das Gesetz ist modern, weil es dynamisch ist. Der Entwurf bezieht offene, sich wandelnde Größen ein - sicher erschwert das die Sache -: Wie viele suchen einen Ausbildungsplatz? Wie viele Ausbildungsplätze gibt es? Wie ist das Verhältnis zu den Arbeitsplätzen? - Genau so wünscht man sich die Gesetze ja eigentlich. Gesetze sollen nicht ein bestimmtes Maß dogmatisch setzen, sondern die gesellschaftliche Wirklichkeit abbilden, auch beim Thema Beruf und Bildung. ({5}) Dieses Gesetz ist modern, weil es den Blick in die Zukunft richtet. Relevant sind die Bedarfe der Zukunft, zum Beispiel der Bedarf an Facharbeitern. Damit wird reflektiert, dass es einen Alters- und Gruppenwandel gibt. Deshalb ist die Geltungsdauer dieses Gesetzes zeitlich auch begrenzt. Sie fordern doch immer: Macht Gesetze, die nicht für die Ewigkeit gedacht sind, sondern ein offenes Instrument darstellen und zeitlich befristet sind! Dieses Gesetz ist modern, weil es entstaatlicht. In diesem Zusammenhang möchte ich mich gerne mit der FDP auseinander setzen, da sie immer wieder die Verstaatlichung von Berufsausbildung beklagt. Wir stimmen sicherlich darin überein, dass eine vollzeitschulische Ausbildung Verstaatlichung bedeutet. ({6}) An dieser Stelle beobachten wir, dass es zu immer mehr vollzeitschulischen Ausbildungen kommt, manchmal aus guten Gründen, manchmal auch deshalb, weil im dualen System nicht genug ausgebildet wird. Aus diesem Grund gehen zwischen 60 000 und 70 000 junge Menschen in die Berufsfachschulen und andere vollstaatliche Ausbildungen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir gegensteuern. Es wird versucht, innerhalb des dualen Systems zusätzliche Ausbildungsplätze rechtzeitig zu mobilisieren, damit die jungen Menschen nicht die Flucht in die Berufsfachschulen antreten. ({7}) Ein anderer Punkt. Zu der Zeit, als Herr Schäuble noch Oppositionsführer war, schleuderte er uns, als wir vom Instrument JUMP begeistert waren - in Teilen auch noch sind -, entgegen, das sei ein Betrug an den Jugendlichen, weil es keine wirkliche Ausbildung im dualen System sei. In diesem Punkt will ich ihm gerne Recht geben. Vielleicht ist das Instrument der Ausbildungsplatzabgabe eine Teilantwort auf Erfahrungen, die wir mit JUMP machen mussten. Es ist etwas anderes als JUMP: Es nimmt die Wirtschaft, die Unternehmen in die Pflicht. Es wirbt dafür, nicht an erster Stelle auf Ersatzmaßnahmen zu setzen, sondern den Lernort Betrieb besser zu organisieren, als das mit JUMP im Einzelfall möglich war. Ein weiterer Punkt - die differenzierte Betrachtung werden wir sicherlich in der Ausschussanhörung vornehmen wollen -, mit dem ich mich auseinander setzen will, ist der FDP-Vorschlag, die Ausbildungsvergütung in den Betrieben an die Ausbildungsvergütung in den außerbetrieblichen Lernorten anzupassen. Nimmt dies das auf, was duale Ausbildung kennzeichnet, nämlich Lernen und Arbeit zunehmend miteinander zu verbinden? In der dualen Ausbildung wird akzeptiert, dass der Lernort ein Betrieb ist, dass man vom ersten bis zum dritten Lehrjahr zunehmend etwas leistet. Junge Menschen sollen lernen, dass sie dann, wenn sie sich anstrengen und etwas leisten, dafür etwas bekommen, nämlich Anerkennung und eine tarifmäßige Bezahlung. ({8}) All das wollen Sie nivellieren. Sie wollen die von Ihnen nicht gewollte außerbetriebliche Ausbildung zum Maßstab nehmen, nach dem Sie junge Menschen bezahlen wollen. An dieser Stelle komme ich auf meinen Ausgangspunkt zurück. Vielleicht gibt es einen Unterschied zwischen Dogmatismus und Engagement. Ich versuche, das durch den Wunsch vorzuleben, dass wir all das, was Sie aus den Fraktionen zu diesem Gesetzentwurf im Einzelnen an Fragen haben, im Ausschuss sachlich erörtern können, dass Sie Vorschläge machen und wir diese Vorschläge aufnehmen, sodass es am Ende einen Gesetzentwurf gibt, der eine große Gemeinschaftsleistung von Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt darstellt. Wenn es nicht zur Anwendung dieses Gesetzes kommt, dann deshalb, weil es in dieser Gesellschaft ein klares Bekenntnis dazu gibt, dogmatisch für junge Leute und ihre Ausbildungschancen zu streiten und bei der Wahl der Instrumente offen zu sein. Im Übrigen soll möglichst freiwillig und rechtzeitig all das mobilisiert werden, was in unserer Wirtschaft an Kraft für Ausbildung steckt. Danke schön. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/ CSU-Fraktion.

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ausführungen der Redner von Rot-Grün in dieser Debatte sind deprimierend. Ich sage das so, wie ich es empfinde. ({0}) Ich glaube, ich bin von allen Rednern die Einzige, die ausbildet. Mein Betrieb hat eine Ausbildungsquote von 11 Prozent. ({1}) Ich erwarte nicht, dass jeder ein Unternehmen hat und die Praxis vor Ort miterlebt. Aber ich erwarte von Kollegen, die sich hier vorne hinstellen und große Reden schwingen, dass sie in die Betriebe gehen, mit Jugendlichen und Betriebsinhabern sprechen und sich vor Ort erkundigen, wie die wirtschaftliche Lage momentan ist, sodass sie wissen, wovon sie hier reden. ({2}) Das heutige Datum ist wirklich bezeichnend für diese Debatte. Ihr Gesetzentwurf, den Sie auf den Tisch gelegt haben, ist ein sehr missglückter Aprilscherz. ({3}) Sie müssen doch zugeben: Es gibt viele in Ihren Reihen, die derselben Auffassung sind. Jeder, der einen klaren Menschenverstand hat, sieht doch, dass das Unvernunft hoch drei ist. ({4}) Wir wissen es, viele von Ihnen wissen es auch und die meisten Menschen draußen vor Ort wissen es ebenfalls. Ihr Gesetzentwurf ist nur ein Tribut an die SPD-Linken und sonst nichts. ({5}) Sie treiben einen bitterernsten Schabernack mit den jungen Menschen in unserem Land. Sie erwecken Hoffnungen, dass mit diesem Gesetz mehr Ausbildungsplätze geschaffen werden. Sie wissen aber so gut wie wir, dass dem nicht so sein wird. Im Gegenteil: Es wird nicht besser, sondern es wird schlechter werden. Es werden weniger Ausbildungsplätze als vorher bereitgestellt werden. ({6}) Warum sind denn inzwischen 16 Prozent aller Unternehmen in Wartehaltung und haben ihre Lehrstellenangebote auf Eis gelegt? Warum warten sie ab? Daran sieht man, dass Ihr Gesetzentwurf eine ganz verheerende psychologische Wirkung hat. Sie haben das in Ihren Reihen teilweise selbst erkannt. Es kommt doch nicht von ungefähr, dass Ihr Wirtschaftsminister nicht da ist. ({7}) Er steht nicht dahinter; das wissen wir. Wir wissen auch, dass Herr Eichel nicht dahinter steht. Daran sieht man, dass er auch vernünftig sein kann; ({8}) denn nicht umsonst hat er seine Beamten aufschreiben lassen, die Beschäftigungs- und Wachstumswirkung einer Ausbildungsplatzabgabe sei „fragwürdig“. Das ist ein Zitat. „Fragwürdig“ hat er gesagt. Er rechnet mit Belastungen der Wirtschaft in Höhe von 1,2 Milliarden Euro. ({9}) Sie bauen eine Mammutbehörde mit bis zu 1 000 Beamten auf. Die Vorhaltekosten betragen bis zu 70 Millionen Euro per annum, unabhängig davon, ob Sie diese Ausbildungsplatzabgabe überhaupt erheben oder nicht. ({10}) Sie sammeln für die immense Bürokratie 2,4 Milliarden Euro ein. Dann geben Sie an einige wenige wieder 1,4 Milliarden Euro. ({11}) Es verschwinden in dem bürokratischen Apparat 1,2 Milliarden Euro. Sie sind einfach perdu. Das alles geschieht in einer Situation, die durch 80 000 Firmeninsolvenzen in den letzten zwei Jahren geprägt ist, was bedeutet, dass junge Menschen 80 000-mal weniger die Chance hatten, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, in einer Situation, in der in 20 Monaten 70 000 Jobs weggefallen sind, in der die Osterweiterung mit einem immensen Wettbewerbsdruck und Kostendruck vor der Tür steht, und in der wir weniger Bürokratie und nicht mehr Bürokratie brauchen. Sie aber bauen ein Riesenbürokratiemonster par excellence auf. ({12}) Ihr Minister Eichel sagt nicht umsonst, dass das Ganze aus Haushaltssicht nicht akzeptabel sei. Er hat das ganz genau berechnen lassen: Er erwartet Steuerausfälle von 600 Millionen Euro. ({13}) Denn die Abgabe kann man gewinnmindernd abschreiben. Das sind Fakten, die man nicht negieren kann. Lieber Kollege Tauss, ich frage mich, warum Sie die Beamten ausgenommen haben. Sie sprechen nur von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, Sie sprechen nicht von den Beamten. Sie werden Ihre guten Gründe haben und nach dem Motto verfahren: Wir Bundesbehörden nicht, macht ihr Länder und Kommunen das mal schön, ihr habt die Angestellten. - Sie kennen doch die Situation der Kommunen und der Länder: Denen steht das Wasser bis zum Hals. Sie bürden ihnen noch mehr Kosten auf. Allein die Stadt Berlin hat Zusatzkosten von 48 Millionen Euro. Wie soll denn das überhaupt noch finanziert werden? Man fragt sich in diesem Zusammenhang, warum Sie eigentlich nicht auf die Bund-Länder-Kommission hören. Ihre Beauftragten aus dem Bildungsbereich waren sich einig, dass sie nicht erwarten, dass auch nur ein zusätzlicher Ausbildungsplatz mit der Ausbildungsplatzabgabe geschaffen wird. Wir haben Sie letzte Woche gefragt, welche Kosten auf Bund, Länder und Gemeinden zukommen und wie viel zusätzliche Lehrstellen Sie im staatlichen Bereich erwarten. Wir haben gefragt, wie hoch die maximale Belastung der Betriebe sein könne. Das sind doch elementare und wichtige Fragen, die beantwortet werden müssen, bevor ein Gesetzentwurf erarbeitet wird. Wie aber hat Ihr Staatssekretär Matschie diese Fragen beantwortet? Die Antwort lautete schlicht und ergreifend - wie ich meine, auch erschreckend -: Hierzu ist eine konkrete Abschätzung nicht möglich. ({14}) Daran sieht man, wie Sie Gesetze machen, nämlich chaotisch, unüberlegt und ohne zu wissen, welche Auswirkungen auf viele Bereiche damit verbunden sind. ({15}) Das gesamte Vorhaben ist unkoordiniert. Der Gesetzentwurf beinhaltet verfassungsrechtliche Problemstellungen en masse. Das wissen auch Sie. Sie haben inzwischen die Anerkennung der Tarifverträge aufgenommen; stattdessen soll die Quote nicht anerkannt werden. ({16}) In diesem Zusammenhang frage ich mich, inwiefern ein Ausgleich vorgesehen ist. Denn diejenigen, die zwar eine tarifvertragliche Vereinbarung getroffen haben, deren Ausbildungsquote aber unter 7 Prozent liegt, müssen keine Ausbildungsplatzabgabe zahlen, während ein anderer Betrieb, der nicht tarifvertraglich organisiert ist, aber mehr Lehrstellen anbietet, die Abgabe zahlen muss. Diese Regelung werden Sie aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht aufrechterhalten können. ({17}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie können uns sicherlich nicht absprechen, dass wir uns - ebenso wie Sie; das gestehe ich Ihnen zu - große Sorgen um die jungen Menschen machen. ({18}) - Das ist nicht zum Lachen. - Wenn heute 16-Jährige auf der Straße stehen und keinen Ausbildungsplatz bekommen, obwohl sie gerne einen hätten, dann ist das für sie frustrierend und oft auch demoralisierend. Wenn das Einzige, was sie in dieser Situation von unserer Gesellschaft noch zu erwarten haben, eine Ersatzmaßnahme ist, dann wissen sie oft nicht mehr weiter. Wir sind durchaus einer Meinung, dass man dagegen etwas tun muss. ({19}) Aber man muss bei den Ursachen anfangen und die Frage stellen, warum weniger ausgebildet wird. Es ist doch die Grundlage für jede Lösung, erst einmal herauszufinden, warum weniger ausgebildet wird. In der Regel sind es die großen Betriebe - diejenigen mit betrieblicher Mitbestimmung -, die weniger ausbilden. Das muss ebenfalls berücksichtigt werden. ({20}) Wo bleibt denn in diesem Bereich die Verantwortung der Gewerkschaften in den Großbetrieben, in denen sie vertreten sind, oder auch in den Gewerkschaften selbst? Bei Verdi beträgt die Ausbildungsquote 0,28 Prozent, aber nach außen wird - nach dem Motto „Immer bei den anderen, aber nie bei uns“ - laut eine Ausbildungsplatzabgabe gefordert. Das entspricht auch Ihrer Methode, Politik zu machen. Das aber ist der falsche Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün. ({21}) Unsere Mittelständler wollen ausbilden - das wissen wir -, aber sie können es oft nicht. Warum ist das so? Zum einen finden sie keine geeigneten Bewerber. Obwohl diese Unternehmen Lehrstellen besetzen wollen, aber keine geeigneten Lehrlinge finden, wollen Sie bei ihnen zukünftig ebenfalls abkassieren. Zum anderen können viele Betriebe nicht ausbilden, weil es ihnen aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage nicht gut geht. ({22}) - Moment. - Wer jetzt einen Lehrling einstellt, unterliegt der Verpflichtung, ihn in zwei bis drei Jahren zu übernehmen. Der Unternehmer weiß aber nicht, ob er ihn dann wirklich übernehmen kann und ob die Auftragslage das zulässt. ({23}) Diese Fragen muss man angehen. Ein großes Problem, mit dem wir konfrontiert sind, ist die Ausbildungsfähigkeit unserer jungen Menschen. Pro anno verlassen 90 000 Schüler die Schule ohne Abschluss. Das kann man nicht einfach negieren. Das können Sie auch nicht dadurch ändern, dass Sie den Betrieben eine Strafsteuer auferlegen. ({24}) Sie müssen vielmehr die Wurzel des Problems angehen. Dabei sind wir als Politiker gefordert. Wir müssen das duale Ausbildungssystem reformieren und Betriebe für solche Jugendliche finden, die nicht hochqualifiziert sind. Wir müssen einfachere Ausbildungswege finden. Wir haben, wie Sie wissen, einen Gesetzentwurf zur Modernisierung des Berufsbildungsrechtes vorgelegt, in dem wir detailliert Maßnahme für Maßnahme, die wir vorschlagen, aufgeführt haben. Wir haben in unserem Antrag zur Beschäftigungspolitik auch Vorschläge zur Verbesserung der Situation Jugendlicher formuliert, Vorschläge, die im Anschluss an diese Debatte diskutiert werden müssen. Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch, auch wenn Sie noch so oft sagen, dass das nicht stimmt. Lassen Sie uns die Diskussion über die Punkte beginnen, die den Jugendlichen wirklich helfen, statt über Gesetzentwürfe zu diskutieren, die nur als Placebo für die linken Flügel Ihrer Partei dienen. Geben Sie den jungen Menschen eine Chance! Sie brauchen sie wirklich. Vergessen Sie nicht: Die jungen Menschen sind unsere Zukunft und auch die Zukunft vieler Betriebe. Die Mittelständler wissen das. Aber Sie geben den jungen Menschen keine Chance. Sie nehmen ihnen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf vielmehr jede Chance. Deswegen fordere ich Sie auf: Nehmen Sie den Gesetzentwurf zurück; denn die Leidtragenden würden die jungen Menschen sein, wenn dieser Gesetzentwurf Wirklichkeit werden sollte. ({25})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Swen Schulz, SPDFraktion. ({0})

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Eine Vorbemerkung zu Herrn Merz: Er hat bei seinem polemischen Einstieg großspurig gesagt, die Bundesregierung sei nicht angemessen vertreten. Das ist falsch; denn die Bundesregierung ist in der Spitze durch die hier anwesende Bildungsministerin Bulmahn vertreten. Aber wo ist jetzt Herr Merz? ({0}) Herr Merz hat großartige Sprechblasen produziert und hat sich dann verdrückt. So kann es nicht gehen. ({1}) Liebe Kollegin Wöhrl, ich möchte nicht im Einzelnen auf das eingehen, was Sie gesagt haben. Es ist am besten, wenn ich Ihnen unseren Gesetzentwurf zur Verfügung stelle, damit Sie sich über den aktuellen Stand informieren können. ({2}) Dann werden Sie vielleicht beim nächsten Mal keine falschen Dinge erzählen. Ich möchte mit meiner Rede die Debatte wieder auf eine sachliche Basis zurückführen. ({3}) Warum gibt es jetzt eine solche Gesetzesinitiative? ({4}) Die Antwort ist: weil die Situation auf dem Ausbildungsmarkt 2003 fast wieder so unbefriedigend war wie 1997. Die Ausbildungsstellenlücke betrug noch unter der Regierung Kohl 21 557. Einige Zeit konnten wir dann sogar ein Plus verzeichnen. Aber zuletzt belief sich die Lücke auf 20 175. Auch bei der Zahl der nicht vermittelten Jugendlichen drohen wir an die Zeiten der Kohl-Ära anzuknüpfen. Der Bund, die Länder und die Kommunen haben in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen, Klinken geputzt, Bündnisse geschlossen, Ausbildungskonsense vereinbart und sehr viele Steuermittel zur Verfügung gestellt. Damit haben wir vielen Jugendlichen zwar geholfen, aber das Grundproblem nicht aus der Welt geschafft, nämlich die immer weiter sinkende Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen. Obwohl Swen Schulz ({5}) der staatliche Anteil, wie Ministerin Bulmahn das hier dargelegt hat, schleichend immer weiter steigt, bleiben immer mehr junge Menschen ohne Ausbildung, ohne Perspektive. Das können und werden wir nicht hinnehmen. ({6}) Nun wirft uns die Opposition vor, wir verstaatlichten die Ausbildung und wollten Betriebe bestrafen. Aber das genaue Gegenteil ist der Fall. Wir sorgen lediglich dafür, dass die Betriebe, die ausbilden, Unterstützung erhalten, und zwar von denjenigen, die nicht ausbilden. ({7}) Das ist ein sehr einfaches und gerechtes Prinzip, das jeder hier im Hause verstehen können sollte. Übrigens, noch eine Bemerkung zum Thema Staat: Die FDP hat vor knapp einem Jahr im Deutschen Bundestag allen Ernstes Subventionen für Ausbildungsplätze vorgeschlagen. ({8}) Das ist sicherlich kein Beitrag zur Entstaatlichung der Ausbildung. ({9}) Tatsächlich ist die Regierungskoalition die politische Kraft, die den öffentlichen Anteil zurückfährt und der Wirtschaft wieder Verantwortung gibt. Wir handeln, um das duale System vom Kopf auf die Füße zu stellen und es damit zu retten. ({10}) Mein „Lieblingsargument“ gegen die Umlage, das unter anderem auch von Herrn Merz angeführt wurde, ist, die Unternehmen würden sich dann freikaufen. Angesichts dessen muss ich die Frage stellen, für wie blöd Sie eigentlich die Unternehmer halten. ({11}) Heute hat kein Unternehmen irgendwelche Sanktionen zu erwarten, wenn es nicht ausbildet. Die Kosten für Ausbildungsverweigerung sind also null. Andere Unternehmen bilden aus und tragen die entsprechenden Kosten. Durch die Umlage gibt es Geld für Ausbildung und Nichtausbildung kostet Geld. Aber plötzlich wollen sich alle freikaufen? Das ist blanker Unsinn. ({12}) Im Übrigen eine Anmerkung zu Ihrem Vorschlag, meine Damen und Herren von der Opposition, die Ausbildungsvergütungen zu kürzen: Man könnte ja sagen, dies wäre eine Art solidarische Handlung unter den Jugendlichen. Aber auf die Idee, dass sich auch einmal die Unternehmer solidarisch verhalten könnten, kommen Sie natürlich nicht. ({13}) Es ist wahr: Im Falle der Auslösung der Umlage müssen auch diejenigen Unternehmen zahlen, die nicht ausbilden können oder keine Auszubildenden finden. Ich verstehe, dass das im Einzelfall ungerecht erscheinen kann. Doch es ist im Interesse aller Unternehmen, dass die Jugendlichen ausgebildet werden und später als Fachkräfte zur Verfügung stehen. Es ist darum nur sachgerecht, wenn sich alle Unternehmen an der Finanzierung der Ausbildung beteiligen. ({14}) In diesem Zusammenhang will ich auf den Report des Instituts der deutschen Wirtschaft vom 25. März 2004 - er ist also ganz aktuell - verweisen. Da ist unter der Überschrift „Lücken in der Nachwuchsmannschaft“ klar formuliert, dass Deutschland im internationalen Wettbewerb einem Fachkräftemangel entgegensieht. Die Wirtschaft ist dabei, den Ast, auf dem letztendlich wir alle sitzen, abzusägen. Es ist die Pflicht und Schuldigkeit der Regierungskoalition, hier einzugreifen. ({15}) Wir müssen mit Sicherheit noch über Einzelaspekte reden. Dafür gibt es das parlamentarische Verfahren mit Anhörungen und Ausschussberatungen. Es gibt auch in unseren Reihen einige Fragen. Auch ich habe Besprechungspunkte. ({16}) Schließlich handelt es sich hierbei nicht um ein Routinegesetz; dafür ist es viel zu wichtig. Der Unterschied zwischen Ihnen und uns ist jedoch, dass Sie, anstatt sinnvolle Vorschläge zu machen, Einzelaspekte herausgreifen, um das ganze Anliegen, zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen, zu diskreditieren. Wir sprechen die Probleme an, um sie zu lösen. Wir wollen für die Menschen etwas bewegen, anstatt zu verhindern. ({17}) Abschließend komme ich auf einen Punkt zu sprechen, der nicht oft genug wiederholt werden kann. Es gibt für die Wirtschaft einen ganz einfachen Weg, die Auslösung der Umlage zu verhindern. Ich appelliere an alle Unternehmer, diesen Weg einzuschlagen. Tun Sie das, wozu Sie sich selbst unzählige Male verpflichtet haben! Tun Sie das, was Ihre Aufgabe ist - und zwar aus sehr guten Gründen -: Bilden Sie die jungen Menschen aus! Nehmen Sie sich ein Beispiel an den Unternehmen, die toll ausbilden! Wenn Sie das tun, dann wird das im Gesetz vorgesehene Verfahren gar nicht erst ausgelöst. Das wäre gleichzeitig der größte Erfolg, den wir mit diesem Gesetz erzielen könnten. Herzlichen Dank. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf Drucksachen 15/2820 und 15/2833 zu überweisen: zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung und zur Mitberatung an den Innenausschuss, den Rechtsausschuss, den Finanzausschuss sowie an die Ausschüsse für Wirtschaft und Arbeit, für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, für Gesundheit und Soziale Sicherung, für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, für Tourismus, für Kultur und Medien sowie an den Haushaltsausschuss zur Mitberatung und den Gesetzentwurf zusätzlich gemäß § 96 der Geschäftsordnung. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, Norbert Barthle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU Weichen stellen für eine bessere Beschäftigungspolitik - Wachstumsprogramm für Deutschland - Drucksache 15/2670 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Karl-Josef Laumann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({1})

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle erinnern uns sicherlich noch sehr gut an den 16. August 2002 hier in Berlin. Nach Angaben des Wetterdienstes waren damals 25 bis 26 Grad Celsius und die Sonne schien. Es war ein sehr schöner Tag. Vor allem wurde an diesem Tag am Gendarmenmarkt in Berlin das Hartz-Papier vorgestellt. Was gab es da nicht alles für schöne Begriffe! Wer hatte jemals zuvor etwas von „Reformmodulen“, von „Profis der Nation“, von „Personal-Service-Agenturen“, von „Ich-AGs“, von „Jobfloatern“ und von „Bridgesystem“ gehört? ({0}) Das zentrale Versprechen des Hartz-Wahlkampfpapieres lautete damals: Innerhalb von 36 Monaten wird die Arbeitslosigkeit von 4,018 Millionen auf 2 Millionen gesenkt. Deutschland war beeindruckt. Peter Hartz sprach von der „Bibel für den Arbeitsmarkt“, die in dieser Kommission geschrieben worden sei. Dies alles war vor genau 593 Tagen. Die Realität sieht anders aus als das, was in der HartzBibel steht. Seit der Hartz-Präsentation sind jeden Tag über 1 240 sozialversicherungspflichtige Jobs weggefallen. Insgesamt gibt es heute 730 000 sozialversicherungspflichtige Jobs weniger als im August 2002. Jeden Tag ist die Arbeitslosigkeit gestiegen, hat es über 1 050 Arbeitslose mehr gegeben. Jetzt sind es 4 641 000 Arbeitslose. Zusätzlich haben seitdem jeden Tag 28 Jugendliche unter 25 Jahren ihre Arbeit verloren. Mittlerweile sind fast 529 000 Jugendliche arbeitslos. Gleichzeitig mussten jeden Tag 94 Unternehmen ihre Tore schließen. Insgesamt haben seit August 2002 fast 55 700 Betriebe Insolvenz angemeldet. Noch nicht eingerechnet sind die Insolvenzen aus dem ersten Quartal 2004, weil uns die Zahlen noch nicht vorliegen. Das ganze Ausmaß wäre noch viel deutlicher, wenn nicht die Arbeitslosenstatistik geändert worden wäre. Würden heute die Statistikregeln von 1998 gelten, hätten wir noch 300 000 Arbeitslose mehr, das heißt insgesamt rund 5 Millionen Arbeitslose. ({1}) Angesichts dieser Fakten hat der Bundeskanzler in der vergangenen Woche davon gesprochen, dass unser Land heute besser dastehe als vor einem Jahr. Ich frage mich: Wie kann man zu einem solchen Urteil kommen? ({2}) Es ist einfach an der Zeit, finde ich, dass wir uns auch einmal mit den einzelnen Hartz-Modulen auseinander setzen. Fangen wir doch mit der Personal-ServiceAgentur an. ({3}) Das war laut Hartz damals das Herzstück seiner Vorschläge. ({4}) Dieses Herzstück erweist sich als teurer Totalausfall. ({5}) Die Bundesregierung hatte versprochen - das ist hier am Rednerpult gesagt worden -, dass allein durch dieses Instrument 500 000 Menschen eine befristete Beschäftigung und jährlich bis zu 350 000 Arbeitslose eine dauerhafte sozialversicherungspflichtige Tätigkeit finden würden; das war der so genannte Klebeeffekt. Bis heute haben gerade einmal 7 700 Vermittlungen in Beschäftigung stattgefunden, obwohl die Bundesagentur für ArKarl-Josef Laumann beit diese Maßnahmen bislang mit gut 230 Millionen Euro aus Beitragsmitteln subventioniert hat. Mit der Insolvenz der Firma Maatwerk ist jetzt sogar jede fünfte PSA in Deutschland pleite. ({6}) Das bedeutet, dass rund 10 000 in einer PSA Beschäftigte nicht mehr in einer PSA beschäftigt und damit wieder arbeitslos sind. Die Maatwerk-Pleite hat uns ein Weiteres gelehrt, nämlich dass es auch PSAs gibt, die sich gar nicht an der Zeitarbeit beteiligt haben. Maatwerk hat überhaupt keine Zeitarbeitsvermittlung betrieben, sondern hat die Fälle übernommen, das Geld kassiert und darauf gesetzt, wie ein privater Arbeitsvermittler die Leute zu vermitteln und dann die Vermittlungsprovision, gestaffelt danach, ob die Leute unter drei Monaten oder über drei Monate arbeitslos waren, abzukassieren. Allerdings ist dieses Modell so danebengegangen, dass die Firma jetzt pleite ist. Da von Zeitarbeit zu sprechen ist verrückt. Wenn Sie noch etwas Verstand haben, dann stampfen Sie das PSA-Modell ein ({7}) und arbeiten mit der privaten Zeitarbeitsbranche zusammen, die regional sehr gut aufgestellt ist, mittlerweile auch überregional sehr gut aufgestellt ist. Dann haben Sie wenigstens Profis, die dieses Geschäft verstehen. ({8}) Jetzt komme ich zum nächsten Punkt, den Ich-AGs. 500 000 Arbeitslose sollten nach den Hartz-Plänen mit staatlichen Subventionen in Ich-AGs den Schritt in die Selbstständigkeit wagen. Obwohl die Bundesregierung für das erste Jahr sehr großzügig bemessene Staatsmittel ohne jede Prüfung mit vollen Händen ausgibt, haben bislang lediglich rund 100 000 Arbeitslose davon Gebrauch gemacht, also 400 000 weniger, als Hartz damals verkündet hat. Ab diesem Sommer - da bin ich mir sicher -, wenn die Subventionen für die Ich-AGs erstmals reduziert werden, wird sich zeigen, wie viele von diesen Kleinstgründern auf dem freien Markt überhaupt bestehen können. Man kann doch heute in jedem Arbeitsamt deutlich erkennen: Läuft das Arbeitslosengeld aus, ist die beste Möglichkeit, an Staatsknete zu kommen, die Gründung einer Ich-AG, weil dafür noch nicht einmal ein Geschäftsmodell vorgelegt werden muss. Es ist eine Einladung, sich Unternehmer zu nennen, ob man am Markt operiert oder nicht, und an Zuschüsse von monatlich immerhin 600 Euro im ersten Jahr zu kommen. Ich sage Ihnen voraus: Wenn die Förderung ausläuft, werden wir bei den Ich-AGs eine Insolvenzentwicklung haben, die sich gewaschen hat. ({9}) Das liegt daran, dass Sie schlicht und ergreifend folgendem Trugschluss unterliegen: Sie denken, dass man in einer so modernen Volkswirtschaft, wie Deutschland sie hat, mit Kleinstunternehmertum einen gigantischen Arbeitsmarkt schaffen könnte. Das ist aber nicht möglich. Sie können unsere Volkswirtschaft, etwa den Einzelhandel, nicht mehr mit der von Spanien oder Portugal vergleichen. Dadurch, dass in den Gemeinden Lidl, Aldi und viele andere Einzug gehalten haben, hat sich der Einzelhandel völlig umstrukturiert. In dem Dorf, aus dem ich komme, konnten in meiner Kindheit fünf kleine Einzelhändler bestehen. Von ihnen ist kein Einziger übrig geblieben. Heute gibt es dort zwei große Marktketten, die das Dorf genauso gut mit Lebensmitteln versorgen, sogar mit einer noch größeren Auswahl als früher. Eine solche Einzelhandelsstruktur, wie es sie früher gab, wird es nie wieder geben. ({10}) - Nein, das hat mit SPD und Grünen nichts zu tun. Aber glauben Sie doch nicht, dass Sie die Probleme des deutschen Arbeitsmarktes mit Ich-AGs lösen könnten! ({11}) Wenn Sie zusätzliche Arbeitsplätze schaffen wollen, müssen Sie die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft, für die industriellen Arbeitsplätze, für neue Bereiche, etwa den Bereich der privaten Haushalte, verbessern; auf dem von Ihnen gewählten Weg wird Ihnen das nicht gelingen. Dann gab es das Instrument des Jobfloaters. Können Sie sich daran noch erinnern? ({12}) Der Jobfloater ist am 1. November 2002 unter dem Titel „Kapital für Arbeit“ von der KfW auf den Weg gebracht und im März 2003 auf die Einrichtung von Ausbildungsplätzen ausgeweitet worden. Anstatt der von der HartzKommission versprochenen durchschnittlich 120 000 neuen Arbeitsplätze pro Jahr hat die KfW bis heute lediglich knapp 11 500 Vollzeitarbeitsplätze und rund 1 100 Ausbildungsplätze mit einem Mittelvolumen von 837,4 Millionen Euro subventioniert. Das ist weniger als 10 Prozent des versprochenen Beschäftigungseffektes und bedeutet einen skandalösen Umfang von Subventionen pro Arbeitsplatz von rund 73 000 Euro. Hinzu kommt, dass sich der Bundesminister für den Aufbau Ost, Manfred Stolpe, vom Jobfloater einen großen Beitrag zur spürbaren Senkung der Arbeitslosenzahl in Ostdeutschland versprochen hatte. Bislang sind in die neuen Bundesländer lediglich rund 10 Prozent der KfWMittel geflossen; das sind ganze 83 Millionen Euro. ({13}) Ein ganz wichtiger Ansatz der Hartz-Kommission war die Reform der Bundesanstalt für Arbeit. Durch verbesserte Vermittlung und ein modernes IT-System sollte der Nachschub von Arbeitslosen nach Nürnberg gestoppt werden. Alleine durch die Reform der Bundesanstalt für Arbeit sollten bis zu 250 000 Arbeitslose im Jahresschnitt weniger gezählt und gut 100 000 neue Beschäftigungsverhältnisse geschaffen werden. Anstatt der erhofften Erfolge und einer Entlastung der Beitragszahler aber erweist sich insbesondere der virtuelle Arbeitsmarkt als Millionengrab. Nach der ersten Ausschreibung wurde noch mit Kosten von 35 Millionen Euro für den virtuellen Arbeitsmarkt gerechnet. Mittlerweile geht die neue Führung der Bundesagentur, wie wir alle wissen, von Gesamtkosten von 163 Millionen Euro aus. Hinzu kommt, dass auch die Beitragsmittel, die der ehemalige BA-Vorsitzende Gerster für Kommunikationsberatungen unter Verstoß gegen das Vergaberecht vergeben hat, in den Sand gesetzt worden sind. Vor ein paar Tagen lese ich, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion und den Grünen und vor allen Dingen vom Ministerium für Wirtschaft und Arbeit, dass das Wirtschaftsministerium vor 14 Tagen eine Studie - aus den Mitteln des Steuerzahlers - über das Image der Bundesagentur für Arbeit in Auftrag gegeben hat. ({14}) Man hat mit dieser Studie ein Bonner Institut beauftragt und zahlt dafür 830 000 Euro. ({15}) Ich möchte einmal wissen, wer in Ihrem Haus die Vergabe dieses Auftrags unterschrieben hat. Sie brauchen zurzeit keine Untersuchung über das Image der Bundesagentur für Arbeit durchzuführen. Sie müssen nur einmal Straßenbahn fahren. Da hören Sie genug über das Image der Bundesagentur. ({16}) Diejenigen, die solche Untersuchungen für notwendig halten, sind wahrscheinlich schon lange nicht mehr Straßenbahn gefahren. Es wird Zeit, dass sie ihren Fahrer verlieren und wieder mehr Straßenbahn fahren müssen. Dann erfahren sie, wie das Image der Bundesagentur aussieht, auf deren Unterstützung Millionen von Menschen in diesem Land angewiesen sind. ({17}) Die Vergabe dieser Studie ist zwar für das Institut in Bonn sehr schön. Aber wenn ich mir anschaue, wie verzweifelt die finanzielle Situation in vielen Bereichen in Deutschland ist, dann kann ich nur den Kopf darüber schütteln - das zeugt von Unsensibilität -, dass man eine solche Studie in der jetzigen Zeit vergibt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie sollten einfach Abschied nehmen von dem HartzWahlkampfmanöver. Damals haben einige eitle Herren, die Herrn Schröder helfen wollten, in einer Kommission zusammengesessen und haben alte Tatsachen mit neuen Begriffen bezeichnet. Sie haben sich Zahlen ausgedacht, die - wenn man daran glaubt - zeigen, wie schön die Welt sein kann. Aber mittlerweile wissen wir ganz genau, dass die Hartz-Reformen und die entsprechenden Instrumente nicht die Renner in der Arbeitsmarktpolitik sind. Deswegen sollten wir, was die Finanzierung dieser Instrumente, über die ich geredet habe, angeht, mit der Geldvernichtung aufhören. ({18}) Der Ansatz bei der Bundesagentur für Arbeit und in der Arbeitsmarktpolitik muss viel stärker im grundsätzlichen Bereich liegen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir gewaltige Anstrengungen unternehmen müssen, um in Deutschland im Bereich der Industrie eine gewisse Tiefe bei der Fertigung erhalten zu können. Es nützt uns nichts, wenn bei uns am Ende Güter zwar zusammenmontiert werden, aber die Tiefe der Fertigung in einem atemberaubenden Tempo abnimmt. Diese Entwicklung hat natürlich etwas mit der Kostensituation zu tun. Wir sollten uns in der Öffentlichkeit und im Parlament über ein paar Punkte unterhalten, die man am leichtesten und am zumutbarsten verändern kann. Ich bin der Meinung, dass wir zu flexibleren und längeren Arbeitszeiten kommen müssen, um unsere Fertigungstiefe zu erhalten. Ich glaube, dass kein Weg daran vorbeiführt. Das geeignete Instrument wird nicht die stumpfe 40-Stunden-Woche sein. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir über das Jahr gesehen 41 oder 42 Stunden - abhängig von Jahreszeit und Branche - relativ flexibel arbeiten müssen. ({19}) Das wäre der humanste und zumutbarste Beitrag, um zu einer Kostenentlastung zu kommen. Davon bin ich zutiefst überzeugt. ({20}) Ich will Ihnen einen weiteren Punkt nennen, auf den wir uns verständigen müssen. Wir müssen in allen staatlichen Bereichen schauen, welche Auflagen im Zusammenhang mit Arbeitsplätzen entbehrlich sind. Ich würde in Deutschland das Arbeitszeitgesetz abschaffen. An dessen Stelle sollte die entsprechende EU-Richtlinie treten. Darin ist die wöchentliche Arbeitszeit festgehalten. Die Entwicklung geht also hin zu einem Abschied von der täglichen Arbeitszeit als Richtgröße, die noch Bestandteil - das ist bei uns Tradition - der deutschen Gesetzgebung ist. Diese Maßnahme kostet kein Geld und ist relativ einfach. Ein Federstrich genügt. ({21}) Ich würde vorschlagen, dass man die Arbeitsstättenverordnung auf den Gesundheitsschutz konzentriert. Alles andere muss uns nicht interessieren. Das können vernünftige Leute selber regeln. Vorschriften zum Gesundheitsschutz würde ich vorgeben. Dann wäre aber Schluss. Man müsste einmal nachprüfen, wozu die Zahlen, die die statistischen Ämter auf Bundes- und Landesebene erheben, gebraucht werden. Mich ärgert nicht nur, dass der Mittelständler sonntagmorgens diese Formulare ausfülKarl-Josef Laumann len muss. Mich ärgert auch, dass sich wahrscheinlich irgendein gut bezahlter BAT-Mensch damit beschäftigt. ({22}) Wir müssen uns einmal fragen, ob wir diese Zahlen wirklich brauchen. Was geschieht mit diesen Zahlen? Sind diese Informationen für das Handeln des Staates notwendig? Für die Bereiche, in denen wir diese Zahlen nicht benötigen, sollte man sie nicht mehr erheben. ({23}) Das wäre ein großer Fortschritt auf dem Weg zur Entbürokratisierung. Wenn ein Handwerksmeister feststellen würde, dass es weniger Bürokratie gibt, dann hätte er vielleicht mehr Spaß an seinem Job und würde allein schon deswegen mehr junge Menschen einstellen. Aber wenn er die Bürokratie im Zusammenhang mit Ihrer Ausbildungsplatzabgabe sieht, dann wird er sich wahrscheinlich überlegen, wie er unter die Grenze von zehn Mitarbeitern kommt, um damit nichts zu tun zu haben. Wir werden - das sage ich Ihnen voraus - nächstes Jahr weniger Betriebe mit 13 Anstreichern haben als dieses Jahr. Denn alle Betriebe werden versuchen, unter zehn Beschäftigte zu kommen, damit sie mit diesem Thema nichts zu tun haben. So läuft das praktisch ab. Ich weiß, dass das für jeden, der eine Bindung zur Gewerkschaftsbewegung in Deutschland hat, ein schwieriges Thema ist. Aber wenn wir wollen, dass der Flächentarifvertrag seine Bindungswirkung behält, wird der Weg, den die IG Bergbau, Chemie, Energie und andere eingeschlagen haben, nämlich die Tarifvereinbarungen flexibler auf Betriebsstrukturen zuzuschneiden, unvermeidlich sein. Wenn dieser Weg unvermeidlich ist, warum können wir dann im Bundestag das Günstigkeitsprinzip im Tarifvertragsgesetz nicht so klarstellen, dass Gerichte es nicht verbieten können, wenn sich Belegschaften und Geschäftsleitungen im Rahmen von Investitionen für die Zukunft auf eine andere Auslegung des Günstigkeitsprinzips verständigen? ({24})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Zeit!

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich hoffe, dass es früh genug ist, wenn Sie umkehren. Ich habe praktische Beispiele genannt, die nicht Millionen in Agenturen kosten. Dafür brauchen Sie auch nicht die Profis der Nation; dafür brauchen Sie nur ein Parlament mit einer gutwilligen Mehrheit. Wenn Sie diese nicht herstellen, werden wir das bald tun. Schönen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brandner.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Dezember 2003 haben sich die Oppositions- und die Regierungsparteien im Vermittlungsausschuss zusammengesetzt, um die größten Arbeitsmarktreformen der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu besprechen. Sie sind dabei zu einem einvernehmlichen Ergebnis gekommen und haben hier im Bundestag den überwiegenden Teil sehr einvernehmlich beschlossen. Heute erleben wir einen Oppositionsantrag, der mit dem Satz beginnt: Die rot-grüne Arbeitsmarktpolitik ist auf ganzer Linie gescheitert. ({0}) So machen Sie sich einen schlanken Fuß; so ziehen Sie sich aus der Verantwortung bzw. aus einer Angelegenheit, die Sie gemeinsam mit uns auf den Weg gebracht haben. Ich sage es einmal freundlich: Sie haben ein wirklich hocherotisches Verhältnis zum Negativen. Daran - und nicht an Inhalten und praktischen Hilfen für die Menschen in diesem Land - ziehen Sie sich anscheinend hoch. Sie suchen nach Misserfolgen. Das ist Ihr Erfolgsrezept und das lassen wir nicht durchgehen. ({1}) Mir zeigt das: Sie haben die Agenda 2010 weder gelesen noch verstanden. Die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik ist nämlich nicht gescheitert. Sie ist sehr erfolgreich. ({2}) 100 000 Gründungen von Ich-AGs im letzten Jahr sind eben kein Misserfolg, wie es Kollege Laumann hier vorgetragen hat. Die Bundesagentur für Arbeit bzw. das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gingen davon aus, dass sich in einem Jahr aus der Arbeitslosigkeit im höchsten Fall bis zu 200 000 Existenzgründungen rekrutieren lassen. 250 000 sind es geworden. Sie aber reden dies schlecht, machen es negativ und nehmen jungen Menschen, die den Mut haben, Existenzgründungen aufzubauen, den Mut, diesen Weg weiterhin zu beschreiten. Das ist skandalös! ({3}) Auch die Anzahl der Minijobs ist dank unserer unbürokratischen Regelung ({4}) ganz erheblich gestiegen. ({5}) - Stehen Sie nicht mehr zu diesem Ergebnis? ({6}) - Setzen Sie keine falschen Dinge in die Welt! Wir haben uns im Vermittlungsausschuss auf ein einfaches Verfahren verständigt. Stehen Sie zumindest dazu, dass das ein gemeinsames Ergebnis ist! ({7}) Wenn es ein gemeinsames Ergebnis ist, dann ist die rotgrüne Arbeitsmarktpolitik eben nicht gescheitert. Sagen Sie: Das ist ein Erfolg, zu dem auch wir ein Stück weit unseren Beitrag geleistet haben. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Brandner, erinnern Sie sich daran, dass die rot-grüne Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen im Jahre 1998 die Minijobs abgeschafft haben, die Sie jetzt als einen der größten Erfolge Ihrer Politik schildern, und würden Sie mir zustimmen, dass wir diesen großen Erfolg auch in den dazwischenliegenden fünf Jahren hätten haben können, wenn Sie nicht ideologisch gehandelt hätten? ({0})

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Erstens hat die rot-grüne Regierung die Minijobs nicht abgeschafft, sondern sozialpolitisch anders geordnet. ({0}) Zweitens. Wir wären mit Sicherheit bei den Arbeitsmarktreformen schon erheblich weiter, wenn Sie in der Vergangenheit nicht so stark blockiert hätten. Wir hätten die notwendigen Reformen schneller durch das Parlament bringen können. Vor dieser Problematik stehen wir. ({1}) Die Zahl der Existenzgründungen - sie ist ein Beleg für das, was sich in der Gesellschaft tut - entwickelt sich positiv. 2003 gab es 12 Prozent mehr Gewerbeanmeldungen als im Vorjahr. Die Zahl der Unternehmensneugründungen ist seit 1998 um 39 Prozent gestiegen. Ein Beleg dafür, dass Sie Ihren Antrag mit flinker Hand geschrieben haben, ist, dass Sie von skandalösen Subventionen auf der Grundlage des Programms „Kapital für Arbeit“ berichten. Es heißt bei Ihnen, ein Arbeitsplatz werde mit 73 000 Euro subventioniert. Sie haben das Programm nicht verstanden. Es handelt sich dabei um ein Kreditprogramm. Die Subvention besteht darin, dass der Kredit verbilligt wird. Ein Arbeitsplatz kann höchstens mit 1 460 Euro bezuschusst werden. Durch das Programm sind immerhin 11 500 neue Arbeitsplätze und 1 100 Ausbildungsplätze entstanden. ({2}) Die Art, in der Sie diese sinnvollen Elemente, mit deren Hilfe Unternehmen, die nicht über genügend Eigenkapital verfügen, Beschäftigungsaufbau organisieren können, zerreden, ist ein Skandal. ({3}) Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Sie sind darin geübt, die wirtschaftliche Lage und den Standort ständig schlechtzureden, es ist aber so, dass die realwirtschaftlichen Indikatoren eine positive Tendenz aufweisen. Der Umfang der Exporte hat zugenommen, die Industrieproduktion zieht an und gestern erst meldeten die Maschinenbauer ein Auftragseingangsplus von 5 Prozent. ({4}) Es sind auch mehr Auslandsinvestitionen in Deutschland getätigt worden. Die Arbeitslosenzahl für den Monat März wird unter dem Vorjahresniveau liegen, und das nach einer langen Stagnationsphase. Wir sind in der Vergangenheit immer davon ausgegangen, dass wir nach einer Phase ohne Wachstum von einer deutlich erhöhten Arbeitslosenbilanz ausgehen müssen. Es ist ein Erfolg unserer Arbeitsmarktpolitik, dass die Arbeitslosigkeit real nicht gestiegen ist. ({5}) Ob man es wahrhaben will oder nicht: Die Daten sprechen eine deutliche Sprache. ({6}) Ich bin aber davon überzeugt, dass wir in der Sache viel weiter wären, wenn Sie nicht immer blockiert und schlechtgeredet hätten. Sie haben das auch jetzt wieder bei der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe angekündigt. Jahrelang haben Sie an diesem Rednerpult gefordert, die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu einer Leistung zusammenzufügen. Sie haben im Zusammenhang mit dem Job-AQTIV-Gesetz gedrängt, in die Puschen zu kommen, um es innerhalb von drei Monaten umsetzen zu können. Heute ziehen Sie durch die Lande und reden davon, dass wir noch anderthalb Jahre brauchen werden, ({7}) bis wir überhaupt in der Lage sind, die Zusammenlegung praktisch umzusetzen. Das zeigt, wie widersprüchlich Sie argumentieren. Es geht Ihnen nicht um die Menschen in diesem Land, sondern um Ihren politischen ErKlaus Brandner folg. Das muss an dieser Stelle offen und deutlich gesagt werden. ({8}) Sie fordern das Voranschreiten der Deregulierung des Arbeitsrechts. Mit einer Zangenbewegung wollen Sie normale Arbeitsverhältnisse dadurch unter Druck setzen, dass Sie den Kündigungsschutz fast völlig aufgeben. Das zeigt nur, dass die soziale Markwirtschaft nicht mehr in Ihrer Grundphilosophie enthalten ist. In den ersten vier Jahren einer Beschäftigung soll es ebenso wie in Betrieben mit weniger als 20 Beschäftigten überhaupt keinen Kündigungsschutz mehr geben. Auch über 50-Jährige sollen überhaupt keinen Kündigungsschutz mehr haben. Dabei haben wir im letzten Jahr im Vermittlungsausschuss ein Ergebnis erzielt, dem Sie zugestimmt haben. Wie lange halten Ihre programmatischen Vorgaben? Wie lang ist die Halbwertszeit Ihrer Zusagen? Nicht einmal drei Monate sind ins Land gegangen und schon werfen Sie alles über Bord und bezeichnen alles als Quatsch, zu dem Sie vorher Ja gesagt haben. Mit dieser Widersprüchlichkeit müssen Sie fertig werden. Das ist nicht unser Problem. Wir jedenfalls stehen dafür, dass Kündigungsschutz Sicherheit und Planbarkeit für die Menschen in diesem Land bedeutet. Wir können uns nicht vorstellen, dass junge Menschen Familien gründen, wenn sie überhaupt keine Sicherheit in ihren Arbeitsverhältnissen spüren. Wenn Sie die Menschen wie Ware, wie Handys oder Autos, behandeln, werden wir keine positive wirtschaftliche Entwicklung erfahren. Nicht allein der Preis darf zählen. Marktwirtschaft pur kann nicht unser Programm sein. Das Soziale in der Marktwirtschaft muss erhalten bleiben. Deshalb brauchen wir auch weiterhin einen sozialen Kündigungsschutz. ({9}) Ganz verrückt ist Ihr Antrag bezüglich der betrieblichen Mitbestimmung. Auf der einen Seite sagen Sie, dass die Anzahl der Betriebsratsmitglieder reduziert werden muss, dass die Freistellungen reduziert und die Rechte der Betriebsräte beschnitten werden müssen. Auf der anderen Seite stellt sich Kollege Laumann hier hin und sagt: Wir brauchen betriebliche Bündnisse für Arbeit, die verantwortlich über Lohnreduzierungen, Urlaubsreduzierungen und Jahressonderzahlungsreduzierungen reden, verhandeln und entscheiden können. Die Drecksarbeit sollen sie also machen, aber ihre Rechtsstellung wollen Sie drastisch beschneiden, sodass sie überhaupt nicht dazu in der Lage sind. Das ist die Wahrheit und das muss man Ihnen deutlich sagen. ({10}) Genauso deutlich sind die Widersprüche in Ihrer Arbeitsmarktpolitik: Sie fordern hier im Parlament, die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung zu senken. Das ist gut und wir würden das auch gerne tun. Sobald die Arbeitslosigkeit sinkt, werden wir das auch tun. ({11}) Aber Sie gehen doppelzüngig über Land. Sie gehen auf der einen Seite zu den karitativen Einrichtungen wie Kolping und Caritas und sagen denen: Ihr leistet tolle Arbeit und müsst eure betrieblichen Berufsausbildungsergänzungsmaßnahmen ausdehnen. Auf euch kann man nicht verzichten. Auf der anderen Seite jedoch fordern Sie hier, dass die Mittel für genau diese Aufgaben gekürzt oder faktisch ganz gestrichen werden. Sie sagen: Die aktive Arbeitsmarktpolitik ist gescheitert. Es sollen lieber die Beiträge gesenkt werden. Darin zeigt sich Ihre Widersprüchlichkeit. Bei den Arbeitnehmern und Arbeitgebern machen Sie sich mit Ihrer Forderung nach Beitragssatzsenkungen beliebt. Den Konsumenten sagen Sie: Wir brauchen mehr Geld. Den Kommunen sagen Sie: Wir brauchen mehr Geld für Investitionsmaßnahmen. Wir wollen sicherstellen, dass mehr Geld zur Verfügung gestellt wird. Den Bürgern sagen Sie: Wir wollen die Steuern senken. Sie versprechen allen alles, wollen zugleich aber hier den vernünftigen Weg nicht mitgehen, damit die Arbeitsmarktpolitik effizienter wird und die Maßnahmen gestützt werden. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Laumann?

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte schön.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kollege Brandner, Sie haben gerade gesagt, wir würden den Einrichtungen, die sich um die benachteiligten Jugendlichen kümmern, sagen: Dehnt eure Arbeit aus. Gleichzeitig würden wir den Arbeitslosenversicherungsbeitrag senken wollen. Darin sehen Sie einen Widerspruch. Sind Sie denn nicht mit mir der Meinung, dass es gute und weniger erfolgreiche Arbeitsmarktinstrumente gibt? Dazu, dass wir uns angesichts der derzeitigen Situation am Arbeitsmarkt um benachteiligte Jugendliche kümmern, bestand immer Konsens über die Fraktionsgrenzen hinaus. Ich bin schon der Meinung - können Sie mir darin nicht Recht geben? -, dass zum Beispiel die Förderung der PSAs in Höhe von 280 Millionen Euro, dass die Förderung der Ich-AGs und ABM im Westen Arbeitsmarktinstrumente sind, die teuer, aber nicht erfolgreich sind. Sollten wir uns nicht davon verabschieden, um dann die erfolgreichen Modelle weiterfahren zu können? ({0})

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nun, Kollege Laumann, Sie wissen, dass gerade die rot-grüne Regierung dafür steht, die Effizienz der arbeitsmarktpolitischen Instrumente nicht nur zu überprüfen, ({0}) sondern auch dafür zu sorgen, dass sie bezüglich der Integration in den Arbeitsmarkt und auch unter finanziellen Gesichtspunkten vorliegt. Von manchen, die nicht effizient sind, bekommen wir großen Ärger. Diesbezüglich würden wir gern Ihre Unterstützung in Anspruch nehmen und sagen: Wer die Leistung hinsichtlich der Integration in den Arbeitsmarkt nicht bringt, wird nicht mehr bedacht. Dafür hätten wir gern die Unterstützung von allen in diesem Land, auch von der FDP. Das tritt leider nicht ein. Das ist die eine Erfahrung, die wir machen. Schauen Sie sich - zum Zweiten - einmal die Datenlage in diesem Land an. Die Menschen müssen das wissen. Sie fordern, den Beitragsatz von 6,5 auf 5,5 Prozent zu senken. Das bedeutet einen Einnahmeverlust von 12 Milliarden Euro. Für die aktive Arbeitsmarktpolitik werden etwa 20 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Dann blieben nur noch 8 Milliarden Euro übrig. Für die aktive Arbeitsmarktpolitik stünden damit praktisch keine Mittel mehr zur Verfügung. Man muss Ihnen ganz drastisch sagen, was Sie mit Ihrem Antrag auslösen. ({1}) - Moment, meine Antwort auf Ihre Frage ist noch nicht zu Ende. ({2}) - Nein, nein. Die Uhr läuft ohnehin die ganze Zeit weiter, Frau Präsidentin.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich habe die Uhr vorhin nicht gestoppt. Deswegen muss ich sie weiterlaufen lassen. Ich glaube aber, die Frage ist ausführlich beantwortet.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lassen Sie mich ein klares Argument zu dem anführen, was Sie ansonsten vorgetragen haben. Der niedersächsische Ministerpräsident zum Beispiel sagt, dass er für die aktiven Integrationsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose dreieinhalb Milliarden Euro mehr haben möchte. Der Bund will für die ganze Bundesrepublik Deutschland sechs Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Sie müssen sich einmal vorstellen, wie widersprüchlich diese Situation ist: Sie fordern unendlich hohe Summen für die kommunale Ebene, aber hier im Parlament sagen Sie im Grunde genommen, dass diese Arbeitsmarktpolitik Quatsch ist, dass sie gescheitert ist und dass wir diese Maßnahmen überhaupt nicht brauchen. Diese Widersprüchlichkeit lassen wir Ihnen nicht einfach durchgehen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch etwas zum Stichwort Teilzeitarbeit sagen. Auch das ist bei Ihnen ein beliebtes Thema. Die Teilzeitquote ist in den letzten fünf Jahren von 22,5 auf 27,3 Prozent gestiegen. Das zeigt, welche Bedarfe und Wünsche vorhanden waren. Das zeigt aber auch, dass durch Teilzeit ein Stück weit die Arbeitslosigkeit bekämpft werden kann. Das zeigt auch, dass Teilzeitansprüche gesellschaftliche Ansprüche beinhalten können, nämlich die partnerschaftliche Arbeit im Betrieb zu ermöglichen. Das steht im krassen Widerspruch zu Ihrer Politik der pauschalen Arbeitszeitverlängerung, die im Ergebnis nichts anderes als Lohndrückerei und höhere Arbeitslosigkeit bringen würde. Dafür gibt es politisch keinen Raum. ({1}) Wir setzen auf Differenzierung und Flexibilität. Sie sind in der Arbeitszeitpolitik notwendiger denn je. Alle Maßnahmen in dieser Richtung unterstützen wir. Aber Ihr pauschaler Ansatz, einfach die Arbeitszeit generell auf 42 Stunden zu verlängern, ist ein Programm gegen die Beschäftigten und für höhere Arbeitslosigkeit. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ({2}) Meine Damen und Herren, mit Ihrem Antrag haben Sie sich hinsichtlich der Einseitigkeit geoutet, mit der Sie die sozialen Rechte auf dem Rücken insbesondere der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abbauen wollen. Wir fragen uns: Wo bleiben Ihre Forderungen an die Manager, ihre Gehaltsstrukturen zu überprüfen? Wo schauen Sie, inwiefern gerade die Klientel, für die Sie sich sonst ins Zeug werfen, noch leistungsgerecht Gehaltsforderungen in Millionenhöhe erheben kann? ({3}) Wie Sie wissen, lautet unser Programm „Fördern und fordern“. Sie fordern nur von den Arbeitnehmern. Das belegt Ihr Antrag, in dem Sie das deutlich machen. Ihnen fehlt das Augenmaß. Wir sind Ihnen für Ihren Antrag insofern dankbar, als er Ihre politische Richtung zeigt. Unsere Grundstrategie bleibt eine Politik, die auf Angebot und Nachfrage reagiert und die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen berücksichtigt. Ihr Antrag hat in seinem Kern nur die Interessen der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zum Inhalt. Wir wissen, dass wir mit Hartz begonnen haben, einen erfolgreichen Reform- und Umstrukturierungsprozess einzuleiten, der auch an harten Zahlen sichtbar wird, ({4}) mit dem neue Beschäftigung erschlossen wird, mit dem die Qualität und auch die Geschwindigkeit der Vermittlung verbessert wird und der die Neuausrichtung der aktiven Arbeitsförderung sicherstellt. Wir bauen darauf, dass die Tarifvertragsparteien diesen Prozess unterstützen. Deshalb geht auch von dieser Stelle ein aktives und deutliches Zeichen für den Erhalt der Tarifautonomie aus. Die Tarifvertragsparteien in Deutschland haben gerade erst wieder bewiesen, dass sie in der Lage sind, auf neue Herausforderungen flexibel zu reagieren. Ihr Ansatz, den Tarifvertragsparteien - im Kern meinen Sie ja: den Gewerkschaften - den Boden unter den Füßen zu entziehen und damit einseitig die Arbeitnehmerseite zu schwächen, ist eine Angelegenheit, die wir nicht hinnehmen werden. ({5}) Meine Damen und Herren, wir werden deutlich sagen: Wir sind für gleichgewichtige Partner. Beide Partner werden mit unserer Unterstützung - je gemeinsamer, desto besser - dafür sorgen, dass sie auch neue Herausforderungen aufgreifen, zum Beispiel die Frage der Ausbildungsplätze. Das wäre doch ein Thema, bei dem Bedarfe bestehen. Wir könnten sie ermuntern, dieses Thema zu behandeln. Das ist eine Wertefrage, die sie gemeinsam aufgreifen könnten, was auch uns mit Sicherheit ermöglichen würde, von mancher komplizierten Regelung eher Abstand zu nehmen. Aber wir müssen doch Fragen, die sich in diesem Land stellen, auch sachgerecht beantworten. Deshalb sollten Sie nicht einseitig die Gewerkschaften und die Arbeitnehmer als Sündenböcke für die Problemlagen in dieser Gesellschaft darstellen. Wir bauen auf eine gute Zusammenarbeit. Insofern sind wir mit unserem Programm „Fördern und fordern“ auf einem richtigen Weg. Ich denke, das haben unsere Erfolge deutlich gemacht. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Brüderle. ({0})

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir debattieren über das Wachstumsprogramm der Union. Sie, Herr Brandner, haben nur draufgehauen. Ich hätte mir in dem Wachstumsprogramm der Union mehr Konkretes zum Aufbrechen des Tarifkartells gewünscht, auch zur Steuerpolitik manches Konkretere, aber die Richtung stimmt. ({0}) Grundsätzlich hat Herr Laumann völlig Recht: Wir müssen uns mit den Ursachen beschäftigen, warum wir heute - am Vorabend der Erweiterung der Europäischen Union um zehn neue Mitgliedsländer - in der Situation sind, dass Deutschland, das früher das reichste Land der Europäischen Union war, unter dem Durchschnitt liegt, dass die leichte Belebung der Konjunktur schon wieder gefährdet ist: Der Ifo-Index geht zum zweiten Mal herunter; Herr Eichel spricht von der Wachstumsbremse des Konsums, von der Achillesferse. Auch die Beurteilung draußen ist nicht positiv. Wir werden mit der Erweiterung der Union Niedrigsteuergebiete in unserem Gemeinsamen Markt haben. Die baltischen Staaten oder auch Slowenien haben FlatTax-Einheitssteuersätze: Existenzminimum frei, maximale Besteuerung unter 20 Prozent. Relativ bald wird es egal sein, wo sich der Hauptsitz eines Unternehmens befindet, in Essen oder in Riga. Der Unterschied wird nur sein: In Riga zahlen sie unter 20 Prozent, in Essen 50 Prozent Steuern. ({1}) Das wird Konsequenzen haben. Schon jetzt beobachten wir eine Abwanderung von Talenten, von Wissenschaftlern, von Unternehmen, von Investitionen aus Deutschland. Diese Neuorientierung in Europa wird sich verstärken. Wir müssen uns deshalb grundsätzlich damit beschäftigen, was wir falsch machen, und zwar über viele Jahre. Die Obergrenze des Wachstumspotenzials der deutschen Wirtschaft liegt seit Jahren bei 1 bis 1,5 Prozent. Das ist zu wenig. Für einen Beschäftigungszuwachs brauchen wir gegen 2 Prozent reales Wachstum. Die Weichen sind nicht gestellt. Was ist die Antwort auf die Niedrigsteuergebiete in der Europäischen Union? Sie muss doch sein, dass wir auch bei uns Anpassungen vornehmen, drastisch vereinfachen, andere Strukturen entwickeln. Nur ein bisschen Reparatur wird nicht helfen. In ganzen Bereichen werden wir einen Systemwechsel brauchen. Weshalb gelingt es der Regierung nicht, die Menschen im Land bei den Veränderungen mitzunehmen? Das hat zwei Ursachen. Zum Ersten, weil sie ständig zickzack macht: Da wird etwas angepackt, dann verändert; keiner kann sich orientieren, die Verunsicherung ist groß. Zum Zweiten setzt sie auf eine insgesamt schon sehr hohe Regulierungsdichte weitere Regelungen drauf. Die Bürger stehen vor einer babylonischen Wand. Sie verstehen die Strukturen nicht mehr, sie können nicht mehr Teil des Systems sein, sie können nicht mehr mitentscheiden und es nicht mehr bewerten, weil das System so kompliziert geworden ist, dass keiner mehr mitkommt. ({2}) Im Grunde brauchen wir eine Redemokratisierung durch wieder überschaubare Strukturen, die den Bürgern Möglichkeiten zur Partizipation, zur Mitwirkung, zur Mitentscheidung einräumen. So, wie wir die Strukturen - die sozialen Sicherungssysteme, das Steuersystem gestaltet haben, kommen die Bürger nicht mehr mit; deshalb sind sie nicht dabei. So meinen heute zwischen 60 und 70 Prozent der Bevölkerung: Alle Parteien sind Mist, sie sind nicht in der Lage, die Probleme zu lösen. Die innere Zustimmung der Bürger zum parlamentarischen System schwindet insgesamt. Deswegen müssen wir die Grundachsen der Politik ändern. Die Ordnungspolitik verfällt in diesem Land. Nicht nur der legendäre Holzmann-Interventionismus, es geht ja weiter: Das Postmonopol wurde verlängert. Im Telekommunikationsgesetz wird - das hat noch keine Regierung Deutschlands gewagt - ein Weisungsrecht des Ministers in Wettbewerbsfragen gegenüber der Regulierungsbehörde festgelegt. Eine neue Dimension! Oder im Pressefusionsrecht: Verbietet das Kartellrecht eine Fusion, führt man einen Sonderstatus ein. Was machen wir denn, wenn morgen etwa die Banken in weitere Schwierigkeiten geraten? Etwa ein eigenes Bankenfusionsrecht, ein Sonderrecht für Banken? Nein, die Kartellordnung, das Wettbewerbsrecht ist die Magna Charta, die Grundlage der sozialen Marktwirtschaft. ({3}) Dort wird permanent interveniert, fehlgesteuert. Und dann wundert man sich, wenn die Ergebnisse schlecht ausfallen. Eon, Ruhrgas, 85 Prozent Marktanteil. Als Belohnung bekommt der Wirtschaftsminister dann noch den Vorstandsvorsitz bei der Ruhrkohle AG. Welche Einstellungen und Verhaltensweisen sind das! Wie will man dann noch dem Pförtner, der abends Papier für sein Faxgerät mit nach Hause nimmt, eine Abmahnung schicken, wenn sich Führungspersonen in Politik und Gesellschaft, auch wenn es rechtlich nicht angreifbar ist, so verhalten, wie Herr Müller sich verhält? ({4}) Das sind die Ursachen einer Fehlentwicklung und Fehlsteuerung, die in vielen Bereichen zu falschen Ergebnissen führen. Wenn wir keine Rückbesinnung auf mehr Charakter in der Grundausrichtung der Wirtschaftspolitik erreichen, werden wir es nicht schaffen. Ich nehme als Beispiel den Arbeitsmarkt. Weshalb dürfen die betroffenen Mitarbeiter im Betrieb - in geheimer Abstimmung mit einer Mehrheit von 75 Prozent; das ist mehr als eine verfassungsändernde Mehrheit keine eigenen Regelungen treffen, wenn sie es wollen? Es geht um ihren Job und um ihre Lebensperspektive. ({5}) Ich will Mitbestimmung für die Mitarbeiter und weniger Mitbestimmung für Funktionäre, die vielfach nicht wissen, wie die Situation vor Ort ist. Dies betrifft übrigens beide Seiten. Es gibt auch bei Arbeitgeberverbänden viele, die nicht in modernen Strukturen angekommen sind. Aber Sie haben auch nicht den Mut, bei der Bundesagentur für Arbeit das Kartell aufzubrechen. Wer sitzt denn dort im Verwaltungsrat? Es sind doch dieselben wie vorher: zu einem Drittel die Arbeitgeberverbände, zu einem Drittel die Gewerkschaften und zu einem Drittel der Staat. Wenn Sie diejenigen, die bewiesen haben, dass sie mit der Flexibilisierung nicht umgehen können, zu Reformatoren ernennen, dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn wir nichts hinbekommen. ({6}) Die Strukturen aufzubrechen heißt, Chancen und Freiheiten zu geben, das Richtige zu entscheiden. Wir sind in Deutschland nicht blöder und auch nicht fauler als früher. Wir haben es nur nicht geschafft, die Strukturen so zu ändern, dass die Tüchtigen und Anständigen im Lande mit Fleiß und Engagement auch erfolgreich sein können. Vielmehr wird auf Beziehungen gesetzt, wie es früher der Fall war, als die Pompadour die Kakaoausschankrechte von Ludwig XIV. bekam. Ein großer Konzern, der im Ministerium oder in der Politik jemanden kennt, bekommt Unterstützung; wenn ein Mittelständler oder Handwerker kaputtgeht, interessiert es keinen Menschen. ({7}) Diese Schieflage wirkt sich jenseits des einzelnen Unternehmens auf das Klima im Lande aus. Viele haben das Gefühl, dass dies nicht fair, nicht anständig ist. Dies ist auch ein Grund dafür, dass sich viele innerlich abmelden. Es findet nicht nur eine objektive Auswanderung von Talenten, Forschern, Begabung und Kapital statt, sondern auch eine innere Auswanderung. Es fehlt die moralisch-ethische Grundlage eines solchen Systems: Freiheit und Verantwortung. Wir müssen mehr Freiheiten geben und dann Verantwortung einfordern. ({8}) Wir haben sie über Jahre reduziert. Ich will gar keine einseitige Zurechnung vornehmen. Das Ergebnis ist aber, dass Deutschland heute als der kranke Mann Europas gilt. ({9}) - Es ist doch so, Frau Kollegin! Wenn ein Land, das die Nummer eins war, heute unter dem Durchschnitt der Europäischen Union angekommen ist, dann müssen wir doch etwas falsch gemacht haben. Wir haben in Wahrheit doch 6 Millionen Arbeitslose. Es sind nicht nur die 4,5 Millionen, die in der Statistik auftauchen. 1,5 Millionen Menschen sind in Ersatzmaßnahmen wie ABM; sie sind faktisch geparkt und hängen am Tropf von Sozialtransfers, haben aber keine durch Marktmechanismen gesicherte Arbeitsplätze. Es muss doch bei uns etwas falsch sein, wenn die Arbeitslosigkeit in Großbritannien halb so hoch und in den Niederlanden und in Schweden weniger als halb so hoch wie in Deutschland ist. Dies zeigt doch, dass die Menschen dort besser als wir gehandelt haben. ({10}) Hier werden aber diejenigen, die auf Schwachstellen hinweisen und sagen, dass bei uns die Grundachsen nicht stimmen und sich hier etwas ändern muss, jetzt als unpatriotisch und als vaterlandslose Gesellen beschimpft. Wenn diese unsinnige Debatte überhaupt einen Sinn hat, dann muss es doch der sein, dass derjenige ein Patriot ist, der den Mut hat, Veränderungen vorzunehmen. Die Menschen draußen im Lande wissen, dass es ohne Veränderungen nicht weitergeht, dass wir Veränderungen vornehmen müssen. Es genügt nicht, ein bisschen zu ändern oder zaghaft nachzusteuern. Das Unsozialste ist, keinen Arbeitsplatz und keine Chance auf einen Wiedereinstieg in die Gesellschaft zu haben, weil wir nicht den Mut haben, die Dinge in Ordnung zu bringen. Sie brauchen mir das alles gar nicht zu glauben; das können Sie in jedem Gutachten des Sachverständigenrats, in den Monatsberichten der Bundesbank sowie in den Veröffentlichungen der OECD und des Währungsfonds nachlesen. Die Europäische Kommission mahnt Deutschland, endlich die Dinge zu verändern. Wenn wir in Deutschland nicht die Kraft haben, im Rahmen unseres parlamentarischen Systems die Veränderungen vorzunehmen - die Menetekel können Sie in Italien und Frankreich in vielen Bereichen sehen -, werden sich die Probleme andere Lösungswege, vorbei an heute bestehenden Strukturen, suchen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, mein letzter Satz: Es ist unsere patriotische Pflicht, Veränderungen vorzunehmen. Deshalb sollten wir hier eine Debatte darüber führen, wie wir wieder Wachstum und Beschäftigung schaffen, und keine Punkt-, Komma- und Strichdiskussion. Denn das schreckt die Menschen in Deutschland noch mehr von unserer Politik ab. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Fritz Kuhn.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Brüderle, natürlich muss man, wenn man die Arbeitslosigkeit bekämpfen will, viel verändern. Das ist doch logisch. Man muss Reformen in allen Bereichen der Wirtschaft durchführen, auch auf dem Arbeitsmarkt. Ich bin aber sehr darüber erstaunt, was hier abläuft. Wir stecken mit der Umsetzung des Gesamtpakets der Hartz-Reformen gerade mitten in einer der größten Reformen des deutschen Arbeitsmarktes. Damit sind wir noch nicht fertig. ({0}) Hartz IV - dazu werde ich später noch etwas sagen - ist noch nicht umgesetzt ({1}) und Sie verkünden wortreich, so wie eben Herr Laumann, das Ganze sei gescheitert und werde nichts bringen. ({2}) Dabei stehen wir gerade am Beginn der entscheidenden Arbeitsmarktreform. Die ausländischen Medien dagegen berichten, Deutschland fange endlich an, seinen Arbeitsmarkt zu reformieren. ({3}) Herr Laumann, Sie müssen sich gefallen lassen, dass man Ihnen folgende Frage stellt: Hunderttausende Menschen haben eine Ich-AG gegründet, weil sie der Aufforderung, die in den letzten Jahren verbreitet worden ist, geglaubt haben, deren Tenor hieß: Werdet selbstständig und nehmt euer Schicksal in die eigene Hand. Was sollen diese Menschen nun denken, wenn Sie, Herr Laumann, hier fröhlich erklären, die Ich-AGs seien Schwindel, es gebe keinen Markt für die neuen Dienstleistungen, die von ihnen aufgrund sehr unbürokratischer Unterstützung angeboten werden? Mir drängt sich der Verdacht auf, dass Sie zynisch mit den Reformen umgehen. ({4}) Sie haben offenkundig ein Interesse daran - das werde ich Ihnen im Einzelnen belegen -, dass alles, auch der Umbau der Bundesagentur für Arbeit, schlechtgeredet wird. Denn Sie glauben - das ist Ihr Kalkül -, dass es, wenn vor Ort in den Arbeitsämtern Chaos herrscht, für die Bundesregierung schlecht und demnach für die Opposition gut ist. Mit dieser Methode nehmen Sie, Herr Laumann, den einzelnen Arbeitslosen in Geiselhaft einer billigen Oppositionspolitik. ({5}) Ich nenne Ihnen hierfür einige Beispiele. Erstens. Es ist doch klar, dass die PSAs, die Personal-ServiceAgenturen, in Zeiten einer massiven Konjunkturkrise nicht optimal funktionieren können. Das Instrument der PSAs ist dann geeignet, wenn die Konjunktur wieder anzieht, weil man dann Menschen in Leiharbeitsfirmen vermitteln kann; das ist doch logisch. ({6}) Dieses Instrument ist kein Instrument für die Konjunkturkrise. Wir brauchen es trotzdem. ({7}) Ein zweites Beispiel. Alle Welt weiß, dass in Deutschland zwischen Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe aufgrund der Finanzierung aus den Gemeindehaushalten und aus dem Bundeshaushalt seit Jahren - von Ihrer Regierung damals gewollt - ein Verschiebebahnhof besteht. Die Gemeinden haben ein Interesse daran, dass die Sozialhilfeempfänger Arbeitslosengeld und später Arbeitslosenhilfe beziehen können. Der Bund hat das entgegengesetzte Interesse. Nun gehen wir hin - viele von Ihnen fordern diese Reform seit Jahren - und legen Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zusammen, ({8}) damit die Menschen schneller und leichter vermittelt werden können und damit wir Bürokratie sparen. Wenn Sie nun aber wie in dieser Woche blockieren, dass die Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe zusammengelegt werden kann, dann ist das nichts anderes als destruktive Politik ({9}) hinsichtlich eines zentralen Reformprojekts, das wir in Deutschland brauchen. ({10}) Herr Kauder, ich will Ihnen das im Detail darlegen. Herr Koch ist der Meinung, die Gemeinden sollten das in Zukunft machen, obwohl das außer dem Landkreistag kaum eine Gemeinde wirklich will. Denn die Gemeinden wissen, dass ihre Kompetenzen bei der Schuldnerberatung, bei der Drogenberatung ({11}) und bei solchen Dingen liegen und nicht bei der Arbeitsmarktvermittlung. Diese Kompetenz hat die Arbeitsverwaltung. ({12}) Dann hat man sich auf ein Optionsmodell geeinigt. Aber plötzlich fordern Sie nach den Beratungen im Vermittlungsausschuss eine Verfassungsänderung. Bringen Sie einmal in die Föderalismuskommission ein, dass Sie für diesen Einzelfall eine Verfassungsänderung durchführen wollen, sodass die Gelder vom Bund über die Länder zu den Gemeinden fließen; so lautete Kochs Konzept. Dabei weiß doch jeder Landespolitiker, dass die klebrigen Finger der Länder einen Teil dieser Gelder abgreifen werden. ({13}) Erklären Sie das einmal Ihren schwarzen Ministerpräsidenten! Jeder hier weiß doch, dass alle, auch die Union, diese Verfassungsänderung nicht wollen. ({14}) Der Wirtschaftsminister hat einen Vorschlag gemacht: Durch die Organleihe soll bei dieser Aufgabe die Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden und der Bundesagentur für Arbeit möglich werden. Wir alle wollen doch, dass die Gemeinden diese Aufgabe mit wahrnehmen. Sie sagen trotzdem, dass Sie die Verfassungsänderung wollen, obwohl die Union in den Ländern dagegen ist. Das ist destruktive Politik. Sie wollen die Reform nicht, stattdessen wollen Sie Chaos in den Arbeitsämtern im nächsten Jahr. Diesen Vorwurf kann ich Ihnen an dieser Stelle einfach nicht ersparen. ({15}) Herr Laumann hat bestimmte Punkte des Antrags, den Sie heute vorlegen, sicherheitshalber gar nicht erst angesprochen. ({16}) - Ja, Sie haben Ihre Zeit gut eingeteilt; das können Sie. ({17}) Ihr Antrag beinhaltet eine Inkonsequenz nach der anderen. ({18}) Ich will Ihnen das einmal an einem Beispiel vor Augen führen. Wir haben die größte Steuerreform durchgeführt, die es in der Geschichte der Bundesrepublik jemals gegeben hat. Ich will Ihnen das noch einmal in Erinnerung rufen: 1998 betrug der Eingangssteuersatz 25,9 Prozent und der Spitzensteuersatz betrug 53 Prozent. 2005 wird der Eingangssteuersatz 15 Prozent und der Spitzensteuersatz 42 Prozent betragen. Die größte Steuerreform aller Zeiten ({19}) haben wir durchgeführt. Sie haben sie bekämpft, solange es ging. Jetzt haben Sie fröhlich in Ihren Antrag geschrieben, dass die Steuern viel zu hoch sind und sinken müssen. In diesem Zusammenhang kommen Sie auf Ihre 12 und 36 Prozent. ({20}) Selbst wenn man zu Ihren Gunsten rechnet, haben Sie dafür eine Deckungslücke von 10 Milliarden Euro; diese geben Sie zu. In der Krankenversicherung wollen Sie eine Kopfprämie einführen. Die selbst erklärte Deckungslücke beträgt dort 20 Milliarden Euro. Ihrem fröhlichen Wachstums- und Belebungskonzept für die deutsche Wirtschaft fehlen nüchtern gerechnet also 30 Milliarden Euro. Daneben schreiben Sie in Ihrem Antrag fröhlich, dass mehr für Forschung und Bildung ausgegeben werden muss. Entsprechend der Lissabon-Ziele sollen wir das 3,0-Ziel im Forschungsbereich verwirklichen. Das würde uns Jahr für Jahr 600 Millionen Euro zusätzlich kosten. Für das, was Sie hier zusätzlich fordern, haben Sie keinerlei Finanzdeckung, sondern ein Deckungsdefizit von insgesamt 30 Milliarden Euro. Trotzdem wollen Sie der staunenden Öffentlichkeit erklären, dass die von Ihnen präsentierte Milchmädchenrechnung in irgendeiner Weise ein Wachstumskonzept sein soll. Herr Laumann, ich kann Ihnen nur sagen: Wer so schlecht rechnet ({21}) und derart auf Desinformation und Chaos wie Sie setzt, der sollte nicht den Anspruch stellen, die Kompetenz dafür zu haben, die Arbeitslosigkeit in Deutschland ernsthaft bekämpfen zu können. ({22}) Ich komme nun zum Subventionsabbau. Sie schreiben fröhlich - wie es Ihre Art ist -, dass Sie Subventionen abbauen wollen. Es liegen konkrete Vorschläge der Regierung für den Subventionsabbau auf dem Tisch. Bundeskanzler Schröder hat in seiner Regierungserklärung jüngst die Abschaffung der Eigenheimzulage angesprochen. Die dadurch frei werdenden Mittel sollen für die Bildung in den Gemeinden, Ländern und im Bund verwendet werden. Dazu habe ich von der CDU/CSU, die den vorliegenden Antrag gestellt hat, noch kein einziges konstruktives Wort gehört. ({23}) Sie reden von mehr Bildung. Wenn es aber um die Finanzierung geht, dann ducken Sie sich weg. Herr Kauder geht dann auf die Toilette und schaut, dass er sich verdrückt. So einfach ist das Spiel, das Sie hier veranstalten, Herr Kauder. ({24}) Deswegen sage ich Ihnen: Wenn Sie in Deutschland politisch etwas werden wollen, dann müssen Sie in den nächsten Jahren Vorschläge für die Finanzierung dessen, worüber sie reden, machen. Ansonsten bleibt es bloßes Gerede und nichts anderes. Herr Laumann, Sie haben einige Vorschläge gemacht, auf die ich eingehen will. ({25}) Selbstverständlich können wir darüber reden, welche Anfragen an die Statistischen Bundes- und Landesämter wirklich notwendig sind. Reden wir dann aber auch ehrlich darüber! ({26}) Sie wissen, dass die Wirtschafts- und die Handwerksverbände von der Bundesregierung und den Landesregierungen sehr viel von dem, was dort abgefragt wird und was den Mittelständler am Sonntagvormittag tatsächlich belastet - da haben Sie völlig Recht -, wissen wollen. Das heißt, man muss sich wirklich an einen Tisch setzen und Commitments bezüglich dieser Frage einholen. Dann ist aber auch Schluss damit, dass die Opposition mit ihren Anträgen jeden Punkt und jedes Komma von der Regierung erklärt haben will. Sie kennen doch das Geschäft. Viele Daten, die statistisch erhoben werden, werden deshalb erhoben, weil Verbände und auch das Parlament insgesamt bzw. die Opposition diese Zahlen abfragen. Wenn wir die Antwort nicht geben können, wird das hier skandalisiert. Das ist ein Punkt. ({27}) Auch bei der Arbeitsstättenverordnung können wir jederzeit über die Frage reden, was notwendig ist und was nicht. Ich selber kenne aus Diskussionen mit Unternehmern eine Reihe von Punkten, die nicht plausibel sind und die Überregulierung zum Ausdruck bringen. Wenn Sie den Masterplan von Herrn Clement konstruktiv begleiten würden - Sie machen ihn nur schlecht -, ({28}) wenn Sie konkrete Vorschläge einbringen oder ein Vieroder Achtaugengespräch darüber führen würden, was möglich ist und was nicht, dann könnten Sie vieles von dem erreichen, was Sie angesprochen haben. So weit sind wir nämlich gar nicht auseinander. Ich komme zu einem anderen Punkt in Ihrem Antrag, bei dem man ganz einfach sagen muss: Sie haben ein anderes Konzept der sozialen Marktwirtschaft als wir. In Ihrem Antrag fordern Sie, dass der Kündigungsschutz erst bei Betrieben mit 20 Personen gelten und in den ersten vier Jahren der Beschäftigung keine Anwendung finden soll. Da 7 Millionen Menschen in Deutschland Jahr für Jahr den Job wechseln, bedeutet Ihr Vorschlag praktisch, dass die große Mehrheit der Beschäftigten in Deutschland nicht mehr unter die Kündigungsschutzgesetzgebung fallen soll. Das halten wir für falsch. Man muss es ganz klar sagen: Sie wollen für die Mehrzahl der Beschäftigten in Deutschland keinen Kündigungsschutz. Wir hingegen wollen ihn für die Mehrzahl der Beschäftigten in Deutschland, weil der Schutz vor Kündigung ein elementares Recht der sozialen Marktwirtschaft ist. Das ist ein wichtiger Punkt. Da haben Sie sich in Ihrem Antrag vielleicht verrannt. Darüber sollten Sie meines Erachtens noch einmal in Ruhe nachdenken. Ich will zum Abschluss einen anderen wichtigen Punkt zu Ihrem Vorgehen ansprechen. Sie setzen darauf, dass die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe nicht, wie vorgesehen, zum 1. Januar 2005 eingeführt wird. Übrigens wird dieser Vorschlag von der Bundesagentur für Arbeit mit ihrer Selbstverwaltung, die auch Sie wollen, selbst sabotiert. Die Kollegen vom Wirtschaftsausschuss saßen in Essen mit den entsprechenden Kollegen zusammen und haben darüber diskutiert, was geht und was nicht. Kaum waren sie aus der Tür, hat der Vertreter der Arbeitgeberverbände, Herr Clever, öffentlich erklärt, dass der Termin verschoben werden muss, weil er nicht einzuhalten ist. In der Sitzung aber hat er das Maul nicht aufgemacht, obwohl er mit am Tisch saß. Daran können Sie sehen, welches Doppelspiel an dieser Stelle gespielt wird. ({29}) Ich sage Ihnen: Wir werden Ihnen nicht durchgehen lassen, dass Sie das taktische Oppositionsspiel einer Verelendungsstrategie der Bundesrepublik Deutschland zulasten der Arbeitslosen spielen und dadurch die Arbeitslosen, die hoffen, schnell vermittelt zu werden, an den Rand drücken. Diese Taktik wird nicht aufgehen. Da können Sie noch so laut schreien und triumphieren, wie Sie es gerade getan haben. Wir werden es in der Auseinandersetzung der nächsten zweieinhalb Jahre schaffen, deutlich zu machen, dass diese Opposition bislang keinerlei Konzepte vorgelegt hat, wie wir in Deutschland zu mehr Wachstum und Beschäftigung kommen werden. Vielmehr chaotisieren und destabilisieren Sie systematisch auf hohem Niveau. Wir werden das offen legen. Am Schluss werden wir sehen, wer Recht bekommt. Ich danke. ({30})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zwei Kollegen haben eine Kurzintervention angemeldet: der Kollege Niebel und der Kollege Kauder. Herr Kuhn, Sie können danach auf beide zusammen antworten. Bitte sehr, Herr Niebel.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrter Herr Kollege Kuhn, Sie können am Pult noch so sehr schreien, aber das ändert nichts daran, dass Sie das Haus anzünden und dann rufen: Haltet den Brandstifter! Nicht die Opposition ist für die schlechte Situation am Arbeitsmarkt und das Stocken von Reformen verantwortlich, sondern die die Regierung tragenden Fraktionen von Rot und Grün. ({0}) Sie regieren seit fünf Jahren. Auch vorherige Regierungen haben Fehler gemacht. Wer aber fünf Jahre lang das Steuer in der Hand hat und ständig nur in den Rückspiegel schaut, muss den Wagen gegen die Wand fahren; das ist ganz klar. Sie haben die Zusammenlegung von Arbeitslosenund Sozialhilfe angesprochen. Nun waren Sie im Vermittlungsverfahren Ende letzten Jahres nicht dabei. Deswegen wissen Sie wahrscheinlich nicht, dass wir vereinbart und im Bundestag und im Bundesrat über alle Fraktionsgrenzen hinweg auch beschlossen haben, den Kommunen eine faire und gleichberechtigte Optionschance einzuräumen. Das Gesetz aber, das Sie morgen einbringen werden, hat entgegen dem überfraktionellen Beschluss des Bundestages und des Bundesrates einen anderen Zweck. ({1}) Sie werden einen Gesetzentwurf zur Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe vorlegen, der in der Konsequenz zum Chaos in der Bundesagentur für Arbeit führen wird. Das ist die Konsequenz Ihrer Politik und resultiert nicht daraus, dass die Opposition den Kommunen eine faire Mitwirkungsmöglichkeit geben wollte. Sie werden morgen die Organleihe vorschlagen. Das heißt, dass die kommunalen Träger der Sozialhilfe, die diese Aufgabe übernehmen, als Organ der Bundesagentur für Arbeit handeln, also auch ihren Weisungen unterliegen. Kein kommunalpolitischer Entscheidungsträger mit einem bisschen Hirn im Kopf wird so etwas tun. ({2}) Sie wissen aus der Medizin, dass Organleihe nicht funktionieren kann. Das ist bei der Bundesagentur für Arbeit genauso. Das Ergebnis wird sein: Wenn wir hinterher kein Optionsgesetz haben werden, weil es keines gibt, dem der Bundesrat zustimmt, wird das SGB II, das wir Ende letzten Jahres beschlossen haben, gelten. Nach dem SGB II liegt die grundsätzliche Zuständigkeit bei der Bundesagentur für Arbeit. Es können Arbeitsgemeinschaften gebildet werden. Jetzt lernt man im Grundstudium eines Verwaltungsstudiums, dass man zuerst die Zuständigkeit prüfen muss. Wenn die Kommunen vor dem Hintergrund ihrer kommunalen Haushalte sehen, welche Aufgaben sie auszuführen haben und welche nicht, dann werden sie nach Prüfung der Zuständigkeit feststellen, dass die Bundesagentur für Arbeit zuständig ist. Dann hat diese große Behörde mit ihren über 4,6 Millionen Arbeitslosen, mit denen sie nicht fertig wird, auch noch die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger und deren Familien zu versorgen. Die Kompetenzen dafür hat sie nicht erworben, weil sie sie nie gebraucht hat. Dann werden Sie alles vergessen können, was Sie jemals über Dosenpfand und Maut gehört haben. Wir werden am 1. Januar 2005 aufgrund Ihrer schlechten Politik - nicht aufgrund der Politik der Opposition - eine „Dosenmaut“ in den sozialen Sicherungssystemen erleben und die existenzielle Grundlage von Millionen von Menschen wird dadurch gefährdet werden. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Kauder.

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kuhn, Sie haben vorhin behauptet, dass wir uns aus dem Programm der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe verabschiedet hätten. Entweder Sie wissen es nicht, weil Sie nicht Mitglied im Vermittlungsausschuss sind, oder Sie sagen bewusst die Unwahrheit. Wir haben von Anfang an beantragt, dass Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu einem Hilfesystem zusammengelegt werden. Wir haben im Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf, das EGG, vorgelegt. Es ist auch wahrheitswidrig, wenn behauptet wird, wir hätten nachträglich eine Grundgesetzänderung geforVolker Kauder dert. Wenn Sie den Gesetzentwurf gelesen hätten, dann wüssten Sie, dass wir schon damals die Grundgesetzänderung gefordert haben, und zwar weil wir wollten, dass sich die Kommunen darauf verlassen können, dass das Geld bei ihnen ankommt. Das, was in dieser Woche geschehen ist, wird Konsequenzen haben. Zum dritten Mal hintereinander hat die Regierungskoalition bzw. die Bundesregierung das nicht eingehalten, was sie im Vermittlungsausschuss versprochen hat. ({0}) Das ist der entscheidende Punkt. ({1}) Ich nenne Ihnen die Punkte. Erstens. Es ist uns versprochen worden, dass die Einnahmen, die aus der Maut kommen sollen - bis jetzt sind sie nicht da -, zusätzlich für Verkehrsinvestitionen im Haushalt zur Verfügung gestellt werden sollen und dass die Einnahmen nicht mit den Haushaltsmitteln verrechnet werden sollen. Das steht im Gesetz. Prompt hat die Bundesregierung den Haushalt so zurückgefahren, dass jetzt überhaupt keine Investitionen mehr im Verkehrssektor stattfinden können. Das geschieht in einer Situation, in der Wachstum notwendig wäre. Zweitens. Die Bundesregierung hat zugesagt, dass sie sich an das hält, was im Vermittlungsausschluss zum so genannten Koch/Steinbrück-Subventionsabbau beschlossen worden ist. Schauen Sie sich einmal an, was im Haushaltsplan passiert ist. Es werden Dinge gemacht, die mit den Koch/Steinbrück-Beschlüssen nicht zu vereinbaren sind. Drittens. Die Bundesregierung hat zugesagt, dass sie ein Optionsgesetz als Zustimmungsgesetz vorlegen wird, das genau das erfüllt, was wir verabredet haben, nämlich die Kommunen als Träger der Maßnahmen nach Hartz IV zu bestimmen. Jetzt aber sollen die Kommunen Lakaien der Bundesagentur für Arbeit werden. ({2}) Sie haben dreimal hintereinander nicht gehalten, was Sie versprochen haben. Deswegen werden wir im Vermittlungsausschuss mit Ihnen nur noch Gesetze vereinbaren können, die bis auf Punkt und Komma ausformuliert sind, keine Protokollerklärungen mehr und keine Absichtserklärungen. Auf diese Regierungskoalition ist kein Verlass. Jetzt muss ich Ihnen sagen:

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Nein, Herr Kollege Kauder. Sie hatten drei Minuten.

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- Bei der Maut, die gescheitert ist, ging es um Lastwagen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Kauder!

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Hier aber geht es um 4 Millionen Menschen, die Sie mit dem Optionsgesetz hin- und herschieben. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte, Herr Kuhn.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Kauder, so wie Sie aussehen, sind Sie Mitglied des Ältestenrates. ({0}) Das heißt, Sie könnten doch Redezeit beantragen. Insofern kann man leicht Abhilfe schaffen. ({1}) - Ganz ruhig! ({2}) - Herr Kollege, auch für Ihr Leiden gibt es eine Problemlösung, und zwar in der Apotheke; da gibt es nämlich Beruhigungszäpfchen. ({3}) - Die Argumente kommen noch. - Herr Kauder, im Vermittlungsausschuss ist nicht verabredet worden - weder protokollarisch noch mündlich -, ({4}) dass das Optionsmodell mithilfe einer Verfassungsänderung umgesetzt werden soll. Ich habe mich nach dem Grund dafür erkundigt. Es hat einen systematischen Grund: Die Unionsländer hätten dem niemals zugestimmt. ({5}) Deshalb hat man zugunsten eines Optionsmodells argumentiert und hat dessen konkrete Ausgestaltung im Unklaren gelassen. Lassen Sie mich eine konstruktive Bemerkung machen. Bei einer nüchternen Betrachtung - statt sich zu ereifern - wird man feststellen, dass die Arbeitsverwaltung bestimmte Kompetenzen hat, über die die Gemeinden nicht verfügen, und dass die Gemeinden bestimmte Kompetenzen haben, über die die Bundesagentur für Arbeit nicht verfügt. Wenn Sie im Interesse der Arbeitslosen eine wirklich konstruktive Lösung wollen ({6}) - ja, die Gemeinden und die Landkreise -, ({7}) - dann wird man ein Modell finden, ({8}) das die Fähigkeiten der einen Seite mit denen der anderen Seite zusammenbringt. Herr Laumann, wenn Sie sich konstruktiv auf den vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung einlassen würden und über die Frage diskutieren würden, wie die Selbstständigkeit der Gemeinden ({9}) - der Kreise - in diesem Prozess gestärkt werden kann, dann würden wir eine Lösung finden, die dies in der Praxis ermöglichen würde. Was uns nicht gefällt, ist, dass Sie eine Länder-Lösung vorschlagen, ({10}) von der wir wissen, dass sie nicht funktioniert. Ich muss den Kollegen, die sich so ereifern, noch einmal erklären, dass das eine Verfassungsänderung erfordern würde, die - Kochs Vorstellungen entsprechend - dazu führen würde, dass der Bund den Ländern Mittel zuweist, die diese an die Gemeinden weitergeben sollen. ({11}) Wer sich einigermaßen in der Landespolitik auskennt und weiß, wie beim kommunalen Finanzausgleich in allen Bundesländern mit den Gemeinden Schindluder getrieben wird, der weiß auch, dass die Gemeinden diese Lösung nicht wollen können. Das ist ganz einfach. ({12}) Wenn Sie konstruktiv an die Fragen herangehen würden, dann würden Sie auch eine Lösung herbeiführen. Aber das wollen Sie nicht. ({13}) In einem gebe ich Ihnen Recht, Herr Kauder. Es ist notwendig, bestimmte Punkte konkreter zu vereinbaren, als es in den langen Sitzungen des Vermittlungsausschusses bis in den späten Abend hinein geschieht. Damit haben Sie völlig Recht. Das Vermittlungsausschussverfahren - alle stehen ja auf diese Highnoon-Situation führt dazu, dass am Schluss - Hauptsache schnell - Vorschläge in den Raum gestellt werden, deren rechtliche und praktische Konsequenzen nicht im Einzelnen durchbuchstabiert worden sind. ({14}) - Herr Kollege, machen Sie jetzt nicht den Pöbel! Dafür gibt es Fußball- oder Eishockeystadien. Das müssen Sie doch nicht im Bundestag machen. ({15}) Irgendwie kommen Sie mir vor, als hätten Sie noch Restalkohol im Blut, so wie Sie sich hier aufpunken. Damit bin ich am Schluss. Ich danke Ihnen. ({16})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Wir brauchen zwar lebhafte Debatten - auch in der Kernzeit -, aber ich bitte alle, sich etwas zu mäßigen, und zwar wirklich in jeder Richtung. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Johannes Singhammer. ({0})

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kuhn, angesichts der mehr als 4,5 Millionen Arbeitslosen, die Sie zu verantworten haben, ({0}) kann ich verstehen, dass das schmerzt. ({1}) Deshalb kann ich auch verstehen, warum Sie hier so laut schreien müssen. ({2}) Die Lage ist aber ernst. Rot-Grün hat - das ist der Grund für die heutige Debatte - Deutschland und die Menschen in unserem Land in eine tiefe Depression gestürzt. Wir wollen zeigen, wie man aus dieser Krise wieder herauskommt. ({3}) Vom Beginn bis zum Ende dieser knapp eineinhalbstündigen Debatte werden 70 Menschen in Deutschland ihren Arbeitsplatz verloren haben. Das bedeutet, dass es im Monat 25 000 und in diesem Jahr wohl erneut 300 000 Menschen sein werden, die ihren Arbeitsplatz verlieren. Deutschland hat einen gefährlichen Spitzenplatz erklommen, nämlich den eines Exportweltmeisters bei den Arbeitsplätzen. Mit über 40 000 Firmenpleiten im vergangenen Jahr ist ein neuer Negativrekord erreicht worden. Die von Ihnen als Heilsbringer angekündigten HartzKonzepte haben nichts bewirkt. Die Beschäftigungslosigkeit - hier sind nicht nur die 4,5 Millionen Arbeitslose zu berücksichtigen - ist auf deutlich über 6,5 Millionen Menschen angewachsen. Deshalb können Sie nicht von einem Erfolg sprechen, den Sie eingeleitet haben. Im Gegenteil: Das ist ein Misserfolg. ({4}) Immer mehr Menschen in unserem Land sehen mit Sorge und Düsternis in die Zukunft. Das ist auch der Grund, warum nicht mehr konsumiert wird, warum beispielsweise auch beim PKW-Absatz in diesem Frühjahr - das ist normalerweise eine Zeit, in der er in die Höhe geht - kaum Belebung feststellbar ist. Um zu verdeutlichen, dass nicht nur wir, sondern auch gerade die Wähler, die Sie gewählt haben, insbesondere die Wähler der SPD, das so sehen und dass sie sich massiv getäuscht fühlen, möchte ich Ihnen ein Zitat von Herrn Klaus Ernst, erster Bevollmächtigter der IG Metall in Schweinfurt und Mitbegründer der regierungskritischen „Initiative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“, vorlesen: Wir haben links geblinkt und sind rechts abgebogen und jetzt sind wir irgendwie auf der Geisterbahn. ({5}) Ich stelle ohne jegliche Häme fest: Wut und Enttäuschung über die Wirtschaftspolitik der Regierung bedrohen das Vertrauen und das Zutrauen in das gesamte politische System. Die rot-grüne Wirtschaftskrise ist bereits in eine höchst gefährliche System- und Demokratiekrise ausgefranst. Man hört immer öfter den Satz: Die in der Politik sind doch alle gleich! - Diese Anklage, die zunächst an die Regierung gerichtet ist, kann uns als Opposition natürlich nicht gleichgültig lassen; denn das Vertrauen in die politische Klasse ist derzeit nicht nur einem Schwelbrand ausgesetzt; vielmehr brennt es lichterloh. ({6}) Was ist zu tun? Die Aufgabe der politisch Verantwortlichen ist, zuerst den Menschen in unserem Land reinen Wein einzuschenken und ihnen die ungeschminkte Wahrheit über den bedrohlichen Substanzverlust zu sagen, dem unser Land seit vielen Jahren ausgesetzt ist. Wir könnten es uns als Opposition leicht machen und Pralinen und andere Süßigkeiten verteilen. Aber wir sagen: Bittere Arznei ist leider notwendig - das entspricht der Wahrheit -, um auf den Wachstumspfad zurückzukehren. ({7}) Wir als Opposition versprechen - das haben wir in unserem Antrag exakt aufgelistet - nicht nur Wohltaten, sondern wir sagen auch, dass Anstrengungen und Schweiß notwendig sind. Wir versprechen - um ganz konkret zu werden - nicht ständig kürzere Arbeitszeiten und mehr Freizeit, sondern wir sagen: Die Arbeitsplätze in Deutschland können nur dann dauerhaft gesichert werden, wenn es in unserem Land auch wieder längere Arbeitszeiten gibt. ({8}) Nun wird das von Ihnen auf das Heftigste kritisiert. Aber auch Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass allein aufgrund der von den Arbeitnehmern als ungünstig empfundenen diesjährigen Feiertagsregelung - im Vergleich zum Vorjahr fallen in diesem Jahr vier Feiertage weniger auf einen Werktag - ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von 0,6 Prozent prognostiziert wird. Darauf geht im Übrigen der größte Teil des Wirtschaftswachstums zurück, das Sie sich auf die Fahne geschrieben haben. Bei nur einer Stunde Mehrarbeit pro Woche könnte die deutsche Wirtschaft einen Wertzuwachs von 50 Milliarden Euro verzeichnen. Die Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitsplätze wäre entsprechend größer. Wir stehen vor einer riesigen Herausforderung. Die Menschen in unserem Land spüren das. Ich möchte die Jahresarbeitsstunden in einigen anderen Ländern ansprechen. Die Anzahl der Jahresarbeitsstunden in den Vereinigten Staaten ist um 350 höher als in Deutschland - und die Amerikaner arbeiten auch nicht schlecht. In der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai, also in vier Wochen, findet die EU-Osterweiterung statt. Damit kommt ein weiteres Stück Globalisierung direkt vor unsere Haustür. Ein Vergleich: Die jährliche Arbeitszeit liegt in Deutschland bei 1 444 Stunden, in Belgien bei 1 559 Stunden, in Spanien bei 1 807 Stunden und in Tschechien bei 1 980 Stunden. Die Wochenarbeitszeit liegt in Deutschland bei 39,9 Stunden, in Tschechien bei 42,4 Stunden, in Ungarn bei 42,9 Stunden und in Polen bei 45,2 Stunden. Hinzu kommt eine wesentlich niedrigere Unternehmensbesteuerung in diesen Ländern. In Deutschland liegt sie nominal bei 38,7 Prozent, in Polen und in der Slowakei bei 19 Prozent, in Litauen und in Zypern bei nur 15 Prozent. Machen wir uns doch nichts vor! Wir wissen, was das bedeutet. Auf der anderen Seite wollen wir doch nicht das Lohnniveau der Beitrittsstaaten erreichen. In Tschechien liegt es bei knapp über 3 Euro, während es bei uns im Schnitt bei annähernd 30 Euro liegt. Wir können die Verlagerung der Arbeitsplätze in andere Länder nur durch flexible Arbeitszeiten verhindern. Der Bundeskanzler hat auf die patriotische Pflicht der Unternehmen hingewiesen. Dazu sage ich: Diese Bundesregierung hat die patriotische Pflicht, Rahmenbedingungen zu schaffen, die gewährleisten, dass die Unternehmen bei uns bleiben. ({9}) Dazu gehört, dass wir einen nationalen Solidarpakt für längere Arbeitszeiten und für Beschäftigungsgarantien vereinbaren. Dem werden auf der lokalen Ebene die - von uns verlangten - betrieblichen Bündnisse gerecht. Diese betrieblichen Bündnisse sind vielfach Praxis. Sie haben sich bewährt. Es gibt eine Vielzahl von großen Firmen, die diese Bündnisse erfolgreich praktiziert haben, beispielsweise die Firmen Siemens und Deutsche Post AG. Wir wollen, dass der gesetzliche Spielraum erweitert wird. Der Bundeskanzler hat vor drei Monaten im Anschluss an das Bemühen des Vermittlungsausschusses, Deutschland gemeinsam fit zu machen, angekündigt, die Möglichkeiten zu erweitern. Seither ist nichts geschehen. Wir befürchten, dass auch in den nächsten Monaten aufgrund der Schwäche dieser Regierung nichts passiert. Das ist das Allerschlimmste für unser Land. Abwarten, Attentismus, Verdrängen, Nichtstun, das braucht Deutschland nicht. Wir brauchen vielmehr neuen Schwung. Die deutschen Arbeitnehmer und die deutschen Unternehmer sind nicht schlechter geworden; allerdings haben sich die Rahmenbedingungen verschlechtert. Deshalb müssen wir an dieser Stelle ansetzen. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Singhammer, Sehen Sie, dass Ihre Redezeit zu Ende ist?

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. Es gibt eine merkwürdige Gemeinsamkeit zwischen der Bundesregierung, insbesondere dem Wirtschaftsminister, und der Konjunktur: Beide schwächeln. Wir brauchen wieder eine starke Konjunktur und eine starke Regierung. Dazu muss es eine neue Regierung geben. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anette Kramme.

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU hat in diesem Antrag eine einfache Gleichung aufgestellt: Arbeitnehmer - plus Arbeitsrecht gleich schlechte Konjunktur. Aber: Anders als für den Satz des Pythagoras - a2 + b2 = c2 - gibt es für diese Formel keinerlei wissenschaftlichen Nachweis. In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine aktuelle Untersuchung verweisen, nämlich vom IAB vom 12. Dezember 2003. Darin heißt es: Empirische Untersuchungen zu den Arbeitsmarktwirkungen des Kündigungsschutzes zeigen ein differenziertes Bild. So gibt es kaum Hinweise, dass die Regelungsdichte auf das Niveau von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit Einfluss hat. ({0}) Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Sie haben für Ihren Antrag einen hübschen Titel gewählt, nämlich „Weichen stellen für eine bessere Beschäftigungspolitik“. Nur, mit dem Stellen von Weichen hat das lediglich in einer bestimmten Richtung zu tun. Ihr Zug landet auf dem Abstellgleis. Sie wollen Marktwirtschaft pur. „Sozial“ wird bei Ihnen klitzeklein geschrieben. Zwar wurden einige Ihrer Positionen durch den Bundesvorstand in letzter Sekunde noch abgeschwächt, weil die Ministerpräsidenten vor dem Hintergrund der Wahlen des Jahres 2004 schlichtweg kalte Füße bekommen haben. ({1}) Aber eines ist klar: Die Union tritt für drei Sachen ein: Zerschlagung von Arbeitnehmerrechten, Abbau des Kündigungsschutzes, Kampf gegen die Tarifautonomie und damit Kampf gegen die Gewerkschaften. Dass Sie ein Wolf im Schafspelz sind, kann man Ihnen wahrlich nicht vorwerfen. ({2}) Auch beim Minimalkonsens in Sachen Steuern ist klar, wer die Zeche zahlt: Weshalb fällt die Absenkung des Spitzensteuersatzes doppelt so hoch aus wie die Absenkung des Eingangsteuersatzes? Weshalb wird zur Gegenfinanzierung die Steuerfreiheit für Nacht-, Schicht-, Sonn- und Feiertagszuschläge angegriffen? Weshalb soll der Sparerfreibetrag abgeschafft werden? Fazit: Wer hat, dem wird bei Ihnen gegeben. ({3}) Sie versuchen, mit Ihrem Antrag eine Bilanz des Hartz-Konzepts zu ziehen. Aber Ihr Versuch, Bilanz zu ziehen, ist wissenschaftlich unseriös und destruktiv. ({4}) Sie sind die Letzten, die es sich erlauben dürfen, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Sie sind nach wie vor der Rekordhalter, was die Arbeitslosigkeit angeht. „Miesepeter“ sagt man da. ({5}) Ich will meinerseits Bilanz ziehen, und zwar beispielsweise betreffend die Ich-AG. Die Daten, die da zu nennen sind, sind positiv. Jede zweite Existenzgründung erfolgt mittlerweile aus der Arbeitslosigkeit heraus. ({6}) 100 000 Ich-AGs gibt es mittlerweile. 157 000 Anträge zum Überbrückungsgeld sind im Jahr 2003 gestellt worden. Die Zahl der Förderanträge hat sich verdoppelt. Insgesamt ist noch zu beobachten, dass es beim Überbrückungsgeld eine 27-prozentige Zunahme gegeben hat. Wir sind da also positiv gestimmt. Wir rechnen damit, dass binnen zwei Jahren jeder dieser Existenzgründer einen zusätzlichen Arbeitsplatz geschaffen haben wird. ({7}) Das ist das, was uns wissenschaftliche Institute sagen. ({8}) Zur Bilanz betreffend die Personal-Service-Agenturen: Erst Mitte des Jahres 2003 war die flächendeckende Einführung. Im Februar 2004 hat es 993 Personal-Service-Agenturen gegeben mit 44 000 Plätzen, einer Besetzungsquote von 74,4 Prozent und 32 700 Teilnehmern. ({9}) Ohne weiteres gilt: Wir haben uns für 2003 mehr davon versprochen. Aber auch dazu gibt es eine Untersuchung. In einer Veröffentlichung des IAB vom 15. Januar 2004 heißt es: „Um diese PSAen einer fundierten Betrachtung zu unterziehen, ist es noch zu früh.“

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber sicher doch.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Niebel, Sie haben in dieser Debatte, glaube ich, zwei Zwischenfragen gestellt und eine Kurzintervention gemacht. Das ist jetzt die letzte Zwischenfrage, die ich Ihnen in dieser Debatte erlaube.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Stoff für Fragen, Frau Präsidentin, ist unerschöpflich. Frau Kollegin Kramme, können Sie mir die Zahl bestätigen, die dem Wirtschaftsausschuss vorgelegt wurde, dass durch die Personal-Service-Agenturen zum damaligen Zeitpunkt - das muss Mitte letzten Monats gewesen sein; da haben wir das diskutiert - insgesamt 6 357 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dauerhaft in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt worden sind? Bestätigen Sie mir dann, wenn Sie mir diese Zahl bestätigen können, auch, dass bei 250 Millionen Euro, die im Haushalt für die Ich-AGs vorgesehen sind, pro Arbeitnehmer rein rechnerisch gut 35 000 Euro eingesetzt worden sind, was eine Dimension ähnlich wie bei der Steinkohlesubvention wäre?

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Niebel, wenn ich Zahlen auswendig repetiere, dann lüge ich immer. ({0}) Fragen Sie mich von daher nicht nach Zahlen, die irgendwann in einer Ausschusssitzung genannt worden sind. Ich kann Ihnen nur die Zahl nennen, die ich mir aktuell aus dem Wirtschaftsministerium habe geben lassen. Danach haben 7 700 Arbeitnehmer mittlerweile in Personal-Service-Agenturen gewechselt. Das ist Punkt eins. ({1}) Punkt zwei. Sie haben offensichtlich Herrn Kuhn nicht zugehört. ({2}) - Nein, das haben Sie offensichtlich nicht. - Wie Sie wissen, ist die Leiharbeit sehr wohl konjunkturabhängig. Mit dem Anspringen der Konjunktur wird es selbstverständlich auch dazu kommen, dass wir in stärkerem Maße von dem Klebeeffekt profitieren werden. Noch einmal das IAB zitiert: „Um diese PSAen einer fundierten Betrachtung zu unterziehen, ist es noch zu früh.“ Das sollten Sie akzeptieren. ({3}) Die Zahl der Arbeitslosen ist zweifellos viel zu hoch, aber Ihre Instrumente, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, weisen schlichtweg in die falsche Richtung. Erster Punkt: betriebliche Bündnisse. Was Sie wollen, ist klar und deutlich: Sie wollen Tarifverträge zu unverbindlichen Meinungsäußerungen erklären. ({4}) - Das geht auch ganz leise. ({5}) - Aber umso eindringlicher, damit Sie auch zuhören. Außerdem wollen Sie das Erpressungspotenzial vor Ort nutzen. ({6}) Sie wollen, dass Arbeitgeber erklären können: Wenn der Betriebsrat und die Belegschaft nicht zustimmen, dann gibt es Kündigungen. - Dann ist niemand da, der verifiziert. ({7}) Es geht darum, eine unabhängige Instanz zu haben. Das sind die Gewerkschaften. Wenn Sie ehrlich wären, dann würden Sie auf das Instrument der Sanierungstarifverträge verweisen. ({8}) - Ich bin Fachanwältin für Arbeitsrecht. Mein Hauptgeschäft in der Kanzlei ist, Interessenausgleiche herzustellen und Sozialpläne zu machen, was beinhaltet, dass ich ständig mit Betrieben zu tun habe, die sich in der Situation der Insolvenz befinden oder kurz davor sind. Ich weiß also sehr wohl, was es heißt, auf individuelle Situationen einzugehen. ({9}) - Nein, ich rede nicht wider besseres Wissen. Ich habe bereits unzählige Sanierungstarifverträge abgeschlossen und ich weiß, dass die Gewerkschaften in solch einer Situation fast alles zugestehen. ({10}) Zweiter Punkt: Kündigungsschutzgesetz. Wir haben mit dem Entwurf, der durch den Vermittlungsausschuss gegangen ist, beschlossen, dass es 2007 eine Evaluierung geben wird. Aber offensichtlich wollen Sie diese Evaluierung gar nicht, obwohl Sie wissen müssten, dass der Abbau des Kündigungsschutzes überhaupt nichts bringen wird. Sie wollen, dass 90 Prozent der Betriebe aus dem Kündigungsschutz herausgenommen werden und dass 28 Prozent der Arbeitnehmer keinerlei Kündigungsschutz mehr haben. Sie betreiben eine Politik der Angst in der Bundesrepublik Deutschland. Ich sage Ihnen eines: Das, was Sie wollen, wird niemals Gesetz werden, denn das Bundesverfassungsgericht würde dem schlichtweg einen Riegel vorschieben. Anknüpfungspunkte zum Betriebsinhaber gibt es dabei nämlich keine mehr. Sie wollen ermöglichen, dass bis zu 80 Arbeitnehmer in einem Betrieb ohne Kündigungsschutz arbeiten. Das hat mit dem Betriebsinhaber nichts mehr zu tun. Meine sehr geehrten Damen und Herren, den wirtschaftlichen Wandel können wir nicht gegen die Arbeitnehmer, sondern nur mit ihnen gestalten. ({11}) Die Zukunftschancen Deutschlands liegen vor allem in hoch qualifizierten Arbeitsplätzen. Dafür brauchen wir motivierte und sozial abgesicherte Arbeitnehmer. Mit Ihrem Entwurf werden wir das nicht erreichen. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Hermann Kues. ({0})

Dr. Hermann Kues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte gerne auf eine Situation zurückkommen, die wir eben erlebt haben, als der Kollege Kuhn hier vorne am Rednerpult stand. Ich kann verstehen, dass man sich in einer hitzigen Debatte kräftig ausdrückt und auch einmal emotional reagiert. Wenn man aber auf das Aussehen von Herrn Kauder abhebt und eine Verbindung zum Ältestenrat herstellt und wenn man dem Kollegen Grindel mit dem Hinweis „Pöbel“ antwortet, dann muss ich schon sagen, dass das ein ganz mieser Stil ist, den Sie hier an den Tag legen. ({0}) Sie sollten sich dafür entschuldigen. Da Sie aber ganz offenkundig auf einem sehr hohen Ross sitzen, werden wir das von Ihnen nicht erwarten. Ich finde es schäbig, wie Sie sich hier präsentieren. Sie sollten sich dafür schämen. ({1}) Ich gebe zu, dass es sehr schwierig ist, die Arbeitsmarktpolitik dieser Bundesregierung schönzureden. Der erste Satz in unserem Antrag trifft zu: Die rot-grüne Arbeitsmarktpolitik ist auf ganzer Linie gescheitert. Es ist eher unwichtig, was wir im Plenum über Ihre Politik denken. Es ist viel wichtiger, was die Menschen draußen im Lande von Ihrer Politik halten. Sie sehen, dass die Personal-Service-Agenturen teilweise Pleite gehen bzw. dass Agenturen Aufträge erhalten haben, die sich in der betreffenden Region überhaupt nicht auskennen. Der Erfolg auf dem Gebiet der Zeitarbeit hängt natürlich von der konjunkturellen Situation ab, er wird aber auch dadurch beeinflusst, wie Sie die Sache angehen. Ihr Kernproblem ist - das hat sich auch daran gezeigt, wie Sie mit dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses umgehen -: Sie trauen den Menschen nicht über den Weg. Sie trauen auch den Kommunen nicht über den Weg. ({2}) Letztendlich trauen Sie den Betriebsräten ebenfalls nicht über den Weg. Bei uns gibt es eine eher unterentwickelte Veränderungsbereitschaft; das will ich überhaupt nicht bestreiten. Das hat etwas mit der Mentalität in Deutschland zu tun. Viele meinen nämlich, das Heil würde angesichts der zahlreichen Herausforderungen insbesondere vom Staat abhängen. Dieses Hoffen auf eine zentrale Macht, wie sie der Staat repräsentiert, ist ein großer Irrglaube, dem Sie nach wie vor unterliegen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brandner?

Dr. Hermann Kues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kues, Sie haben gerade festgestellt, dass die SPD-Fraktion den Betriebsräten nicht über den Weg traut. Wie erklären Sie sich dann, dass in Ihrem Antrag gefordert wird, dass die Rechte der Betriebsräte deutlich eingeschränkt werden, dass die Anzahl der Betriebsräte deutlich minimiert wird und dass die Freistellungsmöglichkeiten begrenzt werden? Damit wollen Sie den Handlungsspielraum der Betriebsräte ganz erheblich einengen. Meine Frage lautet: Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch? Weiterhin haben Sie festgestellt, wir würden den Gemeinden nicht über den Weg trauen. Wie erklären Sie dann, dass Sie den hessischen Gesetzentwurf unterstützen, den Sie in der Arbeitsgruppe, die sich mit der Arbeitslosen- und Sozialhilfe beschäftigt, vorgelegt haben und nach dem nicht der Bund, sondern das Land für die Weiterleitung der Mittel an die Kommunen für die Arbeitslosengeld-II-Bezieher zuständig sein soll? Wie verträgt sich dieses Vertrauen in die Länder - Sie wollen das Land statt den Bund als Zuständigkeitsträger einsetzen - mit dem, was Sie gerade vorgetragen haben?

Dr. Hermann Kues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002709, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zu Ihrer ersten Frage. Herr Kollege Brandner, ich gehe davon aus, dass Sie hin und wieder in die Betriebe gehen. Wenn Sie dort einmal nachfragen, wie viele Betriebsräte freigestellt werden, dann können Sie feststellen - das berichten Betriebsräte und Arbeitnehmer -, dass teilweise keine Mitarbeiter gefunden werden, die diese Aufgabe übernehmen. Sie wollen nämlich nicht freigestellt werden, sondern sie wollen in ihrer eigentlichen Funktion verbleiben und parallel Betriebsratsfunktionen wahrnehmen. Wir wollen, dass das Betriebsverfassungsgesetz effektiv gestaltet wird und dass es tatsächlich den Interessen der Betriebsräte entspricht. Zu Ihrer zweiten Frage, was die Länder und die Kommunen angeht. Wir sind uns mit dem Landkreistag völlig einig gewesen; auch er ist gegen diese Lösung. Sie wissen das ganz genau; denn Sie kommen ebenfalls aus einer ländlichen Region. Ich vermute sogar, dass Sie hier eine Position vertreten, von der Sie gar nicht überzeugt sind. Sie wissen ebenfalls ganz genau, dass die Kommunen vor Ort - es sind die Landkreise, nicht die Gemeinden; Herr Kuhn hat sich mit diesem Thema anscheinend nicht so intensiv beschäftigt - große Erfahrungen auf diesem Gebiet haben und dass sie ihre Ideen, die sie in den vergangenen Jahren entwickelt haben, einbringen würden, wenn es vernünftige Rahmenbedingungen gäbe. Sie sind also sehr wohl dafür, dass die Landkreise entsprechende Zuständigkeiten erhalten. ({0}) Ich möchte etwas zu der Mentalität sagen, den Menschen zu wenig zuzutrauen. Diese zieht sich wie ein roter Faden - das kann man auf andere Gebiete übertragen - durch Ihre Lösungsansätze; denn Ihre Lösungsansätze sind von Zentralismus statt kommunaler Selbstverwaltung, von Bürokratie statt Flexibilität und von Ineffizienz statt Wirksamkeit geprägt. ({1}) Herr Kollege Kuhn, ich hoffe ja, dass die Leute Ihrer Rede nicht so genau zugehört haben. Aber ich hoffe, dass sie einen Satz gehört haben. Sie haben eben gesagt, die rot-grüne Arbeitsmarktpolitik fange erst an. ({2}) Eine schlimmere Drohung gegenüber Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie Unternehmern in Deutschland können Sie nicht aussprechen. ({3}) Das Ergebnis, das wir jetzt vorliegen haben, ist schlimm genug; Kollege Laumann hat die entsprechenden Zahlen genannt. Herr Hartz hat damals davon gesprochen - auch er dachte in den Kategorien eines Vertreters eines Großunternehmens mit Mitbestimmung; denn er nahm an, die gesamte Volkswirtschaft werde so -, man könne die Arbeitslosenzahl halbieren. Das Ergebnis kennen Sie: Das Projekt der PSA ist völlig gescheitert. Die Minijobs sind nicht gescheitert; das ist völlig richtig. Aber hinsichtlich der Reform Hartz III betreffend die Bundesagentur für Arbeit sollten wir erst einmal abwarten. Was wir bislang gehört haben, ist - das sage ich ausdrücklich - eher besorgniserregend. Auch Hartz IV ist faktisch gescheitert, weil Sie ein richtiges Instrument, die Zusammenfassung von Arbeitslosenund Sozialhilfe, wieder einmal zentralisieren, bürokratisieren und inflexibel angehen. Vermutlich wird das zu Beginn des nächsten Jahres zu einer Katastrophe führen. ({4}) Sie regieren schon etwas länger. Sie hätten es ganz leicht gehabt - das ist heute schon einmal angesprochen worden -: Mitte und Ende der 90er-Jahre gab es in den Kommunen erfolgreiche Modellversuche, die wir damals angeschoben und auf den Weg gebracht haben. Die Kommunen haben dabei glänzende Erfahrungen gesammelt. Ich möchte Ihnen ein Beispiel aus meiner Region, aus dem Emsland, nennen. Ich habe einen Jahresbericht der ESBA aus dem Jahre 1999 vorliegen. Er ist damals sogar vom Bundesrechnungshof geprüft worden. Aus einem Pool von 750 Personen sind 605 Langzeitarbeitslose in den ersten Arbeitsmarkt integriert worden, davon 416 - das alles wurde vom Rechnungshof überprüft - auf Dauer. Jetzt kommt es: Staatliche Leistungen von mehr als 3 Millionen DM konnten eingespart werden. Das heißt, mit einer klugen, dezentralen Arbeitsmarktpolitik, bei der Sie die Menschen einbinden und ihnen nicht nur Geld geben - es ist typisch Wohlfahrtsstaat, dass man den Menschen Geld gibt und sich nicht um sie kümmert -, können Sie etwas für die Menschen tun und sogar noch Geld sparen. Um diese Lösungen geht es uns. ({5}) Ich sage Ihnen auch, was die Kommunen jetzt tun werden. Ich habe mich nach dem, was gestern und vorgestern hier abgelaufen ist, ein bisschen erkundigt. Mir wurde gesagt, die Tendenz gehe zur Variante „gesetzliche Mindestleistung“. Man tut das, was man gesetzlich in jedem Fall tun muss. Darüber hinaus steht man den in Aussicht genommenen Arbeitsgemeinschaften skeptisch gegenüber, weil man natürlich gesehen hat, wie auf einer ganz anderen Ebene mit Ergebnissen des Vermittlungsausschusses umgegangen wird. So entsteht kein Vertrauen. ({6}) Sie brauchen ein Minimum an Vertrauen zwischen Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene, wenn Sie etwas wirksam für die Arbeitslosen erzielen wollen. ({7}) - Die kommunalen Spitzenverbände sind gelegentlich sehr bunt; das weiß ich wohl, Herr Brandner. ({8}) Es ist gut, wenn man sich gelegentlich von außen betrachtet. Es gibt eine Studie der EU-Kommission, die die Beschäftigungsentwicklung in den Mitgliedsländern unter die Lupe genommen hat. Der Zusammenhang zwischen Produktivität, Lohnstruktur und Beschäftigungsdynamik wurde analysiert. Daraus ergeben sich für uns in Deutschland wichtige Schlussfolgerungen. Jetzt wird gesagt, das schlechte Abschneiden Deutschlands im Hinblick auf den Arbeitsplatzabbau, der 2003 per saldo 400 000 betrug, liege an dem Tempo wirtschaftlicher Reformen. Es wird ehrlicherweise auch gesagt, dass das etwas mit den Folgelasten der deutschen Teilung zu tun habe. In diesem europäischen Vergleich kommen aber zwei weitere Faktoren ans Licht. Der eine Faktor betrifft den Zusammenhang zwischen Lohnhöhe und Arbeitsproduktivität. In der Studie heißt es dazu: Arbeitslosigkeit entsteht in der Regel dort, wo die Produktivitätsentwicklung hinter der Lohnentwicklung zurückbleibt. Eine weitere Ursache dafür, dass die Beschäftigungsdynamik in Deutschland hinter der europäischen zurückbleibt, ist die spezielle Situation niedrig qualifizierter Erwerbspersonen. Man kommt zu dem Ergebnis, dass niedrig qualifizierte Erwerbspersonen in Deutschland im Grunde genommen nur auf dem so genannten zweiten Arbeitsmarkt eine Chance haben. Dabei gibt es Unterschiede. In den Niederlanden, in Finnland und in Italien müssen weniger als 30 Prozent aller gering Qualifizierten mit nicht regulären Beschäftigungsverhältnissen mit niedrigem Lohn und hohem Arbeitsplatzrisiko klarkommen - das sind keine positiven Faktoren -, in Deutschland sind es mehr als 50 Prozent. Das heißt, Ihre Politik, durch die es den niedrig Qualifizierten nicht ermöglicht wird, flexibel vom ersten in den zweiten Arbeitsmarkt zu wechseln, führt dazu, dass sich die gering Qualifizierten in Deutschland in einer deutlich schlechteren Situation befinden als in den Nachbarländern. ({9}) Ich will Ihnen ausdrücklich sagen: Das ist alles andere als sozial, das ist unsozial. ({10}) Wenn man ausschließlich auf das Anziehen der Konjunktur und damit auf größeres Wirtschaftswachstum setzt, werden die strukturellen Probleme nicht gelöst. Diese müssen Sie angehen. Wir haben dazu Vorschläge unterbreitet. Ich will sie hier nicht wiederholen; sie stehen in unserem Antrag. Ich möchte noch ein paar Worte über den Kündigungsschutz verlieren. Ich weiß, dass dieses Thema sehr viel Potenzial für Polemik enthält. Wir müssen uns in die Situation eines Arbeitslosen versetzen, wenn wir Lösungsansätze suchen. Ein Arbeitsloser fragt nicht zuerst nach dem Kündigungsschutz, sondern danach, wie er wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen und sein Geld verdienen kann. Deswegen sollten Sie die Polemik lassen. ({11}) Es ist überhaupt nicht zu bestreiten, dass wir uns in einer Umbruchsituation befinden. In einer solchen Situation kommt es darauf an, die Weichen richtig zu stellen. Ihr Problem ist, dass Sie in die falsche Richtung laufen. Deswegen kommen wir in Deutschland nicht voran. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ortwin Runde. ({0})

Ortwin Runde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003619, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Brüderle hat gesagt, es handele sich um das Wachstumsprogramm der Union. ({0}) Die Union hat es fälschlicherweise etwas anders formuliert. Sie spricht in ihrem Antrag vom Wachstumsprogramm für Deutschland. Herr Brüderle hat die Absicht dieses Programms gut erkannt. Das ist meines Erachtens ein ganz richtiger Ansatz. ({1}) Herr Brüderle, es ist immer spannend zu untersuchen, was in einem Antrag enthalten ist und was fehlt. Sie selbst haben auf den sich verschärfenden innereuropäischen Wettbewerb hingewiesen und ausgeführt, dass wir bezüglich unserer Wettbewerbsfähigkeit vor schwierigen Anpassungsprozessen stehen. Wenn man sich über ein Wachstumsprogramm für Deutschland unterhält, muss man auch die Weltwirtschaft im Blick haben. Ich schätze, dass alle Wirtschaftsfachleute und auch die Wirtschaftspresse sehr viel gespannter nach Frankfurt schauen als auf unsere Diskussion in Berlin. ({2}) Die Wirtschaftsfachleute interessieren sich vor dem Hintergrund einer leichten konjunkturellen Erholung der Weltwirtschaft ({3}) für andere Fragen: Wie entwickeln sich die Rohölpreise? Wie wirkt sich die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus auf die konjunkturelle Entwicklung aus? Wie kann die europaweite Stagnationsphase, die wir in Frankreich, Spanien, Italien und auch in den von Ihnen gerühmten Niederlanden beobachten, überwunden werden? Es kommt darauf an, diesen Zusammenhang zu sehen. Ich hoffe, dass wir heute von der Europäischen Zentralbank ein positives Signal erhalten werden. Vor dem Hintergrund der Preisstabilität, die wir in der Europäischen Union und vor allem in Deutschland seit Jahren haben, ist die Europäische Zentralbank gut beraten, den Leitzins in einem größeren Umfang zu senken und somit die Konjunktur zu stabilisieren. Das ist angesagt. ({4}) Natürlich geht es in Europa darum, neben Konjunkturpolitik auch Strukturpolitik zu machen. Dazu muss man feststellen: So viele Reformen wie in den letzten zwei oder drei Jahren hat es - mit all den Schwierigkeiten, die damit verbunden sind - in Deutschland und auch in Europa noch nie gegeben. Diejenigen, die 16 Jahre lang Reformen nicht durchgeführt haben, sollten daher in ihren Bewertungen ein bisschen vorsichtig sein. ({5}) Diesen Reformmut hätte ich von Ihnen jedoch erwartet. Wenn wir das richtig sehen, stehen in Gesamteuropa der Umbau der Sozialsysteme, aber auch notwendige Steuerstrukturdebatten und Debatten über Innovationen an. Ich nenne nur die Lissabon-Strategie: Wie erreichen wir diese 3 Prozent für Forschung und Entwicklung und den Bildungsbereich? Natürlich ist auch die CDU/CSU gefordert, bei solchen strukturellen Richtungsentscheidungen Farbe zu bekennen und zu sagen, wie sie zu dem Vorschlag des Kanzlers steht, die Eigenheimzulage, also Investitionen in Beton und Steine, durch Investitionen in die Köpfe zu ersetzen. Wie lauten die konkreten Finanzierungsvorschläge, um das Dreiprozentziel zu erreichen und die 6 Milliarden Euro aufzubringen? Darauf erwarten wir Antworten. Ich halte konkrete Aussagen dazu, wie man mehr Investitionen in diesen Bereichen finanzieren will, für wichtig und begrüße kreative Vorschläge wie den seitens der Bundesbank, über die Goldreserven zusätzliche Potenziale für die Finanzierung zu erschließen. ({6}) Wenn man sich den Antrag der CDU/CSU ansieht, muss man feststellen, ({7}) dass es sich um ein Sammelsurium von Vorschlägen handelt, das in einer Kneipe entstanden sein muss. Zu einem Konzept verbunden ist das Ganze jedenfalls nicht. Ich habe den Eindruck, dass die CDU/CSU auf unser schlechtes Kurzzeitgedächtnis, auch das der Wähler, spekuliert. Ich erinnere mich genau an die Vermittlungsausschusssitzungen im Dezember des letzten Jahres. Damals gab es ein Wehklagen über die 1 Milliarde Euro, um die man sich verrechnet hatte und mit der dann die Länder, die Gemeinden und der Bund, also die öffentlichen Kassen, belastet wurden. Damals wurde gesagt: Das ist eine Katastrophe für die öffentlichen Finanzen. ({8}) Es ist angesichts der fehlenden Finanzierung nicht hinnehmbar, dass wir den Bürgern im Rahmen einer Steuerreform Steuerentlastungen in diesem Umfang zugute kommen lassen. Jetzt sehe ich unter Punkt 4 Ihres Antrags, dass die alte Bierdeckelstrategie von Merz wieder recycelt wird. Inzwischen sind die Brauereien dazu übergegangen, die entsprechenden Vorlagen für diese Bierdeckelstrategie zu liefern. ({9}) Wie kann man innerhalb von nur drei Monaten einen solchen Richtungswechsel vornehmen? Gemäß Punkt 4 Ihres Antrages sollen nun plötzlich für eine Einkommensteuerreform 15 oder 25 Milliarden Euro zur Verfügung stehen. Haben Sie das mit Ihren Ministerpräsidenten abgeklärt oder ist der Vorschlag nicht so ernst gemeint? Ist das übrigens der Vorschlag von Merz oder wessen Vorschlag verbirgt sich hinter diesen kargen Zeilen? ({10}) Man muss sagen: Alles in Ihrem „klaren“ Konzept ist zutiefst interpretationsbedürftig. Auch die wirtschaftspolitischen Wirkungen Ihrer Vorschläge muss man etwas genauer untersuchen. Sie wollen die Einnahmesituation von Spitzenverdienern stärken, indem Sie den Spitzensteuersatz noch einmal um 6 Prozentpunkte von 42 auf 36 Prozent senken. Der Steuersatz für die Bezieher unterer Einkommen soll ab 2005 von 15 auf 12 Prozent gesenkt werden. Es ist logisch, wer dann die Zeche zahlt: Diejenigen im unteren Einkommenssektor müssen die Entlastung der Spitzenverdiener bezahlen. ({11}) Das ist eine Gerechtigkeitsfrage. Sie sagen: Die Gerechtigkeitsfrage kümmert uns nicht; das ist eine Neiddiskussion. Aber die wirtschaftspolitischen Auswirkungen sind sehr wohl von Interesse; denn so kommt es nicht zu einer Stärkung, sondern zu einer Schwächung der Binnennachfrage. Eine Stärkung wäre aber wirtschaftspolitisch angezeigt. Sie müssen Folgendes sehen: Die Leiter der Steuerabteilungen der Finanzministerien, die ja keine Heißsporne sind, haben deutlich gesagt, welche Auswirkungen die Umsetzung dieses Konzepts auf den Arbeitsmarkt haben würde.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, achten auch Sie bitte auf die Zeit?

Ortwin Runde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003619, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. - Sie sagen, dass sich der Anreiz zur Arbeitsaufnahme im Bereich der Bezieher niedriger Einkommen stark verringern wird. Bringen Sie das einmal mit der Debatte, die wir hier führen, in Zusammenhang und berücksichtigen Sie auch das, was Herr Kues vorhin über die Hauptbetroffenen der strukturellen Veränderungen gesagt hat! Ich rate der Union, innerhalb ihrer eigenen Fraktion mehr zu koordinieren. Dann könnten Sie vielleicht etwas klarere und schlüssigere Konzepte als bisher vorlegen; denn das war keine Weichenstellung in die richtige Richtung. Dieser Zug fährt ins Nirgendwo. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Grotthaus. ({0})

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich in Erinnerung rufen, wie der Titel des Antrags der CDU/CSU lautet: „Weichen stellen für eine bessere Beschäftigungspolitik - Wachstumsprogramm für Deutschland“. ({0}) Wer diese Diskussion aufmerksam verfolgt hat, müsste eigentlich zu dem Schluss kommen, dass die Überschrift heißen müsste: „Abbau von Arbeitnehmerrechten - Reduzierung des Jugendarbeitsschutzgesetzes - Differenzierung der Anwendung des Arbeitsstättenrechtes in Klein- und Großbetrieben“. In einer Summe ausgedrückt: „Schaffung von Möglichkeiten zur inneren Kündigung der Arbeitnehmer - zum Standort Deutschland“. ({1}) Ihre Vorschläge haben nichts mit einem Wachstumsprogramm zu tun. Es geht um knallharte Politik, die zulasten der in den Betrieben Beschäftigten gehen soll. Spätestens seit dem 7. März steht fest - das ist auch nachzulesen -, dass die CDU/CSU mit ihren Beschlüssen zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik endgültig die Katze aus dem Sack gelassen hat. Die Union will eine andere Republik. Die Union will Marktwirtschaft pur. Die breite gesellschaftliche Kritik an Ihren Vorschlägen ist zu Recht groß. Der Begriff „sozial“ wird in den Vorschlägen der Union klitzeklein geschrieben. ({2}) - Herr Dr. Kues, darauf komme ich noch zu sprechen. ({3}) Der heute von Ihnen vorgelegte Antrag ist nur ein Spiegelbild dieser Beschlüsse. Ihn hier zur Debatte zu stellen weist schon Züge von - ich sage das bewusst politischer Unverfrorenheit und Uneinsichtigkeit gegenüber Ihrem Arbeitnehmerflügel auf. Mich würde interessieren, wie Kollege Arentz, der sich ja eindeutig zu den Vorschlägen Ihrer beiden Generalsekretäre geäußert hat, auf diesen Antrag reagieren wird. Ich bin gespannt, ob er den Vorschlägen Ihrer Fraktion zustimmen wird. ({4}) - Herr Laumann, wenn das abgesprochen ist, dann sagt er jetzt nicht mehr die Wahrheit bzw. steht er jetzt nicht mehr hinter seiner Argumentation oder hat er vorher in den Betrieben nur eine Beruhigungspille verteilen wollen. ({5}) Sie, meine Damen und Herren von der Union, treten mit diesem Antrag zum wiederholten Male für die Zerschlagung von Arbeitnehmerrechten ({6}) und den Abbau des Kündigungsschutzes ein und bekämpfen offen die Tarifautonomie. Alle, die bisher die Politik der Regierungskoalition kritisieren, sollten sich ganz genau ansehen, was Sie von der Union an dieser Stelle vorschlagen. Ich kann Ihnen nur den Vorschlag machen: Legen Sie diese Anträge in den Betrieben aus, sodass sich jeder Mensch in diesem Land, der abhängig beschäftigt ist, ein Bild davon machen kann, wohin der Weg Ihrer Meinung nach gehen soll! ({7}) Ihr Ziel ist es nicht, den Staat für die Zukunftsaufgaben neu aufzustellen. Ihr Ziel ist eine Deregulierung, die den Menschen nicht nur ihre bisherigen Arbeitnehmerrechte nimmt; sie sollen obendrein auch noch dafür zahlen. Der Kollege Runde hat dies bereits im Rahmen der Steuerpolitik dargestellt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, obwohl der Antrag meines Erachtens nicht das Papier wert ist, auf dem er gedruckt ist, will ich einige Punkte daraus aufgreifen und sie ein bisschen näher betrachten. Bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern ({8}) machen Sie uns dafür verantwortlich - Herr Kollege Schauerte, hören Sie einmal zu! -, dass das Versprechen von den „blühenden Landschaften“ nicht gehalten wurde. Vorhin wurde über Betriebe geredet. Ich habe 36 Jahre in der Industrie gearbeitet und miterlebt, wie der Konzern, dem ich angehörte, sich in Ostdeutschland bereichert hat, indem er Betriebe aufgekauft und die Produktion nach Westdeutschland verlagert hat. Dies wurde über die Treuhandanstalt abgewickelt und konnte so geschehen, weil nirgendwo in den Verträgen stand, dass der Industriestandort Ostdeutschland aufrechterhalten werden solle. Nirgendwo stand, dass eine Verlagerung von Produktionsstätten nicht stattfinden dürfe. Nein, Ihre damalige Regierung hat dies sogar noch forciert. Sie hätten die Entindustrialisierung von Ostdeutschland aufhalten müssen, Sie hätten gleich bei der Vereinigung beider deutscher Staaten den Standort Ostdeutschland stärken müssen. Stattdessen haben Sie Ostdeutschland ausbluten lassen. Wir werden die Stabilisierung und Weiterentwicklung der Wachstumszentren, die sich in Ostdeutschland herausgebildet haben, vorantreiben. ({9}) - Ich empfange um 13 Uhr eine Besuchergruppe. Ich bitte Sie deshalb um Verständnis, dass ich die Zwischenfrage nicht erlauben kann. Wir wollen den Solidarpakt II, den wir gemeinsam beschlossen haben und nach dem in den Jahren 2005 bis 2019 105 Milliarden Euro für die ostdeutschen Länder zur Verfügung stehen, nicht nur fortführen, sondern wir haben ihn seitens des Bundes um zusätzliche 51 Milliarden Euro für überproportionale Leistungen zugunsten der ostdeutschen Länder ergänzt. Hier nützt es nichts, zu klagen. Hier nützt es nur, konstruktiv mitzuarbeiten. Eine solche konstruktive Mitarbeit habe ich bei Ihnen bisher nicht feststellen können. Bei Ihren Aussagen zum Arbeitsschutz und zur Arbeitsstättenverordnung ist es auffällig, dass Sie eine Festlegung auf Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigten als Richtschnur wählen. Ich habe mich gefragt: Was steckt dahinter? Nach Ihren Vorstellungen genössen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in kleinen Betrieben eine andere, eine mindere gesundheitliche Vorsorge als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Großbetrieben. Ich weiß nicht, ob dies politisch gewollt ist, aber es ist das Ergebnis. Dies beträfe immerhin mehr als 80 Prozent aller Betriebe in Deutschland. Das Gleichheitsprinzip bliebe auf der Strecke; aus meiner Sicht ist das auch EU-rechtlich überhaupt nicht umsetzbar. Ihre Forderung, das Jugendarbeitsschutzgesetz sei anzupassen, ({10}) damit Anreize zur Einstellung geschaffen würden, ist völlig nichtssagend. Was meinen Sie damit? Hier hätten Sie eine Aussage machen müssen: weniger Gehalt? Drei Azubis teilen sich zwei reguläre Stellen? - Auch hier, meine Damen und Herren von der Opposition, sprechen die Fakten gegen Sie: Trotz geltendem Jugendarbeitsschutzgesetz, Herr Niebel, sind in den letzten zehn Jahren 10 Prozent mehr Ausbildungsstellen im gastronomischen Bereich entstanden. Unsere Ausbildungsplatzumlage wird für mehr Ausbildungsplätze sorgen. Statt Gesetze zum Schutz der jungen Menschen zum Schlechteren zu verändern, sollten Sie mit uns gemeinsam auf die einwirken, die sich in den letzten Jahren der gesellschaftlichen Aufgabe, junge Leute auszubilden, verschlossen haben. ({11}) Zu den Betriebsräten ist schon einiges gesagt worden. - Ich sehe, die Zeit läuft mir davon. Noch eine Anmerkung zum Kündigungsschutz: Dieser Begriff soll nach Ihren Vorstellungen für Ältere und Arbeitslose ein Fremdwort werden. Statt Kündigungsschutz wollen Sie das Aushandeln von Abfindungen in den Vordergrund stellen. ({12}) Wer mag da wohl am längeren Hebel sitzen und das Verfahren bestimmen: derjenige, der sich um einen Arbeitsplatz bewirbt, oder derjenige, der diesen Arbeitsplatz als Ware anbietet und auf das bestmögliche Gebot wartet? Sie propagieren die freie Marktwirtschaft. Dann wissen Sie auch genau, wie man in diesem Falle am Arbeitsmarkt mit den Menschen umgehen wird. Meine Damen und Herren, während wir die Gleichrangigkeit von Human- und Finanzkapital als Zukunftsperspektive ansehen - wir wollen, dass sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgeber auf einer Augenhöhe begegnen -, wollen Sie die Abschaffung von Arbeitnehmerrechten auf breiter Flur. Wir wollen Deutschland zukunftssicher machen; Sie wollen eine andere Republik: eine Republik, in der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zur Manövriermasse des Kapitals werden. Dies lassen wir nicht durchgehen. Wir sagen Nein zu Ihren Plänen, weil wir der Auffassung sind, dass wir auch weiterhin selbstständige, gute Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in dieser Republik benötigen. In diesem System sind als Interessenvertreter nicht Bittsteller, sondern gleichberechtigte Partner gefragt. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2670 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 g auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung von Verkehrsleistungen ({0}) - Drucksache 15/2769 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Tourismus b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. März 2003 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Türkei über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Straftaten mit erheblicher Bedeutung, insbesondere des Terrorismus und der organisierten Kriminalität - Drucksache 15/2724 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({2}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ge- setzes über Ordnungswidrigkeiten - Drucksache 15/780 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes - Drucksache 15/2252 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({3}) Innenausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Kauch, Birgit Homburger, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Haftungsregeln als eigenständiges Instrument europäischer Umweltpolitik - Drucksache 15/2011 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Daniel Bahr ({5}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Grundsätzliche Neuausrichtung der EU-Hilfsmaßnahmen für Südosteuropa - Drucksache 15/2424 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({6}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Burchardt, Jörg Tauss, Ulrike Mehl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Grietje Bettin, Volker Beck ({7}), Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Aktionsplan zur UN-Weltdekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ - Drucksache 15/2758 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({8}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird geschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 g sowie 23 j bis 23 o sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 j auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 23 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der in Rom am 17. November 1997 angenommenen Fassung des Internationalen Pflanzenschutzübereinkommens - Drucksache 15/2544 ({9}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({10}) - Drucksache 15/2754 Berichterstattung: Abgeordnete Gustav Herzog Dr. Peter Jahr Friedrich Ostendorff Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksache 15/2754, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung angenommen. Tagesordnungspunkt 23 b: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Zusatzabkommen vom 15. Oktober 2003 zu dem Abkommen vom 4. Oktober 1954 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Erbschaftsteuern - Drucksache 15/2721 ({11}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({12}) - Drucksache 15/2847 Berichterstattung: Abgeordneter Manfred Kolbe Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2847, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. Tagesordnungspunkt 23 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 13. Mai 2002 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Kanada über die Rechtshilfe in Strafsachen - Drucksache 15/2598 ({13}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({14}) - Drucksache 15/2840 Berichterstattung: Abgeordnete Erika Simm Siegfried Kauder ({15}) Jörg van Essen Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2840, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte Sie um das Handzeichen, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gibt es Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung angenommen. Tagesordnungspunkt 23 d: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzvertrag vom 13. Mai 2002 zu dem Vertrag vom 11. Juli 1977 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Kanada über die Auslieferung - Drucksache 15/2599 ({16}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({17}) - Drucksache 15/2841 Berichterstattung: Abgeordnete Erika Simm Siegfried Kauder ({18}) Jörg van Essen Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2841, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Stimmt jemand dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 23 e: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll betreffend die Verringerung von Versauerung, Eutrophierung und bodennahem Ozon ({19}) vom 30. November 1999 im Rahmen des Übereinkommens von 1979 über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung - Drucksache 15/2410 ({20}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({21}) - Drucksache 15/2846 Berichterstattung: Abgeordnete Astrid Klug Marie-Luise Dött Winfried Hermann Birgit Homburger Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 15/2846, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie zustimmen wollen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 23 f: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Beschlusses des Rates ({22}) vom 2. Oktober 2003 zur Änderung von Art. 40 Abs. 1 und 7 des Übereinkommens zur Durchführung des Schengener Übereinkommens vom 14. Juni 1985 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen - Drucksache 15/2546 ({23}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({24}) - Drucksache 15/2842 Berichterstattung: Abgeordnete Christoph Strässer Wolfgang Zeitlmann Sibylle Laurischk Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2842, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wenn Sie zustimmen wollen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 23 g: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll Nr. 13 vom 3. Mai 2002 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe - Drucksache 15/2549 ({25}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({26}) - Drucksache 15/2844 Berichterstattung: Abgeordnete Christoph Strässer Ute Granold Jörg van Essen Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2844, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 23 j: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({27}) zu der Verordnung der Bundesregierung Dreizehnte Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes ({28}) - Drucksachen 15/2596, 15/2630 Nr. 2.1, 15/2802 Berichterstattung: Abgeordnete Astrid Klug Marie-Luise Dött Winfried Hermann Birgit Homburger Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 15/2596 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 23 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29}) Sammelübersicht 103 zu Petitionen - Drucksache 15/2763 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 103 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 23 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30}) Sammelübersicht 104 zu Petitionen - Drucksache 15/2764 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Wer stimmt dafür? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 104 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 23 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31}) Sammelübersicht 105 zu Petitionen - Drucksache 15/2765 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 105 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 23 n: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32}) Sammelübersicht 106 zu Petitionen - Drucksache 15/2766 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 106 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 23 o: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33}) Sammelübersicht 107 zu Petitionen - Drucksache 15/2767 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 107 ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen. Wir kommen zum Zusatzpunkt 2 a: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({34}) zu dem Gesetz zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen - Drucksachen 15/1783, 15/2357, 15/2557, 15/2830 Berichterstattung: Abgeordnete Gudrun Schaich-Walch - Drucksachen 15/2636 Nr. 2.40, 15/2848 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Schultz ({35}) Georg Fahrenschon Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Dies gilt auch für die noch folgenden Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses zu den Zusatzpunkten 2 b und 2 c. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses, Drucksache 15/2830? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. ({36})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zusatzpunkt 2 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Anfechtung der Vaterschaft und das Umgangsrecht von Bezugspersonen des Kindes und zur Einführung von Vordrucken für die Vergütung von Berufsbetreuern - Drucksachen 15/2253, 15/2492, 15/2716, 15/2831 Berichterstattung: Abgeordneter Hans-Joachim Hacker Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 2 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({1}) zu dem Gesetz zur Umsetzung des Beschlusses ({2}) des Rates vom 28. Februar 2002 über die Errichtung von Eurojust zur Verstärkung der Bekämpfung der schweren Kriminalität ({3}) - Drucksachen 15/1719, 15/2484, 15/2717, 15/2832 Berichterstattung: Abgeordneter Hans-Joachim Hacker Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 2 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({4}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 2003/96/EG im Hinblick auf die Möglichkeit der Anwendung vorübergehender Steuerermäßigungen und Steuerbefreiungen auf Energieerzeugnisse und elektrischen Strom durch bestimmte Mitgliedstaaten KOM ({5}) 42 endg.; Ratsdok. 5850/04 - Drucksachen 15/2636 Nr. 2.40, 15/2848 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Schultz ({6}) Georg Fahrenschon Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrichtung, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 2 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({7}) Übersicht 6 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Drucksache 15/2834 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Wir kommen zu weiteren Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Zusatzpunkt 2 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8}) Sammelübersicht 108 zu Petitionen - Drucksache 15/2835 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 108 ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 2 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9}) Sammelübersicht 109 zu Petitionen - Drucksache 15/2836 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 109 ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 2 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10}) Sammelübersicht 110 zu Petitionen - Drucksache 15/2837 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 110 ist ebenfalls einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 2 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11}) Sammelübersicht 111 zu Petitionen - Drucksache 15/2838 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 111 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP angenommen. Zusatzpunkt 2 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12}) Sammelübersicht 112 zu Petitionen - Drucksache 15/2839 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 112 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik - Drucksachen 15/2553, 15/2770 ({13}) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({14}) - Drucksache 15/2843 Berichterstattung: Abgeordnete Waltraud Wolff ({15}) Peter H. Carstensen ({16}) Friedrich Ostendorff b) Bericht des Haushaltsausschusses ({17}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 15/2851 Berichterstattung: Abgeordnete Otto Fricke Ernst Bahr ({18}) Bartholomäus Kalb Franziska Eichstädt-Bohlig Es liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP vor. Ich weise darauf hin, dass zur Annahme des Gesetzentwurfs, über den wir später namentlich abstimmen werden, nach Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes die absolute Mehrheit - das sind 302 Stimmen - erforderlich ist. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Als erster Rednerin erteile ich der Kollegin Jella Teuchner von der SPD-Fraktion das Wort.

Jella Teuchner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002816, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! Seit Juni 2003 diskutieren wir die nationale Umsetzung der Agrarreform. Heute werden wir eine Diskussion abschließen, die hier im Bundestag, die zwischen dem Bund und den Ländern und mit den Landwirten meistens sehr konstruktiv geführt wurde. Ich sage „meistens“, weil es doch einige gibt, die die EU-Agrarreform nicht haben wollen und deswegen alles versuchen, um die nationale Umsetzung zum Scheitern zu bringen. Da wärmt man sich an einer Früher-war-alles-besser-Ideologie, sitzt in der Ecke und schmollt. Den Landwirten hilft man damit allerdings überhaupt nicht. ({0}) Wir alle wissen, dass es in der Förderung der Landwirtschaft zu einem Umbruch kommen wird, unabhängig davon welches Modell wir wählen. Jetzt tun die Union und vor allem der bayerische Landwirtschaftsminister aber so, als sei das Betriebsmodell der Königsweg und würde alle glücklich machen. Wir alle wissen: In dieser Frage gibt es keinen Königsweg. ({1}) Ich kann nur alle auffordern: Machen Sie endlich die Augen auf! Fangen Sie endlich an, mit uns hierüber ehrlich zu diskutieren! Sprechen Sie einmal mit den bayerischen Bauern. Sie werden feststellen, dass vielen sehr wohl bewusst ist, dass sich die Bayerische Staatsregierung in der Agrarpolitik isoliert hat. Die Bauern wissen: In dieser Position kann sich Bayern nicht mehr für die Bauern einsetzen. Wer einfach nur verhindern will, der kann auch nicht mehr gestalten. ({2}) Sie konnten die Agenda 2000 nicht verhindern. Auch die EU-Agrarreform wird kommen. Sie sollten sich doch eher die Frage stellen: Wollen wir gestalten oder wollen wir zuschauen, wie gestaltet wird? Wir wollen klar und eindeutig gestalten. ({3}) Es ist geradezu absurd, wenn - wie in Ihrem Entschließungsantrag - gleichzeitig mehr Betriebsprämien und weniger nationale Reserve gefordert werden. Die nationale Reserve dient dem Ausgleich von Härtefällen. Die Union will damit offensichtlich deutlich mehr Härtefälle; denn genau das bedeutet die Ausweitung der Betriebsprämie. ({4}) Sie will aber keine Mittel, diese auszugleichen. Dies steht so in Ihrem Antrag. Die Frage ist: Sagen Sie das auch so den Landwirten, wenn Sie mit ihnen sprechen? ({5}) Sie machen es sich sehr einfach. Sie sammeln alle populistischen Forderungen, ohne ein eigenes schlüssiges Konzept vorzulegen. ({6}) Die Landwirte haben schon längst gemerkt, wer hier ernsthaft diskutiert. Hören Sie doch einfach auf, hier nur herumzupoltern! ({7}) - Mehr als genug, und zwar auch in Freising. Hören Sie bitte auf, den Teufel Cross Compliance an die Wand zu malen. Cross Compliance bedeutet, dass Prämien dann gezahlt werden, wenn bestimmte EURichtlinien eingehalten werden. Es geht also um die Einhaltung eines bereits bestehenden, gültigen Rechts. Dabei gibt es keinen Spielraum nach oben. Dies war im Agrarrat übrigens nie umstritten. Diese anderweitigen Verpflichtungen sind für die Akzeptanz der Agrarpolitik notwendig. Wir wollen die Landwirte auch in Zukunft bei ihren vielfältigen Aufgaben für die Gesellschaft unterstützen können. Dafür ist diese Akzeptanz notwendig. Ich höre von Ihnen aber nur, dass wir nicht kontrollieren dürfen. Da werden Feldbeobachter beim Pflanzenschutz zu Ermittlern, Bauernspionen und Stasimitarbeitern. ({8}) Bei den Cross-Compliance-Regelungen sollen wir, wenn es nach der Union geht, nicht zu viel kontrollieren, damit es nicht zu Wettbewerbsverzerrungen kommt. Ich frage Sie: Rechtsbruch als Standortvorteil? ({9}) Halten Sie solche Aussagen für eine Vertrauensoffensive für die deutsche Landwirtschaft? Wollen Sie so die Akzeptanz für die Förderung der Landwirtschaft sichern? Wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie zu einem Kommunikationsrisiko für alle deutschen Bauern. ({10}) Die EU-Agrarreform ist beschlossen. Sie bietet eine gute Grundlage für die zukünftige Agrarpolitik. Sie stellt sicher, dass unsere Politik in der WTO durchsetzbar ist, von den Menschen akzeptiert wird und auch in Zukunft finanzierbar ist. Wir wissen, dass es Härten geben wird. In der Auseinandersetzung haben wir diese soweit wie möglich verhindert. Es gibt keinen Königsweg. Was aber geschafft wurde: Es ist ein Weg aufgezeigt worden, der den Landwirten die Möglichkeit gibt, in Zukunft für den Markt und nicht mehr für die Prämie zu produzieren. Das haben wir erreicht und damit haben wir viel erreicht. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Peter Bleser von der CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jeder Versuch, einem Branchenfremden die EU-Agrarpolitik und die letzte Reform zu erklären, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Ich habe auch erhebliche Zweifel, nachdem ich Sie, Frau Teuchner, gehört habe, ob es gelungen ist, zumindest den Fachpolitikern in diesem Haus diese Reform nahe zu bringen. ({0}) Ich bleibe deswegen bei meiner Bewertung vom letzten Jahr, dass diese bis 2013 angelegte Reform ein Vorstoß in eine neue Dimension staatlicher Bevormundung ist, eine Verschwendung von Steuergeldern und ein bürokratischer Exzess, der seinesgleichen sucht. ({1}) Wer geglaubt hat, dass bei der nationalen Umsetzung dieser Reform eine Steigerung dieser Vorwürfe nicht mehr möglich ist, der muss sich leider getäuscht sehen. Seit September letzten Jahres analysieren unsere Bauern, die Verbände, die Bundesländer und die Abgeordneten in diesem Haus die Auswirkungen dieser Reform auf die landwirtschaftlichen Betriebe. Niemand kann voraussagen, wie die Bewirtschaftung unserer Flächen in den nächsten Jahren aussehen wird. Werden sie brach fallen? Denn auch in Zukunft wird die Prämiengewährung ohne Lebensmittelproduktion möglich sein. Die Flächen müssen lediglich gemulcht werden. Oder wird die Handelbarkeit von Prämienrechten, das Verkaufen von Prämienrechten, dazu führen, dass die gewollten Unterstützungen nicht den weiter wirtschaftenden Betrieben, den Zukunftsbetrieben, zukommen, sondern denen, die aussteigen wollen oder die schon ausgestiegen sind? Was die Bundesregierung mit diesem Gesetzentwurf vorhat, nämlich ab 2007 die Prämien zum Beispiel der Milcherzeuger und der Bullenmäster auf die Flächen umzulegen, führt dazu, dass diese Betriebe in eine arge wirtschaftliche Existenznot getrieben werden. ({2}) Wenn Sie diesen Gesetzentwurf, den Sie heute eingebracht haben, beschließen werden - dessen bin ich mir sicher -, werden Sie die Vernichtung von Tausenden von landwirtschaftlichen Existenzen zu verantworten haben. Das ist die Konsequenz Ihres Tuns. ({3}) In den Schlachtereien, in den Molkereien, in den Landmaschinenwerken oder im Landhandel wird der Arbeitsplatzabbau massiv beschleunigt werden. ({4}) In der Anhörung am 23. März hier in Berlin hat Professor Isermeier auf meine Frage hin geantwortet, dass der Produktionsrückgang allein in der Rindermast mehr als 20 Prozent betragen werde und dass er damit rechne, dass allein in diesem Bereich mehr als 10 000 Arbeitsplätze verloren gingen. Frau Ministerin, Sie sind Ihrer grünen Ideologie so sehr verfallen, dass Ihnen das Schicksal dieser Menschen völlig gleichgültig ist. ({5}) Noch dramatischer wird die Senkung der Interventionspreise bei der Milchproduktion, die einer Abschaffung der Intervention gleichkommt, ausfallen. Schon im Vorgriff auf diese Reform befindet sich der Milchpreis im freien Fall. ({6}) Erlauben Sie mir deshalb, dass ich an dieser Stelle an die Verantwortlichen im Lebensmitteleinzelhandel appelliere: Berücksichtigen Sie bei Ihren Preisverhandlungen doch die bittere Not vieler landwirtschaftlicher Milcherzeuger! ({7}) Nach den EU-Ratsbeschlüssen sollen die Milchpreise um 7 bis 8 Cent pro Liter zurückgehen und die Landwirte sollen einen Ausgleich von 3,5 Cent dafür erhalten. Die Bauern wollen das übrigens nicht. Ich frage mich, ob diese Preissenkungen letztlich den Verbraucher erreichen. Da haben wir in der Vergangenheit leider negative Erfahrungen gemacht. ({8}) Sie wollen aber diesen Ausgleich für die Betriebe, der ohnehin nicht ausreichend ist, schon nach zwei Jahren wieder senken. Das können diese Betriebe, die in den vergangenen Jahren hohe Investitionen in moderne, tiergerechte Stallungen getätigt haben, nicht überleben. Wenn wir uns vor Augen führen, dass in der Milchproduktion und in der Rindermast 11 Milliarden Euro umgesetzt werden - das ist ein Drittel aller landwirtschaftlichen Erlöse -, dann müssen wir davon ausgehen, dass weitere Markteinbrüche zu erwarten sind. Deutschland ist schon jetzt der größte Lebensmittelimporteur der Welt. Sie, Frau Künast, können dann von sich behaupten, dass Sie alles Mögliche dazu beigetragen haben, diese fragliche Spitzenposition auch in Zukunft zu halten. Jeder Fachmann weiß: Wenn die Milchproduktion aus den Mittelgebirgsregionen weggeht, dann stirbt das Grünland. Damit wird sich auch unsere Kulturlandschaft nachhaltig verändern. Welche Auswirkungen diese Entwicklung auf die Tourismusbranche hat, brauche ich nicht zu erläutern. Ich denke, das wissen Sie alle genauso gut wie ich. Wir wollen das alles nicht. ({9}) Deswegen haben wir heute unseren Entschließungsantrag vorgelegt. Wir wollen, dass die Hilfen der EU den Milcherzeugern über die gesamte Laufzeit der Reform zukommen, dass die Rindermäster längere Übergangszeiten bekommen und dass bei der Umsetzung der so genannten Cross-Compliance-Regelungen jede Sonderbelastung von den deutschen Landwirten ferngehalten wird. Ich fasse zusammen und ziehe das Fazit: Erstens. Die von Frau Künast gelobte und mitbeschlossene EU-Agrarreform ist eine nicht honorierte Vorleistung im WTO-Prozess und in der grundsätzlichen Anlage falsch. Zweitens. Die von der Bundesregierung beabsichtigte Umsetzung der Reform führt zum Verlust von Marktanteilen und zur Vernichtung von Zehntausenden Arbeitsplätzen in der Ernährungswirtschaft. Drittens. Ich fordere den Bundeskanzler auf, angesichts von 4,5 Millionen Arbeitslosen das Vorgehen der Frau Ministerin Künast in dieser Frage zu stoppen. Viertens. Die Bundesregierung hat kein Konzept, um die deutsche Landwirtschaft in einem Europa der 27 Staaten und bei einer weiteren Globalisierung wettbewerbsfähiger zu machen. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Bleser, kommen Sie bitte zum Schluss.

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme gleich zum Ende, Herr Präsident. - Mit der Schwerpunktsetzung auf Ökobetriebe werden wir gnadenlos untergehen. Deswegen hoffen nicht nur die deutschen Bauern, sondern auch die Beschäftigten im ländlichen Raum auf die CDU/CSU-geführten Bundesländer. ({0}) Aus diesem Grunde müssen wir den Wählern dafür danken, dass wir dieses Korrektiv haben. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Höfken von Bündnis 90/Die Grünen.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn der Kollege Bleser schon auf die durchgeführte Anhörung zurückgreift, dann sollte er korrekt zitieren. Professor Isermeier zum Beispiel hat auch vorgerechnet, dass durch die Gesetzesreformen der Bundesregierung im Rindfleischbereich Preissteigerungen von 17 Prozent zu erwarten sind. ({0}) Das ist sehr leicht nachzuvollziehen, wenn es zu den entsprechenden Umstrukturierungen kommt. Sie wissen, dass der heutige Rindfleischpreis bzw. der Bullenpreis zu einem hohen Prozentsatz - und zwar zum überwiegenden Teil - durch staatliche Mittel gestützt wird. Diese Entwicklung, die durch die Marktferne hervorgebracht wurde, will aber niemand. ({1}) Von der CDU/CSU wird nun aus ideologischen Gründen auch der bislang im Konsens verlaufene Diskussionsprozess um die Agrarreformen in den politischen Teppichhandel des Vermittlungsausschusses gezogen. ({2}) Damit wird das Parlament weitgehend um seine inhaltlichen Mitwirkungsmöglichkeiten gebracht. Ein Aufgreifen der verschiedenen Vorschläge aus der Anhörung, von den Verbänden oder den Ländern vonseiten der Koalitionsfraktionen hier und heute ist damit völlig unsinnig geworden. Die CDU/CSU-Fraktion legt stattdessen als Tischvorlage einen Entschließungsantrag vor, mit dessen Beratung sie gerade fertig geworden ist. Dieser entspricht eins zu eins den Vorschlägen des Deutschen Bauernverbandes. Es ist ja in Ordnung, wenn ein Interessenverband seine Interessen vertritt. Aber die CDU/CSU entzieht sich damit wieder einmal ihrer politischen Verantwortung, indem sie Populismus betreibt und allen Wohl und keinem Wehe verspricht, und zwar wider besseres Wissen. Aber hierüber hat Peter Bleser kein einziges Wort verloren. ({3}) Diese Politik hat in der Vergangenheit der deutschen Landwirtschaft nur marktferne Überschussproduktion, miserable Erzeugerpreise, hohe Abhängigkeit von Staatsknete und überbordende Bürokratie, aber keine Zukunftsperspektive gebracht. ({4}) Ich möchte noch auf den Kern der Vorschläge eingehen, die die CDU/CSU in ihrem Entschließungsantrag macht. Diese Vorschläge würden, wenn sie umgesetzt würden, gerade in der Anfangszeit, in der Übergänge notwendig sind, zu einer stärkeren Belastung der tierhaltenden Betriebe - mit Ausnahme der Milchbauern; das ist die Folge des 65/35-Modells - zugunsten der Ackerbauern und zu einer Verschiebung der endgültigen Entkopplung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag führen. Was wäre das Ergebnis einer solchen Politik? Von den Restprämien kann niemand mehr leben. Die Schafhalter, die flächenarm wirtschaften, und die Ziegenhalter, die Kulturlandschaftspflege betreiben ({5}) - gut, dass Sie mich daran erinnern -, arbeiten schon heute mit der Mutterschafprämie am Existenzminimum. Flächenarme Betriebe müssen also nach Ihrem Modell aufgeben. Gleichzeitig werden aber die Marktorientierung und damit die Bildung realistischer Marktpreise - das gilt auch im Hinblick auf mögliche Anstiege im Rindfleischsektor - aktiv behindert. Die Mitnahmeeffekte, also das Beziehen von Prämien, obwohl die Produktion schon längst aufgegeben wurde, und die überlangen Übergangszeiten, die die CDU/CSU in ihrem Entschließungsantrag vorsieht, würden die gesellschaftliche Akzeptanz massiv gefährden - worauf Jella Teuchner schon hingewiesen hat. Mit Ihren Vorschlägen ist außerdem eine enorme Bürokratisierung verbunden. Wenn jemand die EU in Sachen Bürokratie noch toppt, dann ist es die CDU/CSUFraktion mit ihren Vorschlägen. ({6}) Es wird unrealistischerweise die Illusion genährt, dass die Reformen wieder zurückgenommen werden können. Das verhindert Planungssicherheit sowie einen Modernisierungs- und Neuausrichtungsprozess in der Landwirtschaft. Zudem wird eine massive Instrumentalisierung der Bauern betrieben - das erlebe ich immer wieder vor Ort -, indem man mit gezielten Falschinformationen über angeblich von der Bundesregierung geplante zusätzliche Auflagen, die die bisherigen Umweltprogramme gefährden würden, Widerstände schürt und die Menschen auf die Palme treibt. ({7}) - Das ist überhaupt nicht so! Es gibt keine einzige Vorlage. Das ist reine Propaganda im übelsten Sinne. ({8}) Die Grünen unterstützen die Vorschläge der Bundesregierung, die auf eine rasche und möglichst vollständige Entkopplung, auf eine Verringerung der bisherigen Benachteiligung von Regionen und Betriebsformen, auf Marktorientierung und Honorierung der gesellschaftlichen Leistungen zum Beispiel im Hinblick auf Umwelt, tiergerechte Produktion, Qualität und Lebensmittelsicherheit zielen. Uns ist natürlich klar, dass bestimmte Produktionsbereiche besonderer Lösungen bedürfen, zum Beispiel die Milchproduktion und die extensiven Erzeugungsformen, und dass ein Gleitprozess notwendig ist. Hier sind wir mit den Ländern einer Meinung. Wir fordern die Bundesländer und die CDU/CSU auf, die Agrarreform nicht länger für eine parteipolitische Auseinandersetzung zu instrumentalisieren, die Landwirtschaft in Deutschland mit notwendigen Reformen auf die Osterweiterung und die WTO-Ergebnisse vorzubereiten sowie die Marktorientierung zu unterstützen, umwelt- und tiergerechte Produktion, Grünlandbewirtschaftung und Weidewirtschaft zu stärken - das ist auch im Rahmen der Umsetzungsbeschlüsse möglich, die Ministerin Künast vorgelegt hat; ({9}) nicht nur mulchen, sondern auch abfahren -,

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Höfken, kommen Sie bitte zum Schluss.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- die zweite Säule und die Modulation voll auszuschöpfen sowie das EEG zu unterstützen; denn dieses Gesetz bietet der Landwirtschaft und den ländlichen Räumen Einkommensperspektiven, die sie unbedingt brauchen. Danke schön. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann von der FDP-Fraktion. ({0})

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Matthias, da du mich so freundlich begrüßt hast, will ich die Atmosphäre hier durchaus ein bisschen danach ausrichten. Ich freue mich darüber, dass wir über die Reform der Agrarmärkte ganz grundsätzlich sprechen; denn ich halte sie für reformbedürftig. Ich halte das, was die Bundesregierung gesetzgeberisch auf den Weg gebracht hat, von der Grundausrichtung her für richtig und notwendig. Ich begrüße es, dass ein Modell aufgegriffen wird, das die FDP schon vor Jahren entwickelt hat, nämlich das Modell der so genannten Kulturlandschaftsprämie, also ein Modell der gesellschaftlichen Leistung für Menschen, die unseren Kulturraum und unseren ländlichen Raum insgesamt erhalten. ({0}) Nur unter diesem Gesichtspunkt ist eine Bereitstellung dieser Mittel dauerhaft gerechtfertigt. ({1}) Liebe Kollegen, insbesondere du, Albert Deß, wir sollten uns wirklich besinnen und uns fragen, ob es nicht besser ist, den Streit hier nicht fortzusetzen, sondern uns darüber zu unterhalten, wie wir diesen Paradigmenwechsel ausgestalten. Lieber Peter Bleser, du bist zu dem Ergebnis gekommen, dass das nicht zu verstehen ist. Ich finde das nicht richtig. Das ist ganz einfach: Bis jetzt bekommt man Geld dafür, dass man etwas produziert, was auf dem Markt nicht unbedingt nachgefragt wird. Das ist unsinnig. Das sehen sehr viele Bauern genauso wie ich. ({2}) Zukünftig bekommt man Geld dafür, dass man etwas macht, was von der Gesellschaft insgesamt akzeptiert wird. Das führt zu mehr Markt und dazu, dass der Bauer eine größere Chance erhält, am Markt Preise zu erzielen, die ein vernünftiges Einkommen für seine Leistungen ermöglichen. Im Endeffekt bedeutet das wesentlich weniger Bürokratie und wirkt der momentan vorhandenen Fehlsteuerung entgegen. ({3}) Ich finde es deswegen schade, wenn man sagt: Das kann keiner verstehen. - Damit tun wir uns keinen Gefallen. Die Gesellschaft muss verstehen, was wir hier machen. Die Gesellschaft versteht sehr wohl, dass wir hier eine besondere Leistung für die Landwirte und den ländlichen Raum erbringen. Ich meine, wir können gemeinsam die Entwicklung in die richtige Richtung lenken. ({4}) Lieber Peter Bleser, du sagst, dass ihr das alles nicht wollt. Dazu muss ich ehrlich sagen: Das trifft mich. Unsere Fraktionen, die beide in der Opposition sind, müssen vieles gemeinsam - der entsprechende Gesetzentwurf wird sicherlich im Vermittlungsausschuss landen auf den Weg bringen. Ich bitte deswegen sehr nachdrücklich darum, die Gemeinsamkeiten herauszustellen und den Finger nicht immer wieder in - sicherlich vorhandene - Wunden zu legen. Es gibt Punkte, bei denen wir unterschiedlicher Auffassung sind. Das kommt auch in unserem Entschließungsantrag zum Ausdruck. Wir sollten aber auch einmal gemeinsam hervorheben, dass wir die Anliegen der Milchbauern und der Rindermäster sehr ernst nehmen. ({5}) Ihre und unsere Fraktion kommen doch zu dem Ergebnis, dass es hier Veränderungen geben muss. Ich meine, dass 2010 eine gute Marke ist. Diese Auffassung teilen sowohl der Bundesrat als auch sehr viele CDU-Agrarminister. Ich bin nicht der Meinung, dass es richtig ist, am Jahr 2013 festzuhalten und dann einen abrupten Bruch zu vollziehen. Ich glaube, dass der Entschließungsantrag der CDU/CSU an dieser Stelle ein Riesenproblem enthält. ({6}) Wir sind uns einig, dass wir bei den Modulationsmitteln ansetzen müssen. Niederländer haben mir einmal den schönen Satz „Bauerngeld ist Bauerngeld“ gesagt. Auch ich bin dafür, dass dieses Geld wieder bei den Bauern ankommt und nicht in den ländlichen Regionen ausgegeben wird. Es sollte genutzt werden, um Belastungen der Milchwirtschaft und derjenigen, die ihr Einkommen bis jetzt durch Tierprämien erzielt haben, zu verringern. Wir sind in der Frage des Dauergrünlandes einer Meinung. Lasst uns das doch gemeinsam auf den Weg bringen! Wir sind auch einer Meinung, dass wir im Bereich von Cross Compliance eine Änderung anstreben sollten. Wir wollen nicht, dass der Umweltminister in diesen Bereich hineinregiert. Wir wollen vielmehr, dass dieser Bereich von denjenigen ausgestaltet wird, die besondere Beziehungen zur Agrarpolitik und zur Verbraucherpolitik haben. ({7}) Deswegen ein ganz klares Ja zu diesem Konzept, im Grundsatz jedenfalls, verbunden mit dem dringlichen Anliegen, dass noch deutliche Verbesserungen erreicht werden. Liebe Frau Teuchner, Sie haben vorhin etwas angesprochen. Ich will das mit den Bauernspionen nicht übertreiben. Aber jemand, der über Jahre mit der Agrarwirtschaft politisch so umgegangen ist wie Sie, darf sich nun nicht darüber wundern, dass er mit seiner Politik bei den Bauern im Moment kein Vertrauen gewinnt. Sie haben doch die europäischen Vorgaben nicht eins zu eins umgesetzt, sondern haben immer wieder überzogen und damit im Grunde genommen die unternehmerischen Landwirte in die Ecke gedrängt. ({8}) Sie haben heute einen guten Ansatz gehabt. Ich kann Ihnen nur empfehlen: Machen Sie einen Clement! Setzen Sie sich gegenüber den Grünen durch! Behalten Sie die Arbeitsplätze in diesem Bereich im Auge! Dann können wir uns in dieser Frage auf viel Gemeinsamkeit einstellen und eine gute Lösung entwickeln. ({9}) Ich will noch etwas betonen, liebe Freunde von der CDU/CSU. ({10}) - Wir sind fachlich gern zur Zusammenarbeit bereit. Peter Harry Carstensen, die marktwirtschaftliche Linie, Ihre Husumer Beschlüsse, das - das will ich noch einmal sagen - war eine gute Linie. Wenn Sie davon jetzt abrücken und so handeln, wie es Kollege Deß immer wieder tut ({11}) - ich sage das jetzt einmal in der Agrarsprache: MacSharry 1992 war Mist, 2000 war Mist, die Halbzeitbewertung war Mist; das ist eine völlig falsche Agrarpolitik -, wenn das die Position der CDU/CSU ist, dann gibt es in dieser Frage keine Gemeinsamkeit mit der FDP. Wir wollen eine Reform, die den unternehmerischen Landwirt stärkt. Wir wollen eine Reform, die gesellschaftliche Akzeptanz erhält. ({12}) Wir wollen eine Reform, die den Agrarbereich, einen absoluten Hochleistungsbereich, einen - das muss man auch einmal betonen - wunderbaren Bereich mit riesigen Exportchancen, WTO-kompatibel macht, die die Chancen der EU-Osterweiterung für unsere Landwirte nutzt. Von daher werden wir uns heute bei der Abstimmung über den Entschließungsantrag der CDU/CSU der Stimme enthalten. Die Regierungsvorstellungen lehnen wir ab, weil wir noch dringend Verbesserungen erreichen müssen. Herzlichen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Wolff von der SPD-Fraktion.

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Beginn möchte ich Ihnen, Herr Kollege Goldmann, meine Hochachtung zollen. Sie haben eine fantastische Rede gehalten. Besser hätte auch ich mit der CDU/CSU nicht umgehen können, aber zum Schluss hat leider die Konsequenz gefehlt. ({0}) Aber dahin kommen wir vielleicht auch noch. ({1}) Zur Wiederholung: Was von der CDU/CSU noch vor zwei Jahren als Spinnerei verschrien und verlacht wurde, was als nicht umsetzbar galt, machen wir heute. Wir beschließen heute die Reform zur Gemeinsamen Agrarpolitik. Es gibt keinen notwendigeren Schritt auf dem Weg zur Sicherung des Agrarstandorts Deutschland und Europa insgesamt. Mit dieser Reform machen wir unsere Landwirte ({2}) fit für die Zukunft und wettbewerbsfähig - in Europa und auf dem globalisierten Weltmarkt. Genau wie Herr Goldmann gesagt hat, folgen wir nur der Entwicklung seit 1992. Ich habe schon bei der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfs gesagt: Ich war auf großen Bauernveranstaltungen; ich weiß nicht, wo Sie unterwegs waren. Unsere Bauern haben gesagt: Wir haben MacSharry geschafft. Wir haben die Agenda 2000 geschafft. Wir schaffen auch die EU-Agrarreform. ({3}) Die Umstrukturierung der Förderung durch die GAP war dringend notwendig; denn die Landwirtschaft - das wissen wir alle - wird auch künftig nicht ohne Zuwendungen produzieren können. Die Bauern müssen in einer liberalisierten globalen Marktwirtschaft bestehen können. Die umwelt- und tierschutzrechtlichen Anforderungen werden immer höher; das will der Verbraucher so. Nebenbei gesagt: Die bisherige Art der Fördermittelvergabe kann man der Bevölkerung auch einfach nicht mehr erklären. Das kann man nicht mehr vermitteln. Die Bauern werden sich also am Markt orientieren müssen. An der Nachfrage wird ihre Produktion ausgerichtet sein. Die Direktzahlungen der EU werden sich künftig an den Leistungen ausrichten, die die Landwirte für die Gesellschaft erbringen. ({4}) Von diesem Platz aus, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss ich endlich einmal loswerden, wie schändlich ich das Verhalten der CDU/CSU-Fraktion auch im Nachgang finde. Sie haben bis zum Abschluss der Halbzeitbewertung der Agenda 2000 gesagt: Entkopplung? Modulation? Das brauchen wir nicht, liebe Bauern, alles Quatsch, wir machen weiter wie gehabt. ({5}) Das war nicht nur vorsätzlich falsch, sondern es ist auch eine sträfliche Art von Verunsicherungstaktik, die Sie bis zum heutigen Tag fortgesetzt haben. ({6}) Verunsichert haben Sie den Berufsstand, dem Sie sich doch angeblich so verbunden fühlen. Ich finde, Ihr Chaos ist einfach nicht mehr nachzuvollziehen: Erst fordern Sie unternehmerische Freiheit und wenn sie dann kommen könnte, wollen Sie plötzlich die alte Prämienzahlung beibehalten. Wenn es dann auch noch um die Erschließung neuer Einkommenspotenziale geht, ({7}) wenn wir für die Erschließung neuer Einkommensquellen sind und für die Landwirte sorgen, machen Sie nicht mit. Waltraud Wolff ({8}) Ich muss hier öffentlich sagen, dass die Opposition die Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes gestern im Ausschuss geschlossen abgelehnt hat, obwohl gerade im Bereich der Biomasse ein Quantensprung gelungen ist ({9}) und die Bauern in der Zukunft die Möglichkeit haben, sich ein neues Standbein zu schaffen. ({10}) Wir werden diese Novelle morgen hier beraten und beschließen. Ich sage: ein guter Tag! Aber wessen Interessen vertreten Sie denn eigentlich noch? Ich glaube, seit Sie Oppositionsarbeit machen, drehen Sie sich nur noch um sich selbst und wissen nicht mehr, auf welchen Veranstaltungen Sie wie reden sollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern ist also das große Wunder geschehen: Die CDU/CSU hat ihren Entschließungsantrag angekündigt. Meine Kollegin Teuchner und auch Herr Goldmann haben dazu schon etwas gesagt, sodass ich mich inhaltlich nicht mehr dazu äußern muss. Aber Sie haben ihn wohlgemerkt für die heutige Debatte eingebracht, nicht für eine Debatte vor Wochen oder zur gestrigen Beratung im Ausschuss, nein, heute. Da kann man nur sagen: Zu spät, liebe Freunde, der Zug rollt, und zwar ohne euch. In den Bauernversammlungen sind die Parolen, die ihr ständig dort gebracht habt, endlich verstummt. Ich denke, das ist auch gut so. ({11}) Ich bin froh, dass wir einen anderen Weg gewählt haben. Wir wollen gemeinsam mit den Ländern einen Weg finden, und zwar über ein Kombinationsmodell, das zum einen aus einer Betriebsprämie und zum anderen aus einer Flächenprämie besteht. ({12}) Wenn wir uns für die Betriebsprämie entschieden hätten, dann hätten wir die Ungerechtigkeiten, die es bei der jetzigen Förderung gibt, festgeschrieben. Das wollten wir nicht. Deshalb bin ich froh, dass wir einen anderen Weg gewählt haben. Denn in zehn Jahren ist niemandem mehr zu erklären, welche historischen Umstände zur Vergabe der Prämie geführt haben. Der Fakt der ungleichen Verteilung wird trotzdem manifestiert. Das wäre auch für die wirtschaftliche Entwicklung des Betriebes ein Debakel. ({13}) Deshalb ist die wesentliche deutsche Forderung, regional einheitliche Flächenprämien zu gewährleisten, letztes Jahr von Frau Künast bei der Kommission durchgesetzt worden. Auf diese Weise können wir, im Gegensatz zur Betriebsprämie, zwischen Ackerland und Grünland unterscheiden. Es kommt real zu Umverteilungen zwischen den Höfen. ({14}) Natürlich wird es bei einer solchen Reform - auch das haben wir bereits bei der Einbringung gesagt - Gewinner und Verlierer geben. ({15}) Wir müssen natürlich schauen, wie wir das abmildern. Wir haben eine nationale Reserve eingeführt, die Sie nicht in der Höhe wollen, wie wir sie brauchen. Aber wir brauchen auch eine bäuerliche Solidarität, damit in allen Regionen landwirtschaftliche Kulturlandschaften erhalten werden können. Deshalb ist die Mehrheit der Bundesländer auf unserer Seite und spricht sich mit uns für das Kombinationsmodell aus. Dieser Weg bedeutet Flexibilität für Produktionsentscheidungen und neue Einkommensalternativen. Die neuen Forderungen, die in jüngster Zeit vor der zweiten und dritten Lesung von den Bundesländern erhoben worden sind, halte ich für nicht so günstig. Gut und gern hätten wir ausnahmsweise einmal auf ein Vermittlungsverfahren verzichten können. Wir hätten nicht nur die Positionen noch rechtzeitig angleichen können; wir hätten möglicherweise auch ein positives Signal für die Bauern im Lande aussenden können. ({16}) Zum Schluss sei mir noch eine Bemerkung gestattet. Frau Künast hat die vom Bundesrat geforderte Verschiebung des Abschmelzungsprozesses als richtig anerkannt. Sie hat auch Verständnis für die Forderungen der Länder bei den Cross-Compliance-Regelungen gezeigt. Ich wünsche mir, dass das ein gutes Omen für das Vermittlungsverfahren ist, das Sie ins Auge gefasst haben. Herzlichen Dank. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Harry Carstensen von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schon erstaunlich, dass Frau Teuchner, Herr Goldmann und auch Frau Wolff darauf aufmerksam machen, dass sie über diese Agrarreform gerne noch so lange diskutiert hätten, bis es zu einer Einigung Peter H. Carstensen ({0}) gekommen wäre. Ich muss mich daher fragen, warum Sie dann eine solche Eile an den Tag gelegt haben. Wir haben Zeit bis August, das Gesetzgebungsverfahren zum Abschluss zu bringen. Ich frage mich auch, ob es akzeptabel ist, die Antworten auf die während der Anhörung am 22. März gestellten Fragen nicht einmal abzuwarten. Es wurde nach der Anhörung eine Ausschusssitzung abgehalten und darauf folgt heute holterdiepolter die zweite und dritte Lesung. Wenn es Sie stört, dass unser Entschließungsantrag noch nicht im Ausschuss behandelt wurde, liebe Frau Kollegin Wolff, dann sollten Sie sich einmal die Geschäftsordnung ansehen. Alles andere, was wir hätten einbringen können, wäre eine Selbstbefassung gewesen, weil wir es nicht in der ersten Lesung eingebracht haben und es daher keine Überweisung an den Ausschuss gegeben hat. Es ist hier im Hause üblich, Entschließungsanträge zur zweiten und dritten Lesung einzubringen. ({1}) Das haben wir getan. Wie ernsthaft die Bundesregierung mit den Problemen in der Landwirtschaft umgeht, das konnten wir an dem Abend feststellen, an dem uns die Sozialversicherungsträger zu einem parlamentarischen Abend eingeladen hatten. Es waren drei Parlamentarische Staatssekretäre der Bundesregierung zugegen. ({2}) - Vier? Wer war der Vierte? ({3}) - Ihren Namen habe ich als ersten auf der Liste. ({4}) Ich habe Sie nicht vergessen. Sie saßen neben mir und ich weiß, wie Sie diesen Abend genossen haben, Herr Hartenbach. Anwesend waren noch Herr Thalheim und Herr Thönnes. Wer war denn der vierte Staatssekretär, Herr Hartenbach? ({5}) - Nein, Sie sind der Erste auf meiner Liste. ({6}) Sie sind nicht der Vierte. Auch wenn Sie es gerne hätten: Ich nenne Ihren Namen nicht zweimal. Das hat etwas mit Rechnen zu tun und Rechnen war Gegenstand der PISA-Studie. Deswegen sage ich noch einmal: Es waren drei Parlamentarische Staatssekretäre anwesend. Die Vertreter der Koalition haben die Forderung nach Eigenständigkeit der Sozialversicherungsträger unterstützt. Aber am nächsten Morgen, an dem die meisten Gäste kein Frühstück zu sich zu nehmen brauchten, weil sie am Abend zuvor gut versorgt gewesen sind, kam die Meldung aus dem Ministerium, dass es Kürzungen bei der Sozialversicherung in Millionenhöhe gibt. Es ist unanständig, so mit den Menschen umzugehen. ({7}) Um einige Punkte richtig zu stellen, möchte ich sagen: Wir stehen hinter der Entkoppelung, Frau Wolff, Frau Teuchner und Herr Goldmann. ({8}) Wir wissen auch, dass die Entkoppelung positive Effekte für den Markt haben wird. Wir stehen zu der Entkoppelung, weil sie zu einer Orientierung am Markt führen wird. ({9}) Wenn Sie unseren Antrag gelesen hätten, dann wüssten Sie - es steht dort eindeutig geschrieben -, dass unser Ziel eine regional einheitliche Flächenprämie ist, die bis 2013 eingeführt werden soll. Das heißt, wir sind uns in der Zielsetzung einig, aber es bestehen Unterschiede, was den Übergang angeht. Es besteht ein tiefer Dissens - der Kollege Goldmann hat ihn schon angesprochen -, was die Regelung in Art. 2 § 5 bezüglich des Einvernehmens mit dem Umweltminister angeht. Meine Damen und Herren, der Umweltminister hat auf unseren Äckern nichts zu suchen. ({10}) Die Leute wissen schon, wie sie sich im Rahmen der guten fachlichen Praxis zu verhalten haben. Sie haben ihre Äcker gepflegt. Wir wissen, dass es in diesem Bereich keine Verschärfungen auf nationaler Ebene geben darf. Aber wir wissen auch, dass es richtig ist, was der Kollege Zöllmer gestern gesagt hat. Er sprach von einem Paradigmenwechsel in der Agrarpolitik. Die jetzt anstehenden Beschlüsse sind ein Paradigmenwechsel. Da dies so ist, ist es angebracht, die einzelnen Fälle möglichst sorgfältig durchzuspielen und zu überlegen, was auf die Landwirte zukommt. Schon aufgrund der Wortwahl begreifen wir manchmal nicht mehr - ich gebe zu, dass auch ich dem zum Teil verfalle -, dass es hier um einzelne Betriebe, um einzelne Schicksale, um Familien, um Betriebsleiter und um Arbeitnehmer geht. Es wird von einer Umverteilung zwischen den Ländern gesprochen. Aber es kommt im Hinblick auf die 35 Prozent der Direktzahlungen zu keiner Umverteilung zwischen den Ländern. Dabei handelt es sich vielmehr um einen Solidarbeitrag, der von Bauern aus einigen Ländern an Bauern in anderen Ländern abgeführt wird. Dieser kommt nicht aus Landeshaushalten, er wird bei den Landwirten abgezogen. Eine Umverteilung ist sicherlich notwendig. Aber ich habe meine Probleme damit - dazu stehe ich -, in meinem Bundesland die Notwendigkeit eines Betrages von 35 Prozent der Direktzahlungen zu erklären. Ich staune, wie offen und wie schnell der Landwirtschaftsminister aus meinem Land dies zugestanden hat. Die Summe beträgt fast 5 Prozent der Prämien in Schleswig-Holstein. Peter H. Carstensen ({11}) Dass das für die landwirtschaftlichen Betriebe eine Rolle spielt, ist doch wohl selbstverständlich. ({12}) Wenn dies ein Paradigmenwechsel ist, dann erwarte ich, dass man darauf achtet, was in den Betrieben passiert. Ich erwarte, dass beobachtet wird, was um uns herum passiert. Es geht nicht nur um die Akzeptanz, sondern auch um - lieber Kollege Goldmann, ich wundere mich, dass du das vergessen hast - die Wettbewerbsfähigkeit unserer Landwirte. ({13}) Es reicht nicht aus, Akzeptanz für ein bestimmtes System zu haben. Wenn unsere Landwirte nicht mehr wettbewerbsfähig sind, dann brauchen wir auch keine Akzeptanz mehr; denn dann sind sie nämlich gar nicht mehr da. ({14}) Deswegen streiten wir über den Weg. Dies hat mit Umverteilung zu tun. Hier geht es um Wettbewerbsfähigkeit, um Marktanteile, um den ländlichen Raum und natürlich auch um das Landschaftsbild. Deswegen ist Sorgfalt angebracht. Ich gebe gerne zu, dass ich persönlich mich gewandelt habe, dass ich meine Meinung geändert habe und dass ich die strikte Linie, die wir in Husum festgelegt haben - allerdings ohne Einzelheiten zum Beispiel über den Milchbereich zu wissen -, nicht mehr einhalten kann, da ich weiß, dass wir bei dieser strikten Linie insbesondere im Rindfleischbereich zu Strukturbrüchen kommen würden, die enorm sind. Liebe Uli Höfken, ich staune ein bisschen. ({15}) - Gemach, das erzähle ich dir gleich. - Du hast unsere Verbindungen zum Bauernverband angesprochen. Wir fragen uns manchmal, von wem wir gute Informationen bekommen können. Es ist richtig, wenn Abgeordnete die Verbände mit einschalten. Man kann da aber nicht zwischen dem „bösen“ Bauernverband und den „guten“ Gewerkschaften und dem „guten“ NABU unterscheiden. ({16}) Es gibt auch andere, die sich dort Informationen besorgen. Wenn du in diesem Zusammenhang vom Bauernverband sprichst, dann solltest du den Leuten auch einmal sagen, dass es bei dir offensichtlich so manche Verbindung zu Verbänden gibt, die mit Ziegen und Schafen zu tun haben, liebe Kollegin Höfken. Man sollte zumindest in diesem Zusammenhang nicht in dieser Art für die eigenen Leute reden und eigene Betroffenheit nicht mitteilen. ({17}) Es geht doch darum, wie wir mit den Betrieben umgehen. Da stellt sich die Frage: Wie können wir es schaffen, dass man in die Strukturveränderung quasi hineingleitet ({18}) und dass nicht gleich am Anfang die größten Brüche auftreten? Wir wissen, dass wir die Betriebsprämie abschmelzen müssen, ({19}) um zu diesem Ziel zu kommen. ({20}) - Doch, dort steht etwas dazu. Wir haben gesagt: möglichst spät. Bei euch steht: 2010. Das ist möglichst spät. Lies doch einmal die beiden Entschließungsanträge und dann wirst du kaum Unterschiede sehen. Du möchtest doch nur gerne Unterschiede hineininterpretieren. Stell eine Zwischenfrage, dann habe ich noch etwas mehr Zeit zu reden! Meine Damen und Herren, bei der Betrachtung des Milchbereiches bestehen Unterschiede. Bei den Bullen und beim Rindfleisch sieht das anders aus als bei der Milch; denn durch die Milchbeschlüsse ist von vornherein eine Preissenkung eingebaut. Lasst euch doch von einigen Betriebswirten erzählen, wie es letztendlich in diesen Betrieben aussieht. Uli Höfken hat von Planungssicherheit gesprochen. Diejenigen, die 1999 an diesem Pult gesagt haben: „Jetzt haben die Bauern Planungssicherheit, weil wir eine Agenda bis zum Jahr 2007 festgeschrieben haben“ und der Landwirtschaft im Jahr 2003 eine neue Agrarreform, die zu schnellen Veränderungen führte, überstülpten, können nicht den Anspruch erheben, Planungssicherheit für die Landwirte zu gewährleisten. ({21}) Die Halbwertszeit politischer Beschlüsse ist immer kürzer geworden. Ich glaube, es hätte uns gut angestanden, über den Weg zu unserem gemeinsamen Ziel, über den Zeitrahmen, den wir zur Erlangung dieses Ziels brauchen, und die Veränderungen in der Landwirtschaft und für die einzelnen Bauern noch ein wenig länger zu diskutieren. Wenn wir das getan hätten, dann wäre die Frontstellung, die ihr aufgebaut habt, vermeidbar gewesen. ({22}) Ich bedanke mich. ({23})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Bundesministerin Renate Künast.

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Agrarreform, über die wir jetzt in zweiter und dritter Lesung debattieren, ist ein wichtiger Schritt für die Landwirtschaft. Wir zeigen den Bäuerinnen und Bauern damit, wie der Weg in die Zukunft aussehen kann. Ich freue mich, dass die Agrarministerkonferenz in Osnabrück in der letzten Woche die gemeinsame Position von Bund und der großen Mehrheit der Länder, also der Aund B-Länder, bekräftigt hat. Die deutliche Mehrheit für das Flächenmodell, das wir vorschlagen und über das wir hier diskutieren, freut mich besonders, weil es in der letzten Woche eine kleine Irritation gegeben hat. Es wurde die Position einiger aus dem Bauernverband laut, die ein anderes Modell bevorzugt hätten. Ich habe mich gefreut, dass die CDU/CSU bei diesem Modell anerkennt, dass es einen Paradigmenwechsel gibt. Vor ungefähr drei Jahren, als wir die Diskussion angestoßen und nach einem neuen Modell gesucht haben, hat die CDU noch Nein gesagt. Ich habe von Ihnen Sätze wie „Frau Künast, Sie werden das sowieso nicht durchsetzen, da sind unsere französischen Freunde vor“ gehört. Irgendwann in einer Sommernacht im letzten Jahr haben Sie gemerkt, dass man mit den Franzosen gemeinsam eine Agrarreform machen kann. Jetzt freue ich mich, dass Herr Carstensen halbwegs zu uns gefunden hat. ({0}) Sie, Herr Carstensen, haben gesagt: Wir müssen sorgfältig darüber diskutieren. Herr Carstensen, wir diskutieren darüber schon seit Januar 2001 und wir können nicht jedes Mal darauf warten, dass Sie mit vierjähriger Verspätung merken, dass sich Reformen im Umsetzungsprozess befinden. Wir haben einen ganz anderen Ansatzpunkt; deshalb kommen wir zu dem Flächenmodell. Aus dem gleichen Grund ist wahrscheinlich auch die FDP zu diesem Modell gekommen. Es ermöglicht mehr Wettbewerb und mehr Markt und, Herr Carstensen, es bedeutet ein wenig mehr Solidarität unter den Landwirten. Ich sage ganz klar: In der Vergangenheit bekamen diejenigen, die die besten Böden besaßen, das meiste Geld. ({1}) Nun ging es dabei aber nicht um Ihr Geld, sondern um Steuergelder. Natürlich geben wir auch das gern für die Landwirtschaft, aber wir müssen in Zeiten knapper Kassen und im Zuge von Neuausrichtungen die Verteilung von Steuermitteln verändern. Es geht also um Solidarität beim Verteilen von Steuergeldern und nicht um etwas, auf das man einen Rechtsanspruch hat. ({2}) Herr Carstensen und andere haben von Bürokratieabbau geredet. Ihr Modell aber, das Sie in Ihrem Entschließungsantrag vorstellen, würde einen nachgerade gigantischen Bürokratieaufwand nach sich ziehen. Deshalb findet dieses Modell, genau wie das einiger Vertreter des Bauernverbandes, nicht die Unterstützung der A-Länder und auch nicht der B-Länder. Als ich letzte Woche in Osnabrück ankam, habe ich gefragt: Gibt es ein neues Papier, denn darüber würde ich gern diskutieren? Daraufhin bekam ich die Antwort: Vergessen Sie es. Das haben wir bereits gestern Abend diskutiert und es lohnt sich nicht. - Es hieß: Die Zahlen sind falsch, denn - das ist auch in Ihrem Antrag enthalten - die nationale Reserve, die eigentlich verringert werden soll, wird faktisch erhöht. Insgesamt ist das Modell weder durchdacht noch besonders überzeugend. Sie schaffen im Ergebnis immer mehr Härtefälle, die Sie mit der nationalen Reserve am Ende finanziell ausgleichen müssten. Insofern können Sie sie gar nicht senken. Jetzt geht es darum, zukunftstauglich zu organisieren. Zu Cross Compliance sage ich Ihnen: Sie malen zwar den Teufel an die Wand, Tatsache ist jedoch, dass es sich um ein Instrument zur wirksamen Kontrolle von Mindeststandards handelt. Ich möchte an dieser Stelle eines klarstellen: Die Landwirte haben überhaupt nichts zu befürchten. ({3}) Ich gehe nämlich davon aus - vielleicht habe ich mehr Vertrauen in die Landwirtschaft als Sie -, dass die Landwirte ordnungsgemäß wirtschaften. ({4}) Wer ordnungsgemäß wirtschaftet, hat eben nichts zu befürchten. Ich frage mich, woher Ihr Misstrauen eigentlich kommt. ({5}) Wir beschließen Umweltstandards, die nachvollziehbar sind. Diese sind auch gesellschaftlich richtig, denn wenn man Steuergelder ausgibt, darf man auch einige Forderungen stellen. ({6}) Wir wollen Regeln, die die Landwirte nicht über Gebühr belasten und die die jetzigen Förderprogramme der Bundesländer für besondere Gebiete möglichst wenig tangieren. Wir sind an dieser Stelle - dies spiegelt sich auch in der Beschlusslage der Agrarministerkonferenz von OsBundesministerin Renate Künast nabrück - auf einem sehr konstruktiven Weg. Wir werden auch bei den Cross-Compliance-Regelungen, also bei den Standards für Umwelt und Tierschutz, einen gemeinsamen, für Bund und Länder gleichermaßen gangbaren Weg finden. Auch die Erhaltung von Grünland ({7}) - zur Milch komme ich noch - war ein Thema. Ich habe in dieser Angelegenheit mit dem zuständigen Kommissar gesprochen und ihm klar gemacht, dass wir eine gut umsetzbare Regelung brauchen. Wir haben uns jetzt auf eine vernünftige Lösung geeinigt, die nicht Individualzuweisungen vorsieht, sondern diese Aufgabe den Bundesländern zuweist. Dadurch sind zum Beispiel auch die Grünlandprogramme geschützt. ({8}) Außerdem befinden wir uns im Einklang mit der EU-Regelung. Was wollen Sie mehr? ({9}) Auf der AMK haben wir auch über die Probleme bei Milch gesprochen. Wir wissen alle um die sehr schwierige Situation. Wir appellieren nicht nur an die Verbraucherinnen und Verbraucher, sondern auch an die Wirtschaft, sich für faire Preise einzusetzen. Wir nehmen zur Kenntnis, dass auch der Bauernverband über eine Preisreduzierung redet. Eines wissen wir: Überproduktionen sind auch ein Werkzeug des Preisdrucks, ({10}) allerdings von den Landwirten und denen, die überproduzieren, selbst gemacht. Der Bauernverband hat eine Reduzierung der Milchproduktion um 70 000 Tonnen zur Diskussion gestellt. Alle Fachleute sagen mir: Diese 70 000 Tonnen sind angesichts einer Überproduktion in einer Größenordnung von ungefähr 1 Million Tonnen ein Nichts. Wir haben ein Optionenpapier vorgelegt und gefragt: Was können wir tun? Darüber will ich reden: mit Ihnen, mit den Ländern, mit den Verbänden. Von all denen möchte ich wissen, was sie wollen, dass ich es tue. Es geht darum, bis zu 1 Million Tonnen nicht mehr in die Saldierung zu nehmen - was bedeuten würde, dass 380 Millionen Euro von Landwirten gezahlt werden müssen, die wettbewerbsfähige, zukunftsfähige Betriebe haben, um die nächsten Jahre zu überstehen. Wir müssen darüber diskutieren, ob wir das wollen oder nicht. Ansonsten müssen die Landwirte ihre Produktion selber reduzieren. Hinsichtlich der Werkzeuge muss man die Wahrheit aussprechen. ({11}) Herr Goldmann hat vorhin schön gesagt: Das alte System hat die Landwirte dazu animiert, zu fragen, wofür es Geld gibt, egal wonach der Markt fragt. Das neue System orientiert sich am Markt und daran, gesellschaftliche Leistungen zu honorieren. Das ist die richtige Richtung. Ich hoffe, eines ist klar - zuletzt hat es Frau Wolff gesagt -: Wir werden im Bundesrat zufrieden stellende Regelungen zur Milchproduktion finden müssen, denn bis jetzt ist das noch nicht gelungen. Wir werden auch noch über die eine oder andere Jahreszahl reden. Das sage ich zu. Sie können mir alle glauben. Sie wissen, wie oft ich Ihnen schon etwas zugesagt habe, das kommen wird, so zum Beispiel diese Reform. Sie haben nicht daran geglaubt, ich aber habe Wort gehalten. Ich werde auch mein Wort halten, hier noch über die Zahlen und das Thema Milch zu reden und eine akzeptable Regelung zu finden. Insgesamt wird diese Reform unseren Landwirten helfen. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Gerda Hasselfeldt von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Ministerin, wenn Sie ernsthaft Wort halten wollten, hätten Sie das gerade in den Beratungen der letzten Wochen zum Thema Milch unter Beweis stellen können. Sie sind aber nicht auf die Vorschläge der Bundesratsmehrheit eingegangen. ({0}) Auch haben Sie, gerade in Bezug auf die Milch, schlecht verhandelt. Das für uns schwierige Ergebnis in diesem Bereich haben wir Ihnen und Ihrer schlechten Verhandlung zu verdanken. ({1}) Meine Damen und Herren, für die Bewertung dieser Reform, die eine der einschneidendsten Reformen in der Geschichte der Gemeinsamen Agrarpolitik ist, sind meines Erachtens die Antworten auf folgende zentrale Fragen ausschlaggebend: Erstens. Ist diese Reform geeignet, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirte zu verbessern? ({2}) Zweitens. Ist sie geeignet, die landwirtschaftliche Produktion und die Produktion der ihr nachgelagerten Bereiche - und damit die Arbeitsplätze - in Deutschland zu halten? ({3}) Drittens. Ist die Reform geeignet, die leistungsfähigen und leistungsstarken Betriebe, also gerade die, die in der Vergangenheit viel investiert haben, zu stärken? ({4}) Auf diese drei zentralen Fragen würden Sie gerne mit Ja antworten. Aber wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie sagen: Genau diese Anforderungen erfüllt diese Reform nicht. ({5}) Wenn Sie den Landwirten ehrlich sagen, was ihnen diese Reform bringen wird, dann werden Sie sehr schnell zu folgenden Ergebnissen kommen: Diese Reform führt wieder zu Preissenkungen, zu Prämienkürzungen, zu neuen Bewirtschaftungsauflagen mit zusätzlicher Bürokratie und - damit verbunden - einer schlechteren Wettbewerbssituation innerhalb der Europäischen Union ({6}) sowie zu einer massiven und schnellen Umverteilung innerhalb der Landwirtschaft zulasten der leistungsstarken und intensiv wirtschaftenden Betriebe. ({7}) Gelegentlich sagen Sie dann, dass diese Entscheidung auf EU-Ebene getroffen worden sei und dass wir damit nichts zu tun hätten. ({8}) Diese Entscheidung ist aber von der zuständigen deutschen Ministerin mitverhandelt und mitgetragen worden. Daher wäre es schön, wenn wir wenigstens in einigen Bereichen eine deutsche Handschrift erkennen könnten. Das wäre beispielsweise im Bereich der Milchwirtschaft notwendig. Wir verfügen in Deutschland über etwa 25 Prozent der gesamten Milchproduktion innerhalb der EU. ({9}) Unsere Milchbauern erleiden aufgrund dieser Reform Einkommenseinbußen von fast 1 Milliarde Euro. ({10}) Meine Damen und Herren, das müssen wir uns vergegenwärtigen; denn genau das ist das Ergebnis der Verhandlungen innerhalb der Europäischen Union, das jetzt umgesetzt wird. ({11}) Deshalb müssen wir die Situation der Milchbauern verbessern. Das, was im Rahmen der nationalen Umsetzung noch korrigiert werden kann, muss korrigiert werden. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Hasselfeldt, einen Augenblick bitte. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz der gleich stattfindenden namentlichen Abstimmung bitte ich um etwas mehr Ruhe und Gehör für die Rednerin. - Bitte schön, fahren Sie fort.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke. - Es gibt ja durchaus Spielraum auf nationaler Ebene. Das heißt, wir sind nicht gehalten, das Verhandlungsergebnis genau umzusetzen. Andere Länder, beispielsweise Frankreich und Österreich, nutzen diesen Spielraum zugunsten ihrer leistungsstarken Betriebe aus. Bei uns hingegen wird diese Reform unter der großen Überschrift „Agrarwende“ umgesetzt, obwohl sich dahinter nichts anderes verbirgt als eine massive und schnelle Umverteilung zulasten der leistungsstarken Betriebe. ({0}) Damit wir uns hier nichts vormachen, sage ich Ihnen: Das hat nicht nur Auswirkungen für die Landwirte, sondern das hat auch für die nachgelagerten Bereiche massive Auswirkungen, ({1}) beispielsweise - um nur ein Stichwort zu nennen - im Bullenmastbereich. In dem Moment, in dem die Landwirte verstärkt aus dieser Produktion aussteigen, was sie aufgrund dieser Reform tun werden, werden sich Auswirkungen auf die regionalen Schlachthöfe und die gesamte Verarbeitungsindustrie ergeben, die eine Fülle von Arbeitsplätzen in Gefahr bringen werden, ganz zu schweigen davon, dass die Kälber verkauft werden müssen.Wenn sie nicht mehr in Deutschland produziert werden, dann werden sie eben von anderen Ländern verkauft - dort, wo die Maßnahme anders umgesetzt wird. Das ist für uns ein Wettbewerbsnachteil. ({2}) Neben dieser Prämienregelung ist bei dieser Umsetzung das Stichwort Cross Compliance ganz wichtig. Meine Damen und Herren, wer soll denn glauben, was die Ministerin gesagt hat - dass die Landwirte nichts zu befürchten haben -, wenn er sich bloß einmal anzuschauen braucht, was diese Regierung in der Vergangenheit bereits bei der Umsetzung europäischen Rechts in nationales Recht gemacht hat: Bei jeder möglichen Gelegenheit wurden die deutschen Landwirte stärker zur Kasse gebeten, wurden die Auflagen verstärkt. ({3}) - Beispielsweise bei der Düngeverordnung; es gibt aber auch jede Menge anderer Beispiele! Mit den vorgesehenen Regelungen für Cross Compliance ist im Übrigen eine zusätzliche Gefahr verbunden, nämlich dass die guten Länderprogramme im AgrarGerda Hasselfeldt umweltbereich nicht mehr aufgelegt werden können. Dies werden wir genauso wenig mitmachen wie das Vorhaben, dass das Bundesumweltministerium die Einvernehmensbehörde für die Durchführungsvorschriften im landwirtschaftlichen Bereich sein soll. ({4}) Vor diesem Hintergrund haben wir unsere Vorstellungen entwickelt. Ich will nur die wesentlichen nennen: Erstens. Cross Compliance darf nur eins zu eins umgesetzt werden. Die deutsche Landwirtschaft kann keine zusätzlichen Wettbewerbsnachteile verkraften. ({5}) Zweitens. Die laufenden Agrarumweltprogramme der Bundesländer müssen auch weiterhin möglich sein, denn damit werden zusätzliche Umweltmaßnahmen der Landwirte in den Regionen, die das schätzen, ermöglicht. ({6}) Drittens. Eine Einvernehmensregelung zugunsten des Bundesumweltministers werden wir auf keinen Fall akzeptieren. ({7}) Viertens. Die Milchprämie muss bis zum Ende der Laufzeit betriebsbezogen gewährt werden, denn gerade die Milchbauern haben nicht nur durch die aktuelle Preissituation, sondern auch durch die EU-Beschlüsse ganz gravierende Einbußen. ({8}) Bei allen Forderungen, die ich jetzt genannt habe, befinden wir uns in guter Gesellschaft mit den unionsgeführten Bundesländern. ({9}) Alle Vorschläge - zu Cross Compliance genauso wie zur Milchwirtschaft - sind durch Bundesratsbeschlüsse in den einzelnen Ausschüssen gedeckt. Wir haben noch das Problem zu lösen, wie das übrige Prämienvolumen verteilt wird. Auch dafür gibt es einen konkreten Vorschlag: Ein fester Anteil von 35 Prozent wird flächenbezogen gewährt, die anderen 65 Prozent betriebsbezogen, und zwar für einen möglichst langen Zeitraum, um auch denen entgegenzukommen, die im Vertrauen auf die Politik gerade in den letzten Jahren Investitionen vorgenommen haben. Dies sorgt für Glaubwürdigkeit und dient der Planungssicherheit der Landwirte und Betriebsinhaber. ({10}) Nach diesem Vorschlag wird die Umverteilung bei weitem nicht so schnell und bei weitem nicht so krass vorgenommen, werden die leistungsstarken Betriebe gestärkt, vor allem diejenigen, die in den vergangenen Jahren investiert haben. Im Grundgedanken, die leistungsstarken Betriebe zu stärken und die Umverteilung so gering wie möglich zu gestalten, befinden wir uns wiederum in guter Gesellschaft mit den unionsregierten Ländern. Meine Damen und Herren, Kant hat einmal gesagt: Aus einem krummen Holz kann man keinen geraden Stab schnitzen. - Entsprechend ist unser Vorschlag ein Versuch, aus dem verkorksten, schlecht verhandelten Ergebnis des EU-Beschlusses doch noch ein gutes, tragfähiges Ergebnis für die deutschen Bauern und die deutsche Bevölkerung insgesamt zu erreichen. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Michael Müller von der SPD-Fraktion. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte noch einmal um ein wenig Ruhe, damit der letzte Redner in dieser Debatte noch Gehör finden kann. Bitte schön, Herr Müller.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wurde mehrfach gesagt, dass es richtig sei, einen Paradigmenwechsel in der Agrarpolitik einzuleiten. Wenn man Ihnen von der Union zuhört - Herr Goldmann, Ihre Rede empfand ich bis auf den Schluss als sehr wohltuend -, dann kann ich nur sagen: Seit 20 Jahren reden Sie über Reformen; wenn es darauf ankommt, knicken Sie ein. Nichts anderes ist hier von Ihnen rübergekommen. ({0}) Ihr Kernsatz lautet: Eigentlich wollen wir, dass alles so bleibt. Angesichts der Probleme in der Landwirtschaft ist dieser Satz unverantwortlich; denn Sie wissen, dass dies nicht geht. Sie sind Repräsentanten der deutschen Krankheit, über Reformen zu reden, aber keine zu wollen. Das geht nicht, meine Damen und Herren. ({1}) Man muss eines hinzufügen: Die Mehrheit dieser Reformen wurde noch zu Ihrer Regierungszeit geplant. Schauen Sie sich einmal an, was Frau Künast seitdem verbessert hat. Natürlich nutzen wir den nationalen Spielraum aus - das tun wir wie alle anderen -; aber wir tun dies erstens in Übereinstimmung mit den nationalen Bedingungen und zweitens so, dass sich in Europa etwas bewegen kann. Was nützt es, wenn wir etwas fordern, sich aber in Europa nichts bewegt? Genau diese Verbindung hat Renate Künast aus meiner Sicht gut hinbekommen; dafür danken wir ihr. ({2}) Meine Damen und Herren, die GAP-Reformen sind keine Willkür, sondern notwendige Voraussetzung, weil wir mehr Markt, mehr Effizienz und mehr gesellschaftliche Verpflichtungen brauchen. Sie sind Voraussetzung für eine nachhaltigere Landbewirtschaftung und eine stärkere Orientierung der Landwirtschaft am Markt, um die subventionierte Überschussproduktion zu verringern und eine bessere Ausrichtung auf die Wünsche der Michael Müller ({3}) Verbraucher sowie mehr Lebensmittelsicherheit zu erreichen. Ich verstehe auch nicht, wenn ein Widerspruch zwischen Umweltschutz und Landwirtschaft konstruiert wird. Die Zukunft unserer Landwirtschaft - dies war auch in der Vergangenheit oft schon so - liegt doch gerade in der Qualität. Glaubt jemand im Ernst, diese Qualität ließe sich bei einem Widerspruch zwischen Umweltschutz und Landwirtschaft erreichen? Das wäre ein völlig falscher Weg. Die Landwirte müssen gute Vertreter des Umweltschutzes sein; sie sind es überwiegend auch. Deshalb empfinde ich es als schlicht falsch, wenn man von einem solchen Gegensatz redet. ({4}) Wichtig ist schließlich auch, dass wir mit diesem Ansatz den ländlichen Raum stärken. Deshalb ist es gut, dass wir die beiden Säulen der GAP in den Mittelpunkt stellen und nicht nur über ein Regulierungssystem reden. Wir erweitern die Landwirtschaftspolitik. Genau dies ist künftig die Chance auf mehr Qualität. ({5}) Meine Damen und Herren, eine Reform der alten Agrarpolitik ist längst überfällig. Sie ist durch ihre undurchschaubaren, komplizierten Geflechte aus Quoten, Interventionspreisen und Regulierungen schon lange nicht mehr haltbar. Es ist gut, dass wir mit diesen Ungleichgewichten endlich Schluss machen. Herr Goldmann hat Recht: Man kann über so etwas nicht immer nur reden, sondern man muss auch einmal springen. Natürlich sind wir bereit, über Einzelheiten zu reden. Aber wenn wir den Eindruck haben, dass nur auf Konfrontation gesetzt und versucht wird, alles zu verhindern, dann ist es auch schwierig, konstruktiv über Verbesserungen zu reden. ({6}) Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Wir sind bereit, über Verbesserungen zu reden, weil wir wissen, dass es in einzelnen Punkten durchaus noch Verbesserungen geben kann. Aber das geht nur, wenn man an die Grundfrage der Reformen konstruktiv herangeht und nicht versucht, alles zu blockieren, zu erschweren und zu verhindern. Meine Damen und Herren, wenn Sie an diesem Kurs festhalten, müssen Sie auch sehen, welche unverantwortliche Position Sie vertreten. Wir stehen vor der nächsten WTO-Runde, wir stehen vor der EU-Osterweiterung. Es ist eine Illusion, zu glauben, man könne diese Herausforderungen ohne Reformen bestehen. Deshalb muss heute gehandelt werden. Genau dies tun wir. Wir haben nun lange genug über das Thema geredet. Nun machen wir den richtigen Schritt. Wir danken Renate Künast. Wir danken übrigens auch einem großen Teil der Bauernverbände. Diese haben sich in der Diskussion von der anfänglich totalen Ablehnung konstruktiv auf die Reform zu bewegt. Sie sind Ihnen von der Union voraus; die Wahrheit ist, dass Sie in der Zwischenzeit sogar hinter die Positionen des Bauernverbandes zurückgefallen sind, von Ihren Ländern, die überwiegend die GAP unterstützen, gar nicht zu reden. ({7}) Meine Damen und Herren, das Kombimodell der Bundesregierung ist unserer Meinung nach der richtige Ansatz. Wir sind bereit, über Einzelheiten zu sprechen, sind aber nicht bereit, einen Konfrontationskurs mitzumachen. Nein, wir können jetzt den notwendigen Schritt in Richtung auf eine moderne Landwirtschaftspolitik machen und so den ländlichen Raum stärken. Das ist der Weg, den wir gehen werden. Darin lassen wir uns nicht beirren. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich Ihnen bekannt, dass es eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung der Kolleginnen Dr. Gesine Lötzsch und Petra Pau gibt. Wir nehmen diese Erklärung zu Protokoll.1) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umset- zung der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik, Druck- sachen 15/2553 und 15/2770. Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksache 15/2843, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Ent- haltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Be- ratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Frak- tion angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Nach Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes ist zur Annahme des Gesetzentwurfs die absolute Mehrheit - das sind 302 Stimmen - erforder- lich. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Haben die Schriftführerinnen und Schriftführer ihre Plätze eingenommen? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? - Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schrift- führer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2) 1) Anlage 2 2) siehe Seite 9219 C Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz zu nehmen, da wir nun mit den Abstimmungen fortfahren und ich nur so Ihr Abstimmungsverhalten überblicken kann. Ich komme zu den Entschließungsanträgen. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/2856? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der FDP. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/2857? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der FDP-Fraktion bei Enthaltung der CDU/ CSU. Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: Vereinbarte Debatte zu den Ergebnissen des Frühjahrsgipfels der Europäischen Union am 25./26. März 2004 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Staatsminister Hans Martin Bury das Wort.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Gipfel in Brüssel war in zweifacher Weise durch die Ereignisse in Madrid geprägt: Die furchtbaren Terroranschläge haben dazu beigetragen, dass Europa enger zusammenrückt, und die neue spanische Regierungspartei hatte bereits vor dem Gipfel deutlich gemacht, dass sie ihr Land zurück ins Zentrum Europas führen möchte. Es bietet sich nun die Chance einer Einigung über die zukünftige europäische Verfassung. Wir sollten diese Chance ergreifen. ({0}) Was hat uns die Opposition in diesem Haus in den vergangenen Jahren nicht alles vorgeworfen: die Spaltung der EU, die Zerstörung der NATO. Nichts davon war richtig. Die Realität zeigt: Gerade Deutschland hat zur Einigung Europas entscheidend beigetragen. Die Einladung von Bundeskanzler Gerhard Schröder zum 60. Jahrestag der Landung der alliierten Streitkräfte in der Normandie ebenso wie die Einladung zum 60. Jahrestag des Warschauer Aufstandes zeigen, welches Vertrauen hier gewachsen ist. Auch die transatlantische Partnerschaft ist stabil. Gerade die internationale Afghanistan-Konferenz, die gestern und heute hier in Berlin stattfindet, zeigt, welche Fortschritte wir gemeinsam erzielen können. Sie zeigt aber auch, vor welchen Herausforderungen wir stehen. Der Europäische Rat hat beschlossen, Art. 42 des Verfassungsentwurfs bereits heute anzuwenden, wenn einer der Mitgliedstaaten Opfer eines Terroranschlages wird. Durch diese Solidaritätsklausel wird sichergestellt, dass in einem solchen Fall alle Mitgliedstaaten die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel mobilisieren und den betreffenden Staat unterstützen. Diese Klausel war in der Diskussion des Verfassungsentwurfs in der Regierungskonferenz noch umstritten. Nun zeigt die EU die erforderliche Solidarität und Entschlossenheit. ({1}) Ein Antiterrorismuskoordinator der EU wird dazu beitragen, Informationen besser und schneller zusammenzuführen und die Arbeit der Sicherheitsbehörden enger zu koordinieren. Wir müssen und werden die Zusammenarbeit insbesondere in drei Bereichen verbessern: Bei der polizeilichen Zusammenarbeit werden die Mitgliedstaaten die vorhandenen Informationen über Straftäter besser vernetzen und miteinander austauschen. Die justizielle Zusammenarbeit muss insbesondere durch die schnelle Einführung des europäischen Haftbefehls verbessert werden. In Europa wird nicht verstanden, warum dieses wichtige Projekt im Bundesrat blockiert werden soll. ({2}) Die Arbeit der Nachrichtendienste wird durch eine neue Schnittstelle im Ratssekretariat verknüpft. Damit soll sichergestellt werden, dass Terrorismusinformationen von nationalen Polizei- und Nachrichtendiensten an einer Stelle zusammenlaufen, miteinander abgeglichen und effektiver als heute genutzt werden. Auch wenn die aktuellen Ereignisse den eigentlichen Schwerpunkt des Frühjahrsgipfels ein wenig in den Hintergrund gedrängt haben, ist es doch gelungen, den Fokus der Lissabon-Strategie noch stärker auf mehr Wachstum und mehr Beschäftigung zu richten. Zu diesem Zweck sollen vor allem die strukturellen Voraussetzungen verbessert werden. Das erfordert eine Konzentration auf Innovation, Bildung, Forschung, Entwicklung und neue Technologien. Dabei richtet sich die Lissabon-Strategie nicht nur an die Institutionen der EU. Konkrete Reformen müssen vor allem in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Wir modernisieren den Arbeitsmarkt, stellen die sozialen Sicherungssysteme auf eine tragfähige Grundlage, haben Steuern gesenkt und stabilisieren die Lohnnebenkosten. Die Agenda 2010 stellt sich den Herausforderungen der Gegenwart und eröffnet so Spielräume für die Zukunft. Neue Technologien und Verfahren, Dienstleistungen und Investitionen in Forschung und Entwicklung sind Elemente einer mehr und mehr wissensbasierten Wirtschaft. Das Fundament jedoch ist noch immer eine starke industrielle Basis. Deshalb treten wir Gefahren der Deindustrialisierung entschlossen entgegen. ({3}) Wir wollen, dass eine aktive, wachstumsfördernde Industriepolitik wieder in den Mittelpunkt des Handelns der EU rückt; denn die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Europas und insbesondere die seiner industriellen Kernländer Deutschland, Frankreich und Großbritannien ist entscheidend dafür, dass wir auch zukünftig Wohlstand und das hohe soziale Niveau in Europa sichern können. ({4}) Es war uns deshalb wichtig, dass die Kommission die Auswirkungen europäischer Gesetzgebung auf die Wettbewerbsfähigkeit und den Verwaltungsaufwand für Unternehmen in Zukunft bereits im Vorfeld neuer Regelungen untersucht und in ihre Entscheidungen einbezieht. Aber machen wir uns nichts vor. Die Umsetzung der Lissabon-Strategie auf europäischer Ebene muss mit höherem Tempo und vor allem mit mehr Kohärenz vorangetrieben werden, wenn wir die anvisierten ambitionierten Ziele erreichen wollen. Eine Gruppe unter Leitung von Wim Kok wird bis November eine Halbzeitbilanz des Lissabon-Prozesses vorlegen. Die Konsequenz der bereits heute erkennbaren Defizite lautet aus meiner Sicht: Wir sollten nicht die Ziele revidieren, sondern die Anstrengungen erhöhen, um die ambitionierten und richtigen Ziele zu erreichen. ({5}) Gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien haben wir angeregt, die Kohärenz der Kommissionsarbeit durch die Einrichtung eines für Fragen der Wettbewerbsfähigkeit zuständigen Vizepräsidenten zu stärken. Diese Frage wird der neue Kommissionspräsident zu entscheiden haben. Aber es ist auf dem Europäischen Rat deutlich geworden: Es zeichnet sich hier eine sehr breite Übereinstimmung unter den Mitgliedstaaten ab. Die Staats- und Regierungschefs haben in Brüssel auch den Weg für einen Abschluss der Verfassungsverhandlungen geebnet. Unstreitig ist nun, dass das Prinzip der doppelten Mehrheit Grundlage für Entscheidungen des Rates werden soll. ({6}) Das bedeutet nicht weniger als: Europa wagt mehr Demokratie. Das ist die Botschaft des Europäischen Rates. Die EU muss handlungsfähiger und transparenter werden, die Bürgerinnen und Bürger müssen nachvollziehen können, wie Entscheidungen zustande kommen. Die Bildung von Gestaltungsmehrheiten muss erleichtert, die von Blockademinderheiten zukünftig erschwert werden. Deshalb - da sind wir uns einig, Herr Kollege Altmaier werden wir sehr sorgfältig auf die noch zu leistende Ausgestaltung des Prinzips zu achten haben. Auch das Verständnis für die Notwendigkeit einer kleineren und damit effizienteren und handlungsfähigeren Kommission wächst. Wir haben die Zeit genutzt, um auch hier Überzeugungsarbeit zu leisten. Unmittelbar nach der Erweiterung gibt es ein nachvollziehbares Interesse gerade der neuen Mitgliedstaaten, mit einem eigenen Kommissar in Brüssel sichtbar zu sein. Aber im Zeitablauf deutet sich eine Lösung für die Verkleinerung der Kommission an. Es gilt nun, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die Integrationsfortschritte im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und der Justiz- und Innenpolitik zu sichern. Der Entwurf des Konvents wird Europa demokratischer, handlungsfähiger und bürgernäher machen. ({7}) Wir alle haben zu diesem Entwurf beigetragen. Lassen Sie uns den gemeinsamen Kompromissvorschlag jetzt nicht durch Nachforderungen gefährden. Noch hat die irische Präsidentschaft, der ich an dieser Stelle für ihre hervorragende Arbeit schon heute Dank und Anerkennung aussprechen möchte, nicht über das weitere Verfahren entschieden. Die Bundesregierung wird - das hat sich während des Konvents und der Regierungskonferenz bewährt - Bundestag und Bundesrat weiterhin umfassend über den Fortgang informieren. ({8}) Mit Fortschritten bei der Verfassung erfüllen wir nicht nur die berechtigten Erwartungen der europäischen Bürgerinnen und Bürger; eine gute Verfassung ist auch die Voraussetzung für das Gelingen der Erweiterung. Heute in einem Monat erleben wir die Vereinigung Europas. Die Einigkeit des Europäischen Rates, die Geschlossenheit und Entschlossenheit der europäischen Staats- und Regierungschefs auf dem Frühjahrsgipfel sind eine gute Grundlage für das Gelingen der großen Aufgaben, die vor uns liegen, für die erfolgreiche Verknüpfung von Erweiterung und Vertiefung, für ein Europa der Bürgerinnen und Bürger. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Peter Hintze von der CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag hat heute zum ersten Mal Gelegenheit, über zentrale Grundfragen nach dem europäischen Gipfel in Brüssel zu sprechen. Was bietet uns zu diesen zentralen Grundfragen die Bundesregierung? Die halbe Bundesregierung war beim Gipfel in Brüssel und lässt heute einen Staatsminister zu uns sprechen, der von den Beratungen ausgeschlossen war. ({0}) Damit wird die Tradition fortgesetzt, die wir im Europaausschuss schon länger zu beklagen haben, nämlich dass die Regierung versucht, das Parlament in den entscheidenden Fragen Europas aus den Beratungen herauszuhalten. Unser Verständnis von Demokratie ist ein anderes. Danach gehört das Parlament mitten in diese Beratungen hinein. ({1}) Liebe Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregierung, denken Sie bitte daran, dass die europäische Verfassung nicht nur das Wohlwollen und die Zustimmung der Bundesregierung braucht, sondern dass die europäische Verfassung auch die Zustimmung des Deutschen Bundestages und des Bundesrates braucht. Gehen Sie bitte mit diesen Verfassungsorganen so pfleglich um, wie es unsere Verfassung vorsieht. ({2}) Nie zuvor stand die Europäische Union vor so großen Herausforderungen wie heute. Der Beitritt von zehn neuen Staaten am 1. Mai wird der Europäischen Union ein neues Gesicht verleihen. Ich möchte für die CDU/ CSU-Fraktion sagen: Wir empfinden den Beitritt dieser zehn Staaten als einen politischen und kulturellen Gewinn für die Europäische Union. ({3}) Wenige Wochen nach der endgültigen Vollendung der europäischen Einigung werden wir hoffentlich die Geburtsstunde der europäischen Verfassung feiern können. Zum Jahresende haben wir die Frage zu beantworten, ob die Europäische Union den Beitritt der Türkei verkraften kann. Schließlich müssen wir alles daransetzen, um der Geißel des Terrorismus in Europa Herr zu werden. Mein Wunsch ist, dass die Europäische Union den Mut und die Kraft hat, die richtigen Weichenstellungen für die Zukunft vorzunehmen. Was die Verfassung angeht, wünsche ich mir, dass die Staats- und Regierungschefs die Gunst der Stunde nutzen und die noch offenen Fragen so schnell wie möglich klären. Dabei wäre es gut, wenn die Bundesregierung ihre Hände nicht selbstzufrieden in den Schoß legen würde. Statt tatenlos am Verhandlungstisch zu sitzen, sollte sie sich aktiv um einen möglichst optimalen Verhandlungserfolg bemühen. ({4}) Dazu gehört für die CDU/CSU-Fraktion der klare Verweis auf das christliche Erbe Europas in der Präambel als Ausdruck unserer Wertgrundlagen. Wer das gering schätzt, der versteht die geistigen Herausforderungen der Zeit völlig falsch. ({5}) Was die Politik der Europäischen Union angeht, ist seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957 im EG-Vertrag das starke Dreieck der Wirtschaftspolitik, bestehend aus den Eckpunkten Wachstum, Vollbeschäftigung und Preisstabilität, verankert. Die Preisstabilität ist zwischenzeitlich leider herausgebrochen worden. Wir wollen, dass sie neben dem Wachstum und der Vollbeschäftigung wieder als Ziel mit aufgenommen wird. ({6}) Wir setzen uns auch dafür ein, dass im Rahmen der Ratifizierung der europäischen Verfassung die Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages gestärkt werden. Schließlich werden immer mehr Politikbereiche und Lebensbereiche der Bürger durch die Gesetzgebung auf europäischer Ebene bestimmt. An dieser Gesetzgebung ist zwar die Bundesregierung stark beteiligt - das ist auch gut so im Sinne der europäischen Verträge -, aber wir wollen auch, dass das deutsche Parlament, der Bundestag, an diesen Beratungen beteiligt wird. Über die Beteiligung des Deutschen Bundestages wollen wir eine deutsche und europäische Öffentlichkeit für wichtige Gesetzgebungsvorhaben in Brüssel schaffen. ({7}) Die europäische Verfassung wird eine grundlegend neue Architektur im innerstaatlichen Umgang mit europapolitischen Vorhaben und in der Zusammenarbeit zwischen den einzelnen staatlichen Akteuren erfordern. Dies schließt eine Überprüfung und Neubewertung des Art. 23 unseres Grundgesetzes und der darin vorgeschriebenen Verfahren sowie des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union ein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch ein weiterer Punkt ist mir sehr wichtig. Zu den Schicksalsfragen Europas gehört die Frage, wer in Zukunft noch zur Union der 25, die es ab dem 1. Mai 2004 geben wird, hinzustoßen wird. Hier wollen wir durch eine Änderung der gesetzlichen Grundlagen in Deutschland erreichen, dass wir als Deutscher Bundestag bei der Eröffnung von Beitrittsverhandlungen genauso unser Votum abgeben können wie die Kammer der Länder, der Bundesrat. Denn das Tor zum Beitritt wird nicht mit dem Abschluss der Beitrittsverhandlungen aufgestoßen, sondern mit ihrer Eröffnung. Wir wollen, dass die Repräsentanten der Bürgerinnen und Bürger - und damit unseres Volkes im Deutschen Bundestag in diesem entscheidenden Moment um ihr Votum gefragt werden. ({8}) Gleiches gilt für die Zustimmung der Bundesregierung zu möglichen Entscheidungen des Europäischen Rates, durch einstimmigen Beschluss von der Einstimmigkeit zur Mehrheitsentscheidung überzugehen. Das verändert das deutsche Gewicht in Europa erheblich. Das kann im Einzelfall richtig und förderlich sein - das ist es auch in den meisten Fällen -, aber auch diese gemeinschaftsautonome Verfassungsänderung wollen wir parlamentarisch begleiten. Wir wollen, dass die Bundesregierung dem deutschen Parlament über ihre Position in diesen Verhandlungen Rechenschaft ablegt. ({9}) Es schleicht sich leider mehr und mehr ein, dass interessante außenpolitische und europapolitische Kurswechsel und Positionsbestimmungen der Bundesregierung in der Presse und im Fernsehen abgehandelt, aber nicht im Plenum des Deutschen Bundestages beraten werden. Der Bundesaußenminister hakelt zurzeit mit dem Bundeskanzler um den zukünftigen Kurs in der Europapolitik. Herr Fischer hat sich eine Abkehr von seiner Humboldt-Rede vorgenommen und verspottet die Gründerstaaten der Europäischen Union als Kleineuropa. ({10}) Der Bundeskanzler hat ihm darin widersprochen. Das möchte ich hier positiv erwähnen. Aber negativ ist, dass wir bis jetzt keine Gelegenheit hatten, im Plenum des Deutschen Bundestages mit dem Herrn Bundeskanzler und dem Herrn Bundesaußenminister über die Grundfragen der deutschen Europapolitik zu sprechen, weil sie sich bisher einer solchen Aussprache konsequent verweigert haben. ({11}) Das eine ist die Hakelei zwischen dem Bundesaußenminister und dem Bundeskanzler in der Frage, wer eigentlich die Zuständigkeit in der Europapolitik hat. Unter dieser Fragmentierung in der Europapolitik leidet übrigens die Position Deutschlands in Europa massiv; denn die entscheidende Rolle, die wir von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl gespielt haben, nämlich als größter und einflussreichster Staat Europas die Mittlerrolle wahrzunehmen, was von allen Staaten Europas als positiv und förderlich anerkannt wurde, haben wir unter Rot-Grün zugunsten einer Streiterrolle aufgegeben. Das ist der schwerste Fehler der Europapolitik der Bundesregierung. ({12}) Ich finde es schon merkwürdig, dass wir in einer Zeit, in der wir zu Recht nach unseren geistigen Grundlagen fragen, auf einmal von der Vorstellung, dass Europa einen inneren Zusammenhalt, ein Wirgefühl und gemeinsame Werte braucht, sowie von der Idee der politischen Union und deren Vertiefung Abschied nehmen und von einem Kontinentaleuropa träumen sollen, eine Vorstellung, die in Deutschland als Begründung dienen soll, den Beitritt der Türkei praktisch zu erzwingen. ({13}) - Übrigens, wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, in Sachen Türkei so vehement dazwischenrufen, dann darf ich Ihnen empfehlen, nicht nur die Ausführungen von Helmut Schmidt und von unserem Bundespräsidenten Johannes Rau, sondern vielleicht auch das zur Kenntnis zu nehmen, was der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Huber, gesagt hat und was er uns ins Stammbuch geschrieben hat. ({14}) Bischof Huber hat nicht nur vor einem übereilten Beitritt der Türkei sehr gewarnt, sondern er hat auch klar gesagt, dass die Diffamierung der Europäischen Union als christlichen Klub völlig die Tatsache verdunkelt, dass es das Christentum war, das die Werte von Freiheit und Menschenwürde sowie von Toleranz, sozialer Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit in Europa hervorgebracht hat, und dass das die entscheidenden Werte sind, die auch in Zukunft für unsere Vorstellung von Europa von Bedeutung sind. Wir sollten also das Erbe des Christentums ernst nehmen. ({15}) - Sie sollten nicht so viel dazwischenbrüllen. Wenn Sie schon nicht auf Ihren Bundespräsidenten und Ihren Altkanzler hören, dann hören Sie wenigstens auf eine solch wichtige Stimme aus dem kirchlichen Raum. ({16}) Zum Schluss zu den wirtschaftlichen Fragen. Hinsichtlich der Lissabon-Strategie ist das Bild gemischt. Während viele Staaten in Europa die Zeichen der Zeit erkannt haben und sich für die Zukunft rüsten, ist Deutschland im Jahre 2003 zum ersten Mal in seiner Geschichte unter den EU-Durchschnitt gerutscht. Dass das Land der sozialen Marktwirtschaft und des Wirtschaftswunders einmal zum ärmeren Teil Europas gehören würde, ({17}) hätten selbst Pessimisten beim Amtsantritt von Rot-Grün nicht für möglich gehalten. ({18}) Der Bundeskanzler hat das geschafft und Herr Trittin hat das Seine dazu beigetragen. Es täte der deutschen Europapolitik gut, wenn die deutsche Bundesregierung zu einem doppelten Ausgleich zurückfinden würde: zu einem fairen Ausgleich in Europa und zu einem fairen Ausgleich zwischen den politischen Kräften hier im Parlament. Die Europäische Union ist auf die breite Unterstützung aller politischen Kräfte angewiesen. Wir fordern die Bundesregierung auf, zu diesem Grundsatz, der von allen Regierungen in den letzten Jahrzehnten beherzigt wurde, zurückzukehren. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik bekannt. Abgegebene Stimmen 589. Mit Ja haben gestimmt 305, mit Nein haben gestimmt 281, Enthaltungen eine. Der Gesetzentwurf ist damit mit der erforderlichen Mehrheit angenommen. ({0}) Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 589; davon ja: 305 nein: 283 enthalten: 1 Ja SPD Dr. Lale Akgün Gerd Andres Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Hermann Bachmaier Ernst Bahr ({1}) Doris Barnett Dr. Hans-Peter Bartels Eckhardt Barthel ({2}) Klaus Barthel ({3}) Sören Bartol Sabine Bätzing Uwe Beckmeyer Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Ute Berg Hans-Werner Bertl Petra Bierwirth Rudolf Bindig Lothar Binding ({4}) Kurt Bodewig Gerd Friedrich Bollmann Willi Brase Bernhard Brinkmann ({5}) Hans-Günter Bruckmann Marco Bülow Ulla Burchardt Hans Martin Bury Hans Büttner ({6}) Marion Caspers-Merk Dr. Peter Danckert Dr. Herta Däubler-Gmelin Martin Dörmann Peter Dreßen Detlef Dzembritzki Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Hans Eichel Marga Elser Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Annette Faße Elke Ferner Gabriele Fograscher Rainer Fornahl Gabriele Frechen Dagmar Freitag Lilo Friedrich ({7}) Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Renate Gradistanac Angelika Graf ({8}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Gabriele Groneberg Achim Großmann Karl-Hermann Haack ({9}) Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann ({10}) Nina Hauer Hubertus Heil Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Petra Heß Monika Heubaum Gisela Hilbrecht Stephan Hilsberg Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({11}) Walter Hoffmann ({12}) Iris Hoffmann ({13}) Frank Hofmann ({14}) Eike Hovermann Klaas Hübner Christel Humme Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Renate Jäger Jann-Peter Janssen Klaus-Werner Jonas Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Dr. h.c. Susanne Kastner Ulrich Kelber Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Hans-Ulrich Klose Astrid Klug Dr. Heinz Köhler ({15}) Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Rolf Kramer Ernst Kranz Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Dr. Hans-Ulrich Krüger Horst Kubatschka Ernst Küchler Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christine Lambrecht Christian Lange ({16}) Christine Lehder Waltraud Lehn Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann Gabriele Lösekrug-Möller Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Tobias Marhold Lothar Mark Caren Marks Christoph Matschie Hilde Mattheis Markus Meckel Ulrike Mehl Petra-Evelyne Merkel Ulrike Merten Angelika Mertens Ursula Mogg Michael Müller ({17}) Christian Müller ({18}) Gesine Multhaupt Franz Müntefering Dr. Rolf Mützenich Volker Neumann ({19}) Dietmar Nietan Dr. Erika Ober Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Dr. Sascha Raabe Karin Rehbock-Zureich Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Christel RiemannHanewinckel Walter Riester Reinhold Robbe René Röspel Karin Roth ({20}) Michael Roth ({21}) Gerhard Rübenkönig Marlene Rupprecht ({22}) Thomas Sauer Anton Schaaf Axel Schäfer ({23}) Gudrun Schaich-Walch Rudolf Scharping Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild Otto Schily Horst Schmidbauer ({24}) Ulla Schmidt ({25}) Silvia Schmidt ({26}) Dagmar Schmidt ({27}) Wilhelm Schmidt ({28}) Heinz Schmitt ({29}) Walter Schöler Olaf Scholz Karsten Schönfeld Fritz Schösser Wilfried Schreck Ottmar Schreiner Gerhard Schröder Brigitte Schulte ({30}) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Reinhard Schultz ({31}) Swen Schulz ({32}) Dr. Angelica Schwall-Düren Rolf Schwanitz Erika Simm Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie SonntagWolgast Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Dr. Ditmar Staffelt Ludwig Stiegler Christoph Strässer Rita Streb-Hesse Dr. Peter Struck Jörg Tauss Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Hans-Jürgen Uhl Rüdiger Veit Simone Violka Jörg Vogelsänger Ute Vogt ({33}) Dr. Marlies Volkmer Hans Georg Wagner Andreas Weigel Reinhard Weis ({34}) Petra Weis Gunter Weißgerber Matthias Weisheit Gert Weisskirchen ({35}) Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker Jochen Welt Dr. Rainer Wend Lydia Westrich Inge Wettig-Danielmeier Dr. Margrit Wetzel Andrea Wicklein Jürgen Wieczorek ({36}) Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Brigitte Wimmer ({37}) Engelbert Wistuba Dr. Wolfgang Wodarg Verena Wohlleben ({38}) Heidi Wright Uta Zapf Manfred Helmut Zöllmer Dr. Christoph Zöpel BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kerstin Andreae Marieluise Beck ({39}) Volker Beck ({40}) Birgitt Bender Matthias Berninger Alexander Bonde Ekin Deligöz Jutta Dümpe-Krüger Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Uschi Eid Hans-Josef Fell Joseph Fischer ({41}) Katrin Göring-Eckardt Winfried Hermann Antje Hermenau Peter Hettlich Thilo Hoppe Michaele Hustedt Renate Künast Undine Kurth ({42}) Markus Kurth Dr. Reinhard Loske Jerzy Montag Kerstin Müller ({43}) Winfried Nachtwei Christa Nickels Friedrich Ostendorff Simone Probst Claudia Roth ({44}) Krista Sager Christine Scheel Rezzo Schlauch Albert Schmidt ({45}) Werner Schulz ({46}) Petra Selg Ursula Sowa Silke Stokar von Neuforn Hans-Christian Ströbele Jürgen Trittin Marianne Tritz Hubert Ulrich Dr. Antje Vogel-Sperl Dr. Ludger Volmer Josef Philip Winkler Margareta Wolf ({47}) Nein CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Dietrich Austermann Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Ernst-Reinhard Beck ({48}) Veronika Bellmann Dr. Christoph Bergner Otto Bernhardt Dr. Rolf Bietmann Clemens Binninger Renate Blank Antje Blumenthal Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Wolfgang Börnsen ({49}) Wolfgang Bosbach Klaus Brähmig Dr. Ralf Brauksiepe Helge Braun Monika Brüning Georg Brunnhuber Verena Butalikakis Hartmut Büttner ({50}) Peter H. Carstensen ({51}) Gitta Connemann Leo Dautzenberg Albert Deß Vera Dominke Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Rainer Eppelmann Anke Eymer ({52}) Georg Fahrenschon Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Albrecht Feibel Enak Ferlemann Hartwig Fischer ({53}) Dirk Fischer ({54}) Axel E. Fischer ({55}) Dr. Maria Flachsbarth Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({56}) Erich G. Fritz Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Roland Gewalt Eberhard Gienger Georg Girisch Michael Glos Ralf Göbel Dr. Reinhard Göhner Tanja Gönner Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Ute Granold Kurt-Dieter Grill Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg Olav Gutting Holger-Heinrich Haibach Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Siegfried Helias Uda Carmen Freia Heller Michael Hennrich Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Ernst Hinsken Robert Hochbaum Klaus Hofbauer Joachim Hörster Hubert Hüppe Susanne Jaffke Dr. Peter Jahr Dr. Egon Jüttner Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Irmgard Karwatzki Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({57}) Gerlinde Kaupa Jürgen Klimke Julia Klöckner Kristina Köhler ({58}) Manfred Kolbe Norbert Königshofen Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Rudolf Kraus Michael Kretschmer Günther Krichbaum Günter Krings Dr. Martina Krogmann Werner Kuhn ({59}) Dr. Karl A. Lamers ({60}) Helmut Lamp Barbara Lanzinger Vera Lengsfeld Werner Lensing Peter Letzgus Ursula Lietz Eduard Lintner Dr. Klaus W. Lippold ({61}) Patricia Lips Dr. Michael Luther Dorothee Mantel Erwin Marschewski ({62}) Stephan Mayer ({63}) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Dr. Conny Mayer ({64}) Dr. Martin Mayer ({65}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Laurenz Meyer ({66}) Doris Meyer ({67}) Maria Michalk Hans Michelbach Klaus Minkel Marlene Mortler Stefan Müller ({68}) Bernward Müller ({69}) Hildegard Müller Henry Nitzsche Michaela Noll Claudia Nolte Günter Nooke Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Melanie Oßwald Rita Pawelski Dr. Peter Paziorek Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Dr. Friedbert Pflüger Ronald Pofalla Ruprecht Polenz Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Peter Rauen Christa Reichard ({70}) Hans-Peter Repnik Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Hannelore Roedel Franz-Xaver Romer Dr. Klaus Rose Dr. Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Volker Rühe Albert Rupprecht ({71}) Peter Rzepka Anita Schäfer ({72}) Dr. Wolfgang Schäuble Andreas Scheuer Norbert Schindler Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({73}) Andreas Schmidt ({74}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Wilhelm Josef Sebastian Horst Seehofer Kurt Segner Matthias Sehling Marion Seib Heinz Seiffert Bernd Siebert Thomas Silberhorn Jens Spahn Erika Steinbach Christian von Stetten Gero Storjohann Andreas Storm Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl ({75}) Lena Strothmann Michael Stübgen Antje Tillmann Edeltraut Töpfer Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Volkmar Uwe Vogel Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Marko Wanderwitz Peter Weiß ({76}) Gerald Weiß ({77}) Annette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer ({78}) Matthias Wissmann Werner Wittlich Elke Wülfing Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller Willi Zylajew FDP Daniel Bahr ({79}) Angelika Brunkhorst Helga Daub Jörg van Essen Ulrike Flach Horst Friedrich ({80}) Dr. Wolfgang Gerhardt Joachim Günther ({81}) Dr. Karlheinz Guttmacher Christoph Hartmann ({82}) Ulrich Heinrich Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Michael Kauch Dr. Heinrich L. Kolb Harald Leibrecht Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Markus Löning Günther Friedrich Nolting ({83}) Eberhard Otto ({84}) Detlef Parr Gisela Piltz Dr. Hermann Otto Solms Dr. Rainer Stinner Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk Dr. Guido Westerwelle Dr. Claudia Winterstein Fraktionslose Abgeordnete Martin Hohmann Enthalten Fraktionslose Abgeordnete Jetzt erteile ich der Kollegin Anna Lührmann vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Dr. Anna Lührmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003585, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Es war ein guter Gipfel für Europa. Es war ein Gipfel, der Europa wieder auf den richtigen Weg gebracht hat; denn auf diesem Gipfel wurde klar, dass Europa eine neue Verfassung bekommen wird, und das spätestens im Juni. Die EU hat gezeigt, dass sie wieder bereit ist, nach vorne zu blicken. Das sind gute Nachrichten für Europa. Nach all den Unwägbarkeiten der vergangenen drei Monate, nach dem unwürdigen Gezerre um den Verfassungsentwurf des Konventes bin ich nun froh und erleichtert, dass sich die europäischen Regierungen endlich besonnen haben. Es ist offensichtlich, dass die Europäische Union nur mit dieser Verfassung die globalen und die europäischen Aufgaben angemessen lösen können wird. Es wurde auch höchste Eisenbahn: In genau einem Monat werden die zehn neuen Mitgliedstaaten der EU beitreten und die EU braucht neue vertragliche Grundlagen, um handlungsfähig zu sein. Auch die Bürgerinnen und Bürger sollten wissen, was die Grundlage der europäischen Geschäfte ist, wenn sie im Juni zur Europawahl gehen. Deshalb ist der Abschluss der Verfassung und der Regierungskonferenz noch vor den Wahlen so wünschenswert. Ich persönlich will an dieser Stelle auch den Vorschlag von Pat Cox begrüßen: Der 9. Mai, der Europatag, markiert den Beginn der europäischen Kooperation; er ist Symbol für europäischen Fortschritt. Deshalb ist dies der optimale Tag für die Annahme der europäischen Verfassung. Wie eben wieder einmal deutlich wurde, haben Teile der Opposition die Zeichen der Zeit aber noch immer nicht erkannt. ({0}) Die CSU muss jetzt resigniert feststellen, dass sich Europa schneller als die Opposition einigt. Die CSU droht zum Trotz, der neuen Verfassung eventuell gar nicht zuzustimmen. Anders sehen das die CDU-Kollegen. Ich würde sagen: Damit folgt die CDU/CSU zur Abwechslung einmal eindeutig den neuen Vorgaben von Frau Merkel; denn sie demonstriert hier vorbildlich die neue Zerstrittenheit der Opposition. ({1}) Sehr geehrte Damen und Herren der CSU, ich finde es beinahe gruselig, wie Sie argumentieren. Ihre Forderungen sind nicht nur überzogen, sondern sie zeigen vor allen Dingen auch, dass Sie überhaupt kein Gespür für die Art und Weise haben, wie europäische Politik funktioniert. ({2}) Europa lebt nämlich vom Kompromiss. Diese Verfassung ist kein Kompromiss auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners; sie ist vielmehr ein großer Schritt vorwärts für Europa. Es wäre fatal, wegen Einzelforderungen wie die nach dem Gottesbezug den gesamten Verfassungsprozess scheitern zu lassen. Noch ist die Verfassung nicht in trockenen Tüchern. Deswegen ist die Verhandlungsstrategie der Bundesregierung, keine neuen Forderungen aufzustellen und am Entwurf des Konvents festzuhalten, nach wie vor richtig. ({3}) Nicht nur beim Thema Verfassung wird erst im Nachhinein wirklich klar sein, ob dieser Frühjahrsgipfel ein Erfolg war. Auch wenn dieses Mal aus traurigem Anlass die Bekämpfung des Terrorismus im Vordergrund stand, so befasst sich der Frühjahrsgipfel traditionell mit der europäischen Wirtschaft und der Lissabon-Agenda. Der Lissaboner Fahrplan ist ein ehrgeiziges Projekt, und das zu Recht. Die EU hat das Potenzial, sich zum weltweit wettbewerbsstärksten wissensbasierten Wirtschaftsraum zu entwickeln. ({4}) Diese Agenda ist gut. Aber den Worten müssen jetzt auch Taten folgen: zum einen in der EU und zum anderen in den Mitgliedstaaten. ({5}) Wichtige Impulse, die von der europäischen Ebene ausgehen könnten, etwa das Gemeinschaftspatent oder die Dienstleistungsrichtlinie, sind längst überfällig. Der gemeinsame Binnenmarkt ist ein wichtiger Wettbewerbsvorteil Europas. Es ist die entscheidende Aufgabe, die Potenziale des gemeinsamen Marktes wirklich umfassend auszuschöpfen. Nur so kann Europa im globalen Wettbewerb bestehen. Nur so können wir unsere hohen Sozial- und Umweltstandards hier verteidigen. ({6}) An dieser Stelle will ich noch auf etwas Wichtiges hinweisen. Die EU - das ist in den europäischen Verträgen verankert; das steht auch noch einmal in den Schlussfolgerungen dieses Gipfels - will nachhaltiges Wachstum schaffen. Die Göteborg-Strategie, der europäische Nachhaltigkeitsplan, ist Bestandteil der LissabonAgenda; denn Europa hat verstanden, dass Wachstum auf Kosten der natürlichen Lebensgrundlagen nicht trägt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Lührmann, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Anna Lührmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003585, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das tue ich. - Deshalb gilt für die EU genauso wie für Deutschland, dass die ökologische Modernisierung der Volkswirtschaft kein Hemmschuh für die wirtschaftliche Entwicklung ist; sie ist vielmehr Impuls und Chance für neue Arbeitsplätze. Wirtschaftliche Entwicklung und ökologische Modernisierung sind nicht zu trennen, wenn wir den Auftrag von Lissabon ernst nehmen wollen und Europa zukunftsfähig machen wollen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger von der FDP-Fraktion.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die schrecklichen Anschläge in Madrid haben Europa geschockt, aber nicht gelähmt. Sie haben eines bewirkt: Das Gefühl der europäischen Verbundenheit und Solidarität wächst wieder. Die Widerstände gegen die europäische Verfassung schwinden; denn auch den integrationsskeptischen europäischen Staats- und Regierungschefs wird zunehmend bewusst, dass die Antwort auf die gegenwärtigen Herausforderungen lauten muss: mehr Europa, mehr Demokratie, mehr Handlungsfähigkeit, mehr gemeinsame Außenpolitik und mehr gemeinsame Rechtsstandards. ({0}) Die Chance für eine Verabschiedung der europäischen Verfassung noch unter irischer Ratspräsidentschaft hat sich mit dem Gipfel vergrößert, auch wenn einige Kompromisslinien noch sehr unklar sind. Wir von der FDP-Fraktion erwarten von der Bundesregierung, dass sie in der jetzt entscheidenden Verhandlungsphase das Parlament bzw. - wo es nicht anders geht - den Europaausschuss über den jeweiligen Verhandlungsstand zeitnah und umfassend informiert. ({1}) Das Parlament hat einen Anspruch darauf, in einer so grundlegenden Frage wie der Verabschiedung der europäischen Verfassung nicht nur mit den Ergebnissen konfrontiert zu werden, sondern auch an den entscheidenden Schritten zum Ergebnis hin beteiligt zu werden. Ohne Zustimmung des Parlaments kann keine europäische Verfassung in Kraft treten. Für die FDP gibt es folgende Schwerpunkte für einen Konsens: Ausgestaltung der doppelten Mehrheit, Verkleinerung der Kommission, mehr Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit und, verstärkt durch die jüngsten Debatten im Europäischen Parlament, ganz besonders die Stärkung des Europäischen Parlaments. ({2}) Europa ist den Bürgern nur näher zu bringen, wenn das Demokratiedefizit, das besonders im sensiblen Bereich der Innen- und Justizpolitik besteht, abgebaut wird und wenn es nicht zunehmend zu unheilvollen Allianzen zwischen der Kommission und dem Rat kommt, ({3}) so wie das derzeit zum Beispiel bei der Weitergabe von Passagierdaten von der Europäischen Union an die USA der Fall ist. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie die Entscheidung des Europäischen Parlaments von gestern ernst nimmt. ({4}) Das Europäische Parlament hat die derzeitige Fassung des Übereinkommens und der Entscheidung über die Angemessenheit mit Mehrheit abgelehnt. Es hat gefordert, dass es zu Verhandlungen kommt. Die Kommission ist anscheinend nicht aufgeschlossen und nicht bereit, das aufzugreifen. Aber der Rat hat es in der Hand. Wenn Sie von der Bundesregierung Ihr Gewicht im Rat einbringen, dann können Sie bewirken, dass darüber in Einzelpunkten noch einmal verhandelt wird. Es geht nicht um irgendeine exekutive Entscheidung, sondern um eine ganz grundlegende Frage der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger beim Vorgehen gegen Terrorismus, aber auch um wichtige Fragen des Datenschutzes. ({5}) Dieses Beispiel zeigt: Wenn das Parlament nicht gestärkt wird, dann wird es künftig noch mehr Entscheidungen geben, die wir Parlamentarier zur Kenntnis nehmen müssen, die wir dann vielleicht auch noch vertreten sollen, an denen aber kein Parlamentarier in der Sache konstitutiv beteiligt gewesen ist. Das darf nicht die Zukunft Europas sein. ({6}) Die FDP hält den Entwurf des EU-Konvents für ein akzeptables Ergebnis. Natürlich können wir uns an einigen Stellen Verbesserungen vorstellen. Wir haben das auch hier im Parlament häufig und deutlich zum Ausdruck gebracht. Nicht nur eine Stärkung des Europäischen Parlaments, sondern auch eine Verbesserung der Handlungsfähigkeit im Bereich der gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind dringend geboten. Das erwarten die Bürgerinnen und Bürger nach den Anschlägen in Madrid, aber auch nach den ganzen Verwerfungen im Zusammenhang mit dem Irakkrieg. Sie erwarten gemeinsame inhaltliche Positionierungen der Europäischen Union in diesen für sie lebenswichtigen Fragen und sie erwarten, dass dafür auch die Strukturen geschaffen werden, damit das besser als derzeit geschehen kann. Deshalb würden wir uns sehr wünschen, dass in den dafür entscheidenden Verhandlungen jetzt deutliche Verbesserungen beschlossen werden. Aber eines halte ich, sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen von der CDU/CSU, schon für falsch: jetzt mit einem Neun-Punkte-Katalog ({7}) eine Art Conditio sine qua non aufzustellen, der erfüllt werden müsse, damit zugestimmt werden könne. In diesem Punkt setze ich ausnahmsweise auf Ministerpräsident Stoiber, der signalisiert hat, dass er, auch wenn er in einzelnen Punkten Bauchweh habe, letztendlich der europäischen Verfassung zustimmen wolle. Denn es ist, wenn man den Anspruch erhebt, auf Bundesebene eine wichtige Stimme zu haben, unverzichtbar, dass man nicht Blockierer der europäischen Verfassung ist. ({8}) Die FDP begrüßt deshalb die Absichtserklärung, den Verfassungsentwurf möglichst bald, im Juni - je früher, desto besser -, zu verabschieden. Aber lassen Sie mich ein Wort zu dem Thema sagen, das dank der Vorbereitung durch die Innenminister im Mittelpunkt des Gipfels stand, nämlich die Terrorismusbekämpfung, die in der Europäischen Union hohe Priorität hat. Wie war das Ergebnis dessen, was beschlossen wurde? Typisch für Europa: Zu 90 Prozent wurde gesagt, was man vor drei Jahren beschlossen habe, müsse man jetzt endlich umsetzen. Drei Jahre danach! Auch dort, wo man neue Wege gesucht hat, hat man einen Beschluss gefasst, der typisch für Europa ist: eine neue Stelle einzurichten, das Amt eines Antiterrorismuskoordinators. Dessen Kompetenzen und Aufgaben sind allerdings vollkommen unklar, ebenso die Abgrenzung zum zuständigen Kommissar. Ich glaube, es wäre besser, sich auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren, auf den Informationsaustausch unter Achtung des Trennungsgrundsatzes, wie wir ihn aus der Verfassung kennen, statt mit neuen Stellen eine neue Unübersichtlichkeit zu schaffen, auch wenn der Inhaber dieser Stelle ein sehr kompetenter, hervorragender Liberaler ist. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Martin Dörmann, SPDFraktion.

Martin Dörmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003517, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Jahr 2004 ist für die Europäische Union von historischer Bedeutung, und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Es geht um nichts Geringeres als die Identität und Perspektive Europas, die Handlungsfähigkeit der EU und ihre Legitimation durch die Bürgerinnen und Bürger. Eines steht fest: Am Ende des Jahres wird das europäische Haus anders aussehen als zu Beginn. Mit der Erweiterung um zehn Staaten zum 1. Mai wird eine unnatürliche Trennmauer in Europa endgültig beseitigt. Die EU-Osterweiterung bietet große Chancen für eine friedliche und wirtschaftlich positive Entwicklung des Kontinents, bei allen Herausforderungen, die damit ebenfalls verbunden sind. ({0}) Am 13. Juni geben die Europawahlen dem europäischen Haus einen neuen Anstrich und dem Parlament eine neue demokratische Basis. Ich denke, wir hoffen alle, dass die Regierungskonferenz Mitte Juni endlich die europäische Verfassung als neues Dach für die EU beschließen wird. Die Staats- und Regierungschefs haben sich hierzu beim Frühjahrsgipfel in Brüssel ausdrücklich selbst verpflichtet. Die Chancen stehen also gut. Eine Einigung auf die Verfassung ist aber auch dringend notwendig; denn nur sie kann gewährleisten, dass die größer gewordene Europäische Union handlungsfähig bleibt und der Integrationsprozess fortschreitet. ({1}) Vor allem wird die Verfassung dazu beitragen, die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit Europa zu festigen und noch zu steigern. Noch immer wird die EU leider von zu vielen als ferne Bürokratie wahrgenommen und in ihrer politischen wie wirtschaftlichen Bedeutung eher unterschätzt. Durch die Verfassung wird Europa demokratischer, transparenter und effizienter. Es ist deshalb ermutigend, dass in der wichtigen, bisher umstrittenen Frage der doppelten Mehrheit bei Ratsentscheidungen ein Durchbruch gelungen ist. Alle sind nun bereit, dieses Prinzip mitzutragen. Die irische Ratspräsidentschaft hat hier ganz hervorragend gearbeitet. Es ist aber sicher auch der klaren Verhandlungsstrategie und der Überzeugungsarbeit der Bundesregierung und des Bundeskanzlers zu verdanken, wenn dieser entscheidende Schritt in Richtung Verfassung gegangen werden kann. ({2}) In diesem Zusammenhang ein Wort an den Kollegen Hintze. Herr Hintze, was Sie heute vorgetragen haben, war nicht nur von der Art, sondern auch was den Inhalt betrifft, der Sache in keiner Weise angemessen. ({3}) Sie haben ein Zerrbild von der Politik der Bundesregierung gezeichnet. Ich muss mich schon fragen, ob Sie wirklich die Verfassung, also den Termin Mitte Juni, oder ob Sie nicht vielmehr den 13. Juni im Blick haben. Die emotionale Welle, die Sie zu Wahlkampfzwecken aufbauen wollen, wird ganz schnell wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. ({4}) Am Ende - das sage ich Ihnen voraus - werden auch Sie dieser vernünftigen Verfassung zustimmen. Ich kann der Union nur raten, diese historische Chance nicht zu verpassen. Auch und gerade im Bereich der inneren Sicherheit ist ein einiges Europa notwendiger denn je. Das haben die verbrecherischen und menschenverachtenden Terroranschläge im März uns allen in erschreckender Weise in Erinnerung gerufen. Die Bekämpfung des Terrorismus und die Verhinderung weiterer Anschläge ist eine der ganz zentralen Aufgaben in den nächsten Jahren. Die Attentate von Madrid haben allen bewusst gemacht, dass es auch in Europa keinen wirklich sicheren Ort mehr gibt, in einer freien Gesellschaft wohl auch nicht geben kann. Umso wichtiger ist es, alles Erforderliche zu tun, damit das Risiko für die Bevölkerung minimiert wird. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union stehen hier in einer besonderen Verantwortung für die Sicherheit ihrer Bürgerinnen und Bürger. Die gemeinsame Bedrohung durch den Terrorismus hat die Europäer enger zusammenrücken lassen. Doch wir dürfen nicht bei dem Gefühl der gemeinsamen Betroffenheit stehen bleiben. Es muss auch gehandelt werden. ({5}) Es ist deshalb wichtig und notwendig, dass sich die Innenminister und Regierungschefs der Mitgliedstaaten schnell auf zusätzliche Maßnahmen geeinigt haben, um der Bedrohungslage gerecht zu werden. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt deshalb nachdrücklich die Erklärung für eine stärkere Zusammenarbeit in der Terrorismusbekämpfung, die vom europäischen Gipfel beschlossen wurde. ({6}) Der bereits verabredete Aktionsplan muss jetzt zügig umgesetzt und ergänzt werden. Die Informationswege werden weiter verbessert. Informationen der Geheimdienste und der Polizei der Mitgliedstaaten sollen zukünftig miteinander verknüpft werden. Die Geheimdienste sollen nicht mehr eher nebeneinander, sondern stärker miteinander arbeiten. Die Einsetzung des Niederländers de Vries als EUKoordinator für die Terrorismusbekämpfung darf dabei aber nicht nur eine symbolische Geste sein. In der gegenwärtigen Situation kommt es darauf an, dass alle reMartin Dörmann levanten Erkenntnisse und Aktionen auf EU-Ebene zusammengeführt werden. Als wichtigen Schritt sehen wir dabei an, dass die im Verfassungsentwurf vorgesehene EU-Solidaritätsklausel mit sofortiger Wirkung in Kraft gesetzt wurde. Sie sieht unter anderem eine Verpflichtung zu gegenseitigem Beistand im Falle eines Terrorangriffs vor. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht, dass das europäische Haus so sicher wie möglich gemacht wird. Sie hätten kein Verständnis dafür, wenn bestehende Sicherheitsmängel nicht beseitigt würden. Grenzüberschreitende Bedrohungen sind nur durch grenzüberschreitende Maßnahmen effektiv zu bekämpfen. ({7}) Die Bundesregierung und die rot-grüne Regierungskoalition haben sich von Anfang an auf europäischer Ebene für eine stärkere Zusammenarbeit und für gemeinsame Institutionen und Handlungsmöglichkeiten eingesetzt, gerade im Bereich der inneren Sicherheit und der Justiz. Anfang März haben wir beispielsweise im Bundestag den europäischen Haftbefehl in Deutschland auf den Weg gebracht, der allerdings - man höre noch immer durch den Widerstand der Union im Bundesrat blockiert wird. ({8}) Wir könnten in manchem einen Schritt weiter sein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, wenn Sie mit Ihrer Mehrheit im Bundesrat Maßnahmen, die für die Bürgerinnen und Bürger wichtig sind, nicht aus kleinlichen und nicht nachvollziehbaren Gründen, wie oftmals geschehen, blockieren würden. ({9}) Die Bekämpfung des Terrorismus ist jedoch nicht nur eine Sache der Polizei und der Nachrichtendienste. Maßnahmen der inneren Sicherheit mögen Anschläge verhindern. Sie beseitigen jedoch nicht ohne weiteres die Basis des Terrorismus. Richtig ist deshalb die verabredete Verbesserung der Terrorismusprävention. Darüber hinaus geht es aber auch darum, die gemeinsame Sicherheitsund Außenpolitik der Union weiter nach vorne zu bringen. ({10}) Es gibt leider zu viele politische Probleme und Konflikte, durch die die Terroristen einen gefährlichen Nährboden für ihre Aktivitäten gewinnen können, der ihr Agieren erst möglich macht. Deshalb muss die Europäische Union noch stärker als bisher als politischer Akteur handlungsfähig werden, um erfolgreich an der Vorbeugung und Lösung von Konflikten mitwirken zu können.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger?

Martin Dörmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003517, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Dörmann, Sie haben uns die Aktionen dargelegt, die beschlossen worden sind, um gegen den Terrorismus vorzugehen, was sehr interessant ist. Meine Frage lautet: Sind Ihnen die Wörter „Datenschutz“ und „Rechte des Einzelnen“ bekannt ({0}) und welchen Stellenwert nehmen sie in diesem Kontext Ihrer Meinung nach ein?

Martin Dörmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003517, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Leutheusser-Schnarrenberger, ich bin sehr dankbar für diese Frage. Denn ich glaube, wir sollten ehrlich miteinander umgehen. Wir alle wissen, dass im Bereich der inneren Sicherheit bei allen Maßnahmen, die wir dort zu treffen haben, insbesondere bei Maßnahmen, die dem Informationsaustausch dienen, zwei Dinge abzuwägen sind: die Gefährdung der Bürgerinnen und Bürger und die Maßnahmen, die notwendig sind, um diese Gefährdungen zu minimieren, auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern im Bereich des Datenschutzes. Wir, die SPD-Fraktion, nehmen beides gleichermaßen ernst. Wir werden uns vorbehalten, in jedem Einzelfall jede einzelne Maßnahme daraufhin zu überprüfen, ob das eine dem anderen gegenüber gleichwertig ist oder überwiegt. Da, wo wir ein klares Überwiegen feststellen, werden wir uns für diesen Weg entscheiden. Es kann sein, dass wir uns für den Datenschutz entscheiden. Es kann aber auch sein, dass wir uns im Einzelfall für größere Informationsmöglichkeiten entscheiden. ({0}) - wenn ich es sofort gesagt hätte, wäre es von meiner Redezeit abgegangen. Das europäische Haus hat bereits starke Fundamente. Doch noch sind nicht alle Mauern und Zimmer fertig gestellt; manches ist noch im Bau und im Werden. Gerade die letzten Wochen haben aber zusätzliche Hoffnung geweckt, dass ein stabiles Gebäude entsteht, in dem sich die Bewohner sicher und wohl fühlen können. Wenn es gelingt, sich in den nächsten Monaten auf eine europäische Verfassung zu einigen, wird endlich das gemeinsame Dach fertig gestellt. Lassen Sie uns alle - ich betone: alle - daran mitwirken, den Menschen mehr Sicherheit und Rechte für eine gute und friedliche Zukunft in Deutschland und in Europa zu geben! Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir freuen uns, dass die Regierungsfraktionen aufwachen, wenn auch die Regierungsbank verwaist ist. Weil ich Bundesminister Eichel auf der Regierungsbank sehe, möchte ich an den Europäischen Rat anknüpfen. In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates steht der bemerkenswerte Satz: Die wirtschaftliche Erholung, die im zweiten Halbjahr 2003 in Europa eingesetzt hat, schreitet voran. Europa schreitet wirtschaftlich voran, aber nicht Deutschland. Herr Eichel, wie fühlt man sich, wenn man von der Lokomotive zum Wachstumsbremser der Gemeinschaft wird? Es ist beschämend, dass Deutschland innerhalb der EU von Platz drei auf Platz 13 zurückgefallen ist. ({0}) Im UN-Ranking sind wir zwischenzeitlich von Platz 8 auf Platz 18 abgestiegen. Rot-Grün hat dieses Land in die Abstiegszone geführt. ({1}) Das Problem dabei ist: Die Menschen zahlen dafür die Zeche. Wir stehen kurz vor der Osterweiterung; dies ist eine der letzten Europadebatten des Bundestages vor diesem Termin. Es ist kläglich, in welch geringem Maße die Regierungsbank besetzt ist. ({2}) Wir blicken mit Freude auf die Osterweiterung. Der vergangene Europäische Rat war - abgesehen vom formellen Vollzug und vom Feiern der Osterweiterung vermutlich der letzte vor der Osterweiterung. Wir sehen mit Sorge auf die damit verbundenen Probleme. Große Sorge bereitet uns die Verlagerung der Betriebe, insbesondere in den Grenzregionen. Auf der Besuchertribüne sitzen Freunde aus Leuchtenberg und Weiden - das sind Orte im bayerisch-tschechischen Grenzgebiet. Ich denke an die Weidener Erklärung von Bundeskanzler Schröder, in der er vor einem Jahr ausgeführt hat, wie er die Osterweiterung im thüringischen und bayerischen Grenzgebiet managen will. Nichts davon ist eingehalten worden. Diese Bundesregierung hat kein Konzept, sie weiß nicht, wie sie die Probleme der Osterweiterung im Grenzbereich managen soll. Wir haben ein hohes Steuer-, Förder- und Lohngefälle. Wo sind die Vorschläge, wie wir den Menschen und Betrieben in diesen Regionen in den nächsten Wochen helfen? Der Außenminister glänzt durch Abwesenheit. ({3}) Der Gipfel ({4}) hat sich auch mit dem Kosovo, mit Afghanistan und Russland beschäftigt. Aus aktuellem Anlass möchte ich kurz darauf Bezug nehmen. Wir sind nicht der Meinung, dass die Antwort auf die Frage nach der Zukunft Afghanistans nur lauten kann: mehr Geld und mehr Soldaten. Wir fragen nach dem politischen Konzept, aber der Außenminister hat keines. Bezüglich des Kosovos müssen wir nach fünf Jahren fragen: Herr Minister Struck, liegt die Lösung der dortigen Probleme in der Verdoppelung oder gar in der Verdreifachung des Kontingents der eingesetzten Soldaten, die Sie jetzt angeordnet haben? Kann der Einsatz von immer mehr Geld die Antwort sein? Dass dies der richtige Weg ist, wage ich zu bezweifeln. Müssen wir uns nach fünf Jahren nicht eher die Frage stellen, wie wir die Hilfsorganisationen besser koordinieren können? Sollten wir nicht eher der Frage der Multiethnizität im Kosovo auf den Grund gehen? Auch die Russlandstrategie der Europäischen Union stand auf der Tagesordnung. Es lohnt sich wirklich einmal, ein solches Dokument zu lesen. Vermutlich hat das kein Regierungschef getan. ({5}) Das Paradoxe dieser Gipfel ist, dass die Dokumente zur Schlusserklärung Wochen vorher von Beamten vorbereitet und den Regierungschefs zugeleitet werden. Darin steht tatsächlich - zynisch - der Glückwunsch des Europäischen Rates an Präsident Putin zu seiner Wiederwahl. Der Rat gratuliert dem Präsidenten nicht nur zur Wiederwahl, sondern begrüßt den Aufbau eines Mehrparteiensystems in Russland und die Anstrengungen, die Pressefreiheit zu gewährleisten. Meine Damen und Herren, wer weiß, unter welchen Umständen die Wahl in Russland stattgefunden hat, der weiß auch, dass das der blanke Zynismus ist. Wir hätten ein kritisches Wort zur Gefährdung der Demokratie, der Pressefreiheit und der Menschenrechte in Russland erwartet. ({6}) Ich komme nun auf den Terrorismus in Europa zu sprechen. Es gab viele Bekundungen, und Aktionen und Programme wurden beschlossen, aber wir haben bis heute keine operativen integrierten Strukturen. Auch dieser Europäische Rat ist darüber nicht hinausgekommen. Es hat mich sehr beeindruckt, als Bundesinnenminister Schily darauf hinwies, dass es inzwischen in Deutschland sage und schreibe 160 Gremien gibt, in denen die inDr. Gerd Müller nere Sicherheit koordiniert wird. Mit der Einsetzung des europäischen Terrorismusbeauftragten haben wir das 161. Gremium geschaffen, das wir beschicken können. Aber auch damit schaffen wir nicht mehr Sicherheit. Zum Verfassungsvertrag: Wir wollen den Verfassungsvertrag, aber wir wollen ihn nicht um jeden Preis. Der Kollege Hintze hat unsere Kernpunkte bereits angesprochen. Wir fordern, dass die Bundesregierung unsere Position in den nächsten Wochen in die Verhandlungen einbringt. Die Bundesregierung braucht die Opposition zur Ratifizierung und deshalb erwarten wir, dass unsere Forderungen ernst genommen und eingebracht werden. Erstens. Wir wollen mehr Föderalismus statt Zentralismus. Natürlich stehen wir der vorgesehenen Kompetenzausweitung in Politikfeldern, in denen wir eigentlich national handeln müssten, kritisch gegenüber. Der Kollege Hintze hat einen zweiten zentralen Punkt herausgestellt. Wir unterstützen die Bundesbank in ihrer Forderung, am Verfassungsziel der Preisstabilität und der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank festzuhalten. Das sind die zwei Kernpunkte der MaastrichtStabilitätsordnung. Unter diesen Bedingungen haben wir die D-Mark in den Euro überführt. Wenn Sie diese zwei Punkte jetzt mit dem Verfassungsvertrag auflösen, ist das ein Anschlag auf die Stabilitätsordnung in Europa. ({7}) Sie können die Forderungen der Bundesbank und der Opposition an diesem Punkt nicht einfach beiseite schieben und zur Tagesordnung übergehen. Das Streben nach einer Entparlamentarisierung der europäischen Politik zeigt sich in dieser Verfassungsdebatte. Deshalb fordern wir - der Kollege Hintze hat dies bereits angesprochen; wir werden dies in der Föderalismuskommission und an anderer Stelle einbringen - in Zukunft ein maßgebliches Mitwirkungsrecht für den Deutschen Bundestag in der europäischen Sekundärrechtsetzung. Es kann nicht sein, dass Brüssel an den nationalen Parlamenten vorbei Recht setzt, das unsere Bürger vor Ort beschwert, und wir nur noch ein Feuerwehrparlament sind, das die Dinge im Nachhinein zur Kenntnis nimmt. Blickt man nach Spanien, Skandinavien, Polen oder Portugal, merkt man: Diese Europäische Union ist im Umbruch und im Aufbruch. Lethargie, Problemstau und miese Stimmung herrschen nur in Deutschland. Dafür gibt es nur eine Lösung: Ihre Ablösung. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der historischen Dimension der Inhalte dieser Debatte frage ich mich schon, welche strategischen Implikationen die Beiträge der Opposition heute haben. Ich kann nur sagen: Wie gut, dass Sie in diesem Lande keine Verantwortung tragen. ({0}) Schauen wir uns an, was Sie heute hier geboten haben: In der Debatte über die europäische Verfassung werden einfach Punkte aneinander gereiht. Wir sind uns doch darin einig, dass die Erweiterung der EU und die Vertiefung der europäischen Beziehungen die zentralen Aufgaben sind, die wir gemeinsam lösen müssen. Wir befinden uns jetzt in der entscheidenden Phase der Gestaltung der Verfassung. Dann mit einem Neun-PunkteKatalog zu kommen und die ganze Debatte noch einmal aufnehmen zu wollen zeugt von Parteipolitik bezogen auf den EU-Wahlkampf. Das zeugt aber nicht von der Wahrnehmung deutscher Interessen für Europa in diesem Prozess. Sie machen Parteipolitik, wir gestalten Europa. Das ist der Unterschied. ({1}) Sie haben die ganze Latte vom christlichen Abendland bis zum Türkeibeitritt noch einmal runtergebetet. Lieber Kollege Hintze, Sie wissen ganz genau, dass die Frage des Türkeibeitritts in Ihrer Fraktion nicht so eindeutig beantwortet wird, wie Sie das heute dargestellt haben; sicherlich auch mit Blick auf die CSU, um sie mit im Boot zu haben. Sie wissen, dass Herr Rühe, Herr Polenz und andere aus Ihrer Fraktion sehr vernünftige Vorstellungen dazu entwickelt haben. Gerade die Türkeiproblematik zu benutzen, um sich von der Vertiefungsdebatte zu verabschieden, halte ich nicht nur hinsichtlich Ihrer Verantwortung für schwierig. Vielmehr deckt sich das auch in der Sache nicht mit dem, was ansteht. Sie wissen das ganz genau. Die Sicherheitspolitik der EU ist ein zentrales Thema, das vertieft werden muss. Die GASP wird eine entscheidende Rolle spielen. Die Sicherheitspolitik der EU mit der Türkei vertiefend zu gestalten ist angesichts der globalen Herausforderungen, vor denen wir gerade in Europa stehen, natürlich eine Chance. Damit könnten wir insbesondere eine gemeinsame Antwort auf die Herausforderungen geben, vor die uns der Terrorismus stellt. Der Türkeibeitritt bietet die Chance, die europäische Außenund Sicherheitspolitik zu vertiefen. Wir wollen die Rahmenbedingungen streng formulieren. Das haben wir immer gesagt. Aber wir sehen in diesem Prozess Chancen. Für diese Chancen engagieren wir uns. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich würde gerne noch mit einem anderen Vorurteil aufräumen, das heute wieder angesprochen wurde. Ich meine die Ausführungen zum Thema christliches Abendland. Ich weiß, dass man sich in diesen Debatten sehr schnell verzettelt. Aber wenn es vor dem Hintergrund all der ideologischen Auseinandersetzungen, die heute - auch im Bezug auf den Islam - geführt werden, um den Wert der Toleranz geht, dann plädiere ich dafür, das nicht auf das christliche Abendland zu begrenzen. Unsere europäische Kultur - damit haben die Griechen angefangen - ist durch den Wert demokratischer Entscheidungsstrukturen gekennzeichnet, was auch mit Toleranz und Akzeptanz von Unterschiedlichkeit verbunden ist. Wäre es nicht das Morgenland gewesen, das die griechische Kultur wieder nach Europa gebracht hätte, wüsste ich nicht, wo wir mit unseren Kulturbegriffen heute stehen würden. ({3}) Deshalb plädiere ich sehr dafür, die Debatte über Toleranz tolerant und aufgrund von Wissen um die Geschichte Europas zu führen. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir leben in der Europäischen Union. Die EU wird am 1. Mai dieses Jahres um zehn neue auf insgesamt 25 Staaten erweitert. Allein dies sind gute Gründe, die EU modern zu verfassen. Allerdings wird die künftige EU-Verfassung nur dann eine gemeinsame sein, wenn auch alle EU-Bürgerinnen und -Bürger darüber abstimmen. In vielen Ländern wird das so sein, ausgerechnet in Deutschland nicht. CDU und CSU waren immer dagegen. SPD und Grüne sprachen sich lange dafür aus. Inzwischen ist Rot-Grün in das Unionslager gewechselt. Ich finde, das schwächt die Demokratie, anstatt sie zu stärken. Die PDS im Bundestag bleibt bei ihrer Forderung: Volksabstimmung über die EU-Verfassung! Die Verfassung selbst ist ein Kompromiss, ein umstrittener zudem. Vor einem Vierteljahr kam der Prozess ins Stocken. Ein EU-Gipfel scheiterte. Nun, nach dem Regierungswechsel in Spanien und dem Einlenken Polens, ist die Debatte wieder offener. Aber viele Probleme bleiben. Ich habe hier schon vor einer Woche gesagt, dass Sie meine grundsätzliche Kritik an der zunehmenden Militarisierung der Politik kennen. In der künftigen Verfassung wurde sie sogar als Pflicht festgeschrieben. Als Reaktion auf diesen Satz rief der Abgeordnete Joseph Fischer dazwischen: „Genau so ist es!“. Herr Fischer ist im Ehrenamt Grüner und im Nebenberuf Außenminister. Er muss es also wissen. Die PDS lehnt eine Militarisierung der EU nach wie vor ab. Mit ähnlichen Sorgen sehen wir aktuelle Entwicklungen in der künftigen EU-Innenpolitik. Unter der Überschrift „Terrorbekämpfung“ werden Bürgerrechte abund Geheimdienste ausgebaut. Der Datenschutz wird preisgegeben und die Rolle des Parlaments geschwächt. Das alles steht im Widerspruch zum Verfassungsprozess. Er ging mit mehr Transparenz und Demokratie schwanger. Nun droht uns dort eine Fehlgeburt. Umso mehr begrüße ich es, dass das EU-Parlament gestern den Handel persönlicher Passagierdaten mit den USA moniert hat. Ich finde, wir sollten heute Abend die Chance ergreifen, der Bundesregierung mit dem FDP-Antrag auch einen entsprechenden Verhandlungsauftrag zu geben, um diesen Fehler zu korrigieren und ihre Zustimmung zur Übermittlung sensibler Daten zurückzuziehen. Die deutschen Unionsparteien wollen der Europäischen Union noch immer einen Gottesbezug verordnen. Die PDS will das nicht. Im Übrigen, liebe Kolleginnen und Kollegen, frage ich mich: Was würde ein Gottesbezug an der sozialen Schieflage ändern, die mit der so genannten Lissabon-Strategie verfolgt wird? Überhaupt: Es klingt ja mächtig und gewaltig, wenn die EU bis 2010 zur stärksten Wirtschaftsregion der Welt entwickelt werden soll. Es nützt nur wenig, wenn dabei immer mehr Bürgerinnen und Bürger verarmen. Aus all diesen Gründen teile ich den Optimismus, der auch heute gelegentlich unter dieser Kuppel schwebte, nicht. Auch außerhalb dieses Hauses herrscht Skepsis. Schauen wir also mal: Am 13. Juni wird ein neues EUParlament gewählt. Die PDS tritt als proeuropäische Partei für soziale Gerechtigkeit und gegen eine Militärunion an. Das ist unsere Linke, eine wählbare Alternative. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Martin Schwanholz, SPD-Fraktion.

Dr. Martin Schwanholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003632, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Tagung des Europäischen Rates im März 2000 in Lissabon haben sich die europäischen Staats- und Regierungschefs das fürwahr ehrgeizige Ziel gesetzt, die Europäische Union bis zum Jahr 2010 zum dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Vier Jahre später fällt die Bilanz des bisher Erreichten jedoch eher ambivalent aus. Die vor dem Frühjahrsgipfel von der Kommission vorgelegten Strukturindikatoren machen deutlich, dass das Reformtempo der Europäischen Union - Herr Staatsminister Bury hat es schon erwähnt - vehement beschleunigt werden muss, wenn die Lissabon-Ziele bis 2010 tatsächlich erreicht werden sollen. Deshalb haben die Staats- und Regierungschefs in der vergangenen Woche in Brüssel deutliche Prioritäten gesetzt, nämlich erstens die Schaffung von Arbeitsplätzen und zweitens die stärkere Förderung eines umweltverträglichen Wirtschaftswachstums. Diese beiden Bereiche sollen bis zur Halbzeitevaluierung der Lissabon-Strategie auf dem Frühjahrsgipfel 2005 im Fokus der Kraftanstrengungen der Mitgliedstaaten stehen. Wir Sozialdemokraten begrüßen diese Schwerpunktsetzung ausdrücklich; sie bestärkt uns darin, unsere Reformpolitik fortzusetzen. Mit der Agenda 2010 haben wir nämlich schon im vergangenen Jahr die Weichen in die richtige Richtung gestellt. ({0}) Die Europäische Kommission nennt in diesem Zusammenhang die Gesetze Hartz I bis Hartz IV: so zum Beispiel die Einrichtung von Jobzentren zur Verbesserung der Arbeitsvermittlung sowie die Arbeitsplatzschaffung durch niedrige Steuersätze und Sozialversicherungsbeiträge bei den Minijobs. Die Botschaft, die von diesem Frühjahrsgipfel ausgeht, ist auch die Botschaft der Politik dieser Regierungskoalition und der sie tragenden Fraktionen. Im Bereich der Beschäftigungspolitik haben die Staats- und Regierungschefs vergangene Woche in Brüssel vier Herausforderungen hervorgehoben: erstens den Abbau von Lohnnebenkosten, zweitens die Steigerung der Attraktivität des Arbeitsmarktes für mehr Menschen, drittens die Erhöhung der Qualität der Beschäftigung und viertens die Ausweitung der Investitionen in Humankapital. Wir sind in Deutschland bereits einen wichtigen Schritt weiter. Wir haben viele Schritte unternommen, um die Anreize zur Aufnahme einer Beschäftigung zu erhöhen, allerdings ohne dabei das hohe Sozialschutzniveau in unserem Land aufzugeben - wie ich finde, eine bemerkenswerte Leistung. ({1}) Wir haben mit der Reform des Gesundheitssystems den Abbau der Lohnnebenkosten eingeleitet und wir nehmen es ernst mit der Vision einer europäischen Wissensgesellschaft, wie sie in der Lissabon-Strategie verankert ist. Deshalb haben wir in den vergangenen fünf Jahren die Ausgaben für Bildung und Forschung um mehr als 25 Prozent auf über 9 Milliarden Euro im Jahr 2003 erhöht. Wir werden diese wichtigen Ausgaben weiter erhöhen. Denn eines ist klar: Der europäische Wirtschaftsraum ist nur dann langfristig konkurrenzfähig, wenn wir unseren Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit geben, sich auf einem hohen Niveau zu qualifizieren und sich ein Leben lang fortzubilden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir in Deutschland haben unsere Hausaufgaben gemacht; das bestätigt uns auch die Kommission in ihrem „Entwurf des gemeinsamen Beschäftigungsberichts 2003/2004“. Durch die Politik der Bundesregierung wurden beispielsweise - ich zitiere aus dem „Entwurf des gemeinsamen Beschäftigungsberichts 2003/2004“ - „neue Arbeitsanreize geschaffen für ältere Arbeitskräfte und für Arbeitskräfte am unteren Ende der Lohnskala“. Das ist eines der wesentlichen Probleme, die wir in Deutschland haben. Die Beschäftigungsquote der älteren Arbeitnehmer ist bei uns bisher auf immerhin 38,4 Prozent angewachsen und wird weiter anwachsen, wenn unsere Reformen erst einmal ihre volle Wirkung entfalten. Die Beschäftigungsquote der Frauen blieb 2002 konstant bei 58,8 Prozent und liegt damit über dem EU-15Durchschnitt von 55,6 Prozent. Das reicht uns aber noch nicht. Deshalb haben wir 4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt, um die Ganztagsbetreuung in Deutschland zu verbessern. Das wird viel mehr Frauen die Möglichkeit eröffnen, am Berufsleben teilzunehmen; das ist für uns eine wichtige Maßnahme. ({2}) Alles in allem erreichen wir in Deutschland schon heute eine Gesamtbeschäftigungsquote von annähernd 66 Prozent. Würden wir die auf europäischer Ebene festgelegten Kriterien zur Messung der Beschäftigungsquote heranziehen, erreichten wir mit über 69 Prozent schon heute fast das Lissabon-Ziel von 70 Prozent. Damit bewegen wir uns also auf einer Linie mit den zentralen Zielen der europäischen Beschäftigungspolitik im Rahmen der Lissabon-Strategie. Für Deutschland als wichtigstes Industrieland der Europäischen Union ein starkes Stück Deutschland um es einmal so zu auszudrücken. ({3}) Allerdings reichen die Anstrengungen in den Mitgliedstaaten nicht aus, um die Lissabon-Ziele zu erreichen; wir alleine können das nicht. Auch auf europäischer Ebene müssen sich die Rahmenbedingungen für mehr Beschäftigung und Wachstum ändern. So darf es nicht mehr sein, dass bestimmte Gesetze für europäische Unternehmen einen solchen bürokratischen Mehraufwand verursachen, dass Kosten in einer Höhe entstehen, die ihre Wettbewerbsfähigkeit in der globalisierten Welt beeinträchtigen. Damit muss endlich Schluss sein, meine Damen und Herren. Daher ist es zu begrüßen, dass der Europäische Rat der Kommission auf diesem Frühjahrsgipfel ins Stammbuch geschrieben hat, wie wichtig die Weiterentwicklung des Instruments der Gesetzesfolgenabschätzung ist. Nur wenn in Zukunft genau evaluiert wird, welche Auswirkungen ein Gesetzesvorhaben auf die europäische Industrie und Wirtschaft hat, wird die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Europa gewährleistet und dem Risiko einer Deindustrialisierung entgegengewirkt werden können. Wir sind hier auf dem richtigen Weg. Im Jahr 2003 wurden circa 20 Prozent der Gesetzesvorlagen, die unter diese Gesetzesfolgenabschätzung fielen, einer Überprüfung unterzogen; im Jahr 2004 werden es über 50 Prozent sein. Auf diesem Gebiet werden wir also einen Schritt vorankommen. Neben einer besseren Rechtsetzung müssen jedoch auch die Rahmenbedingungen für die europäische Industrie insgesamt überprüft werden. Unser Bundeskanzler Gerhard Schröder, Staatspräsident Chirac und Premierminister Blair haben dies schon mehrfach gefordert. Erfreulicherweise hat der Europäische Rat die Anregungen der drei Staats- bzw. Regierungschefs berücksichtigt und bekräftigt in seinen Schlussfolgerungen, „dass Wettbewerbsfähigkeit, Innovation und die Förderung einer Kultur des Unternehmertums maßgebliche Voraussetzungen für Wachstum sind“. Vor diesem Hintergrund wird die Kommission - auch auf Wunsch der Bundesregierung - bis April einen Bericht vorlegen, der konkrete Maßnahmen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie nennt. Meine Damen und Herren, wir wissen, dass ein hohes europäisches Beschäftigungsniveau sowie der Erhalt des europäischen Sozialmodells nur dann erreichbar sind, wenn es uns gelingt, sowohl durch eine bessere Rechtsetzung auf europäischer Ebene - dies klang heute schon an - als auch durch die Förderung unternehmerischer Innovationen Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität in der Europäischen Union zu steigern. Wir sind uns bewusst, dass die europäischen Staaten heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, vor großen Herausforderungen im wirtschaftlichen, aber auch im außen- und, wie eben gehört, sicherheitspolitischen Bereich stehen. Dasselbe gilt für das Projekt einer europäischen Verfassung. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass die Europäische Union immer nur dann einen großen Schritt vorangekommen ist, wenn alle an einem Strang gezogen haben. Ich fasse zusammen: Die Europäische Union braucht Schwung, keine Frage. Wir Sozialdemokraten haben den Schwung. Wir machen das gemeinsam mit unseren europäischen Partnern. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Peter Altmaier, CDU/CSU-Fraktion.

Peter Altmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Ergebnis des Europäischen Rates vom letzten Wochenende bestätigt einen deprimierenden Befund: Zweieinhalb Jahre nach dem verheerenden Anschlag des 11. September und drei Wochen nach dem schrecklichen Anschlag von Madrid verfügen weder die Europäische Union noch die Bundesregierung über eine nachvollziehbare, adäquate und wirksame Strategie gegenüber der wachsenden Bedrohung durch den Terrorismus. ({0}) Die eigentliche Spaltung der EU begann am 12. September 2001. Wir stellten fest, dass die europäischen Nationen entsprechend ihren alten nationalen Reflexen handelten. ... dass die Europäer sich nach einem Angriff auf ihren wichtigsten Partner sofort zusammengesetzt und eine strategische Analyse angestellt hätten, das ist nicht geschehen. Wir waren nicht dialogfähig, wo wir es hätten sein müssen, als die Konflikte aufbrachen, was dann definitiv in der Irakkrise der Fall war. Das mangelnde strategische Bewusstsein bei uns führte zur mangelnden strategischen Dialogfähigkeit mit dem Partner Amerika. ({1}) Dieses vernichtende Urteil stammt nicht von irgendeinem böswilligen Kommentator. Es stammt von niemand anderem als dem Außenminister, dem für Außenpolitik zuständigen Mitglied dieser Bundesregierung, in einem Interview mit der „FAZ“ vom 6. März dieses Jahres, genau fünf Tage vor dem verheerenden Anschlag von Madrid. ({2}) Herr Staatsminister Bury, mich interessiert, ob der Bundesaußenminister mit dieser Aussage die offizielle Position der Bundesregierung wiedergegeben hat oder ob es, wie üblich, die Privatmeinung des Bundesaußenministers war. Darüber hinaus würde mich, wenn die Analyse von Herrn Fischer stimmt, interessieren, was sich in der Zwischenzeit geändert hat. Welche Schlussfolgerungen haben wir aus dem Anschlag von Madrid denn gezogen? Die Antwort ist ernüchternd, aber eindeutig: eigentlich nichts. Darüber täuschen auch der kurzzeitige Aktionismus, das Sondertreffen der Innenminister und der Europäische Rat vom letzten Wochenende nicht hinweg. Auf diesem Europäischen Rat wurde eine Solidaritätsklausel beschlossen. Wir haben in den vergangenen Tagen die Bundesregierung mehrfach gefragt, was denn die konkrete politische, juristische und praktische Bedeutung dieser Solidaritätsklausel ist. Nichts gegen Solidarität, aber ich frage mich schon, was nach dem Anschlag von Madrid anders gewesen wäre, wenn wir diese Klausel zu dem Zeitpunkt schon gehabt hätten. Ich habe keinen Vertreter der Bundesregierung gefunden, der imstande gewesen ist, diese einfache Frage zu beantworten. Herr Staatssekretär Körper, Frau Ministerin Zypries, wenn Sie diese Frage beantworten können, würde ich mich sehr freuen, wenn Sie das dem Deutschen Bundestag erklären könnten. ({3}) Auf diesem europäischen Gipfel wurde auch ein europäischer Koordinator für die Terrorismusbekämpfung bestellt. Das ist löblich. Ich kenne den Kollegen de Vries aus dem Konvent. Er ist persönlich und fachlich hervorragend geeignet. Aber wenn Sie die großartigen Ankündigungen hören, dann müssen Sie sich doch fragen, was dieser Koordinator für Terrorismusbekämpfung eigentlich bewirken wird. ({4}) Ich zitiere aus den Schlussfolgerungen des Ratsvorsitzes: Der Koordinator koordiniert die Arbeiten des Rates zur Terrorismusbekämpfung und behält unter gebührender Berücksichtigung der Befugnisse der Kommission alle der Union zur Verfügung stehenden Instrumente im Auge, damit er dem Rat regelmäßig Bericht erstatten und ein wirksames Vorgehen aufgrund von Ratsbeschlüssen gewährleisten kann. ({5}) Ich bin davon überzeugt, dass der internationale Terrorismus nicht gerade erschüttert sein wird angesichts der Entschlossenheit der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten bei ihrem Vorgehen. ({6}) Ich glaube, mit Worthülsen alleine werden wir den Kampf gegen den Terrorismus nicht gewinnen. Die Bürger erwarten von Europa zu Recht nicht nur ein Mehr an Papier, sondern einen echten Mehrwert. Wir werden den Kampf auch nicht gewinnen - das ist ein Appell an das Bundesinnenministerium -, indem wir versuchen, mit den veralteten Mitteln des Intergouvernementalismus vorzugehen. Ich verhehle nicht, dass ich persönlich Bedenken bekommen habe, als ich gelesen habe, dass die fünf großen Mitgliedstaaten der Europäischen Union - Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien - eine Arbeitsgruppe zur Bekämpfung des Terrorismus eingerichtet haben. Ich bin der Meinung, dass sich der Terrorismus nicht per definitionem auf diese fünf Staaten begrenzen lassen wird. Was tun Sie denn, wenn Terroristen die Beneluxstaaten, Portugal oder Irland als Ausgangsbasis wählen und von dort aus operieren? In diesem Fall kommt es zum ersten Mal dazu, dass es einen exklusiven Kreis von Staaten gibt - das haben wir alle immer abgelehnt -, die eine Zusammenarbeit organisieren, die für die anderen Staaten nicht offen steht. Sie haben die anderen Staaten wie die Beneluxstaaten nicht einmal gefragt, ob sie bereit sind mitzumachen. Das haben Sie noch nicht einmal bei dem berühmten „Pralinengipfel“ getan. Eine solche Strategie wird in der Europäischen Union Misstrauen und Spannungen erzeugen. Die Alternative ist, wie ich glaube, klar: Wir müssen im Rahmen der Gemeinschaftsstrukturen dafür sorgen, dass wir auch im Bereich der Innen- und Justizpolitik vernünftige föderale Strukturen aufbauen mit einer starken Europäischen Kommission und einem Europäischen Parlament, das die Kommission kontrolliert und die Union damit nach außen handlungsfähig macht. ({7}) Meine Damen und Herren, wir alle hoffen, dass wir bis zum Ende der irischen Präsidentschaft den Verfassungsvertrag verabschieden werden. Wir haben gemeinsam mit Ihnen an vernünftigen Lösungen gearbeitet. Aber ich sehe mit Sorge - das verhehle ich nicht -, dass seit dem Beginn der Regierungskonferenz über den Verfassungsvertrag in vielen einzelnen Punkten nachverhandelt worden ist. Dadurch ist er nicht besser, sondern schlechter geworden, auch unter dem Gesichtspunkt, was wir für das europäische Interesse, die Handlungsfähigkeit und die Demokratie in Europa erreichen können. Die Verhandlungsstrategie der Bundesregierung ist daran nicht ganz unschuldig. Sie haben gesagt: Wir stellen keine Forderungen, wir wollen nicht nachverhandeln und wir wollen das Paket beieinander halten. Die Absicht ist ja löblich. Das Ergebnis ist aber, dass alle anderen - die Briten, die Franzosen und die Spanier - ihre Forderungen formuliert haben und dass wir inzwischen absehen können, dass es 20 bis 30 Änderungen im Entwurf des Konvents geben wird. Die Bundesregierung war nicht imstande, diese negativen Änderungen zu verhindern, weil sie in diesem Verhandlungsprozess nicht aktiv mit einem eigenen Konzept vorgegangen ist. ({8}) Der wahrscheinlich kläglichste Teil des Gipfels - deshalb ist darüber öffentlich auch nur wenig gesprochen worden - war die Debatte zur Lissabon-Strategie. Der Kollege Schwanholz hat auf das Problem hingewiesen. Zur Halbzeit des gemäß der Lissabon-Strategie vorgesehenen Zeitplans sind wir dem Ziel, das wir uns gesetzt haben, nicht näher gekommen. Die Lücke zu den erfolgreichsten Regionen der Welt hat sich weiter vergrößert.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Ende kommen.

Peter Altmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich komme zu meinen letzten Sätzen. Dafür gibt es einen Grund, nämlich die Politikunfähigkeit der Bundesregierung und ihre Schwäche beim Versuch, im innenpolitischen Bereich, also in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen und Soziales, für Wachstum zu sorgen. Mit jedem Tag, den wir durch Sie unseren eigenen Wachstumszielen nicht näher kommen und den es Ihnen nicht gelingt, einen Aufschwung herbeizuführen, machen wir es der Europäischen Union schwerer, ihre ursprünglichen Ziele zu erreichen. Deshalb wäre ein Politikwechsel hier bei uns auch eine gute Entscheidung für die gesamte Europäische Union. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Sanktionenrechts - Drucksache 15/2725 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Innenausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die FDP fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zypries.

Brigitte Zypries (Minister:in)

Politiker ID: 11003870

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem heute zu beratenden Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Sanktionenrechts setzen wir ein weiteres Zeichen für eine vernünftige und sachorientierte Kriminalpolitik. ({0}) Seit Mitte der 80er-Jahre hat es schon viele Initiativen zur Umgestaltung des strafrechtlichen Sanktionensystems gegeben. Bereits in der 10. Legislaturperiode gab es erste Initiativen dazu. Der Juristentag 1992 hat sich sodann damit befasst und Beschlüsse gefasst. In der 12. und 13. Legislaturperiode legte die SPD-Fraktion entsprechende Gesetzentwürfe in diesem Hause vor. Schließlich hat das Bundesjustizministerium zur Zeit der Regierung Kohl eine Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems eingesetzt. Diese legte im März 2000 ihren Abschlussbericht vor. Teile davon sind bereits in der letzten Legislaturperiode in einen erneuten Gesetzentwurf eingegangen, der allerdings nicht zu Ende beraten werden konnte. Mit dem Ihnen nun vorliegenden Gesetzentwurf nehmen wir im Wesentlichen die Vorschläge in dem Gesetzentwurf der letzten Legislaturperiode auf. Darüber hinaus sehen wir darin Möglichkeiten zur Ersetzung kurzer Freiheitsstrafen durch gemeinnützige Arbeit vor. Nun wissen wir alle, dass auch der heute zu beratende Gesetzentwurf auf erhebliche Vorbehalte im Bundesrat gestoßen ist und dass wir bezüglich der Vielfältigkeit der Sanktionsmöglichkeiten im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern ganz hinten liegen. Deshalb sei die Frage gestattet, ob sich Deutschland einer Reform des Sanktionenrechts wirklich grundsätzlich verschließen darf. ({1}) Ich meine, das wäre angesichts der Tatsache, dass die Bundesländer immer wieder über überfüllte Haftanstalten klagen, kaum verständlich. ({2}) Ich denke, dass wir den Spielraum der Gerichte erweitern müssen, um im Bereich der Kleinkriminalität und der mittelschweren Kriminalität auch anders auf die Straftäter einwirken zu können. Deshalb ermöglicht es unser Entwurf der Justiz, auf Straftaten künftig flexibler und effektiver zu reagieren. Das ist dringend erforderlich; denn die Zahl der Gefangenen steigt ständig. 1993 waren es noch rund 37 000 Personen, die zur Verbüßung von Freiheitsstrafen inhaftiert waren. Zehn Jahre später, im Jahre 2003, waren es schon 55 000 Personen, also 18 000 Gefangene mehr. In unseren Gefängnissen verbüßen außerdem von Jahr zu Jahr mehr Menschen eine so genannte Ersatzfreiheitsstrafe, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen konnten. Hier stiegen die Zahlen in dem genannten Zehnjahreszeitraum von knapp 1 800 auf rund 3 500 Gefangene. Es kann also aus diesen, aber auch aus anderen Gründen durchaus sinnvoll sein, einen Täter nicht aus seinem sozialen Umfeld und Arbeitsumfeld herauszureißen, sondern nach anderen Lösungen zu suchen. ({3}) Das gilt auch und gerade für solche Gefangene, die eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen müssen, die also eine Geldbuße nicht bezahlen können. Sie sitzen ja nicht deshalb ein, weil die Richterin oder der Richter meinte, dass unter Schuld- und Präventionsgesichtspunkten eine Verurteilung, ein Einsitzen erforderlich ist. Gerade bei diesen Gefangenen stellt sich die Frage: Warum können sie ihre Schuld nicht abarbeiten und damit innerhalb der Gesellschaft einen Beitrag leisten, statt auf Kosten der Länder ihre Strafe im Gefängnis abzusitzen? ({4}) Aus diesen Erwägungen heraus wollen wir die in mehreren Bundesländern bereits bestehende Möglichkeit zum - schlagwortartig formuliert - „Schwitzen statt Sitzen“ einheitlich im Bundesrecht verankern und als primäre Ersatzstrafe ausbauen. Ich meine, dass man über einen sinnvollen Einsatz gemeinnütziger Arbeit bei den Personen nachdenken kann, die zu einer kurzen Freiheitsstrafe bereits verurteilt worden sind; denn bei Wiederholungstaten der geringeren Kriminalität kann eine unabwendbare Freiheitsstrafe gleichwohl noch zu scharf sein. Damit fände genau das nicht statt, was ich mit einem gestuften Sanktionensystem gemeint habe. Hier wollen wir die Möglichkeit eröffnen, eine unbedingte Freiheitsstrafe quasi als Warnung zu verhängen, dem Täter aber gleichwohl die Chance geben, durch gemeinnützige Arbeit ebendiese Freiheitsstrafe abzuwenden. Neben diesem Gesichtspunkt wollen wir den Gerichten mehr Gestaltungsspielraum bei der Wahl der Sanktionen eröffnen und deshalb das Fahrverbot zu einer Hauptstrafe ausbauen und es von jetzt drei Monaten auf dann sechs Monate verlängern. Das Fahrverbot - das wissen wir alle - trifft so manchen Täter härter als eine Geldstrafe, insbesondere dann, wenn er über ein erkleckliches Einkommen oder Vermögen verfügt. Wir werden außerdem aus der bisherigen Verwarnung mit Strafvorbehalt in § 59 StGB eine Verurteilung mit Strafvorbehalt machen und auch diese Sanktionen ausbauen. Diese Verurteilung muss mit Auflagen oder Weisungen verbunden werden, die der Tat und dem Täter entsprechen. Wir ermöglichen so, wie wir meinen, eine bessere Resozialisierung. ({5}) Das weitere Ziel dieses Gesetzentwurfes ist, noch mehr für die Opfer von Kriminalität zu tun. Wir haben im Bundestag bereits verschiedene Gesetze verabschiedet, die die Stellung der Opfer insgesamt stärken, und auch kürzlich das Opferrechtsreformgesetz auf den Weg gebracht. Wir wollen jetzt auch im Sanktionenrecht den Gedanken der Wiedergutmachung der Schäden stärker in den Vordergrund rücken. Deswegen ist vorgesehen, dass der Staat von seinem Anspruch auf Eintreibung einer Geldstrafe zurücktritt, wenn das Opfer ansonsten keinen Ersatz durch den Täter erhalten würde. Auf gut Deutsch: Wenn die Mittel des Täters zu gering sind, erhält zunächst einmal das Opfer sein Geld. Erst dann kann der Staat seine Forderung nach einer Geldstrafe erheben. Wir meinen, dass die Interessen der Opfer wichtiger als die des Staates und seiner Gerichtsbarkeit sind. ({6}) Zur Wahrung von Opferinteressen gehört auch, dass die Einrichtungen, die sich speziell um Opfer kümmern, finanziell besser ausgestattet werden. Vereine der Opferhilfe - das ist hier schon häufig betont worden - leisten einen wichtigen Beitrag für unsere Gesellschaft und insbesondere für die betroffenen Opfer. ({7}) - Das ist wahr, Herr Kauder, und Sie ganz besonders. Unser Gesetzentwurf sieht deshalb vor, dass künftig 5 Prozent einer Geldstrafe einer Einrichtung der Opferhilfe zugewiesen werden sollen. Damit sind wir der Kritik des Bundesrates bereits entgegengekommen. Sie wissen, dass der Entwurf in der letzten Legislaturperiode noch 10 Prozent für die Opferhilfe vorsah. Die Länder lehnen aber aus rein fiskalischen Erwägungen auch diese 5 Prozent ab, weil ihnen dann die Einnahmen aus der Geldstrafe entgehen. Ich habe bei der Beratung im Bundesrat signalisiert, dass wir bereit sind, über andere Lösungsformen nachzudenken, um zu vermeiden, dass die Opferverbände gänzlich leer ausgehen. Denn es kann nicht sein, dass diese entweder 5 Prozent oder gar nichts bekommen. Wir müssen kreativ an eine Lösung herangehen und überlegen, wie man das sonst regeln kann. Insofern bitte ich Sie herzlich, auch durch Ihre Beratungen im Rechtsausschuss mitzuhelfen, im Interesse der von uns allen gewollten verbesserten Situation der Opfer zu Lösungen zu kommen. Ich will nicht verhehlen, dass ich die Einwände des Bundesrates hinsichtlich der Kosten der gemeinnützigen Arbeit nicht nachvollziehen kann. ({8}) Kürzlich hat Sachsen-Anhalt dargetan, dass mehr als 96 000 Hafttage allein in Sachsen-Anhalt durch Ableistung von Ersatzfreiheitsstrafen durch gemeinnützige Arbeit eingespart wurden. ({9}) Das wurde unter Zugrundelegung des reinen Verpflegungsgeldes auf 200 000 Euro und unter Zugrundelegung der realen Haftkosten auf 7,2 Millionen Euro hochgerechnet. Ich habe aus dieser Presseerklärung den Eindruck gewonnen, dass vielleicht viele Länder Sorge haben, wir wollten in ihr bestehendes System der Organisation von Haftstrafen eingreifen. Das wollen wir natürlich gar nicht. Das ist nicht das Bestreben der Bundesregierung. Im Gegenteil: Sie wissen, dass wir all das unterstützen, was sachgerechte und gute Ergebnisse bringt. Uns geht es lediglich darum, zum einen diejenigen Länder zu ermuntern, auch solche Verfahren einzuführen, die das bisher noch nicht oder nur in einem sehr geringen Maße tun. Zum anderen geht es uns auch darum, Richterinnen und Richtern deutlich zu machen, dass es einen Spielraum gibt, um Sanktionen zu finden, die der jeweiligen Täterpersönlichkeit angemessen sind. ({10}) Denn die Zielgruppe unserer Reform sind - ich möchte nicht, dass darüber ein Irrtum entsteht - die kleineren Straftäter, die kleineren Wiederholungstäter wie Ladendiebe oder mehrfache Schwarzfahrer, aber keine Schwerverbrecher. Wir wollen nicht, dass Schwerverbrecher „schwitzen statt sitzen“. Ich meine, dass unsere Reform ein ausgewogenes Konzept bietet, damit Richterinnen und Richter bei der Wahl der Sanktionen besser als bisher auf den Einzelfall eingehen können. Das sollten wir alle im Sinne einer vernünftigen Strafrechtspflege wollen. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Kauder, CDU/CSU-Fraktion.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Justizministerin! Der Gesetzentwurf ist eine Sammlung aus dem Kuriositätenkabinett. ({0}) Nicht nur, dass das Sanktionensystem, das aus einem fein abgestuften Gebäude besteht, aufgebrochen wird, es wird regelrecht verkehrt und auf den Kopf gestellt. ({1}) - Beifall, wo Beifall angemessen ist. Mehr als einmal klatschen war bei dieser Vorstellung nicht drin. ({2}) Lassen Sie mich das an einem Beispiel erklären. Die Brüder A und B fahren nach einem geselligen Zusammensein jeder in seinem Fahrzeug betrunken nach Hause. Sie fahren in eine Fußgängergruppe hinein. Bei Bruder A hat das schlimme Folgen; er fährt einen Menschen tot. Bei Bruder B wird ein Mensch nur verletzt. Siegfried Kauder ({3}) ({4}) Der Richter reagiert maßvoll. Bruder B, der einen Menschen nur verletzt hat, erhält eine Freiheitsstrafe von drei Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wird. Er muss 150 Stunden gemeinnützige Arbeit ableisten, was er auch tut. Bei Bruder A sieht es anders aus. Er hat einen Menschen zu Tode gebracht. Zur Verteidigung der Rechtsordnung hält es der Richter für geboten, dass dieser Bruder eine Freiheitsstrafe von drei Monaten ohne Bewährung bekommt. ({5}) Nun sollte man vermuten, dass Bruder A die Haftstrafe verbüßen muss. Das muss er aber nicht. Wenn es nach den Vorstellungen von Rot-Grün geht, kann er nämlich, weil er Ersttäter ist, diese Haftstrafe abarbeiten, und zwar in Form von gemeinnütziger Arbeit, die er auch leistet. ({6}) - Ich möchte erst mein Beispiel zu Ende führen, Herr Kollege Montag. Jetzt ziehen wir eine Zwischenbilanz. Bruder A, der eine Freiheitsstrafe hätte absitzen müssen, ist nach dem Ableisten der gemeinnützigen Arbeit lastenfrei; denn die Strafe ist verbraucht. Bei Bruder B sieht es anders aus. Er hat zwar auch gemeinnützige Arbeit geleistet, aber er nimmt eine Bürde in Form einer Freiheitsstrafe von drei Monaten zur Bewährung mit in die Zukunft. Beide Brüder haben darüber hinaus das gleiche Problem: Sie haben wegen ihrer Verurteilung keinen Führerschein mehr. Sie fahren aber ohne Fahrerlaubnis weiter. Bruder B wird dabei erwischt. Der Richter sagt: Das kann doch nicht wahr sein; er hat wohl nichts dazugelernt. - Nun bekommt Bruder B eine Freiheitsstrafe von zwei Monaten ohne Bewährung zur Einwirkung auf ihn und zur Verteidigung der Rechtsordnung. Wie es der Teufel will, ({7}) fährt auch Bruder A weiterhin ohne Führerschein. Diesmal fährt er einen Fußgänger an, der zum Glück nicht stirbt, sondern nur verletzt wird. Welche Folgen hat das für Bruder A? ({8}) Er hatte die erste Freiheitsstrafe abgearbeitet; sie ist verbraucht. Damals waren es drei Monate ohne Bewährung. Jetzt müssen es fünf Monate ohne Bewährung sein. Nun wird Bruder A sicherlich endlich einmal seine Strafe verbüßen müssen. - Nein! Denn Bruder A - durch einen Verteidiger gut beraten, Herr Kollege Ströbele - sagt dem Richter: Ich bin gerne bereit, den Schaden wiedergutzumachen, und biete ein Schmerzensgeld an. Die erste Rate habe ich schon überwiesen. - Nach dem Willen von Rot-Grün würde der Richter darauf erwidern: Na schön, die Schadenswiedergutmachung geht vor. Deswegen kannst du den Schaden wiedergutmachen und gemeinnützige Arbeit leisten; du musst nicht ins Gefängnis gehen. Wie geht es aber dem anderen Bruder, der weit weniger kriminelle Energie aufgebracht hat? Bei ihm ist nur ein Mensch verletzt worden. Bei Bruder A ist ein Mensch tot und einer verletzt. Wissen Sie, was mit Bruder B passiert? - Er fährt vier Monate ins Gefängnis ein, und zwar aus folgendem Grund: Die gegen ihn verhängte Freiheitsstrafe von zwei Monaten kann er nicht in Form von gemeinnütziger Arbeit ableisten, weil er ein Wiederholungstäter ist und keinen Schaden wiedergutmachen kann. Er verbüßt die zwei Monate auch voll, weil nach § 57 Abs. 1 Nr. 1 Strafgesetzbuch bei einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten keine Aussetzung des Strafrestes nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Strafe möglich ist. Bei seiner ersten Strafe, die zur Bewährung ausgesetzt wurde, wird die Bewährung widerrufen. Davon sitzt er zwei Drittel ab. Zwei Drittel von drei Monaten sind - das kann jeder schnell nachrechnen - zwei Monate. Derjenige, der eine geringere kriminelle Energie aufgebracht hat, sitzt also insgesamt vier Monate ab, ohne dies abwenden zu können, während derjenige, der die höhere kriminelle Energie an den Tag gelegt hat, davonkommt, ohne die Strafe verbüßen zu müssen. Frau Ministerin, da halte ich es mit Frau Dr. Merkel: Was sinnvoll ist, machen wir mit. Was nicht sinnvoll ist, tragen wir nicht mit.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Montag? ({0})

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kollege Kauder, das ist ein Beispiel aus Absurdistan. Ich frage Sie, ob Ihnen bekannt ist, dass der Letzte, der angeklagt war, weil er betrunken Auto gefahren ist und dabei einen Menschen totgefahren hat und mit einer kleinen Freiheitsstrafe davonkam, der bayerische CSU-Minister Wiesheu war und dass danach in der Bundesrepublik Deutschland keine Freiheitsstrafen von drei Monaten mehr ausgesprochen worden sind, wenn jemand im Straßenverkehr alkoholisiert einen Menschen totgefahren hat?

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Montag, ich bin dankbar für Ihre Zwischenfrage. Sie dokumentiert nämlich, dass Sie dem Problem nicht auf den Grund gehen, sondern versuchen, mit Einzelfallbeispielen rechtliche Grundsätze auszuhebeln. ({0}) Wenn Sie mir die grundsätzliche Problematik erläutern können, höre ich Ihnen im Ausschuss gerne zu. Aber das, was Rot-Grün vorgelegt hat, ist Absurdistan. Hierfür könnte ich Ihnen noch weitere Beispiele nennen. Vielen Dank. ({1}) Nun komme ich auf das zu sprechen, bei dem ich der Justizministerin Beifall gezollt habe. Es ist gut - das soll im Übrigen auch europäischer Standard werden -, dass ein Teil der Geldstrafen den Opferschutzorganisationen zur Verfügung gestellt werden soll. Aber, Frau Justizministerin, Sie wissen genau, dass das eine Luftnummer ist; denn die Länder werden nicht zustimmen. ({2}) Ich hätte mir gewünscht, dass die Ministerin strategisch vorgegangen wäre. Wenn man mit leerem Tornister zu armen Ländern reist, deren Kassen leer sind, dann wird man mit einer Maßnahme, die den Ländern einen Einnahmeausfall von 20 Millionen Euro beschert, wohl kaum auf offene Ohren stoßen. Sie haben einen Trumpf im Ärmel gehabt, den Sie aber verspielt haben. Das Kostenrechtsmodernisierungsgesetz spült nicht zulasten des Bundes, sondern zulasten der Kostenschuldner bei Gerichtsverfahren 111 Millionen Euro in die Kassen der Länder. Ich hätte erwartet, dass eine kluge Ministerin dies als Manövriermasse in ihrem Tornister mitnimmt und den Ländern sagt: Wir stimmen dem Entwurf eines Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes, das euch 111 Millionen Euro einbringt, zu, wenn ihr wenigstens 20 Millionen Euro für die Entschädigung der Opfer von Straftaten zur Verfügung stellt. Aber diese Chance haben Sie verspielt. ({3}) Im Übrigen instrumentalisieren Sie in der Debatte über den vorliegenden Entwurf die Opferinteressen. ({4}) Sie wollen, dass ein Straftäter, der die gegen ihn verhängte Geldstrafe nicht bezahlen kann, ohne den Anspruch des Opfers auf Schadenswiedergutmachung zu gefährden, einen Bonus bekommt. Eine ähnliche gesetzliche Vorschrift gibt es bereits. Nach § 459 a der Strafprozessordnung können Opfer vor Gericht die Zurückstellung der Eintreibung der Geldstrafe beantragen, bis Schadenersatz geleistet ist. Von dieser Möglichkeit wurde auch Gebrauch gemacht. Aber Sie wollen diese Vorschrift ersatzlos streichen. Dafür soll der Täter einen Bonus bekommen. Er darf den Schaden wiedergutmachen, was auf die Geldstrafe angerechnet wird. Damit privilegieren Sie Straftäter gegenüber jedem anderen Schuldner. Das wollen und werden wir nicht mitmachen. ({5}) Frau Ministerin, Sie reden so locker und lässig von „schwitzen statt sitzen“ und weisen darauf hin, dass die Gefängnisse voll seien. Sie vertreten hier auf einmal Landesinteressen; denn der Vollzug der Strafe ist Ländersache und nicht Bundessache. Es kann doch wohl nicht sein, dass man der Bevölkerung sagt: Wir können Straftäter ihre Strafe nicht verbüßen lassen, weil die Gefängnisse voll sind. Dann muss man dort etwas regeln. ({6}) Frau Ministerin, Sie weichen aus. Statt „sitzen“ soll gemeinnützige Arbeit geleistet werden. So viele Vereine, wie Sie dafür brauchen, können Sie gar nicht gründen. Nicht nur ich, sondern wahrscheinlich auch viele von Ihnen sind Vorsitzende von gemeinnützigen Vereinen und kennen die Last für die Vereine, wenn sie gemeinnützige Arbeit ableisten lassen. Das ist ein riesengroßer Verwaltungsaufwand, der von ehrenamtlich Tätigen erwartet wird. Diese sind aber nicht verpflichtet, den staatlichen Strafanspruch durchzusetzen. Sie müssen mir einmal erklären, wie ein Verein mit einer fünfmonatigen Freiheitsstrafe, die durch gemeinnützige Arbeit abgeleistet werden soll, umgehen soll. Ein Tag Freiheitsstrafe sind sechs Stunden gemeinnützige Arbeit. Bei fünf Monaten sind das 900 Stunden gemeinnützige Arbeit, von denen zwei Drittel binnen 18 Monaten abgeleistet werden müssen. Erklären Sie mir bitte einmal, welcher Verein das leisten soll! Zusammenfassend: Der Gesetzentwurf hat nur wenige vernünftige Ansätze. Wir sind zwar bereit, diese mitzutragen. Aber Sie können von uns nicht verlangen, Unsinn zu unterstützen. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/ Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Reform des Sanktionenrechts ist dringend notwendig. Frau Bundesjustizministerin hat darauf hingewiesen, wie viele Jahre in diesem Hause über eine solche Reform nachgedacht worden ist und dass es der Vorgängerregierung, die viele Jahre regiert hat, nicht gelungen ist, mehr als nur Reden zu halten, zu einem schlüssigen Konzept zu kommen und den Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Sanktionenrechts vorzulegen. Der jetzt vorliegende Entwurf ist Ausdruck unserer fortschrittlichen, in die Zukunft gerichteten Rechtspolitik. ({0}) Sie bedauern ja fortwährend, Sie hätten nichts zu tun und es rege sich in der Rechtspolitik wenig. Jetzt haben Sie etwas Konkretes auf dem Schreibtisch liegen; daran können Sie sich abarbeiten. Es ist ein Beispiel für das, was wir unter einer fortschrittlichen Reform in der Rechtspolitik verstehen. ({1}) Das Erwachsenenstrafrecht im Bereich der kleinen und der mittleren Kriminalität ist einfach zu unflexibel. Es ist notwendig, dass wir dieses Instrument in den Händen der Strafrichterinnen und Strafrichter flexibler machen. Warum ist das so? Die Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland wächst nicht. Auch die Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland wächst nicht. Nur die Anzahl der Strafgefangenen wächst dramatisch. ({2}) Das hängt nicht mit der Quote der Aufklärung durch die Polizei zusammen, sondern damit, dass wir das Strafrecht fortwährend verschärfen und keine Möglichkeiten haben, in einer anderen Art und Weise auf diejenigen tatsächlich einzuwirken, die eine Verfehlung begangen haben und deswegen auch eine Ahndung vonseiten des Staates zu spüren bekommen sollen. Eine Freiheitsstrafe unter sechs Monaten sollte eigentlich eine Ausnahme sein. ({3}) Sie ist es aber nicht. Die Bundesjustizministerin sagte hier in einer Fragestunde zu diesem Thema - ich zitiere -: Im letzten Jahr gab es beispielsweise 144 Fälle, in denen die Bestraften wegen Beleidigung zu einer Freiheitsstrafe von knapp sechs Monaten ohne Bewährung verurteilt worden sind. Das bisherige Muster ist zu kleinmaschig. Es sieht folgendermaßen aus: Geldstrafe, bei Unmöglichkeit der Zahlung sofort Ersatzfreiheitsstrafe. Dadurch werden Tausende von Menschen mit Ersatzfreiheitsstrafen in den Strafvollzug geschickt. Dorthin kämen sie nicht, wenn wir den Richtern ein vernünftiges Instrument gäben, das diesen Schritt verhindert. Es gibt in diesem Fall für die Länder eine Öffnungsklausel. Wir meinen, dass diese Öffnungsklausel das nicht erreicht hat, was sie erreichen sollte. Erst vor einigen Tagen habe ich davon gehört, wie in BadenWürttemberg auf der Grundlage dieser Öffnungsklausel angeblich vorgegangen wird: Derjenige, der eine Geldstrafe nicht zahlt und gegen den eine Ersatzfreiheitsstrafe verhängt wird, rückt ein; wenn er am ersten Tag des Vollzugs der Ersatzfreiheitsstrafe die Hälfte der Strafe bezahlt, dann wird ihm die andere Hälfte erlassen. Ich muss Ihnen sagen: Das ist allerdings keine moderne Form des Umgangs mit diesem Thema. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kauder?

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Montag, sind Sie mit mir einig, dass sich aus Ihren Ausführungen ein Wertungswiderspruch zu Ihrer Zwischenfrage ergibt? Haben Sie mir nicht vorhin vorgehalten, es gebe in Deutschland heutzutage keinen Richter mehr, der für eine Trunkenheitsfahrt drei Monate Freiheitsstrafe ohne Bewährung verhänge? Gerade haben Sie mir erzählt, dass es in Deutschland sogar bei Beleidigungen kurzfristige Freiheitsstrafen geben soll. ({0})

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Kauder, Sie haben meine Zwischenfrage offensichtlich nicht verstanden ({0}) und Sie haben das, was ich eben gesagt habe, nicht verstanden. Mir fehlt die Zeit, Ihnen das noch einmal ausführlichst zu erklären. Nur so viel: Wenn Sie Tötungen im Straßenverkehr, seien sie auch fahrlässig begangen, mit Beleidigungen auf eine Stufe stellen ({1}) und sich dann darüber mokieren, dass das - angeblich gleich bzw. ungleich bestraft wird, dann geht das wirklich haarscharf an der Sache vorbei, lieber Herr Kollege Kauder. ({2}) - Ich habe Ihre Frage beantwortet. ({3}) Herr Kollege Kauder, ich will Ihnen Folgendes sagen: Weder Ihre Kritik von heute, die sich auf die Darstellung eines tatsächlich absurden Falles beschränkt, noch die Kritik, die der rechtspolitische Sprecher Ihrer Bundestagsfraktion zum Gesetzesvorschlag zur Reform des Sanktionenrechts geäußert hat, setzt sich sachlich mit dem auseinander, was konkret vorgeschlagen wird. Herr Dr. Röttgen, Ihr rechtspolitischer Sprecher, hat zu diesem Gesetzentwurf gesagt - ich darf zitieren -: Inhalt dieses Gesetzentwurfs ist eine Verharmlosung und Aufweichung staatlicher Sanktionierung kriminellen Verhaltens. Jetzt dürfen Sie pflichtgemäß klatschen, ({4}) aber ich sage Ihnen: Eine inhaltsleerere Kritik als die, die sich Ihr rechtspolitischer Sprecher da geleistet hat, kann es angesichts eines Entwurfs mit vielen ganz konkreten Änderungsvorschlägen zum bisher begrenzten Sanktionensystem überhaupt nicht geben. ({5}) Wir schauen nach dem, was Sie eigentlich konkret vorschlagen, und finden null Komma null. Seit Jahren schlagen Sie Folgendes vor: höhere Strafen, immer mehr Repression, Strafe als Zerstörung und nicht als Reintegrationsmöglichkeit und als Hilfe für ein zukünftig straffreies Leben. ({6}) Der letzte Vorschlag von Ihnen lautete: Erhöhung der Jugendhöchstfreiheitsstrafe von zehn auf 15 Jahre. Alles, was Sie uns anbieten, ist von gestern, ist keine moderne Rechtspolitik. ({7}) Zu der Länderkritik an unseren Vorschlägen, die den Opfern und den Opferhilfeverbänden zugute kommen sollen, will ich in allem Ernst nur Folgendes sagen - das hat die Bundesregierung auch wortwörtlich in ihrer Gegenäußerung geschrieben -: Die Länder, der Staat, haben keinen Anspruch auf Geldstrafen. - Im Sinne eines modernen Blicks auf die Haushalte darf man nicht nur darauf schauen, dass man die 5 Prozent, die von den Geldstrafen an die Opferhilfeverbände gehen sollen, nicht bekommt. Man darf auch nicht nur darauf schauen, was es kostet, die Organisation aufzubauen, damit „schwitzen statt sitzen“ wirklich in dem erwarteten Maß möglich wird. Man muss doch auch gegenrechnen, dass jeder Tag Vollzug 75 bis 95 Euro kostet. Da kann man sparen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, schauen Sie bitte auf die Uhr.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. - Man muss ferner gegenrechnen, dass der Staat die Opferhilfeverbände auch sonst subventionieren und unterstützen müsste. Das alles müssen Sie in Ruhe gegenrechnen. Wenn Sie das tun, dann können wir mit den Ländern in ein konstruktives Gespräch treten und dann werden wir die Länder davon überzeugen können, dass dieser Entwurf auch ihnen nützt und außerdem für eine moderne Strafrechtspflege und für eine moderne Kriminalitätspolitik genau das Richtige ist. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Wissing, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP begrüßt eine Reform unseres strafrechtlichen Sanktionensystems. Die Frage ist nur: Wie soll diese Reform aussehen? Angesichts der langjährigen Diskussion, die über dieses Thema geführt worden ist, ist der vorgelegte Regierungsentwurf mehr als enttäuschend. ({0}) Sie wollen es Straftätern ermöglichen, Geldstrafen durch gemeinnützige Arbeit abzuarbeiten. Dagegen ist nichts einzuwenden. „Schwitzen statt sitzen“ ist eine gute Idee. Die Länder haben solche Modelle längst eingeführt. Sie werden dort erfolgreich praktiziert und haben sich bewährt. Das alles ist nichts Neues, Frau Bundesjustizministerin. ({1}) Trotzdem ist Ihr Entwurf einmalig. ({2}) Sie führen nämlich den Dreistundenarbeitstag in Deutschland ein. Sie wollen, dass ein Tagessatz Geldstrafe künftig mit drei Stunden Arbeit abgegolten ist. Das kann die FDP weder nachvollziehen noch mittragen. ({3}) Ihr Gesetzentwurf geht damit an den gesellschaftlichen Realitäten in unserem Land vorbei. Im öffentlichen Dienst diskutieren wir eine Erhöhung der Arbeitszeit auf 42 Stunden, ({4}) eine Arbeitszeit, die für Selbstständige eine reine Wunschvorstellung ist, ({5}) und Sie wollen ausgerechnet für Straftäter die 15-Stunden-Woche einführen. Diese Idee hätte ich allenfalls der IG Metall zugetraut. ({6}) Ihre Rechtspolitik ist an dieser Stelle abgehoben. Sie wird der Sache nicht gerecht und sie ist auch den Menschen in Deutschland nicht mehr zu vermitteln. Ihr Gesetzentwurf lässt ganz entscheidende Fragen unbeantwortet. Es ist nicht klar, ob es überhaupt möglich sein wird, genügend geeignete Arbeitsplätze anzubieten. Ebenso ist nicht klar, was die Betreuung, Begleitung und Überwachung der gemeinnützigen Arbeit kosten wird. Hier, Frau Ministerin, liegen doch in der Praxis die Probleme. ({7}) Sie belasten die Länder mit zusätzlichen Kosten, deren Höhe Sie überhaupt nicht einschätzen können. Solange diese wesentlichen Punkte nicht geklärt sind, lehnen wir die Reform ab. Ihr Gesetz wird erhebliche Kosten mit sich bringen. Die ohnehin schon knappe Personaldecke der Strafverfolgungsbehörden wird dadurch weiter belastet. Ich warne davor; Sie werden der Strafrechtspflege damit einen Bärendienst erweisen. ({8}) Ich habe den Eindruck, mit jeder verlorenen Landtagswahl verliert die SPD mehr und mehr Praxis- und Realitätsbezug. Sie scheinen sich von der Verantwortung auf Landesebene schleichend zu verabschieden. ({9}) - Wir regieren auf Landesebene verantwortlich mit. Ein Beleg dafür ist Ihr Vorschlag, künftig 5 Prozent jeder Geldstrafe zwingend an Opferschutzeinrichtungen zu überweisen. Sie greifen damit in fremde Taschen, Frau Bundesjustizministerin, um rot-grüne Träume zu finanzieren. ({10}) Wir können nicht widerspruchslos hinnehmen, dass der Bund das Geld der Länder großzügig an gemeinnützige Organisationen verteilt. Sie zahlen ja auch nicht 5 Prozent der Einnahmen aus der Ökosteuer an Umweltverbände. Der Opferschutz in Deutschland muss nicht neu erfunden werden. Es gibt genügend Opferschutzstiftungen und gemeinnützige Organisationen, die hervorragende Arbeit leisten und auch in Zukunft in der Lage sind, diese Aufgabe zu erfüllen. Ihre Vorgängerin, Frau Bundesjustizministerin, hatte vorgeschlagen, 10 Prozent der Geldstrafen an Opferhilfeeinrichtungen zu geben, Sie kommen uns mit 5 Prozent. Mein Vorschlag lautet: Gehen Sie noch einmal 5 Prozent runter, dann sind wir miteinander im Geschäft. ({11}) Sie drehen hier an den falschen Schrauben. Die Opfer von Straftaten würden es mehr begrüßen, wenn Sie dafür sorgten, dass eine Strafe in Deutschland eine Strafe bleibt. Die Opfer von Straftaten erwarten vor allen Dingen eine konsequente Strafvollstreckung und eine effiziente Strafverfolgung. ({12}) Es macht doch keinen Sinn, immer härtere Strafen in unsere Gesetzbücher hineinzuschreiben und Verfahren mit erheblichem Aufwand zu betreiben, wenn am Ende die Vollstreckung der Strafe zur Farce verkommt. ({13}) Bei Ihrem Gesetzentwurf gewinnt man den Eindruck, Sie wollten die Strafvollstreckung mit möglichst geringem Aufwand und möglichst wenigen Belastungen für die Verurteilten auf dem kleinen Dienstweg erledigen. Ich sage Ihnen ganz klar: Diesen Weg gehen wir nicht mit. Wir akzeptieren auch nicht die von Ihnen vorgeschlagene Entwertung der Geldstrafe. Es ist rechtspolitisch verfehlt, dass zwei Tagessätze künftig nur noch einem Tag Ersatzfreiheitsstrafe entsprechen sollen. Es kann doch nicht sein, dass jemand, der zur Zahlung von zehn Tagessätzen verurteilt wurde und diese weder bezahlt noch abarbeitet, am Ende nur fünf Tage Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen muss. Im Klartext bedeutet Ihre Rechnung doch, dass man seine Strafe halbieren kann, indem man sich weigert, sie zu bezahlen. ({14}) Ihr Vorschlag wird - das prophezeie ich Ihnen - dazu führen, dass die Gerichte bei der Festsetzung von Geldstrafen künftig das Doppelte wie bisher festsetzen. ({15}) Sie bringen ein funktionierendes System durcheinander, ohne dass Sie eine durchdachte Alternative bieten könnten. ({16}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf, es gehe Ihnen um eine bessere Berücksichtigung der Opferinteressen. Wie müssen sich die Opfer von Straftaten fühlen, wenn sie Ihren Katalog der Annehmlichkeiten für Straftäter lesen? Frau Bundesjustizministerin, Ihr Gesetzentwurf ist unausgegoren. Die FDP sieht hier noch erheblichen Nachbesserungsbedarf. Ich bin sicher, dass dafür mehr als drei Stunden am Tag gearbeitet werden muss. Ich danke Ihnen. ({17})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Wissing, Sie sind am 23. Januar dieses Jahres in den Deutschen Bundestag nachgerückt. Es war Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. Ich gratuliere Ihnen recht herzlich und wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute. ({0}) Das Wort hat der Kollege Joachim Stünker, SPDFraktion.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Mehrheit des Bundesrates und die CDU/CSU-Fraktion in diesem Hause haben in der Tat äußerst kritische Stellungnahmen zu dem vorliegenden Gesetzentwurf abgegeben. Bei der FDP war das bisher anders. Ich hoffe, dass das, was wir gerade gehört haben, nicht die neue liberale Rechtspolitik der FDP darstellt. ({0}) In den Stellungnahmen der Länder heißt es, dass die wesentlichen Punkte der Regierungsvorlage kriminalpolitisch verfehlt seien. Die Vorschläge zur gemeinnützigen Arbeit und zur Verwarnung mit Strafvorbehalt würden die strafrechtliche Praxis vor kaum überwindbare Probleme stellen. Man versteigt sich sogar zu der Behauptung, das verfassungsrechtliche Gebot einer effektiven Strafverfolgung werde dadurch verletzt. Weiter heißt es, die Spezial- und die Generalprävention des Strafrechts würden geschwächt und die Strafvollstreckung werde in beträchtlichem Maße verzögert. Das ist in der Tat starker Tobak. Wenn dem so wäre, hätten wir einen solchen Entwurf nicht vorgelegt. Das Gegenteil ist aber der Fall. ({1}) Wer so dicke Backen macht wie Sie mit Ihren Formulierungen, der muss einen Grund dafür haben. ({2}) - Ja, ich meine die Wangen. Das ist - im Chor mit der CDU/CSU - die Stellungnahme genau der Länder, die sich in dieser Legislaturperiode ansonsten ausschließlich dadurch hervorgetan haben, im Bereich der Kriminalpolitik immer mehr, immer schärfere und immer höhere Strafen zu fordern. Eine Fülle von Gesetzesinitiativen belegen diese Linie. Ich habe diese Initiativen einmal heraussuchen lassen. Es gibt in der kurzen Zeit dieser Legislaturperiode schon 30 entsprechende Vorstöße aus den Reihen der Union. Der letzte Vorstoß ist schon genannt worden, nämlich dem Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht endgültig den Garaus zu machen. Das war die letzte Initiative, die uns auf den Tisch gelegt wurde. ({3}) Andererseits wird die Überfüllung der Strafvollzugsanstalten beklagt. Welch Wunder, kann ich nur sagen. Die Rechts- und Kriminalpolitik der CDU/CSU kulminiert in einer Bundesratsinitiative - auch die liegt uns vor - mit der letztendlichen Zielrichtung, das Strafvollzugsgesetz zu ändern und den allgemeinen Anspruch auf Einzelunterbringung der Häftlinge während der Ruhezeit einzuschränken oder sogar - das ist eine weitere Initiative aus Hessen - das Vollzugsziel zu ändern. Das heißt, das Ziel der Resozialisierung steht danach nicht mehr im Mittelpunkt. Damit entfernen Sie sich meilenweit von der Verfassungsrechtsprechung in diesem Land. ({4}) Damit entfernen Sie sich meilenweit von einer vertretbaren Kriminalpolitik. ({5}) Da stellt sich wirklich die Frage: Erkennen Sie den Teufelskreis dieser Spirale, die Sie auslösen, wirklich nicht? Wollen Sie wirklich das, was Sie da sagen? Oder sagen Sie das nur aus populistischen Überlegungen? Ist das wirklich Ihr Gesellschaftsbild? Ist das wirklich Ihre Vorstellung von Kriminalpolitik? Ich sage Ihnen ganz deutlich: Unsere Vorstellung ist das nicht. ({6}) Das Anliegen des vorliegenden Gesetzentwurfs ist, eine eindeutige Alternative in der Kriminalpolitik zu bieten. Er ist aus diesem Grunde aus unserer Sicht voll unterstützungswürdig. Es macht kriminalpolitisch Sinn, das strafrechtliche Sanktionensystem zu erweitern und zu flexibilisieren sowie die Interessen von Opfern von Straftaten bei der Gestaltung der Sanktionen einzubeziehen. Der Gesetzentwurf sieht insoweit sinn- und maßvolle Änderungen im Sanktionenrecht vor. Schon seit Jahren werden in Wissenschaft, Praxis und Politik als Ergänzung zu den traditionellen Geld- und Freiheitsstrafen, wie wir sie kennen, neue, kreativere Freiheitsbeschränkungsstrafen bei kleinen und mittleren Straftaten gefordert. Genau darüber reden wir. Wir reden nicht über Schwerstkriminalität und über organisierte Kriminalität. Wenn man Sie hört, Herr Kauder, dann könnte man fast meinen, der Untergang des Abendlandes stünde bevor, weil wir diesen Gesetzentwurf eingebracht haben. ({7}) Es geht hier um den breiten Bereich der kleinen und mittleren Kriminalität. Der Vorschlag, der jetzt zur Diskussion auf dem Tisch liegt, ist das Ergebnis der Reformdiskussion der Vergangenheit. Ich sage Ihnen: In der Praxis ist man sich, das heißt Staatsanwälte, Richter, Rechtsanwälte, Gerichtshilfe, Bewährungshilfe und wer alles in diesem Bereich arbeitet, also alle diejenigen, die im Strafrecht tätig sind, schon seit Jahren darin einig, dass das geltende Sanktionensystem, das die Geld- und die Freiheitsstrafe als Hauptstrafen vorsieht, den Gerichten zu wenig Gestaltungsmöglichkeiten bietet, um gerade im Bereich kleiner und mittlerer Kriminalität in geeigneter Weise spezialpräventiv tätig werden zu können. ({8}) Der vorliegende Gesetzentwurf wird daher in der Praxis ganz überwiegend begrüßt, Herr Kollege Kauder. ({9}) Mit Ihrer ablehnenden Haltung werden Sie den Anforderungen an eine moderne Kriminalpolitik nicht mehr gerecht; das sage ich Ihnen auch heute. ({10}) Aus meiner Sicht noch ein letztes Wort zu der von Ihnen so sehr bekämpften gemeinnützigen Arbeit als primäre Ersatzstrafe bei Uneinbringlichkeit einer Geldstrafe oder als Ersatz für die Verhängung von kurzen Freiheitsstrafen. ({11}) Das betrifft die in § 59 StGB vorgesehene Neuregelung einschließlich des Strafvorbehalts. Ich darf darauf hinweisen, dass bereits nach geltendem Recht, nämlich nach Art. 293 des Einführungsgesetzes zum StGB, die Vollstreckung der Freiheitsstrafe durch Erbringung von Arbeitsleistungen abgewendet werden kann. Dies ist geltendes Recht. ({12}) Allerdings bedarf es hierzu jeweils der Rechtsverordnung durch eine Landesregierung. Darum frage ich mich: Weshalb wehren Sie sich eigentlich so vehement gegen die Implementierung der gemeinnützigen Arbeit in das geltende Strafgesetzbuch? Das ist für mich einfach nicht nachvollziehbar. Oder ist es Ihnen lieber, die Anordnung der gemeinnützigen Arbeit nicht durch ein Gericht im Zusammenhang mit dem Urteil vornehmen zu lassen, sondern durch die Exekutive, das heißt je nach Bedarf oder Kassenlage, Herr Kollege Kauder? Das kann es im Ergebnis nicht gewesen sein. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Stünker, gestatten Sie eine Zwischenfrage? ({0})

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, Frau Präsidentin. Die Beiträge von Herrn Kauder werden durch Zwischenfragen nicht besser. ({0}) Ich möchte noch einmal auf das eingehen, worauf die Ministerin, aber auch der Kollege Montag hingewiesen haben. Im Zusammenhang mit den Kosten, die an den Gerichten entstehen, geht es auch darum, dass 5 Prozent der gezahlten Geldstrafen Opferverbänden und -einrichtungen zugeführt werden sollen. Gerade mit einer Erweiterung der Möglichkeit der Anordnung gemeinnütziger Arbeit können die Kosten im Vollzug - das wurde nachgewiesen; die Länder haben da erhebliche Kosten - in großem Umfang eingespart werden. Das Land Bayern hat bekannt gegeben, im Jahre 2002 durch gemeinnützige Arbeit 65 226 Hafttage eingespart zu haben. Bei Haftkosten von täglich rund 80 Euro bedeutet dies rund 5,2 Millionen Euro. Der Justizminister aus Hessen hat für das Jahr 2002 eine Summe von 4,7 Millionen Euro bekannt gegeben und Niedersachsen kommt auf 7,5 Millionen Euro. Mecklenburg-Vorpommern hat im Jahre 2002 einen Modellversuch durchgeführt, um einmal die Kosten zu berechnen, die entstehen, wenn gemeinnützige Arbeit abgeleistet wird. Dadurch entstehen natürlich auch Kosten; das ist klar.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, ich komme zum Ende. - Man kam dort netto auf 1 Million Euro. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn all die Diskussionen der letzten Wochen und Monate in diesem Hause über verstärkten Opferschutz und über die Implementierung von Opferrechten in die Strafprozessordnung ernst gemeint gewesen sind, dann sollten wir uns dem Gedanken, den ich eben vorgetragen habe, nicht verschließen. Schönen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Daniela Raab, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Daniela Raab (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003613, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Sie werden meinen Eindruck nicht ganz teilen; aber lassen Sie ihn mich trotzdem schildern. Man möchte fast meinen, die heutige Sitzung ist eine Sonderveranstaltung zum 1. April. Das begann heute Morgen mit der Debatte über Ihre geplante Ausbildungsplatzabgabe. Das war kein Aprilscherz. Das Lachen bleibt einem schier im Halse stecken; denn Sie meinen es tatsächlich ernst. Da Sie gerade beim Reformieren sind, haben Sie sich jetzt überlegt, auch gleich das Sanktionenrecht anzugehen. Das ist sozusagen der nächste lang ersehnte rechtspolitische Wurf Ihrerseits. ({0}) Das Sanktionenrecht eignet sich allerdings nicht für einen Aprilscherz. Wir sind heute nicht wirklich zum Scherzen aufgelegt. ({1}) Deswegen fordere ich Sie auf, sich ein paar Gedanken zu Ihrem Gesetzentwurf zu machen. Unser bisher geltendes Sanktionenrecht, in dem Geldstrafen und Freiheitsstrafen als Hauptstrafen angewandt werden, bedarf meiner Ansicht nach keiner so grundlegenden Reform, wie sie jetzt von Ihnen angedacht wurde. Die Praktiker werden mir wahrscheinlich Recht geben, wenn ich sage, dass unser ohnehin schon schwer überlastetes Justizsystem diese so genannte Reform definitiv nicht braucht. Vorhin war von aufgeblasenen Backen oder Wangen - man kann sich darüber streiten - die Rede. Ich sehe schon, dass die verfassungsrechtlich gebotene effektive Strafverfolgung durch Ihren Entwurf unnötig verzögert wird. ({2}) Einige konkrete Beispiele: Es ist unserer Ansicht nach absolut nicht zu verantworten, dass es Straftätern erlaubt wird, eine nicht zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten lediglich abzuarbeiten. Freiheitsstrafen werden nicht ohne weiteres verhängt. Es wird auch nicht ohne weiteres von den Gerichten auf eine Aussetzung zur Bewährung verzichtet. In vielen Fällen ist nun einmal die Verhängung einer Freiheitsstrafe unumgänglich, sozusagen die Ultima Ratio. Dies gilt gerade für die Täter, die eine kurze Freiheitsstrafe absitzen sollen. Es dreht sich hier in aller Regel um Wiederholungstäter, von denen die Richter wohl nicht ohne Grund annehmen, dass sie rückfällig werden könnten. Deswegen hat der Richter durch sein Strafmaß zum Ausdruck gebracht, dass eine Haftstrafe unumgänglich und angemessen ist. In solchen Fällen eine reine Abarbeitung der Strafe durch den Täter zu ermöglichen, ist grob verharmlosend und hilft uns in keiner Weise weiter. Selbstverständlich - auch wenn Sie uns das nicht glauben - verkennen wir nicht die präventive Wirkung gemeinnütziger Arbeit. Bei Wiederholungstätern aber, um die es uns in diesem speziellen Fall geht, ist das alleinige Abstellen auf Prävention völlig verfehlt und läuft ins Leere. ({3}) Ein weiterer Punkt, der die spezialpräventive Wirkung, die ein Urteil auf den Täter haben soll, außer Kraft setzt, ist die Erweiterung der Verwarnung mit Strafvorbehalt. Die Verwarnung mit Strafvorbehalt gibt es bereits in § 59 StGB, allerdings als Kannregelung. Das reicht in meinen Augen völlig aus. Wir lehnen die Mussregelung, die Sie einführen wollen, ab. ({4}) Ich komme zu Ihrer neuen Geldstrafenregelung, die zu massiven Einnahmeausfällen bei den Ländern führen wird. Der Kollege Kauder hat sie bereits auf 20 Millionen Euro beziffert. Sie sagen, die Länder hätten keinen Anspruch auf eine Geldstrafe. Ich muss Ihnen entgegenhalten: Bei Ihrer Politik müssen die Länder einfach schauen, woher sie das Geld bekommen. Dazu ist auch die Geldstrafe geeignet. ({5}) - Das finde ich nicht unmöglich. Die armen Länder! Es ist sicherlich kein schlechter Ansatz, ({6}) dass 5 Prozent der Geldstrafe an eine gemeinnützige Einrichtung zum Opferschutz gehen sollen. Das finde ich grundsätzlich nicht verkehrt. Sie haben uns nur nicht gesagt, wer das organisieren soll. ({7}) Wollen Sie wieder eine neue Behörde gründen? ({8}) Wollen Sie die Beamten nehmen, die seit der MautSchlappe arbeitslos sind? Es steht nichts im Gesetz. Den organisatorischen Mehraufwand hat auch keiner berechnet. Bürokratieaufbau der reinsten Sorte! Etwas anderes sind wir von Ihnen auch nicht gewöhnt. ({9}) Die Opfer sind schon angesprochen worden - mehr von uns und weniger von Ihnen. ({10}) Wie wirkt es auf ein Opfer, wenn der Täter seiner gerechten Strafe einfach durch minimales Abarbeiten entgehen kann? Ich glaube nicht, dass die Opfer das unterstützen und dass die Opferverbände hier Zustimmung signalisieren werden. „Schwitzen statt sitzen“ ist einer Ihrer tollen Slogans. Er klingt nicht schlecht. Die Idee ist vom Grundsatz her bestimmt nicht falsch. Aber der staatliche Strafanspruch darf nicht ausgehöhlt werden. Angemessenes Strafübel darf nicht abgemildert werden. Sie haben hier den falschen Weg eingeschlagen. Aber Sie gehen diesen Weg konsequent weiter, indem Sie die gemeinnützige Arbeit als primäre Ersatzstrafe für nicht eintreibbare Geldstrafen einführen. Den Bedarf für eine solche Regelung kann ich leider nicht sehen. ({11}) Wir sind nach wie vor der Meinung: Kann eine Geldstrafe nicht bezahlt werden, muss weiterhin die Ersatzfreiheitsstrafe greifen. Strafe hat schließlich auch das Ziel, unsere Rechtsordnung zu wahren, das Unrechtsbewusstsein des Täters zu schärfen und auf die Schuld des Täters angemessen zu reagieren. Hinzu kommt die in meinen Augen absurde Umrechnungsweise, die Sie in Ihrem Gesetzentwurf vorschlagen: Ein Tagessatz nicht eingetriebener, nicht bezahlter Geldstrafe entspricht drei Stunden gemeinnütziger Arbeit. Der Kollege von der FDP hat dazu bereits - durchaus nicht unzutreffend - angemerkt: Was sind schon drei Arbeitsstunden in den Augen eines durchschnittlichen Arbeitnehmers? - Hübsch wenig, würde ich sagen. ({12}) Immer schlechter wird das Verhältnis, wenn man Ihre geplante Lösung bei der Ersatzfreiheitsstrafe betrachtet, frei nach dem Motto, dass Rabatte ja derzeit in sind. Auch hier wird plötzlich die Umrechnung geändert. Momentan gilt noch die Formel: Ein Tagessatz nicht gezahlter Geldstrafe entspricht einem Tag Freiheitsstrafe. Sie ändern das in das Verhältnis 2 : 1; zwei Tagessätze nicht gezahlter Geldstrafe entsprechen also einem Tag Freiheitsstrafe. Den Grund für diese Wohltaten am Täter erkenne ich nicht. ({13}) Einiges leuchtet mir nicht ein, einige Ansätze sind sicherlich nicht schlecht. Dennoch können wir diesem Entwurf so, wie er jetzt vorliegt, nicht zustimmen. Danke. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/2725 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({0}) - zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP Deutsch als Arbeitssprache auf europäischer Ebene festigen - Verstärkte Förderung von Deutsch als erlernbare Sprache im Ausland - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Gauweiler, Günter Nooke, Bernd Neumann ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Deutsch als dritte Arbeitssprache auf europäischer Ebene - Verstärkte Förderung von Deutsch als lernbare Sprache im Ausland - Drucksachen 15/1574, 15/468, 15/1951 Berichterstattung: Abgeordnete Eckhardt Barthel ({2}) Dr. Antje Vollmer Hans-Joachim Otto ({3}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Gauweiler, CDU/CSU-Fraktion. ({4})

Dr. Peter Gauweiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Mit unserem heutigen Antrag, den wir voraussichtlich einstimmig beschließen können, erfüllen wir zwei wichtige Aufgaben: zum Ersten, Deutsch in der Europäischen Union zu stärken, und zum Zweiten, Deutsch als erlernbare Sprache im Ausland zu fördern. Zur Stärkung von Deutsch in der Europäischen Union ist bei der letzten Beratung ein ganzer Katalog von Notwendigkeiten vorgetragen worden. Ich möchte bei dieser Gelegenheit die Bitte an die Bundesregierung richten, Herr Staatsminister Bury, dass die Bundesregierung auch die Forderung prüft, dass jeder neu eingestellte europäische Spitzenbeamte oder zumindest jeder Beamte oder Angestellte des höheren Dienstes als Einstellungsvoraussetzung - wie es früher war - zwei Fremdsprachen können muss. Denn die Reduktion auf eine Fremdsprache führt logischerweise zu einer Präferenz für Englisch und Französisch. Wir glauben, dass dieses Verlangen den Beamten absolut zumutbar ist. ({0}) Das Goethe-Institut hat im Rahmen einer großen Kampagne bezüglich des zweiten Teils unseres Antrags, nämlich das Lernen von Deutsch in Europa und im Ausland zu fördern, einen Katalog von zehn Gründen vorgelegt. Ich kann Ihnen aus Zeitgründen nicht alle zehn vortragen, aber die wichtigsten sind sehr einprägsam: Deutschland ist das wichtigste Exportland der Welt. Deutsch ist die meistgesprochene Sprache in der EuroDr. Peter Gauweiler päischen Union. 18 Prozent aller Bücher weltweit erscheinen in Deutschland. Viele internationale Unternehmen haben ihren Sitz in Deutschland. Deutsch ist die zweithäufigste Sprache in der Wissenschaft auf der Welt. Wer Deutsch spricht und versteht, lernt die Kultur besser kennen und verbessert seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die Deutschen sind in vielen Ländern die wichtigsten Touristen. Ich glaube, dass in den Forderungskatalog aufgenommen werden muss, Deutsch als Einstellungsvoraussetzung im Ausland mehr zu fördern. Bei der Reise des Kulturausschusses nach Prag ist vor den Mitgliedern des Kulturausschusses von tschechischen jungen Germanisten und Germanistikstudenten beklagt worden, dass deutsche Firmen im Ausland nicht mehr - wie früher ganz selbstverständlich - deutsche Sprachkenntnisse als zusätzliche Einstellungsvoraussetzung präferieren, sondern dass deutsche Sprachkenntnisse der ausländischen Bewerber unserer Wirtschaft wegen angeblicher Dominanz des Englischen gleichgültig geworden sind. ({1}) Ich habe heute zur Vorbereitung auf diese Sitzung noch einmal beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag nachfragen lassen. Dort wurde uns mitgeteilt: Englisch ist bei der Einstellung für uns die wichtigste Sprache am Markt. Daran orientieren wir uns. Das ist eine ungute Entwicklung. Es ist die Aufgabe eines Parlaments, das sich als Interessenvertretung des eigenen Landes versteht, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. ({2}) In unserem Antrag sehe ich, wenn Sie so wollen, eine Einladung an die Verantwortlichen, sich um dieses Thema in seiner Gesamtheit zu kümmern. Das gilt auch für die ungute Entwicklung, dass ganz bestimmte Großinstitutionen meinen, sie müssten sich von Deutsch als Firmensprache verabschieden. Das ist nicht nur ein sprachliches Problem, sondern letzten Endes auch ein Problem der Gesetzeskontrolle und des Gesetzesvollzugs. Als Beispiel nenne ich eines der auf der ganzen Welt berühmtesten deutschen Unternehmen bzw. Bankinstitute, die Deutsche Bank. Der Unverdächtigkeit halber sei auf den „Spiegel“ verwiesen, der vor wenigen Wochen in einer großen Dokumentation berichtet hat, dass es immer mehr gelingt, sich der deutschen Bankenaufsicht durch Verlagerung ins Ausland, durch fremdsprachigen Schriftverkehr, durch fremdsprachige Aktenführung und Ähnliches zu entziehen. Ich glaube, dass wir, so wie wir es auch hinsichtlich des Schutzbereichs anderer Gesetze tun, eine Vernetzung herstellen müssen, um das in diesem Antrag formulierte Anliegen der Förderung der deutschen Sprache durchzusetzen. Wir verlangen ein Weiteres. Herr Staatsminister, in Ihrem Vortrag bei der letzten Debatte, den ich mir durchgelesen habe, haben Sie - mit einer kleinen Spitze an Ihre Vorgängerregierung - darauf hingewiesen, dass bestimmte Positionen schon früher aufgegeben wurden. Das ist wahr. Wir brauchen uns hier wechselseitig nichts zu schenken. Aber es ist ja nicht verboten, zu versuchen, verloren gegangenes Terrain zurückzugewinnen. Ich glaube, die Forderung ist richtig, dass auch im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union auf das bewährte, Dreisprachenregime - Englisch, Französisch und Deutsch - zurückgegriffen und nicht mehr nur Englisch und Französisch gesprochen werden soll. ({3}) Ein letzter Gesichtspunkt. Aus Gründen der Unverdächtigkeit verweise ich auf eine Aussage der Staatsministerin Weiss, ({4}) die bei der Eröffnung eines Generalsekretariats des Deutschen Musikrats in Berlin mehr deutsche Musikproduktionen in deutschen Rundfunksendern forderte. ({5}) Auch das gehört letzten Endes zu diesem Thema. ({6}) Kein geringerer als Herr Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat die Rundfunksender vor wenigen Tagen, am 29. März 2004, aufgefordert, mehr deutsche Musik zu spielen. ({7}) Sollte dies nicht freiwillig geschehen, müsse über eine Quotenregelung diskutiert werden. ({8}) Die deutsche bzw. europäische Kultur müsse sich gegen die Allmacht des amerikanischen Kulturimperialismus durchsetzen. Ich möchte den Herrn Bundestagspräsidenten hier gegen jede Art respektloser Zwischenrufe in Schutz nehmen. ({9}) In diesem Zusammenhang erinnere ich an die bemerkenswerte Protokollerklärung aller Ministerpräsidenten zum Siebten Rundfunkänderungsstaatsvertrag, in der es heißt: Die Länder erwarten von den Hörfunkveranstaltern, insbesondere von den in der ARD zusammengeschlossenen Rundfunkanstalten und dem Deutschlandradio, eine stärkere Berücksichtigung von deutschsprachiger Musik und deshalb eine Förderung auch neuerer deutschsprachiger Musikangebote durch ausreichende Sendeplätze in den Programmen. ({10}) - Dieses Thema ist zweigleisig. ({11})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Gauweiler, Sie müssen zum Ende kommen. Deswegen kann ich auch nicht mehr die Zwischenfrage des Kollegen Ströbele zulassen. ({0}) Herr Kollege Gauweiler, Sie dürfen zum Ende kommen. ({1})

Dr. Peter Gauweiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich hätte Ihnen gerne zugehört. - Aber lassen Sie uns dieses Thema nicht zerreden. Wir verfolgen doch ein gemeinsames Interesse. ({0}) Die „Los Angeles Times“ hat vor nicht allzu langer Zeit geschrieben ({1}) - ja, auf Englisch -, warum die Deutschen ihre eigene Sprache zu wenig benutzen. Die Amerikaner hoffen, dass die Deutschen ihre Stimme wiederfinden, wenn sie dazu ermutigt werden. Dieser Ermutigung dient unser heutiger Antrag. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Eckhardt Barthel, SPDFraktion.

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde jetzt im Unterschied zu Herrn Gauweiler etwas ganz Revolutionäres machen. Ich werde nämlich zu dem Antrag reden, der hier zur Abstimmung steht. ({0}) Auch mir fallen dazu Quoten ein. Das Schöne an diesem Thema ist ja, dass man eigentlich über alles reden kann, weil es um Sprache geht. Wir haben aber einen Antrag vorliegen. Insofern finde ich es ein bisschen bedauerlich, Herr Gauweiler, dass Sie nicht auf den Antrag und seine Folgen eingegangen sind. ({1}) Dass wir, also alle vier Fraktionen gemeinsam, diesen Antrag gezimmert haben, ist schon eine gute Sache. Das Zweite, was ich etwas bedauere, ist, dass Sie nicht darauf eingegangen sind, dass wir hier die angenehm merkwürdige Situation haben, vor dem Beschluss eines Antrages zu stehen, dessen Forderungen zum großen Teil bereits erfüllt sind. ({2}) - Ich werde es Ihnen gleich vortragen. - Das ist, wie ich finde, eigentlich eine gute Sache. Ich glaube, zwei Drittel unser Forderungen, die Punkte 1 und 2 dieses Antrages, sind bereits in unserem Sinne erfüllt. Wir haben gefordert, das so genannte Marktmodell im europäischen Sprachenregime zu verankern. - Ich bitte, eine Fußnote machen zu dürfen: Vielleicht sollte man einmal überlegen, ob der Begriff „Sprachenregime“ richtig ist. Mit „Regime“ assoziiere ich eigentlich etwas Negatives; ich weiß nicht, woran das liegt. Aber das ist jetzt nicht das Thema. Es ist gelungen, auf europäischer Ebene - ich freue mich, dass Herr Bury hier ist - dieses Marktmodell einzuführen; die Forderung in unserem Antrag ist damit erfüllt. Nun weiß ich, dass vielen der Begriff „Marktmodell“ noch nichts sagt. Deswegen will ich es in Erinnerung rufen: Mit dem Marktmodell - damit wäre auch die politische Bewertung vorgenommen - ist die Gleichwertigkeit aller Sprachen anerkannt. Jeder Mitgliedstaat kann selbst entscheiden, welche Sprache benutzt werden soll. - Das ist wichtig; wir reden schließlich von der Vielfalt der Kulturen in Europa als Teil unserer europäischen Identität. ({3}) - Wenn er vernünftig ist und niemand verdrängt wird, immer. Ich schildere jetzt die Erfolgsbilanz der Bundesregierung: Sie hat sofort für alle 94 Gruppen, die dem Marktmodell unterliegen, die Deutsch-Dolmetschung angemeldet; somit ist auch dieses festgelegt, Herr Gauweiler. Das Zweite zu diesem Marktmodell: Es ist flexibel und spart übrigens eine Menge Kosten. Wenn ich das richtig gelesen habe, spart die EU jedes Jahr 100 Millionen Euro. Ich wäre froh, wenn wir das im Kulturetat hätten. Das wäre eine tolle Sache. ({4}) Die Vielfalt der genutzten Sprachen hat also auch diesen positiven Effekt. Ich möchte diese beiden, wie ich glaube, wichtigsten Entscheidungen zusammenfassen, Herr Gauweiler, und komme damit zu unserem Antrag; über Quoten können Eckhardt Barthel ({5}) wir immer noch reden. Es ist also gelungen, dieses von uns geforderte Marktmodell in der EU einzuführen. Das ist das Erste. Das Zweite ist - man sollte es nicht gering schätzen -: Es gab ja bisher für den AStV, den Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten, dieses Dreisprachenregime. - Hier taucht schon wieder der Begriff Regime auf. - Diese drei Sprachen - Englisch, Französisch und Deutsch - sind jetzt zum ersten Mal festgeschrieben worden. Ich glaube, mit der Umsetzung unseres noch nicht beschlossenen Antrages werden wir einen großen Schritt vorankommen, wenn wir auch noch nicht am Ende stehen. Auch mir ist natürlich klar: Alleine mit Regeln werden wir das eigentliche Ziel, nämlich die Verbreitung und die Pflege der deutschen Sprache im Ausland, nicht erreichen. Dies bildet ja die Überschrift von dem, worüber wir jetzt reden; was im Antrag steht, ist lediglich ein wichtiger Teil davon. Deswegen bin ich froh, heute nicht nur einen gemeinsamen Antrag verabschieden zu können, sondern gleichzeitig auch noch eine Erfolgsmeldung bezüglich der Ziele dieses Antrags vortragen zu können. Wir müssen uns bewusst sein, dass der Auftrag der Pflege und der Verbreitung der deutschen Sprache im Ausland im Inneren beginnt; das habe ich schon mehrfach gesagt und wir haben in der letzten Debatte hier eine breite Diskussion dazu geführt. Lassen Sich mich daher ein bisschen selbstkritisch darauf hinweisen, wie wir im Parlament mit unserer Sprache umgehen, die dann vielleicht auch nach außen getragen wird. In letzter Zeit habe ich mir im Hinblick darauf einige Gesetzestexte angeschaut. Das meine ich jetzt nicht beckmesserisch; jede Fraktion kann sich unter diesem Gesichtspunkt angesprochen fühlen. ({6}) - Ja, es wimmelt von Begriffen wie Jobfloater. ({7}) - Ich habe bewusst ein Beispiel aus einem Gesetz von uns gewählt. Aber Sie müssen nicht mit dem Finger auf uns zeigen; diese Sprache geht quer durch alle Fraktionen. Wir haben in diesem Bereich also auch als Parlament eine Vorbildfunktion nach innen wie nach außen. Eine letzte Bemerkung: Der dritte Punkt unseres Antrags betrifft etwas, was zurzeit unser täglich Brot im Kulturausschuss ist, die auswärtige Kulturpolitik. In diesem Zusammenhang steht auch das Thema Deutsche Welle an. Der Kulturausschuss nimmt diese Themen sehr ernst. Wir alle sind froh, dass es uns in einer gemeinsamen Anstrengung gelungen ist, dass die Sprachvermittlung im Ausland nicht darunter leidet, dass Kultur unter die Subventionen fällt und somit reduziert wird. Darauf werden wir wohl auch in Zukunft achten müssen. Herr Otto, weil ich Sie hier so fröhlich sehe, sage ich noch ein Wort zu Ihrem Änderungsantrag. ({8}) Sie haben sinngemäß beantragt, dass Kultur nicht unter Subventionen fallen dürfe. Von meiner Seite kann ich Ihnen nur sagen, dass ich dies für in Ordnung halte. Das sollten wir beschließen, weil wir nicht nur bei diesem Haushalt, sondern auch in Zukunft häufig darum kämpfen werden, wie Kultur einzuordnen ist. Wenn wir nach dem wichtigen Etappenziel, das wir heute erreicht haben, auch dies erreichen, dann können wir sagen: Auch der Deutsche Bundestag bemüht sich gleichermaßen um die Verbreitung der deutschen Sprache nach außen und um ihre Pflege im Inneren. Ich bedanke mich. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Hans-Joachim Otto, FDP-Fraktion.

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, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Barthel, es gibt ein chinesisches Sprichwort, das besagt, auch die längste Reise beginne mit dem ersten Schritt. Ich begrüße es sehr, dass wir hier den ersten Schritt getan haben, indem wir uns über alle Fraktionen hinweg gemeinsam auf diesen Antrag verständigt haben. Aber zu meinen, zwei Drittel dieses Antrags seien bereits erfüllt, ist, freundlich formuliert, blauäugig. Wir sind weit davon entfernt, dass zwei Drittel dieses Antrags erfüllt seien. Das Marktmodell und das Sprachenregime gibt es bisher lediglich auf dem Papier. Aber wenn man in die europäischen Institutionen nach Brüssel und Straßburg schaut, wird man feststellen, dass sich in der Praxis überhaupt noch nichts verändert hat. Nachdem wir uns im Deutschen Bundestag über die Fraktionen hinweg verständigt haben, bestärken wir die Bundesregierung in ihrem Ziel, dafür zu sorgen, dass die deutsche Sprache mehr zur Anwendung kommt. Hier ist allerdings noch viel zu tun. Nur rund 1 Prozent aller EU-Bediensteten sprechen Deutsch als Muttersprache. Dies muss sich ändern. Wir verlangen - Herr Kollege Gauweiler hat zu Recht darauf hingewiesen -, dass jeder höhere EU-Bedienstete in der Lage ist, zwei Fremdsprachen zu sprechen. Das ist nicht zu viel verlangt und muss durchgesetzt werden. Dies trüge entscheidend dazu bei, dass deutsche Bewerber französischen und englischen Bewerbern gleichgestellt werden. ({0}) Diesem Marktmodell - ich freue mich, dass auch Kollege Barthel beim Markt angekommen ist - müssen wir in der Tat zum Durchbruch verhelfen. Bisher steht dieses Modell nur auf dem Papier; in die Praxis wird es noch nicht richtig umgesetzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der zweite Teil dieses Antrags ist von uns selbst noch nicht richtig umgesetzt. Wenn es im Antrag heißt, Deutsch sei als Fremdsprache im Ausland zu fördern, dann müssen wir als Parlamentarier dazu beitragen, dass die Mittel im Bereich der auswärtigen Kulturpolitik nicht nur gegen Steinbrück/Koch, sondern generell verteidigt werden. Wir wissen, dass der Anteil der auswärtigen Kulturpolitik im Hans-Joachim Otto ({1}) Etat des Auswärtigen Amtes in den letzten Jahren kontinuierlich auf rund 23 Prozent gesunken ist. ({2}) Wenn wir es mit dem dritten Teil des Antrages ernst meinen, dann müssen wir als Parlamentarier in den Haushaltsberatungen dazu beitragen, dass dieser Anteil wieder gestärkt wird. Wir sind nicht glaubwürdig, wenn wir fordern, dass Deutsch verstärkt in den EU-Gremien gesprochen wird, während wir selber die Mittel für den Deutschunterricht im Ausland immer weiter zurückfahren und die Position der Goethe-Institute und der Sprachmittler schwächen. Wir haben einen ersten Schritt in die richtige Richtung getan, was ich sehr begrüße. Ebenso begrüße ich es, dass wir den Antrag heute über alle Fraktionsgrenzen hinweg annehmen. Aber zu glauben, wir hätten jetzt unsere Arbeit getan und wir könnten uns getrost zurücklehnen, wäre ein großer Fehler. ({3}) Wir haben, lieber Kollege Barthel, beileibe noch nicht zwei Drittel dessen, was im Antrag vorgesehen ist, verwirklicht. Die Bemühungen beginnen jetzt erst.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Otto, die Arbeit ist noch nicht getan, aber die Redezeit ist vorbei.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, meine Arbeit ist getan. Ich habe uns alle ermahnt, am Ball zu bleiben, nachdem wir einen ersten Schritt gemacht haben. Wir müssen das Ganze jetzt umsetzen. Ich bitte insbesondere die Bundesregierung, gestärkt durch diesen Beschluss darauf hinzuwirken, dass in der Praxis Erfolge erzielt werden. Vielen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainder Steenblock.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war am letzten Wochenende und die Tage davor als Wahlbeobachter des Europarates in Georgien. Es ist erhebend und bewegend, wenn man durch die Dörfer des Kaukasus fährt und in fast jedem Ort jemandem begegnet, der Deutsch spricht und einem sozusagen um den Hals fällt, und man die Akzeptanz dieser Sprache und der Kultur, die dahinter steht, erlebt. Genau diese Verpflichtung haben wir hier aufgenommen. Wir müssen uns dafür einsetzen, diese nationale Aufgabe umfassend zu erfüllen. Die Bedeutung der Kulturförderung in diesem Land, die aus meiner Sicht äußerst wichtig ist, wird leider aufgrund der monetären Aspekte von der Politik nicht richtig wahrgenommen. Ich glaube, dass auswärtige Kulturpolitik nicht nur die Stärkung der deutschen Sprache und Kultur im Ausland, sondern auch gerade die ökonomische Dimension von Politik unterstützt und vorbereiten hilft. Dies sollten wir gemeinsam tun. Das steht uns allen gut an. ({0}) Aber es geht auch um die europäische Dimension. Europa lebt von der Vielfalt, von der kulturellen und von der sprachlichen Vielfalt. Diese Vielfalt wird mit dem Beitritt der zehn neuen Länder, den wir sehr begrüßen, noch größer. Er macht das Sprachenregime in Europa komplizierter. Aber ich bin der Meinung: Wir sind in der EU auf einem guten Wege. Wir haben im Europäischen Rat, im Europäischen Parlament und im Ministerrat die Volldolmetschung ab dem 1. Mai 2004 in 20 Amtssprachen. Wir haben im Ausschuss der Ständigen Vertreter - das ist schon angesprochen worden, aber ich möchte es wiederholen - die Gleichberechtigung von Französisch und Deutsch. Sobald auf EU-Kosten ins Französische gedolmetscht wird, wird automatisch auch ins Deutsche gedolmetscht. Dieser Fortschritt wurde schon erreicht. In den ratsvorbereitenden Gruppen - das Marktmodell ist festgesetzt, es funktioniert und ist beschlossen - tritt ab 1. Mai 2004 eine Reform des Sprachregimes in Kraft. Das heißt, jedes Land bekommt einen Basisbetrag und alles, was darüber hinaus gefordert wird - sei es die Dolmetschung ins Englische, Französische, Deutsche, Litauische oder in eine andere Sprache -, wird von den einzelnen Ländern bezahlt. Dieses Sprachregime ist gültig und vernünftig. Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal, weil wir uns in vielen Punkten einig sind, auf einen Aspekt, der deutlich gemacht worden ist, hinweisen: Neben diesen Sprachstrukturen, die wir politisch verabreden - wir sind dort auf einem guten Weg -, brauchen wir in der Kommission auf der Arbeitsebene, auf der Ebene der Beamtinnen und Beamten, Personen, die die deutsche Sprache nicht nur sprechen können, weil sie schön, wichtig und wertvoll ist, sondern wir brauchen - ein Antrag dazu ist in Vorbereitung - deutsche Beamtinnen und Beamte, Vertreter der Bundesregierung, die unser Land zahlenmäßig tatsächlich repräsentieren. Bei der Durchsetzung dieser Interessen sind wir nicht in allen internationalen Gremien auf allen Ebenen der EU, UN und wo auch immer so weit, wie wir gerne sein würden. Deshalb muss die Politik Anstrengungen unternehmen, damit diese Gremien stärker als bisher mit deutschen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besetzt werden; das hielte ich für richtig. Es wurde vorhin moniert, dass wir hier noch nicht mehr erreicht haben. Bezüglich der Beamten sind wir aber schon deutlich weiter. Vielleicht ist das auch zu aktuell, weshalb ich das hier noch einmal sagen will: In der letzten Woche wurde das EU-Beamtenstatut geändert und in unserem Sinne verbessert; denn von nun an muss ein Beamter oder eine Beamtin vor seiner oder ihrer ersten Beförderung nach der Einstellung nachweisen, dass er oder sie in einer dritten Sprache der Gemeinschaft arbeiten kann. ({1}) - Ja, das hat aber mit dem Dienstrecht zu tun. Das wird vor den Beförderungen geprüft. Das ist bereits ein Fortschritt. Ich finde, wir sollten an dieser Stelle nicht immer das, was noch nicht erreicht wurde, in den Vordergrund stellen. Wir sollten betonen, dass wir gemeinsam dabei sind, das, was in der Vergangenheit versäumt worden ist, Schritt für Schritt zu erreichen. Ich glaube, dass wir hier auf einem guten Weg sind. ({2}) Ich hoffe, dass die Sensibilität in diesem Hohen Hause und in der Bundesregierung auf einem hohen Niveau bleibt, damit diese Interessen durchgesetzt werden können. Man muss natürlich aufpassen, dass man sich in der Begrifflichkeit nicht vergreift. Ich glaube aber, wir alle zusammen haben ein Interesse daran, Deutsch zur Durchsetzung von ökonomischen Interessen und politischen Strategien in dieser Welt - das sage ich jetzt tatsächlich einmal etwas überspitzt - zu stärken. Das sollten wir selbstbewusst und ohne falsche Zwischen- und Misstöne tun. Dieses Selbstbewusstsein sollten wir haben. Vielen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete HeinrichWilhelm Ronsöhr.

Heinrich Wilhelm Ronsöhr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vielleicht kann man die unterschiedlichen Enden, die hier zum Ausdruck gekommen sind, zusammenführen. Es geht ja um eine Gemeinsamkeit. Ich glaube, es geht nicht nur um einen gemeinsamen Antrag, sondern es geht um die Gemeinsamkeit der deutschen Politik. Das möchte ich bewusst herausstellen. Eckhardt, nun mag es ja sein, dass zwei Drittel der Beschlüsse bisher erfüllt wurden. Herr Otto hat auf der anderen Seite aber auch Recht, da von diesen Beschlüssen noch nicht alles so umgesetzt wurde, wie es umgesetzt werden sollte. Ich will mich nun nicht darüber streiten, wie weit wir den Weg bisher gegangen sind. Ich glaube, dass wir uns alle darüber einig sein sollten, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden. Die Einlassung von Herrn Gauweiler ist ganz wichtig; denn es geht auch ein Stück weit darum, mit welchem Selbstverständnis wir die deutsche Sprache nach innen verwenden. Manchmal hat man hier den Eindruck, dass dort, wo Anglizismen draufstehen, schon Modernität enthalten ist. Dadurch spiegelt man sich etwas Falsches vor. Um das ganz deutlich zu sagen: Damit macht man die Sprache zum Teil kaputt. ({0}) Sie müssen sich nur einmal Toll Collect anschauen. Auf den Apparaturen stehen irgendwelche Anglizismen. Hier war keine Modernität drin. Es lag nichts Funktionstüchtiges vor. Dort war nichts, aber auch gar nichts drin. Man lässt sich dadurch etwas vortäuschen. Vielen ist dies so ergangen. Ich glaube, hier gilt es umzudenken. Wir müssen ein anderes Selbstverständnis entwickeln. Dieses Selbstverständnis muss nicht nur die EU, sondern auch die Unternehmen erreichen. Für deutsche Unternehmen im Ausland muss es selbstverständlich sein, dass sie sich auch der deutschen Sprache bedienen. ({1}) Auch ich war mit dem Kulturausschuss unterwegs. Herr Otto, Sie waren dabei: Wir haben in Südafrika gehört, dass die deutsche Sprache manchmal als Nachteil empfunden wird, wenn sie von jemandem gesprochen wird, der sich bei deutschen Unternehmen bewirbt. Das darf nicht sein. Es geht schließlich um Chancen für Deutsche und Deutschsprechende. Herr Steenblock, Sie haben eben deutlich gemacht, dass der Osten wie ein offenes Buch vor uns liegt und in diesem Buch das Deutsche sehr häufig vorkommt. Das heißt, wenn es um Chancen für das Deutsche geht, dann sind dies nicht nur Chancen für Deutsche, sondern auch Chancen für Osteuropäer. Dies gilt auch für Leute innerhalb der EU, die weiter östlich wohnen als wir. Ich habe vorhin eine junge und sehr hübsche slowenische Praktikantin empfangen. ({2}) - Das kann man doch einmal sagen. Politik hat schon so manches Schöne mit sich gebracht und wird auch weiterhin sehr viel Schönes mit sich bringen. Die Kultur, damit auch die deutsche Sprache, ist etwas sehr Schönes, das möchte ich klar Ausdruck zu bringen. - Diese junge Praktikantin hat erklärt, das Deutsche sollte sich in der EU stärker durchsetzen, als das bisher der Fall gewesen ist. Das heißt, es ist auch im Interesse vieler junger Menschen, die zur EU gestoßen sind oder noch stoßen werden, dass wir den Gebrauch des Deutschen weiter forcieren. Wenn wir uns dieser Aufgabe gemeinsam widmen, wie das letztlich in diesem Antrag zum Ausdruck kommt, dann bin ich mir sicher, dass das Deutsche die Bedeutung erhält, die auch in Zukunft von möglichst vielen - nicht nur in der EU, sondern auch darüber hinaus - anerkannt werden sollte. Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Hedi Wegener.

Hedi Wegener (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste auf der Tribüne, Sie erleben heute ein seltenes Ereignis in diesem Haus. Wir beraten einen von allen Fraktionen gemeinsam eingebrachten Antrag. Das ist nicht oft der Fall. Die Diskussionen, die bisher geführt wurden, hörten sich zwar kontrovers an, waren es aber nicht. ({0}) Dieser Antrag ist einstimmig eingebracht worden, weil alle erkannt haben, dass auf europäischer Ebene die Tendenz vorherrscht, englisch und französisch zu sprechen. Wir wollen dazu beitragen, dass sich Deutsch mehr als bisher etabliert. Wir begrüßen daher ausdrücklich den Einsatz der Bundesregierung, die deutsche Sprache auf europäischer Ebene zu stärken, und fordern, diesen Einsatz fortzusetzen. ({1}) Vor dem Hintergrund der EU-Erweiterung findet eine Neuregelung des Sprachenregimes statt. Bei 4 000 Arbeitsgruppensitzungen und 20 Amtssprachen gibt es 380 denkbare Sprachkombinationen. Dabei stößt man auf logistische und finanzielle Grenzen. Das Marktmodell - es ist ein komischer Begriff für ein ganz einfaches System - ist schon häufig erwähnt worden. Es bedeutet: Wer die Musik bestellt, der bezahlt sie auch. Der Kerngedanke ist, dass es einen Grundtopf gibt und diejenigen, die eine weitere Versprachlichung fordern, diese extra bezahlen müssen. Die deutsche Sprache erhält eine eindeutige Aufwertung, weil gleichzeitig für alle 94 Arbeitsgruppen, die dem Marktmodell unterliegen, eine Vollverdolmetschung ins Deutsche beantragt wurde. Damit wird Deutsch als Arbeitssprache in der Europäischen Union weiterhin gestärkt. Herr Steenblock hat schon darauf hingewiesen: Bei der Verabschiedung des neuen EU-Beamtenstatus am 22. März dieses Jahres ist entschieden worden, dass eine dritte EU-Sprache für eine Beförderung Pflicht ist. ({2}) Ich bin Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Da erlebe ich häufig, dass Vertreterinnen und Vertreter aus anderen Ländern, in deren Sprache nicht übersetzt wird, den deutschen Kanal hören. Diesen Schatz müssen wir uns erhalten. Das sehe ich als Erfolg an. Es gibt noch einen weiteren Aspekt in dem Antrag. Das ist die Pflege der deutschen Sprache im Ausland, und das nicht nur im Hinblick auf unsere europäischen Nachbarn. Die Goethe-Institute leisten wirklich eine unschätzbare wertvolle Arbeit. ({3}) Ich betone noch einmal - das ist in der Debatte zur Kulturpolitik schon gesagt worden -, dass wir in den letzten Jahren keine Goethe-Institute geschlossen haben. Das ist in den Vorjahren übrigens anders gewesen. Im Gegenteil: Es sind neue Goethe-Institute geplant. Wir haben eines in Kabul eröffnet, ({4}) eines ist in Algier geplant und in diesem Jahr soll noch eines in Laibach eröffnet werden. Ich habe Anfang des Jahres eine Mädchenschule in Taschkent besucht und dort erfahren, dass Deutsch von den Kindern geradezu aufgesogen wird. In Turkmenistan lernen die Kinder im hintersten Dorf Deutsch. Die deutschen Auslandsschulen und Lehrerprogramme werden vom Auswärtigen Amt unterstützt. Dadurch werden weltweit 250 000 Schüler erreicht. Es ist nicht nur so, dass die Jugendlichen die deutsche Sprache lernen, sondern sie lernen sie aus deutschen Schulbüchern. Damit lernen sie deutsche Kultur und das Menschenbild, das wir ihnen vermitteln wollen. Was ich zu den Schulbüchern gesagt habe, gilt im Übrigen auch für die Lesesäle. Es gibt 55 Lesesäle, die unterstützt werden und in denen deutsche Zeitungen, Broschüren und Hefte ausliegen. Das ist von unschätzbarem Wert, weil damit deutsche Demokratie vermittelt wird. ({5}) - In Pjöngjang ist jetzt gerade ein Lesesaal hinzugekommen. Das ist unglaublich wichtig für eine Region, in der es keine Pressefreiheit gibt. Die jungen Generationen saugen das wie ein Schwamm auf. Ich mache auch immer auf www.deutschland.de aufmerksam. Da präsentieren wir uns in fünf Sprachen. Es ist eine Chance nicht nur für junge Leute, wenn sie Interesse an Deutschland haben, auf diese Seite zuzugreifen und mehr über Deutschland zu erfahren. Die Deutsche Welle wäre auch ein Thema, das wir noch erwähnen könnten. Zum Schluss möchte ich aus der Begründung des Antrags zitieren: Die Verbreitung von Deutsch als Fremdsprache im Ausland ist von ganz zentraler Bedeutung. Durch die Sprache wird eine Beschäftigung mit dem Land, den Menschen und der Kultur erreicht. Ich hätte es nicht besser als der gemeinsame Antrag sagen können. Vielen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Kultur und Medien auf Drucksache 15/1951. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak- tionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP auf Drucksache 15/1574 mit dem Titel „Deutsch als Arbeitssprache auf europäischer Ebene festigen - Verstärkte Förderung von Deutsch als erlernbare Sprache im Ausland“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange- nommen worden. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss, den An- trag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/468 mit dem Titel „Deutsch als dritte Arbeitssprache auf eu- ropäischer Ebene - Verstärkte Förderung von Deutsch als lernbare Sprache im Ausland“ für erledigt zu erklä- ren. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ge- genstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh- lung ist einstimmig angenommen worden. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Michael Bürsch, Ludwig Stiegler, Klaus Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Volker Beck ({1}), Werner Schulz ({2}), Katrin Göring-Eckardt, Krista Sager und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Öffentlich-private Partnerschaften - Drucksachen 15/1400, 15/2663 Berichterstattung: Abgeordneter Werner Schulz ({3}) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Otto Fricke, Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Privatisierung und öffentlich-private Partnerschaften - Drucksache 15/2601 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Michael Bürsch.

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Thema, über das wir jetzt sprechen, könnte ähnlich wie das vorige Thema „Deutsch als Arbeitssprache auf EU-Ebene“ fraktionsübergreifende Zustimmung finden. Betrachtet man die Infrastrukturmaßnahmen als Ausgangspunkt, dann zeigt sich, dass zum Beispiel bei Schulen, Kindergärten, sozialen Einrichtungen, Krankenhäusern und Straßen sowie im Personennahverkehr, in der Wasserversorgung, bei der Kommunikationstechnik und in vielen anderen Bereichen ein gewaltiger Bedarf besteht. Für die Kommunen beläuft sich der Investitionsbedarf für Infrastrukturmaßnahmen bis 2009 auf eine Summe von fast 700 Milliarden Euro, sei es für die Energieversorgung, den Wohnungsbau, die Telekommunikation und Ähnliches. Allein bei den Schulen beläuft sich der Investitionsbedarf - zum Beispiel für den Bau und die Sanierung von Schulen - auf 80 Milliarden Euro. Die Kommunen bzw. die öffentliche Hand können diese Summen nicht mehr aufbringen. ({0}) Nun fragen wir uns, wie wir diesem Problem beikommen können. Warum ist die Situation so schwierig geworden? Die Gründe dafür aufzuzählen würde sicherlich eine abendfüllende Veranstaltung: die Verschuldung der öffentlichen Hand, die Vorbelastungen aus den 16 Regierungsjahren von Helmut Kohl - der Kollege hat nach den Gründen gefragt, also bekommt er auch die entsprechende Antwort -, ({1}) das hohe Leistungsniveau des Staates und nicht zuletzt auch die deutsche Einheit. Sie ist uns zwar lieb und teuer, aber wir müssen dafür wahrscheinlich noch über sehr viele Jahre mehr als 100 Milliarden Euro allein von staatlicher Seite aufbringen. Das ist aber berechtigt; denn in den neuen Ländern gibt es einen gewaltigen Infrastrukturbedarf. Wir können nun den klassischen Weg weiterbeschreiten und die Verschuldung erhöhen, indem wir versuchen, die notwendigen Mittel weiterhin aus öffentlicher Hand aufzubringen, oder wir können - was die FDP als Königsweg ansieht - alle Bereiche privatisieren. ({2}) Das wird von den Sozialdemokraten anders gesehen. Wir sehen in der Privatisierung keine Daueraufgabe für die soziale Marktwirtschaft, werte Kolleginnen und Kollegen von der FDP. Wir sehen durchaus auch die Gefahren der Privatisierung. Ein Blick nach England zeigt, dass die in den 16 Jahren unter Maggie Thatcher durchgeführten Maßnahmen noch heute ihre Spuren hinterlassen. Das britische Gesundheitswesen ist nicht unbedingt beispielhaft. Auch andere Bereiche, die umfassend privatisiert worden sind, zeigen, dass dieser Weg nicht der beste ist. Insofern plädieren wir - das ist die Zielrichtung unseres Antrags - für einen dritten Weg, nämlich mit öffentlich-privaten Partnerschaften eine neue Verantwortungs- und Risikoaufteilung zwischen öffentlicher und privater Hand zu suchen. Es geht um eine Kooperation, wohlgemerkt auf derselben Augenhöhe, bei der die Aufgaben gemeinsam wahrzunehmen sind und die Risiken - darum geht es bei solchen Partnerschaften immer wie auch die dabei erzielten Gewinne gerecht verteilt werden. Sie von der FDP haben das viel zitierte Beispiel der Maut aufgegriffen. Bei der Maut, wie sie bis vor zwei oder drei Monaten gehandhabt worden ist, gab es aber keine öffentlich-private Partnerschaft; vielmehr wurde im Zusammenhang mit der Einführung eines Mautsystems ein Auftrag vergeben. Es gab einen Auftraggeber - die öffentliche Seite - und einen Auftragnehmer. Der Auftrag ist auf vielen Seiten schriftlich festgehalten worden. Bei der Maut hat es keine öffentlich-private Partnerschaft gegeben, bei der eine solche ausführliche Auftragsbeschreibung im Übrigen nicht nötig ist, weil diese Partnerschaft auf etwas anderem basiert, nämlich auf Vertrauen. In gegenseitigem Vertrauen müssen unerwartete Risiken gemeinsam verantwortet und getragen werden. Die Maut ist jetzt auf gutem Wege. Ich bin der Überzeugung, dass wir ein so riesiges Projekt auch als Vorzeigeprojekt brauchen, um zu zeigen, dass es der bessere Weg ist, wenn sich die öffentliche Seite mit der privaten Seite zusammentut. Wir können einerseits die Vorteile der privaten Seite und die damit verbundenen Effizienzgewinne, die vorsichtig geschätzt 10 bis 20 Prozent ausmachen, nutzen. ({3}) Andererseits haben wir aber auch weiterhin die Möglichkeit, steuernd einzugreifen und die Aufgabe wahrzunehmen, die die öffentliche Hand wahrnehmen muss, nämlich für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz zu sorgen. ({4}) - Auch für Chancengleichheit. - Die öffentlich-private Partnerschaft nutzt also die Möglichkeiten der privaten Seite, insbesondere die bessere Qualität, die man durch private Aufgabenwahrnehmung erreichen kann. Aber sie lässt auch die Möglichkeiten zu, Einfluss zu nehmen, wie das im Interesse der Öffentlichkeit tatsächlich notwendig ist. Diese vertraglich geregelte Kooperation wird bislang bei uns leider fast nur unter dem Gesichtspunkt der Investition betrieben. Wenn man sich andere Länder, insbesondere England, anschaut, dann stellt man fest, dass diese schon wesentlich weiter sind. Der Charme einer öffentlich-privaten Partnerschaft entfaltet sich erst richtig - dies nutzen wir noch gar nicht -, wenn man eine solche Partnerschaft über den gesamten Lebenszyklus einer Infrastruktur zum Gegenstand eines Vertrages macht, das heißt, wenn man die Effizienzgewinne und die damit verbundene Qualität über den gesamten Lebenszyklus nutzt. Nehmen wir ein Beispiel aus England - so etwas gibt es in Anfängen auch schon in Deutschland -: Die Aufgabe, ein Gefängnis zu errichten und zu betreiben, wird an eine öffentlich-private Partnerschaft vergeben. Natürlich wird die öffentliche Hand immer darauf achten müssen, dass die Sicherheitsbelange gewahrt bleiben. Selbstverständlich müssen bestimmte Aufgaben weiterhin im Sinne des Staates erfüllt werden. Aber es steht nirgendwo geschrieben, dass die Aufgabenwahrnehmung nicht auch durch private Dienste erfolgen kann. Die Engländer haben einen wunderbaren Vergleich angestellt, als ich vor kurzem über ein solches Projekt, also das Errichten und Betreiben eines Gefängnisses, gesprochen habe - er macht vielleicht auch beispielhaft den Unterschied zwischen England und Deutschland deutlich, wo es bereits eine vergleichbare Ausschreibung gibt -: Die Deutschen werden in einem solchen Falle mit deutscher Gründlichkeit alles bis in das kleinste Detail - die Höhe der Mauern, der Fenster und der Türen - beschreiben. Die Engländer dagegen legen als Aufgabenstellung bzw. Rahmenbedingung einfach vertraglich fest, dass niemand aus dem Gefängnis entkommen darf. Das ist alles; das ist schließlich die Zielstellung. Wenn jemand entkommt, muss dafür natürlich Verantwortung übernommen und müssen Konsequenzen gezogen werden. Ich wünsche mir, dass wir Deutschen uns an solchen Beispielen orientieren. Das wäre nämlich ein wunderbarer Beitrag zur Entbürokratisierung und zur Vereinfachung. Zudem entspräche es dem, was ich unter öffentlich-privater Partnerschaft verstehe, nämlich eine Kooperation auf gleicher Augenhöhe und mit gegenseitigem Vertrauen, in der die Risiken und die Chancen gerecht verteilt werden. Ich möchte noch einmal in Erinnerung rufen, dass der Investitionsbedarf bis 2009 auf kommunaler Seite bei fast 700 Milliarden Euro liegt. Davon entfallen allein 80 Milliarden Euro auf den Bau und die Ausstattung unserer Schulen. Nach Schätzungen von Fachleuten könnte etwa ein Drittel der Aufgaben in diesem Bereich in Form von öffentlich-privaten Partnerschaften erledigt werden. Das wäre allein im Bereich der Schulsanierung ein Auftragsvolumen von rund 26 Milliarden Euro. Wohlgemerkt, niemand sollte glauben, dass damit die Finanznot der öffentlichen Hand in irgendeiner Weise behoben werden kann. Öffentlich-private Partnerschaften sind kein Allheilmittel und dürfen erst recht nicht zur Bildung von Schattenhaushalten führen. Sie sind lediglich ein modernes Instrument des Zusammengehens und der Kooperation von öffentlicher und privater Seite zum beiderseitigen Nutzen. Insofern werbe ich für dieses Instrument. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, lassen Sie uns das gemeinsam machen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, das ist kein Konfliktthema, sondern ein Instrument der Modernisierung von Staat und Gesellschaft, das uns allesamt voranbringen wird. Danke schön. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Michael Fuchs.

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Verehrter Herr Kollege Bürsch, „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“, sagte schon Erich Kästner. All das, was Sie uns gerade mit viel Feuer und Pathos vorgetragen haben, können Sie tun. Niemand hält Sie auf, das öffentliche Vergaberecht so zu verändern, wie Sie sich das vorgestellt haben. ({0}) Wir wünschen uns das Ganze. Eine Partnerschaft, wie Sie sie gefordert haben, hat ihren Nutzen darin, dass man Dinge zu zweit besser als allein bewältigen kann. ({1}) Dies trifft auf das Thema der heutigen Debatte bestens zu. Es ist richtig, sich mit dem Thema „Public Private Partnership“ oder - eben hat die Debatte über Deutsch als Arbeitssprache auf EU-Ebene stattgefunden - „ÖPP“, also öffentlich-private Partnerschaften, zu beschäftigen. Es geht um die Frage, was der Staat allein zu bewerkstelligen hat und in welchen Bereichen privates Unternehmertum besser wäre. Von Bereichen, in denen dies der Fall ist, brauchen wir einfach mehr. Meiner Meinung nach ist der Staat beispielsweise nicht dafür zuständig - Sie haben das in der Debatte heute Morgen gefordert -, eine neue Behörde zur Erhebung der Ausbildungsplatzabgabe zu gründen. Dort müssten zusätzlich 1 000 Mitarbeiter eingestellt werden. Das würde uns in der Zukunft mit 72 Millionen Euro pro Jahr belasten. ({2}) Die angestrebten Investitionsmöglichkeiten haben wir dann wieder nicht, Herr Kollege Bürsch. Der heutige Sozialstaat interveniert meiner Meinung nach in viel zu vielen Bereichen, vor allen Dingen in den Bereichen der Daseinsvorsorge. Er hat den Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit absolut überschritten. Er krankt daran, dass im Prinzip nur noch - ich denke, darin sind wir uns fast alle einig - umverteilt wird. Der Staat sollte aber nur dort eingreifen, wo es allen zum Nutzen gereicht und wo es um hoheitliche Aufgaben geht. Alle anderen Dinge sollte er Privaten überlassen. Subsidiarität - ein Wort, das wir alle in Sonntagsreden von jedem Politiker immer wieder hören - ist in vieler Hinsicht nur noch eine Worthülse; dennoch müsste es wieder zum zentralen Thema in der Politik werden. Daher begrüßt es die Union, dass der Privatisierung im FDP-Antrag Vorrang vor öffentlich-privaten Partnerschaften einräumt wird. ({3}) Wir sollten erst einmal nachdenken. Am Anfang müsste eine Aufgabenkritik des Staates stehen. Was der Staat nicht machen muss, das darf er auch nicht machen. Er sollte sich da also zurückhalten. Sie benennen große Bereiche in Bezug auf PPP, zum Beispiel die sozialen Dienste. Ich bin der Meinung, dass wir gerade hierbei auf mehr Eigenverantwortlichkeit der Bürger setzen sollten. Dem Subsidiaritätsgedanken folgend sollten wir möglichst viele Dinge nach unten delegieren. Die Arbeit der Privaten ist sicherlich nicht nur kostengünstiger, sondern auch besser für die Bürger. ({4}) Neben der Aufgabenkritik muss der Staat allerdings zuallererst seine Hausaufgaben machen. Unsere Staatsquote liegt mittlerweile bei 50 Prozent. Ist das noch soziale Marktwirtschaft? ({5}) - Frau Kollegin Kopp, Sie haben vollkommen Recht: Unsere Staatsquote ist schon höher als 50 Prozent, Tendenz ständig steigend. Wenn das stimmt, was in den Debatten heute Morgen gesagt worden ist, dann sind wir mittlerweile in Richtung 55 Prozent unterwegs. Von sozialer Marktwirtschaft kann keine Rede mehr sein. Wir sollten ÖPP deswegen nicht als ein Ausweichmanöver betrachten, um die grundlegenden Probleme erst einmal zu umgehen. ({6}) Die zugrunde liegenden Fakten, Herr Kollege Bürsch, sind nämlich erdrückend: Unsere Steuereinnahmen sinken ständig, die Ausgaben für Sozialleistungen steigen ständig und auch die Investitionen gehen immer weiter zurück. In der gestrigen Verkehrsdebatte wurde deutlich, dass in diesem Jahr kaum noch Investitionen im Verkehrsbereich, und zwar auf allen Ebenen - Straße, Schiene etc. -, vorgenommen werden. Ich sage Ihnen schon jetzt voraus: Die Arbeitslosigkeit im Tiefbausektor wird dieses Jahr erheblich steigen. Das ist eine Folge Ihrer Politik. Es kann nicht angehen, dass wir zwei Haushaltsjahre hintereinander das verfassungsrechtlich verankerte Ziel, für eine bestimmte Investitionshöhe zu sorgen, nicht erreicht haben. Wir werden dieses Ziel auch dieses Jahr nicht erreichen. Ich sage Ihnen voraus: Wir werden die 40-Milliarden-Euro-Grenze im Haushalt dieses Jahres wieder überschreiten; die Investitionen werden wieder wesentlich niedriger als die konsumtiven Ausgaben sein. ({7}) Das hat eben katastrophale Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und auf die Wirtschaft insgesamt. Sichtbare Folgen sind die Staus auf den Autobahnen und die Raumnot in den Hochschulen. Wir hören von Ihnen immer Diverses über Bildungsprogramme, aber über Kürzungen bei den Investitionen müssen wir auch etwas vernehmen. In vielen Bereichen Deutschlands gibt es Straßen, die man bald nur noch mit Geländewagen befahren kann. Die Schwimmbäder in den Kommunen werden geschlossen. Na gut, wir haben ja Mosel, Rhein, Spree etc. da können unsere Kinder dann schwimmen gehen. In vielen Schulen und Kindergärten sieht es so aus, dass die Kinder nur noch mit Schutzhelmen hineingehen können. Das alles sind Folgen einer Politik, die die Kommunen an den Rand des Abgrunds gebracht hat. Das hat dazu geführt, dass wir bei der Reform im Gemeindefinanzbereich nichts vernünftig hinbekommen haben. Ich will Ihnen das aus meiner Heimatstadt Koblenz schildern. Im letzten Jahr hatten wir bei einem Etat von 247 Millionen Euro eine Neuverschuldung von 51 Millionen Euro, davon allein 12 Millionen Euro zusätzlich für die Jugendhilfe. So etwas kann keine Kommune mehr bewältigen. Es müssen Gesetze her, die die Kommunen wieder handlungsfähig machen, die die Kommunen wieder in die Lage versetzen zu investieren. ({8}) Auch dazu eine Zahl. 1992 war das Investitionsvolumen der Kommunen 10 Milliarden Euro höher als heute. ({9}) Daher fordere ich Sie auf: Überlassen Sie viele Bereiche dem privaten Sektor und den natürlichen Regeln des Wettbewerbs! Erst in einem zweiten Schritt sind dann ÖPP anzugehen. So sinnvoll diese ÖPP-Maßnahmen sind: Ich warne davor, sie zu überschätzen. Ich halte sie für eine Second-best-Lösung. Meiner Meinung nach sollte in vielen öffentlichen Bereichen zunächst einmal die Privatisierung Vorrang haben. ({10}) Selbstverständlich begrüßen wir ÖPP. Aber das kann nur nach den Prinzipien des Wettbewerbs gehen. Es muss unbürokratisch sein. Moderne Maßnahmen sollte man heute natürlich IT-stützen. Großbritannien, der große Vorreiter in Sachen ÖPP, hat bewiesen, dass privatwirtschaftlich durchgeführte Projekte - Sie haben eben das Beispiel mit den Gefängnissen genannt - um 20 Prozent günstiger realisiert werden als staatlich durchgeführte. Aber hierzulande fehlt der Mut. ({11}) Ihr Antrag ({12}) zeigt mir, Herr Kollege Bürsch, dass Ihnen der Mut fehlt. Es wird eine ganze Menge von Vorschlägen gemacht, über die man nachdenken kann. Aber ich halte zum Beispiel nichts davon, jetzt wieder neue Kommissionen oder Arbeitsgruppen beim Bauministerium zu bilden, länderübergreifende Zusatzarbeitsgruppen einzurichten etc. Das alles hilft uns nicht weiter. Wir sollten möglichst unbürokratisch arbeiten. Ich warte schon lange auf die Vorschläge des Ankündigungsministers Clement zum Bürokratieabbau. Da sind wir bis jetzt keinen Zentimeter weitergekommen. ({13}) Herr Kollege Bürsch, ich bin nicht mit Ihnen der Meinung, dass die Maut kein Beispiel von ÖPP ist. Es ist doch so, dass der Staat einem privaten Konsortium eine Aufgabe übertragen hat, und zwar die Aufgabe, für ihn Maut-Gelder zu erheben. Das ist ein klassisches Beispiel einer ÖPP. Was ist dabei herausgekommen? Es ist ein Versagen Ihres Ministers Bodewig gewesen, der - Entschuldigung - lausige Verträge gemacht hat, ({14}) die er zwei Tage vor der Wahl - und damit seiner Abwahl durch den Bundeskanzler sozusagen - noch schnell unterschrieben hat. „Honi soit qui mal y pense!“, sagt der halbgebildete Franzose. ({15}) - Ich kann es Ihnen gern übersetzen, Herr Staffelt; keine Sorge. Das mache ich dann aber nachher. - Das zeigt doch, dass da irgendetwas nicht in Ordnung war. Einen solch komplizierten Vertrag unterschreibt man nicht zwei Tage vor einer Wahl. Die Folgen haben wir jetzt zu tragen. Es gibt aber auch noch eine ganze Reihe anderer Beispiele dafür, dass das nicht klappt. Ich nenne den Verteidigungsbereich. Nehmen wir doch einmal die GEBB! Herr Kollege Bürsch, ich empfehle Ihnen, sich das einmal anzuschauen. Ich bin ja Koblenzer und habe mit dem BWB viel zu tun. Gehen Sie dahin und hören sich an, was bei der GEBB läuft! Es ist ein Desaster. Das gilt genauso für die LH Bundeswehr Bekleidungsgesellschaft oder auch für die Fuhrpark-Service GmbH. Ich habe das Gefühl: Alle diese Dinge sind eigentlich nur dazu da, dass man Posten schafft, Aufsichtsrats- und Vorstandsposten, auf die man Leute entsorgt. ({16}) Das verschlingt Geld. Geld hat das bisher nicht gebracht. Fragen Sie bitte den ehemaligen Verteidigungsminister, was er damals zur GEBB angekündigt hat und dazu, was wir in Koblenz denn an Privatisierung erwarten dürften, wie schnell die Objekte verkauft würden! Nichts ist verkauft! Gucken Sie bitte nach, was von der GEBB im letzten Jahr verkauft wurde! - Nichts! So kann man das nicht machen. So werden wir bei ÖPP-Projekten mit Sicherheit keine Chance haben. Wir brauchen deswegen keine Taskforce im Verkehrsministerium und keinen zusätzlichen Behördenapparat. Das widerspricht ja dem Gedanken, den Sie und ich für richtig halten. Deutschland wird zu Recht als Trockenschwimmerrepublik bezeichnet. Es wurde ein 1 500 Seiten starkes Gutachten angefertigt, aber nichts passiert. Wir brauchen Leuchtturmprojekte, die die Leute anregen, solche Projekte durchzuführen, und nicht zusätzliche Bürokratie in Form von weiteren Kommissionen. Da sind Sie auf dem falschen Wege. Deswegen müssen wir Ihren Antrag leider ablehnen. Er ist vom Grundgedanken her in Ordnung, aber von der Organisation her falsch. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Alex Bonde.

Alexander Bonde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003509, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit den öffentlich-privaten Partnerschaften, ÖPP - ich gebe zu, PPP ist gebräuchlicher, aber der Hinweis auf die letzte Debatte ist ja bereits erfolgt -, beschreiten wir neue Wege, um die Modernisierung des Staates voranzubringen, die Bürokratie zu verschlanken und mehr Effizienz und Leistungsfähigkeit in öffentliche Verwaltungen zu bringen. Angesichts der derzeitigen Probleme ist ÖPP ein Instrument, dessen Möglichkeiten wir bei weitem noch nicht ausschöpfen. Gerade als Haushaltspolitiker - durch die Berichterstattung für Bildung und Forschung sowie Verteidigung bin ich außerdem in zwei Bereichen mit ersten ÖPP-Projekten tätig - möchte ich für die weitere Nutzung dieser Möglichkeiten werben. Herr Kollege Dr. Fuchs, weil Sie die GEBB, die Fuhrpark-Service GmbH und die LH Bundeswehr Bekleidungsgesellschaft angesprochen haben: Ich will gar nicht bestreiten, dass es bei ÖPP-Projekten nicht auch Schwierigkeiten gibt. Aber wenn Sie sich auf den Standpunkt stellen, dass Sport gut für die Gesundheit ist, dann können Sie nicht beim ersten Seitenstechen mit dem Joggen aufhören, sondern dann stellt sich die Frage, ob Sie bereit sind, das auch durchzuziehen. ({0}) Ich bin mir sicher - da sind wir uns auch einig -, dass durch ÖPP nicht überall finanzielle Einsparungen möglich sind, wohl aber die effizientere Nutzung von Ressourcen und häufig mehr oder bessere Leistung pro Steuer-Euro. Wenn wir dabei auch noch die Kluft zwischen öffentlichem Raum und privater Wirtschaft reduzieren, ist das umso besser. Wir alle wissen, dass die Leistungen der öffentlichen Hand bisher in Eigenregie, nach eigenen Regeln, organisiert und durchgeführt wurden. Mit ÖPP ergibt sich nun die Möglichkeit, alte, eingefahrene Abläufe zu hinterfragen und moderne Technologien verstärkt zu nutzen. Für diese Organisationsform schafft der Antrag von SPD und Grünen, den wir hier lesen, die Voraussetzungen. Wir müssen uns in diesem Kontext natürlich auch mit übergeordneten Fragen beschäftigen. Wir müssen die Debatte darüber führen, was wir uns als Staat heute leisten können und wo wir Staatsaufgaben entrümpeln müssen. Privatisierung wie ÖPP sind dabei an unterschiedlichen Stellen wichtige Instrumente. Sich aber nur auf reine Privatisierung zu verlassen oder gar einen Automatismus einzuräumen, wie der FDP-Antrag es formuliert, wäre weit über das Ziel hinausgeschossen. ({1}) Wichtig ist, dass Wirtschaft und öffentliche Hand gemeinsam Lösungen für die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen suchen. Mit dem Antrag soll ein guter Ordnungsrahmen geschaffen werden, der sichere Investitionen ermöglicht und für Vertrauen sorgt. Durch ÖPP soll ermöglicht werden, dass Kooperationspartner zunächst voneinander lernen und im nächsten Schritt die Erfahrungen nutzen und die Kooperation umsetzen. Auf kommunaler Ebene sind wir da zugegebenermaßen weiter. Mit dem vorliegenden Antrag tragen wir dieser Tatsache Rechnung, indem wir eine ebenso häufige Anwendung dieser Organisationsform auf Länderebene und Bundesebene ermöglichen. Dafür müssen wir aus den gemachten Erfahrungen lernen. Es bedarf der Überprüfung der rechtlichen Rahmenbedingungen, die durch unseren Antrag angeschoben werden. Bedeutsam ist beispielsweise die Anpassung des Haushaltsrechts und der BHO, unter anderem um einen einheitlichen Maßstab für Wirtschaftlichkeitsvergleiche zu schaffen. Genauso wichtig sind die Überprüfung des Vergaberechts und die steuerliche Gleichbehandlung der unterschiedlichen Modelle. Wir reden über eine Vielzahl von politischen Bereichen, in denen wir mit ÖPP vorankommen können. Mit der Wirtschaft haben wir im Bereich Bildung und Forschung erfolgreiche Kooperationen für den flächendeckenden Anschluss von Schulen an das Internet abschließen können. Im Bereich des Einzelplans 14, der Verteidigung, gibt es Gebiete, die nicht gut vorankommen, wie Sie beschrieben haben. Ebenso gibt es aber Gebiete, die deutlich machen, wie wichtig ÖPP in den nächsten Jahren sein wird. Ich nenne beispielsweise das Projekt „Herkules“. Mit diesem Projekt sind wichtige Fragen verbunden. Die Frage, wie die gesamte IT-Struktur der Bundeswehr modernisiert werden kann, schreit geradezu danach, neue Wege zu gehen. Über eine Anschubfinanzierung für die Modernisierung könnte man dieses Pilotprojekt so vorantreiben, wie es die Bundeswehr allein mit den ihr zur Verfügung stehenden IT-Mitteln nicht schaffen könnte. Wir alle können zu Recht Zweifel daran anmelden, ob die Bundeswehr in Eigenregie die Modernisierung der IT, die Einführung von SAP und das Betreiben von Rechenzentren - das alles sind Prozesse, die in der Wirtschaft tagtäglich ablaufen und für die in der Wirtschaft Erfahrungen vorliegen - wirtschaftlicher durchführen kann. Wir müssen uns vielmehr fragen, ob es an dieser Stelle nicht angebracht ist, von der Erfahrung der Wirtschaft zu profitieren. Die Tatsache, dass Projekte dieser Art auch in der Wirtschaft von keinem Konzern mehr selbstständig durchgeführt werden, spricht dafür, in diesem Bereich neue Wege zu beschreiten. Komplexer werdende Anforderungen und neue Technologien erfordern von der Politik zwingend neue Wege, Kooperationen und Finanzierungsmechanismen. Ich glaube, wir wären an dieser Stelle gut beraten, gemeinsam voranzugehen. Wir alle wissen, wo die Defizite in der öffentlichen Verwaltung liegen. Wir alle wissen auch, dass es insbesondere in Zeiten knapper Kassen für den Staat schwierig ist, zu handeln. Insofern hoffe ich, dass wir es jenseits allen Parteienstreits und jenseits der verschiedenen ideologischen Ansätze, die auch in diese Debatte eingeflossen sind, hinbekommen, unseren Staat moderner zu gestalten und die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Erste Erfahrungen liegen vor. Lassen Sie uns gemeinsam daraus lernen! Vielen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gudrun Kopp. ({0})

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Jawohl, jetzt kommt die blanke Privatisierung. - Lassen Sie mich zunächst einmal zur Ausgangslage zurückkehren. Wir alle wissen, dass die Staatskassen leer sind und dass es immer noch starre Strukturen und eine riesige Bürokratie gibt. Unterm Strich kann man sagen: Der Staat ist seit langem überfordert mit der großen Anzahl von Aufgaben und Lasten. Es ist dringend notwendig, dass er sich davon befreit. An welcher Stelle soll man anfangen? Es ist natürlich völlig klar, dass wir eine umfassende Steuerreform und auch eine Gemeindefinanzreform brauchen. ({0}) Dazu hat die FDP-Bundestagsfraktion ein ausgearbeitetes Konzept vorgelegt. Damit würde die Grundlage dafür geschaffen, dass der Staat in den Bereichen, die staatlich geregelt werden müssen, handeln kann. Wir müssen damit anfangen, die vorhandenen Strukturen zu evaluieren und neue Strukturen zu schaffen. Neue Strukturen können wir durch die öffentlich-privaten Partnerschaften aufbauen. Die FDP steht diesem Vorhaben positiv gegenüber. Ein solches Instrument kann durchaus sinnvoll sein, wenn es effizient eingesetzt wird. Dann trägt es dazu bei, Leistungen, die im öffentlichen Interesse liegen, kostengünstig zu erbringen. Man muss aber beachten, dass nicht alle Leistungen komplett von privater Seite erbracht werden können. In diesem Fall ist ÖPP ein sehr sinnvolles Instrument. Lieber Herr Kollege Bürsch, Sie haben in Ihrem Antrag gute Beispiele für ÖPP genannt. Wir sind uns grundsätzlich einig, dass dies ein sinnvoller Ansatz ist. Aber Sie haben in Ihrem Antrag nicht an einer einzigen Stelle die Privatisierung erwähnt. ({1}) Sie sprechen immer nur von ÖPP. Ich finde es sehr interessant, dass Sie die vorhin von dem Kollegen Fuchs genannten Beispiele in Ihrem Antrag erwähnen. Sie sprechen von dem Lenkungsausschuss, den Sie eingerichtet haben, und von der Gesellschaft zur Finanzierung von Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen. Von der GEBB war ebenfalls die Rede. Das alles sind aber Beispiele für kostenträchtige Flops und nicht etwa Beispiele, die zeigen, wie man ÖPP so nach vorn bringen kann, wie wir uns das vorstellen. ({2}) Sie schreiben in Ihrem Antrag sehr richtig, dass es nötig ist, im Zusammenhang mit ÖPP-Modellen Erfahrungen und Erkenntnisse zu sammeln und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, um auf diesem Gebiet erfolgreich zu sein. Aber an all dem, was Sie sich selber verschrieben haben, fehlt es. Den Antrag haben Sie im vergangenen Jahr eingebracht. Inzwischen hat uns alle das Mautdesaster - das kann man ja nur als „Desaster“ bezeichnen - überrollt. Dies zeigt, dass es Ihnen nicht gelungen ist, in diesen Bereichen Erkenntnisse zu erwerben, Schlussfolgerungen zu ziehen und dies dann auch tatsächlich umzusetzen. ({3}) Die FDP-Bundestagsfraktion legt Ihnen hingegen einen Antrag vor, in dem die vollständige Privatisierung vor ein ÖPP-Modell gesetzt wird. Wir haben die Vorrangstellung der Privatisierung klar herausgestellt. Wir sagen: Wenn trotzdem ÖPP-Projekte eingerichtet werden sollen, dann knüpfen wir das an bestimmte Bedingungen. Ich nenne ein paar: Zum einen sind parlamentarische Kontrollmöglichkeiten ganz wichtig, mit denen ÖPP-Auswirkungen auf öffentliche Haushalte dargestellt werden können. ({4}) Zum anderen brauchen wir dringend eine Prüfung der gesetzlichen Regelungen, und zwar im Hinblick auf die Verteilung des Risikos zwischen den Vertragsparteien, auf Haftungsfragen, Vergaben - das haben Sie selber eben angesprochen - und die Durchführung sowie Beendigung von ÖPP-Projekten. Auch das sind wichtige Merkmale, die berücksichtigt werden müssen. ({5}) Zum letzten muss man dafür sorgen, dass bei ÖPPVorhaben des Bundes auch mittelständische Unternehmen und nicht immer nur Großunternehmen eine Chance haben, im Zusammenhang mit solchen Projekten öffentlich-private Partnerschaften einzugehen. Das kann man zum Beispiel sehr gut mit Landestestaten machen, die schon sehr erfolgreich in einem Bundesland ausgegeben wurden und die eine Firma unter zinsgünstigen Bedingungen an Banken verkaufen kann. Unter solchen Voraussetzungen haben auch kleine und mittelständische Unternehmen die Chance, hieran teilzunehmen. ({6}) Dies ist also sehr wichtig. Dies sind Voraussetzungen, die wir vorher festsetzen müssen. Das Beispiel England wurde sehr häufig genannt. Dazu sage ich Ihnen: Der britische Rechnungshof hat vor kurzem eine Evaluierung vorgenommen und mitgeteilt, dass 75 Prozent aller ÖPPs rechtzeitig und budgetgerecht fertig gestellt werden konnten und dass enorme Kosteneinsparungen zu erzielen waren. Auch in Großbritannien hat sich sehr viel zum Positiven entwickelt. ({7}) Privatisierungen sind also als vorrangig anzusehen; ÖPPs sind als Zwischenschritt durchaus akzeptabel. Ich glaube, wenn es gelingt, beides miteinander zu verbinden, dann wird es auch gelingen, den Wirtschaftsstandort Deutschland zu revitalisieren. Ich bitte Sie: Überprüfen Sie Ihren Antrag und stimmen Sie unserem letztendlich zu! Vielen Dank. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Der Parlamentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt hat jetzt das Wort.

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn meiner kurzen Ausführungen darauf hinweisen, dass ich glaube, dass es nicht der Sache dient, wenn wir alle Probleme dieser Welt in das Thema „öffentlich-private Partnerschaften“ packen. Ich glaube, dass wir in diesem Lande die Ressourcen, die dieses Thema bietet, bisher nicht ausgeschöpft haben. Darum sollten wir uns in der Hauptsache kümmern. Niemand von den Antragstellern hat je behauptet, dass mit solchen Partnerschaften alle Probleme, die wir in diesem Lande haben, gelöst werden könnten. Aber dies ist als Ergänzung des Instrumentariums, das uns zur Verfügung steht, interessant genug und es ist deshalb meines Erachtens auch wert, dass man dem nachgeht. Nur darum wird in diesem Antrag gebeten. Er ist - ohne jede Verurteilung der Vergangenheit und nur nach vorne gerichtet - absolut sachlich gehalten. Deshalb ist es umso enttäuschender, wenn vonseiten der CDU/CSU auch bei diesem späten Tagesordnungspunkt heute wieder nur herumgeeiert wird. Das fing heute Morgen an und setzte sich den ganzen Tag über fort. Im Übrigen haben wir viele der hier angesprochenen Aspekte berücksichtigt. Ich will am Anfang auf das eingehen, was die Kollegin Kopp hier eben bezüglich der Mittelständler sagte. Es gibt beispielsweise ein ganz explizit mittelständisches Projekt in Monheim in Nordrhein-Westfalen zur Unterhaltung von Schulen. Auch wir denken natürlich daran; die Länder denken daran.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Ja, bitte.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte.

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Staffelt, Sie haben eben ausgeführt, das sei ein netter, freundlicher - ich will nicht sagen: harmloser - Antrag. Ich möchte Ihnen die Kernfrage stellen: Würden Sie mir zustimmen, dass dieser Antrag nicht sagt, dass Privatisierung vor Public Private Partnership geht? ({0})

Dr. Ditmar Staffelt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003239

Das kann ich Ihnen gerne beantworten. Das trifft meine tiefe Überzeugung. ({0}) Eine solche Haltung wäre gegen das Haushaltsrecht gerichtet. Jeder, der über eine öffentliche Investition zu entscheiden hat, hat die Möglichkeit zu suchen, die für die jeweilige Gebietskörperschaft die wirtschaftlich beste ist. Das kann eine private Lösung sein; das kann eine öffentliche Lösung sein. Das kann aber auch - das wollen wir ausdrücklich ergänzen - eine öffentlich-private Partnerschaft sein. Nur darum geht es. Ich bin dagegen zu präjudizieren. Ich bin sehr dafür, dass der öffentliche Sektor privatisiert. Der Bund tut das in vielfältiger Weise. Beispielsweise haben wir Anteile an staatlichen Unternehmen an Private veräußert. ({1}) Wir müssen aber - ich sage es noch einmal - unser Instrumentarium erweitern. An dieser Stelle sei auf einige Maßnahmen verwiesen, die wir eingeleitet haben. Wir haben im Fernstraßenbau einen ersten Schritt in diese Richtung unternommen. Wir sind dabei, Konzepte abzustimmen, wie öffentlich-private Partnerschaften im Autobahnbau realisiert werden können. Denken Sie an die Feste Warnowquerung, aber auch an den Landes- und den kommunalen Bereich! Im Dialog mit Ländern und Gemeinden müssen wir die zentrale Frage beantworten, wie wir öffentlich-private Partnerschaften hinsichtlich ihrer Wirtschaftlichkeit mit anderen Lösungen vergleichen können. Ein Problem sind Ängste im Umgang mit solchen Neuerungen. Da wollen wir helfen. Wir haben gemeinsam mit den Banken und der Bauwirtschaft ein Gutachten zum Thema „Public Private Partnership im öffentlichen Hochbau“ in Auftrag gegeben. Die Taskforce „Öffentlich-private Partnerschaften“ bietet eine hervorragende Basis für ein Kompetenznetzwerk, das wir dringend benötigen. ({2}) Es geht darum, wie wir private Leistungsfähigkeit und private Qualitäten mit öffentlicher Leistungsfähigkeit und öffentlichen Qualitäten verbinden können, wo es Sinn macht. Ich sage ganz ausdrücklich: Das ist kein Modell, das jetzt zwingend für jedermann vorgeschrieben wird. Im Übrigen ist dieses Modell nicht aus der Not geboren. Es ist der Versuch, verschiedene Denkweisen miteinander zu verbinden: die notgedrungen kameralistische Denkweise, die im öffentlichen Bereich herrscht, die betriebswirtschaftliche Denkweise; die öffentliche Verantwortung auf der einen Seite und die technische Leistungsfähigkeit, das Know-how auf der anderen Seite. Wir sollten nur jenen unsere ausdrückliche Unterstützung zusagen, die sich auf den Weg gemacht haben. Es ist unglaublich schwierig, bei der Gegenüberstellung jeweils die steuerliche und die finanzielle Seite zu betrachten und in diesem Konstrukt noch die Wirkung von privater Finanzierung und Kommunalkrediten auseinander zu halten. Hinzu kommt - Sie wissen das alles -, dass auch der Wertverfall einer Investition vernünftig in die Kameralistik einzubauen ist, will man das Ganze vergleichbar machen. Wir sind angetreten, hier als Bund, Land und Kommune einfach mehr Know-how zu vermitteln und dieses Know-how durch praktische Beispiele zu unterfüttern. Es handelt sich quasi um Learning by Doing. ({3}) - Na, hören Sie mal! Wenn er „honi soit, qui mal y pense“ sagen kann, dann werde ich doch wohl noch englisch sprechen dürfen. ({4}) - Ja, das kann ich auch - großes Latinum! Die Berliner Schule ist besser, als Sie glauben. An dieser Stelle will ich nur noch einmal ergänzend sagen: Lassen Sie uns gemeinsam auf die Reise gehen. Es macht überhaupt keinen Sinn, hier eine politische Debatte zu führen, die ideologisiert oder die parteipolitisch geprägt ist. Ich gebe Ihnen Brief und Siegel: Die Kommunen und Länder, die von Ihren Parteifreunden regiert werden, haben genau die gleichen Probleme wie die sozialdemokratisch geführten. ({5}) - Hören Sie doch bloß auf! Das glaubt ja niemand. ({6}) - Ja, das können Sie vielleicht im Bierzelt erzählen. Hier glaubt Ihnen das keiner mehr. ({7}) - Ja, Rot-Grün regiert seit fünf Jahren und wir haben das Land heruntergewirtschaftet. Sie sollten sich als gewählter Abgeordneter des Deutschen Bundestages eigentlich zu schade dafür sein, sich auf einem solchen Niveau zu unterhalten. Das könnten wir gegebenenfalls nämlich auch ganz gut. Ich wollte mich hier in der Sache mit Ihnen auseinander setzen. Bei diesem Tatbestand ist nämlich Gemeinsamkeit angesagt. Eine Auseinandersetzung auf einer solchen Ebene könnte ohnehin keiner nachvollziehen, übrigens, Herr Kollege Abgeordneter, auch jene nicht, die aufseiten der Privatwirtschaft schon lange darauf warten, endlich auch Aufträge im Bereich von Public Private Partnership zu bekommen, weil die öffentliche Hand in vielen Bereichen bisher darauf verzichtet, Private mit ins Boot zu nehmen. Deshalb ist ein vernünftiges und nachvollziehbares PPP-Konzept, das auf eine breite Basis gestellt wird, auch ein Konzept zur Ankurbelung der Konjunktur und zur Stabilisierung von Unternehmen in unserem Land. Vergessen Sie das bitte nicht! Die Unsicherheiten in vielen Kommunen, von denen ich sprach, können sicherlich beseitigt werden, wenn wir ihnen in verstärktem Maße Leitlinien mit auf den Weg geben. Niemand in einer Stadt, einer Kommune oder einem Landkreis hat Lust, sich am Ende vom Rechnungshof die Ohren lang ziehen zu lassen, weil er aus Unkenntnis oder zu großem Wagemut den einen oder anderen Fehler gemacht hat. Auch davor sollten wir schützen, um diese Wege zu öffnen. Ich sage noch einmal: Neben Privatisierung und öffentlicher Tätigkeit gehört dieses dritte Element dringend in unser Repertoire. Deshalb bitte ich Sie an dieser Stelle um Zustimmung. Die Bundesregierung jedenfalls teilt den Tenor und den Inhalt dieses Antrages ganz ausdrücklich. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Alexander Dobrindt. ({0})

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Staatssekretär, Sie haben erwähnt, PPP sei eine Ergänzung und ein neues Instrument. Ich sage: Öffentlichprivate Partnerschaften sind - gar keine Frage! - aktive Zukunftsmodelle für die Zusammenarbeit zwischen öffentlicher Hand und privater Wirtschaft. Das bedeutet aber, dass es im Besonderen unsere Aufgabe ist, sie weiterzuentwickeln, gebrauchsfähiger und effektiver zu machen. Dabei muss es hauptsächlich darum gehen, den partnerschaftlichen Gedanken stärker herauszustellen, als es bisher der Fall ist. ({0}) - Nicht so viele Vorschusslorbeeren, Herr Kollege! ({1}) Ein solches Leitmotiv der Zusammenarbeit zwischen öffentlicher Hand und privater Wirtschaft bei der effizienten Erbringung öffentlicher Dienstleistungen wollen wir allgemein stärken und verbindlicher gestalten. ({2}) Im Ergebnis muss dabei immer ein Plus herauskommen. Das heißt, es muss erreicht werden, dass man gemeinsam zu einem besseren Ergebnis als allein kommt. Das ist zwangsläufig nicht immer gegeben. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Beispielen; die Lkw-Maut wurde bereits genannt. Ein solches Chaos bricht dann aus, wenn keine echte Partnerschaft vorliegt, sondern wenn sich der eine auf den anderen verlässt und wenn die Partner - was im Zweifelsfall noch viel verheerender ist ihre gegenseitigen Kontrollpflichten nicht erfüllen. Gerade diese Kontrollpflichten sind im Bereich der PPP ausgesprochen wichtig. Interessanterweise ist es wohl regelmäßig die öffentliche Hand, die nicht oder nur unzureichend kontrolliert und sich darauf verlässt, dass sie ja den Bedarf feststellt und im Zweifelsfall das Geld zur Verfügung stellt. Genau das reicht aber nicht aus, wenn man eine Win-win-Situation erreichen will. Meine Damen und Herren, wer dem heute weit verbreiteten Gedanken anhängt, PPP könne einen Großteil der Finanzlücken der öffentlichen Haushalte schlichtweg schließen, da dieses Instrument langfristige Finanzierungsmöglichkeiten biete, ist falsch beraten. Im Besonderen gilt das dann, wenn man in dem Glauben lebt, dass in Zukunft alles, was politisch wünschenswert ist und wofür keine andere Finanzierungsform gefunden wird, über diesen Weg finanziert werden könne. Weil dies genau der falsche Weg ist, ist es auch nicht wünschenswert, fixe Handlungsweisen zu entwickeln - hier komme ich auf Ihren Antrag zu sprechen -, durch die die eigentliche Entscheidungsfindung nach einer Art Rasterschema von den handelnden Personen entkoppelt wird. Dies erweckt lediglich den Anschein von Allgemeingültigkeit. Genau dies darf bei der Fortentwicklung des Gedankens der öffentlich-privaten Partnerschaften aber nicht passieren: dass dieses Instrument zu einer Art Universalwerkzeug ausgebaut wird, das sich im Werkzeugkoffer der Kommunen oder sonstiger staatlicher Stellen befindet und - gewissermaßen wie eine Zwischenfinanzierung über Kommunalkredite oder Ähnliches - den Anschein erweckt, beliebig einsetzbar zu sein. ({3}) - Doch, Sie müssten ihn vielleicht einmal lesen. ({4}) Öffentlich-private Partnerschaften können kein Standardinstrument sein, um die Finanznot der öffentlichen Haushalte zu bekämpfen. Dabei ist die Grundidee, die öffentliche Hand und private Unternehmen miteinander zu verbinden - hier stimme ich Ihnen zu -, durchaus vernünftig. ({5}) Die klare Devise muss lauten, dass jeder das macht, was er am besten kann, dem anderen aber zwingend auf die Finger schaut, ob dieser auch wirklich sein Bestes tut und seine Möglichkeiten ausschöpft. ({6}) - Herr Kollege, warten Sie doch einmal ab! Der Sinn einer Rede besteht ja darin, ihr als Ganzes zuzuhören.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Meine Kollegen, ich bitte Sie: Lassen Sie uns diese Debatte in Ruhe führen!

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- Danke schön, Frau Präsidentin. Der öffentliche Partner bestimmt die Aufgabe in dem erforderlichen Umfang, der private Partner liefert das technische Know-how, das Management und die Umsetzungskraft. Beide teilen sich die Risiken und im Ergebnis verbuchen beide einen Vorteil. Doch leider ist das in der Praxis oft auch anders herum. Das Ganze bleibt oft Theorie. PPP bietet keine Garantie für das bessere Gelingen einer Aufgabe. Im Gegenteil, oftmals ist das Ganze zum Scheitern verurteilt. Ich kann Ihnen ein gutes Beispiel aus meiner Heimat nennen. Bereits 1992 wurde in meinem Landkreis im Zusammenhang mit einem Abfallentsorgungszentrum eine PPP eingegangen. Der private Betreiber hatte als Anlagenbauer 49 Prozent der GmbH inne, der Landkreis 51 Prozent. Alle Aufgaben, die im Bereich der Abfallwirtschaft anfielen, wurden über diese GmbH abgewickelt. Das ist auch heute noch so. Das ist eine funktionierende Partnerschaft, die sich bewährt hat und die Partner in eine Win-win-Situation gebracht hat. Das ist ein schönes Modell, das zeigt, dass eine solche Kooperation in ihrer Reinform funktionieren kann. Allerdings muss der Wille beider Seiten vorhanden sein, den Einfluss des jeweils anderen zuzulassen und sich entsprechend in hohem Maße kontrollieren zu lassen. Eine Idealkonstellation lag im vorliegenden Fall deswegen vor, weil nicht der Finanzierungsgedanke im Vordergrund stand, sondern die tiefe Überzeugung, dass die Beteiligten sich gegenseitig unterstützen können und die kommunale Aufgabe effizienter und hochwertiger wahrnehmen können. Inzwischen ist die Partnerschaft beendet. Auch das ist grundsätzlich nicht verkehrt: Es ist im Geiste von PPP, dass die Partnerschaften gelöst werden; in der Regel sind feste Laufzeiten vereinbart. Auf jeden Fall sollte die Partnerschaft dann beendet werden, wenn eine Win-winSituation eingetreten ist, aber nicht dann, wenn die Partnerschaft kurz vor dem Scheitern steht, wie bei der Maut, wo der eine nur versucht, dem anderen die Kosten anzuhängen. PPP kann also eine riesige Chance bieten, wenn das Projekt geeignet ist und die zukünftigen Partner richtig motiviert sind. Um solche Konstellationen zu lokalisieren, ist es hilfreich, wenn sich eine Art Kultur von öffentlich-privaten Partnerschaften bildet; das sehe ich ganz genauso, wie es sicherlich auch bei Ihnen gesehen wird. Eine solche Kultur lässt sich aber nicht staatlich verordnen: Weder bei der Ausbildungsplatzabgabe - wir haben diese Diskussion heute geführt - noch hier wird ein solches Zusammenwirken von Staat und Wirtschaft funktionieren. ({0}) Ich kann ja noch gut nachvollziehen, wenn man einen Wirtschaftlichkeitsvergleichsmaßstab finden will, mit dem bei der Gegenüberstellung - Partnerschaftsangebote auf der einen Seite, selbstständiges Durchführen der Maßnahme auf der anderen Seite - die Organisationsvorteile, Optimierungsmöglichkeiten, die Finanzierung und die steuerlichen Auswirkungen geprüft werden. Aber ich kann nicht nachvollziehen, dass Sie ernsthaft glauben, durch Servicestrukturen - bei Einbeziehung von Bund, Ländern, Kommunen, Verbänden, privater und öffentlicher Wirtschaft, sämtlicher Ministerien, des Bundesrechnungshofes, der Landesrechnungshöfe usw. ein nationales Kompetenzzentrum zu schaffen, das PPPs fördert und dass „ÖPP-Arbeitsstäbe“, wie Sie sie nennen, auf allen staatlichen und kommunalen Ebenen die Wegbereiter einer neuen Kultur des Zusammenwirkens von Staat und Wirtschaft werden. Meine Damen und Herren, Bürokratie ist ein deutsches Problem und nicht die Lösung. Mit Ihrem Antrag schaffen Sie unnötige Bürokratie und keine Partnerschaften. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/2663 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Öffentlich-pri- vate Partnerschaften“. Der Ausschuss empfiehlt, den An- trag auf Drucksache 15/1400 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Ent- haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Op- position angenommen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2601 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Andreas Pinkwart, Dr. Günter Rexrodt, Otto Fricke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung, Befristung und degressiven Gestaltung von Subventionen ({0}) - Drucksache 15/2061 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({1}) Auswärtiger Ausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Finanzhilfen des Bundes und der Steuervergünstigungen gemäß § 12 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft ({2}) vom 8. Juni 1967 für die Jahre 2001 bis 2004 ({3}) - Drucksache 15/1635 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({4}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Nach interfraktioneller Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die FDP sechs Minuten erhalten soll. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller.

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende Subventionsbericht umfasst den Zeitraum der Jahre 2001 bis 2004 und belegt, dass wir beim Subventionsabbau erneut ein gutes Stück vorangekommen sind. Die Finanzhilfen des Bundes und die Steuervergünstigungen sinken von 22,8 Milliarden Euro im Jahre 2001 auf 22,3 Milliarden Euro. Das ist ein Rückgang um 500 Millionen Euro oder 2,3 Prozent. Wenn man jetzt die Ausnahmeregelungen in der ökologischen Steuerreform für die energieintensiven Betriebe außen vor lässt, vermindern sich die Subventionen im gleichen Zeitraum sogar um mehr als 10 Prozent, nämlich um 1,8 Milliarden Euro, auf nunmehr 16,7 Milliarden Euro. Bei der Regierungsübernahme im Jahre 1998 hatten übrigens die Subventionen des Bundes noch ein Gesamtvolumen von 21,2 Milliarden Euro. Lässt man wiederum die Ausnahmetatbestände bei der ökologischen Steuerreform für energieintensive Betriebe außen vor, haben wir einen Abbau um mehr als 20 Prozent erreicht. Eindeutige Erfolge gibt es bei den Finanzhilfen. Sie sinken um mehr als ein Viertel, nämlich um 2,5 Milliarden Euro. Verglichen mit dem Zeitpunkt der Regierungsübernahme im Jahr 1998 haben wir die Finanzhilfen sogar um fast 40 Prozent reduziert. Mittlerweile ist ihr Volumen - trotz des kräftigen Anstiegs in den 90er-Jahren infolge der Wiedervereinigung - geringer als 1990. Die Entwicklung der Steuervergünstigungen dagegen zeigt, dass in diesem Bereich großer Handlungsbedarf besteht. Die auf den Bund entfallenden Steuersubventionen sind im Berichtszeitraum nicht gesunken, sondern um 2 Milliarden Euro gestiegen, was die Erfolge beim Abbau von Finanzhilfen überlagert. Mehr als zwei Drittel dieses Anstiegs machen Steuermindereinnahmen infolge der Ausnahmeregelungen bei der ökologischen Steuerreform für energieintensive Betriebe aus. Zugenommen haben aber auch die Steuermindereinnahmen wegen der Eigenheimzulage. Den Kolleginnen und Kollegen von der Opposition sei deshalb gesagt: Wenn Sie schon einen verschärften Subventionsabbau fordern, dann müssten Sie hier bei der Eigenheimzulage endlich Farbe bekennen. ({0}) Der Bundeskanzler hat in der letzten Woche in seiner Regierungserklärung erneut einen Vorschlag zur Abschaffung der Eigenheimzulage und zur Verwendung der dadurch frei werdenden Milliardenbeträge gemacht. Der Bund soll sie in mehr Forschung und Entwicklung investieren, die Länder in bessere Schulen und die Gemeinden in ein besseres Betreuungsangebot für Kinder im Alter bis zu drei Jahren. ({1}) Die Zielsetzungen der Bundesregierung für die zukünftige Subventionspolitik sind: erstens mehr Transparenz, zweitens ein höherer Rechtfertigungsdruck für Subventionen und drittens bessere Steuerungsmöglichkeiten. Wir haben dies in dem Kabinettsbeschluss zu dem Ihnen vorliegenden Subventionsbericht entsprechend fixiert. Ich nenne Ihnen die beiden wesentlichen Eckpunkte: Erstens. Im Rahmen des Haushaltsmoratoriums werden wir Subventionen grundsätzlich nur noch als Finanzhilfen gewähren, also auf der Ausgabenseite; denn stärker als Finanzhilfen haben Steuervergünstigungen, die sich auf der Einnahmenseite des Haushalts etatisieren, die Eigenschaft, sich zu verfestigen, weil sie im Bundeshaushalt nicht mehr als Subventionen wahrnehmbar sind. Sie werden bekanntlich auf der Einnahmenseite nicht gesondert erfasst und ausgewiesen. Finanzhilfen dagegen sind auf der Ausgabenseite präzise nachzulesen und in jedem Jahr Gegenstand stundenlanger parlamentarischer Beratungen im Haushaltsausschuss, wie mir der Kollege Fricke bestätigt. Zweitens. Wenn überhaupt Finanzhilfen, dann sollen sie künftig nur noch gesetzlich befristet und grundsätzlich degressiv ausgestaltet werden und eine Erfolgskontrolle ermöglichen. ({2}) Damit wirken wir der Gefahr einer strukturellen Verfestigung entgegen. Eine verstärkte Prioritätensetzung wird übrigens sowohl für die Regierung als auch für das Parlament unumgänglich. Ich bedanke mich für den Beifall der Kolleginnen und Kollegen von der FDP für diesen Ansatz. ({3}) Zu Ihrem ebenfalls zur Debatte stehenden Gesetzentwurf merke ich Folgendes an: Sie fordern mit diesem Gesetzentwurf eine Kehrtwendung bei der Subventionsgewährung. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der FDP, offenbar plagt Sie das schlechte Gewissen. Denn der Anstieg des gesamten Subventionsvolumens, so, wie Sie es im Antrag beschreiben - nämlich: Bund, Länder, Gemeinden, ERP-Sondervermögen und EU -, ({4}) erfolgte vor allem in der Zeit, in der Sie selber zusammen mit der CDU/CSU in der Regierungsverantwortung waren. ({5}) Wir dagegen haben seit 1998 längst die Kehrtwende eingeleitet. Deswegen ist richtig: Wir müssen den Subventionsabbau energisch fortsetzen und dürfen uns nicht mit dem Erreichten zufrieden geben. Denn schließlich leistet der Abbau überkommener Finanzhilfen und Steuervergünstigungen einen ganz entscheidenden Beitrag zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden. Ich begrüße deshalb ganz ausdrücklich, dass die Kolleginnen und Kollegen der FDP mit ihrem Gesetzentwurf die geschilderten Subventionsgrundsätze der Bundesregierung nicht nur unterstützen, sondern hier auch mit Beifall begleitet haben. ({6}) Nicht folgen kann ich allerdings - jetzt kommt das Aber, auf das Sie gewartet haben ({7}) Ihrem Vorschlag, eine entsprechende gesetzliche Regelung zu treffen und diese auch noch in ein zustimmungspflichtiges Gesetz aufzunehmen, nämlich in das Haushaltsgrundsätzegesetz. Warum? Die geforderte Ergänzung des Haushaltsgrundsätzegesetzes ist nicht zielführend und auch rechtssystematisch bedenklich. Denn es legt allgemeine Grundsätze für das Haushaltsrecht des Bundes und aller Länder fest. ({8}) Die Umsetzung der Grundsätze der Subventionspolitik ist aber kein Haushaltsrechtsproblem, sondern in erster Linie eine finanzpolitische Zielsetzung, der wir uns verpflichtet fühlen. Die Bundesregierung wird die vom Kabinett beschlossenen Grundsätze umsetzen. Es macht aus unserer Sicht keinen Sinn, meine Damen und Herren von der Opposition, Ihrem Vorschlag zu folgen und ein langwieriges Gesetzgebungsverfahren einzuleiten, um dann am Ende - dafür spricht leider die wenige Monate zurückliegende Erfahrung aus dem Dezember ({9}) zu erleben, wie diese Grundsätze von der Opposition via Bundesrat und dortiger Mehrheit nicht nur verwässert, sondern am Schluss sogar ganz verworfen werden. Deswegen bleiben wir bei unserer Linie, bedanken uns aber am Schluss noch einmal ausdrücklich für Ihre ansonsten bekundete Sympathie und Unterstützung. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Georg Schirmbeck. ({0})

Georg Schirmbeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003626, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Staatssekretär Diller, meine persönliche Sympathie haben Sie auch. Aber im Übrigen: So ist das eben. Die Leute sagen, Bürokratie sei etwas Schlimmes, Bürokratie müsse man eigentlich ganz abschaffen. Doch wenn man dann an der einen oder anderen Stelle in einer Behörde nur wenige Planstellen einsparen will, dann geht es gerade dort nicht. Es gibt auch den einen oder anderen, der sagt: Kannst du mich, meinen Sohn oder einen Bekannten nicht noch dort unterbringen, es ist doch für einen guten Zweck. Mit den Finanzhilfen, mit den Subventionen und Steuervergünstigungen ist es so eine Sache: Generell ist es Teufelswerk, es sei denn, ich profitiere davon. Ich finde es sehr sympathisch, dass die FDP dies zum Tagesordnungspunkt erhoben hat. Aber nachdem ich den Antrag gelesen hatte, hatte ich eine Presseerklärung in der Hand, in der ein Vertreter der FDP schreibt: Die Steuervergünstigungen bei den Lebensversicherungen sollten natürlich erhalten bleiben. - Ich finde auch das sehr sympathisch, weil nämlich auch ich eine Lebensversicherung habe. Daher fände ich es ebenfalls gut, wenn die Steuerbefreiung erhalten bliebe. Es geht also immer nach dem Motto: Wasch mir den Pelz, mach mich nicht nass. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass wir in einer Neid- und Missgunstgesellschaft leben, dann weiß man, dass es bei diesen Themen eine Menge Verhetzungspotenzial gibt. Jeder hat seine Themen, die er besonders liebt. Deshalb vergeht kein Parteitag, auf dem nicht die Forderung nach einer Steuerreform erhoben wird. Gerade hieß es in einem Zwischenruf, der März sei vorbei. Aber Steuerreformen sind - da sind wir uns wohl einig nach wie vor notwendig. Die SPD besetzt in dieser Diskussion Themen wie Nachtarbeitszuschläge und Entfernungspauschale. Das ist natürlich schon Teufelswerk, wenn man nur über den Abbau entsprechender VergünsGeorg Schirmbeck tigungen spricht, geschweige denn eine solche Entscheidung trifft. Bei den Kohlesubventionen hingegen kommt es auf eine Milliarde gar nicht an, weil es ja sein könnte, dass irgendwann - das hat man gehört - Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen stattfinden. ({0}) Auch wenn es ums EEG geht, spielt ein solches Denken überhaupt keine Rolle. Man hat ein bestimmtes Klientel, welches bedient werden muss. Man kann sich natürlich auch über andere Themen unterhalten, zum Beispiel über den Agrardiesel, die Eigenheimzulage oder die Wohnungsbauprämie. Hier kann, wenn es nach Ihnen geht, gar nicht tief genug eingeschnitten werden. Wir müssen uns ehrlicherweise zugestehen, dass - wählerklientelscharf - jeder seine Lieblingsthemen hat. Bei den anderen kann gar nicht tief genug eingeschnitten werden. Einschnitte bei den eigenen Themen aber sind Teufelswerk. Nun haben Sie - Sie haben es angesprochen - dieses dicke Werk herausgegeben, den 19. Subventionsbericht. Dort steht in der Tat - vom Kabinett so beschlossen folgender Satz, den ich zitiere: Darüber hinaus sollen neue und bestehende Finanzhilfen nur noch gesetzlich befristet und grundsätzlich degressiv ausgestaltet werden. ({1}) - Man könnte zumindest unterstellen - die Sympathien zwischen Ihnen waren ja sehr ausgeprägt -, dass das wörtlich vom FDP-Antrag abgeschrieben wurde ({2}) und dass die FDP und die Regierung offensichtlich das Gleiche wollen. Ich habe in diesem großen Werk einmal ein wenig geblättert und festgestellt, dass die darin enthaltenen Zahlen dem Entwurf des Haushaltsplans und dem Entwurf des Nachtragshaushaltsplans entstammen. Sie haben hier besonders betont - das habe ich mir mitgeschrieben -, dass Sie „erneut ein gutes Stück vorangekommen“ seien. ({3}) Legen Sie doch bitte einmal auf der Grundlage des beschlossenen Haushaltsplans dar, wie weit Sie wirklich vorangekommen sind! Sie können das Ergebnis ja vielleicht schriftlich nachreichen - sozusagen im vorauseilenden Gehorsam -; ansonsten können wir das auch im Haushaltsausschuss beantragen. ({4}) - Ja, die wirklich interessanten Zahlen, auf die es ankommt, liefert erst die Jahresrechnung. Man kann sagen, dass es ein unwahrscheinliches Fleißwerk und ein Wunschkatalog ist. Um es einmal so zu sagen: Ein Märchenbuch ist ja auch ein Fleißwerk. Ich hatte einmal die Aufgabe, dem Vaterland zu dienen. Sie haben von einer Kehrtwendung gesprochen. Wenn ich Ihnen die Kehrtwendung befehlen würde, dann wären Sie wieder an Ihrem Ausgangspunkt. Schon das Wort verrät, was wirklich konkret umgesetzt worden ist. Sie haben hier eben sehr akademisch dargelegt, dass die FDP fordere, bestimmte Regelungen ins Haushaltsgrundsätzegesetz aufzunehmen, und dann ausgeführt, was dafür und was dagegen spricht. Man kann das natürlich so wie Sie sehen. Als junger Mann habe ich im Gemeinderat und im Kreistag von den Altvorderen aber einmal gehört, dass die Grundsätze von Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit berücksichtigt werden müssen. ({5}) Deshalb sage ich noch einmal: Wenn man sich anschaut, was Sie uns vorlegen, dann muss man wirklich von einem Märchenbuch sprechen. Es handelt sich um eine freie Erfindung. Bei einigen der von Ihnen angesetzten Zahlen weiß niemand mehr, wie diese zustande gekommen sind. Sie müssen nur irgendwie hineinpassen und werden einfach zusammengeschoben. Das gilt auch für andere Bereiche: Kassenkredite sind im kommunalen Bereich zum Beispiel nicht zulässig. Jochen-Konrad Fromme, der hierin Experte ist, hat mir gesagt, dass das so in den Kommunalgesetzen und in den Länderverfassungen steht. Trotzdem ist das die Regel. Was interessiert es also, ob wir hier noch ein Gesetz erlassen und noch einen Grundsatz verabschieden? Es hält sich offensichtlich doch niemand daran. ({6}) Deshalb sage ich Ihnen: Wir müssen uns bewegen. Wir haben ein gemeinsames Interesse daran, unseren Staat weiter voranzubringen. Der Weg von Koch/ Steinbrück ist wahrscheinlich richtig und er wird wahrscheinlich gemeinsam umzusetzen sein; denn er hat einen Vorteil: Man betreibt keinen Kahlschlag und es kommt zu keinen Brüchen. Der Bürger erfährt, wie die Entscheidungen der Politik in Zukunft aussehen werden. Darauf kann er reagieren. Wer also weiß, dass in diesem Jahr 4 oder 6 Prozent und im nächsten Jahr wiederum ein bestimmter Prozentsatz von seinen Vergünstigungen gestrichen wird, der hat die Möglichkeit, darauf zu reagieren. Er kann sich also entsprechend verhalten; das ist fair. Entscheidend für alles, was wir tun, ist natürlich, dass wir die Subventionsmentalität in unseren eigenen Reihen - also bei uns, die wir in diesem Bereich handeln - und auch bei der Bevölkerung bekämpfen. Deshalb müssen wir dies immer wieder zum Thema machen und dafür werben. Das Unwort des Jahres lautet für mich „Zuschuss“, weil ich es am häufigsten höre. Wie oft werde ich angerufen und gefragt: Da wird doch dieses und jenes gemacht, habt ihr beim Kreis nicht einen kleinen Zuschuss dafür? - Dann muss man darauf hinweisen, dass dies zwar eine tolle Sache ist, für die es sich lohnt, sich zusammenzuraufen, um sie richtig anzupacken, dass aber dafür keine Mittel zur Verfügung stehen. - Eine solche Antwort findet kein Verständnis, und es heißt dann, es sei unsozial, hier nicht zu helfen. Das liegt daran, dass wir über Jahrzehnte daran gewöhnt sind, umzuverteilen: einsammeln, verwalten und auszahlen. Dabei haben wir aus dem Blick verloren, dass wir viel mehr einsammeln, als der Bevölkerung zugute kommt. Die Mittel für das Verwalten muss man nämlich auch sehen. Es gilt: Nicht derjenige, der dem Bürger am meisten verspricht und vielleicht auch gibt, macht gute Wirtschaftspolitik bzw. gute Politik, sondern derjenige, der die Leute in Ruhe lässt. Eines kann man feststellen: In unserem Staat leben eben nicht Produzenten, Ingenieure, Kaufleute und Facharbeiter am besten, sondern Beratungsfirmen, Steuerberater, Anwälte und Anlageberater. Bei den Findigen und Cleveren herrscht Konjunktur, nicht aber bei den Fleißigen, die das Rückgrat unserer Wirtschaft sind. Es ist auch festzustellen, dass sich nicht diejenigen Wirtschaftsbereiche, Firmen und Regionen am besten entwickeln, die die höchsten Steuervergünstigungen oder die höchsten Finanzhilfen erhalten, sondern die mit der größten Kreativität, dem größten Innovationsgeist und vor allen Dingen mit der größten Tatkraft. In Bezug auf soziale Gerechtigkeit sollten wir deutlich machen: Von der ganzen Umverteilung sind diejenigen am meisten betroffen, die das Rückgrat unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft sind: der Mittelstand und besonders die Facharbeiter. Sie haben in aller Regel hinsichtlich steuerlicher Vorteile keinen Gestaltungsspielraum. Das, was heute Praxis ist, ist höchstgradig unsozial. Hier muss sich etwas ändern; denn gerade diese Gruppen brauchen wir, wenn es in Deutschland weiter aufwärts gehen soll. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich danke auch. - Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anja Hajduk.

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Schirmbeck, ich möchte zuerst ein Wort an Sie richten. Sie haben einen gewissen Fatalismus bezüglich der Frage gezeigt, ob die in unserem Lande verbreitete Subventionsmentalität überhaupt geändert werden kann. Ich möchte Ihnen in diesem Punkt Mut machen, weil wir als Politiker eine Vorbildfunktion haben. Ich stelle jedoch fest: Sie haben hier für die CDU in einer sehr wichtigen haushalts- und finanzpolitischen Frage keine Stellung bezogen. Ich finde das wirklich schwach. Ich muss sagen: Der Grundtenor des FDP-Gesetzentwurfs und die Art, wie das ganze Thema angepackt wird, findet meine Unterstützung. Es besteht Grund, in vielem einig zu sein. Ich bedauere aber, dass Sie völlig offen gehalten haben, wie Sie sich in Zukunft zum Subventionsabbau stellen wollen. Ich hoffe, dass Sie Ihre Haltung überdenken. Ich bin sicher, dass dieses Thema in diesem Herbst wieder einer eingehenden Beratung im Haushaltsausschuss bedarf. ({0}) - Ich werde auf das Koch/Steinbrück-Papier noch eingehen. Das hat Herr Schirmbeck in der Tat beispielhaft vorangestellt. ({1}) Ich denke, der konsequente Abbau von Subventionen gehört zu den wichtigsten Aufgaben einer zukunftsorientierten Finanzpolitik, so wie es in der Problembeschreibung des FDP-Gesetzentwurfs aufgeführt ist. Ich bin froh, dass Sie in Ihren Ausführungen und in Ihrer Begründung auch auf die dringend notwendige Konsolidierung zu sprechen kommen. Ich erinnere mich, dass wir während des letzten Jahres häufiger über den Teil des Subventionsabbaus diskutiert haben, der sich mit Steuervergünstigungen beschäftigt. Dabei ist mir fast immer das Argument begegnet: Die Regierung verfährt nach dem Prinzip linke Tasche, rechte Tasche. ({2}) - Dieses Argument ist nicht zielführend, Herr Fromme. Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass man beim Steuervergünstigungsabbau bestimmten Leuten - es ist in der Regel immer nur eine Gruppe - tatsächlich etwas wegnimmt. Dabei darf bei der Senkung von Steuersätzen, für die eine Steuervergünstigung gestrichen wird, nicht sofort der Vorwurf von dem Prinzip linke Tasche, rechte Tasche kommen. Ich halte mich an Ihre Worte, dass Sie beides wollen. Ich weiß, dass Sie mit Ihren Steuerreformkonzepten - da sind wir im Grundsatz einig - eine Vereinfachung wollen, eine Tarifsenkung in unterschiedlichem Ausmaß anstreben, es aber auch richtig finden, dass zukünftig der Haushalt der öffentlichen Gebietskörperschaften zu konsolidieren ist, auch mit diesem Instrument. Ich begrüße es und finde es angemessen und richtig, dass Herr Diller darauf hingewiesen hat, dass die rotgrüne Regierung in diesem Fall durch die Opposition zu wenig Unterstützung erfahren hat. Nun könnte man sagen: Da wir die Mehrheit haben, sollten wir das verantwortlich tragen. Sie wissen aber genau, dass wir in dem Bereich, in dem es um den Abbau von steuerlichen Vergünstigungen geht, auf die Zustimmung des Bundesrates angewiesen sind. In diesem Zusammenhang muss ich sagen, dass es nicht nur ärgerlich, sondern auch höchst unehrlich war, wie dort nach einem allgemeinen Subventionsabbau gerufen wurde. Ich finde es bezeichnend, dass es uns bei den Finanzhilfen gelingt, einen wirklichen Subventionsabbau von bis zu 26 Prozent nachweisen zu können, den gesamten Abbau von Steuersubventionen aber deswegen nicht hinbekommen, weil es immer wieder Bremsen bei den Steuervergünstigungen gibt. Deswegen will ich auf die Anregung in Ihrem Gesetzentwurf eingehen - ich finde sie gut -, dass wir uns bei den Subventionen ausschließlich auf die Finanzhilfen konzentrieren sollten. Das ist eine gute Idee, wenn auch der Umbau schwierig sein wird. Ich hoffe, dass die Union an dieser Stelle nicht blockiert. Sie von der Union könnten das, aber ich hoffe, Sie tun es nicht. ({3}) Ich möchte auf das Argument eingehen, die Vorschläge von Koch und Steinbrück seien das einzig Sinnvolle, das man machen könnte. Unter dem pragmatischen Gesichtspunkt, dass sich zwei Ministerpräsidenten, einer von der SPD, einer von der CDU, geeinigt haben, habe ich im letzten Herbst gesagt: Bevor wir nichts zustande bekommen, lasst uns das machen! - Sie haben aber wahrscheinlich auch den Bericht des Sachverständigenrates gelesen. Danach sollte sich eine Subvention im Prinzip argumentativ rechtfertigen. Sie sollte gezielt und effizient sein. Dazu passt das Rasenmäherprinzip nicht. Ich glaube, wir müssen konsequenter an bestimmte Subventionen herangehen. Eine Kürzung in 4-ProzentSchritten genügt nicht. Ein Argument war, dass sich die Leute auf die Kürzungen einstellen sollen. Wenn wir die Eigenheimzulage komplett abschaffen, dann soll sie so auslaufen, dass irgendwann keine neuen Anträge mehr gestellt werden können. Das ist berechenbar, und es gibt eine Zeitschiene, auf die sich jeder einstellen kann. Geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß! Machen Sie an dieser Stelle mit! Das ist letztlich nichts anderes als degressiver Subventionsabbau. Wenigstens die FDP hat heute Farbe bekannt. Ich hoffe, dass sie mit dieser Festlegung ihre Verantwortung in den Bundesländern wahrnimmt. ({4}) - Wenn man das Geld für eine andere Subvention einsetzen würde, dann wäre das sehr seltsam. Das bringt mich zu meinem letzten Punkt, den ich ansprechen möchte. Wir werden diesen Gesetzentwurf in verschiedenen Ausschüssen beraten, mit Sicherheit auch ausführlich im Haushaltsausschuss. Eine interessante Frage wird sein, wie wir Subventionen definieren. Sie bieten pragmatisch die Definition an, die die Regierung ihrem Bericht zugrunde legt. Ich glaube, dass es richtig und sinnvoll ist, sich darüber zu verständigen, was eine Subvention ist. Der etwas unsystematischen Liste von Koch/Steinbrück, die auch ihre Ausnahmen hat - das muss ehrlicherweise gesagt werden; da sind wegen Klientelinteressen bestimmte Dinge herausgenommen worden -, sollten wir uns widmen. Ich freue mich auf die Beratungen, denn ich halte angesichts der sehr schwierigen Situation der öffentlichen Haushalte eine Offensive für notwendig. Ob wir dann bei einer gesetzlichen Regelung landen, wie Sie von der FDP sie vorschlagen, werden wir sehen. Dazu hat Herr Diller einige bedenkenswerte kritische Anmerkungen gemacht. Wir werden uns unser eigenes Urteil bilden. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat der Abgeordnete Andreas Pinkwart.

Andreas Pinkwart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003610, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal bedanke ich mich für die FDPFraktion bei Herrn Diller und Frau Hajduk für die vom Grundansatz her sehr freundlichen Worte, wenngleich zumindest Sie, Herr Diller, zurückhaltender waren und einer gesetzlichen Regelung des konsequenten Subventionsabbaus noch nicht so recht folgen wollten. Sie verweisen auf die Absichtserklärung der Bundesregierung, Herr Diller, Subventionen künftig zeitlich befristen und degressiv ausgestalten zu wollen. Das ist zwar sehr ehrenwert, aber tatsächlich verstoßen Sie in Ihrer Verantwortung als Mitglied der Bundesregierung gegen diese Absichtserklärung. Denn in dem Subventionsbericht, der uns in umfangreicher Form vorliegt - es gibt so viele Subventionen, dass wir mit den Berichten darüber ganze Bücherschränke füllen könnten -, gibt es die Spalte „Befristung“, in der nahezu alle Finanzhilfen, die darin erfasst sind, als unbefristet ausgewiesen sind. Insofern gibt es eine Menge zu tun, Herr Diller. ({0}) Deshalb reicht es mir nicht, dass der Bundeskanzler in der vorigen Woche hier feststellte, jetzt müsse etwas getan werden - und zwar nicht nur zur Haushaltskonsolidierung, sondern um im Haushalt andere Prioritäten zu setzen, was Sie schon längst hätten tun müssen, um den Standort Deutschland nach vorne zu bringen -, und auf eine einzige Subvention verwies. Nach der Absichtserklärung der Bundesregierung hätte er vielmehr feststellen müssen, dass die Bundesregierung ihre bisher nicht erledigten Hausaufgaben noch erledigen muss - ich verweise auf den Subventionsbericht - und dass bis 2010 systematisch alle Steuervergünstigungen und Finanzhilfen abgebaut werden müssen. ({1}) Das wäre eine klare Ansage des Bundeskanzlers gewesen. Eine solche Agenda 2010 wäre glaubwürdig gewesen. Denn wenn wir so mutig wären, zu sagen: „Wir müssen den rund 60-Milliarden-Euro-Ballast an Altsubventionen abbauen“ - Frau Hajduk hat darauf hingewiesen, dass dies dem engeren Subventionsbegriff entspricht; man kann ihn auch weiter fassen und kommt dann auf 150 Milliarden Euro -, dann hätte der Staat endlich die Möglichkeit, die Haushalte zu konsolidieren, Steuersenkungen vorzunehmen, das Steuersystem zu vereinfachen und neue Prioritäten in den öffentlichen Haushalten zu setzen. Dazu haben wir aber vom Bundeskanzler und in der heutigen Debatte von Ihnen, Herr Diller, wie auch leider von den Koalitionsfraktionen nichts Substanzielles gehört. ({2}) Insofern freuen wir uns darüber, dass wir uns gemeinsam über eine gesetzliche Normierung austauschen können, die Bund und Länder bindet. Das ist notwendig; denn die Länder gewähren ihrerseits Finanzhilfen und beteiligen sich an der gesetzlichen Verankerung von Steuervergünstigungen. Insofern halten wir es für erforderlich, dass wir parallel zu unseren Bemühungen hier auch zu einer solchen gesetzlichen Regelung kommen. Es nützt nichts, Herr Schirmbeck, uns gegenseitig Versäumnisse aus der Vergangenheit vorzuhalten, auch wenn wir das ausufernd tun könnten. ({3}) - Auch aus der jüngsten Vergangenheit, Frau Hajduk. Das ist auch Ihre Vergangenheit; denn Sie haben bei der jüngsten namentlichen Abstimmung über die Steinkohlesubventionierung bis 2012 zugestimmt. Das müssen Sie sich leider vorhalten lassen. ({4}) Sie haben auch in Nordrhein-Westfalen der weiteren Steinkohlesubventionierung zugestimmt. Wir könnten die Liste noch verlängern. Aber das hilft uns nicht weiter. Wir müssen vielmehr feststellen, ob wir es wirklich ernst meinen. Dann müssen wir die Spielregeln, nach denen wir die Haushalte aufstellen, die Steuergesetze gestalten und Finanzhilfen gewähren, neu bestimmen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spiller?

Andreas Pinkwart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003610, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr gerne.

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Kollege Pinkwart. - Können Sie dem Haus vor diesem Hintergrund schildern, wie sich die FDP bei dem Vorhaben, die Subvention Eigenheimzulage abzubauen, verhalten hat? ({0})

Andreas Pinkwart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003610, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das kann ich Ihnen sehr gerne schildern, Herr Kollege Spiller. Aus den Koch/Steinbrück-Vorschlägen ist für 2004 ein Einsparvolumen von insgesamt 2,4 Milliarden Euro herausgekommen, und zwar bezogen auf die von Ihnen vorgelegte Gesamtsumme von 127,3 Milliarden Euro. Ein maßgeblicher Anteil dieser 2,4 Milliarden Euro ist allein auf die Kürzung der Eigenheimzulage um 30 Prozent in 2004 zurückzuführen. Das ist der größte Beitrag gewesen, ({0}) der insgesamt mit dem Koch/Steinbrück-Papier und den Anstrengungen im Vermittlungsausschuss erreicht worden ist. Hätten wir in allen anderen Fällen der Koch/Steinbrück-Liste - wir haben sie sehr genau geprüft - einen ähnlich konsequenten Einstieg in den Subventionsabbau vorgenommen wie bei der Eigenheimzulage, dann hätten wir in 2004 nicht nur 2,4 Milliarden Euro, sondern 15 Milliarden Euro weniger für Steuervergünstigungen und Finanzhilfen aufwenden müssen. Dann hätten wir noch mehr Spielraum für Steuersenkungen und Investitionen in unsere Zukunft gehabt, Herr Spiller. ({1}) - Frau Hajduk, diese Zahlen können Sie eigentlich nicht in Zweifel ziehen; denn sie sind das Ergebnis der Verhandlungen im Vermittlungsausschuss. Herr Spiller, wir wollen - das beinhaltet der von uns vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Steuerreform Steuervergünstigungen wie die Eigenheimzulage systematisch abbauen, aber nach der Maßgabe - das möchte ich betonen -, dass die Steuersätze in unserem Land weiter gesenkt werden und dass das Steuerrecht endlich vereinfacht wird. ({2}) Aber auch davor drücken Sie sich in Wahrheit. Der Bundesfinanzminister hat uns jetzt mitgeteilt, eine Zinsabgeltungsteuer - sie wäre ein weiterer Beitrag zur Vereinfachung in unserem Land - sei nicht möglich, weil der Grenzsteuersatz für Unternehmen nach seiner Reform weiterhin 52 Prozent betragen werde. Aber dieser Steuersatz ist international längst nicht mehr konkurrenzfähig. Sie müssen einen Beitrag dazu leisten, dass der Standort Deutschland attraktiver wird und dass mehr Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand entstehen. Dann können wir trotz niedriger Steuersätze mehr Steuereinnahmen für die öffentlichen Haushalte generieren und in Zukunft auf Finanzhilfen zur Unterstützung Not leidender Branchen verzichten. Das ist die Politik, für die die FDP-Fraktion in diesem Hause steht. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Carsten Schneider.

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als der Entwurf eines Gesetzes der FDP zum Subventionsabbau auf meinem Tisch lag, musste ich ein bisschen schmunzeln, Herr Pinkwart. Ich erinnere mich noch sehr genau, wo wir Ende vergangenen Jahres standen, als wir den Haushalt 2004 beraten und verabschiedet haben und mit dem Haushaltsbegleitgesetz in vielen Bereichen, auch und gerade beim Abbau von Subventionen, maßgebliche Veränderungen auf den Weg gebracht haben. Wir haben dann - federführend war der Haushaltsausschuss - eine Anhörung durchgeführt. Da ich damals die ganze Zeit dabei gewesen bin, erinnere ich mich noch sehr genau an die Fragen, die vonseiten der FDP gestellt worden sind. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie sich noch so genau daran erinnern. - Wie ich sehe, ist Ihr Kollege Thiele nicht anwesend. Das wundert mich bei diesem Thema nicht. - Auf jeden Fall war es der Kollege Thiele, der in der damaligen Anhörung an jeden einzelnen Interessenverband - seien es die Vertreter des Deutschen Bauernverbandes, der Bausparkassen oder diejenigen gewesen, die sich eine Verbesserung der Familienförderung zum Ziel gesetzt haben - die Frage gerichtet hat, inwieweit denn die Abschaffung der Eigenheimzulage - das Volumen dieser größten im Subventionsbericht ausgewiesenen Subvention betrug damals noch 10 Milliarden Euro - negative Auswirkungen haben werde. Dabei hatte seine Frage gleich die Antwort impliziert, dass sich die Abschaffung dieser Subvention negativ auswirken wird. Das ist für mich keine wirklich konsequente Position. Daher kann ich Ihrem heutigen Entwurf eines Subventionsbegrenzungsgesetzes nicht zustimmen. ({0}) Zwar befürworte ich ihn grundsätzlich. Aber ich sehe bei Ihnen keine Einheit von Wort und Tat. Sowohl Ihr Verhalten bei der Abstimmung über das Haushaltsbegleitgesetz im Bundestag als auch das, was in den Ländern geschieht, in denen Sie Regierungsverantwortung tragen, sprechen eine andere Sprache. Das ist leider so. ({1}) Ich hätte mir gewünscht, dass die FDP, die eine lange Tradition hat und die eine wichtige Kraft im deutschen Parteiensystem ist, ({2}) an dieser Stelle konsequenter gewesen wäre. Ich möchte zwar nicht zu weit in die Zukunft schauen. Wenn Sie aber so weitermachen und weiter so inkonsequent sind, dann wird es das für Sie gewesen sein. Das konnte man schon bei der Hamburgwahl sehen. Ich möchte noch einige allgemeine Punkte betreffend den Subventionsabbau ansprechen. Ich glaube, dass wir alle in gewisser Weise in einem Boot sitzen - darauf hat der Kollege Schirmbeck bereits hingewiesen -, und zwar sowohl im Hinblick auf die Verteilung als auch im Hinblick auf die Mindereinnahmen in den Haushalten von Bund, Ländern und Kommunen. Es ist schwierig, sich gegen eine Interessengruppe, die zur eigenen Wählerklientel gehört - wir alle vertreten Interessengruppen; ich nehme die SPD da nicht aus -, durchzusetzen. Daher war es zum Beispiel eine große Leistung der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, sich dazu durchzuringen, die Eigenheimzulage im Haushaltsbegleitgesetz komplett zu streichen. ({3}) - Ich komme noch darauf zu sprechen. Man sollte sich zunächst einmal die größte Subvention vornehmen; man sollte sie nicht nur infrage stellen, sondern auch abschaffen. Subventionen führen immer zu Fehlallokationen von Ressourcen. Sie verzerren Marktergebnisse und behindern einen schnelleren Strukturwandel. Die Abschaffung einer Subvention oder ihre degressive Ausgestaltung - da haben wir sicherlich noch Nachholbedarf - führt immer zu einem Konflikt mit Interessengruppen und mit der Gesellschaft. Einer der Hauptgründe dafür, dass es uns weder in den Ländern noch im Bund gelingt, konsequenter vorzugehen, ist der Aufbau des föderalen Systems in der Bundesrepublik. ({4}) Ich hoffe, dass es auf der Grundlage der Arbeit der Föderalismuskommission gelingt - entsprechende Ansätze sind vorhanden -, für eine stärkere Entflechtung der Zustimmungsbefugnisse zu sorgen. Wenn es im Bundestag eine Mehrheit für einen Gesetzentwurf, zum Beispiel zum Subventionsabbau, gibt, dann darf es nicht mehr so sein, dass dem entgegenstehende Länderinteressen dazu führen, das sein In-Kraft-Treten über den Bundesrat verhindert werden kann. Man sollte dies anders handhaben, egal welche Farbe die Mehrheit im Bundesrat oder im Bundestag hat und egal welche Partei die Bundesregierung stellt. Ich glaube, dass eine Entflechtung an dieser Stelle sowohl im Hinblick auf die Transparenz des politischen Systems als auch im Hinblick auf eine ordnungsgemäße Haushaltsführung unabdingbar ist. ({5}) Ich möchte noch auf das Koch/Steinbrück-Papier zu sprechen kommen. Es hat in dieser Woche eine ganz besondere Rolle gespielt. Die beiden Ministerpräsidenten haben in einem Brief an die Haushälter - ich weiß nicht, ob Sie alle ihn bekommen haben - kritisiert, dass wir ihre Vorschläge, zum Beispiel was den Bereich Straßenbau betrifft, nicht umgesetzt haben. Das Zustandekommen des Koch/Steinbrück-Papiers - wir haben es in die Beratungen des Haushalts 2004 eingebunden und wir haben es umgesetzt - war von einer besonderen öffentlichen Aufmerksamkeit gekennzeichnet. Diesem Papier liegt das Rasenmäherprinzip zugrunde. Ich glaube, es ist wirklich nicht erklärlich, dass zum Beispiel in den Bereich Schiene Subventionen fließen sollten, weil die Bahn Eigentümer des Bahnnetzes ist, und in den Bereich Straße nicht. Man hat gemerkt, dass Landesbeamte in Landesministerien die Liste erstellt haben. ({6}) - Ja, vor allen Dingen Beamte in den unionsgeführten Ländern. Uns hat der politische Mut gefehlt, gezielte Einschnitte vorzusehen und nicht nach dem Rasenmäherprinzip vorzugehen. Ich will ganz klar sagen: Jede Subvention hat positive wie negative Folgen. Zu einigen Subventionen würde ich sagen: Sie erzielen eine Wirkung, die wir politisch wollen. Daher bin ich - um das ganz klar und deutlich zu sagen - für mutige politische Entscheidungen und nicht für ein Vorgehen nach dem Rasenmäherprinzip. ({7}) Ich hoffe - das sage ich in Richtung CDU/CSU-Fraktion -, dass es uns in den Fraktionen gelingt - ich beziehe mich dabei zumindest auf die SPD-Fraktion -, bei der Aufstellung des Haushalts 2005, die schwierig genug sein wird, das Maastricht-Kriterium einzuhalten, Schwerpunkte auf den Gebieten Bildung und Forschung zu setzen und Subventionen gezielt abzubauen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schneider, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Professor Pinkwart?

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gern.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Pinkwart, bitte schön.

Andreas Pinkwart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003610, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Schneider, Sie haben soeben ausgeführt, dass Sie gegen das Rasenmäherprinzip sind und offensichtlich nur noch punktuell eingreifen wollen, da Sie davon ausgehen, dass gewisse Subventionen von dauerhaftem Nutzen seien. Befinden Sie sich damit möglicherweise in einem Widerspruch zu der hier von der Bundesregierung vorgetragenen Haltung? Denn die Bundesregierung hat in ihrem 19. Subventionsbericht zum Ausdruck gebracht, dass sie Subventionen - zumindest künftig - nur noch zeitlich befristet und degressiv ausgestalten will.

Carsten Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003218, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Professor Pinkwart, darauf antworte ich sehr gerne. Ich wollte damit zum Ausdruck bringen, dass ich die Schnitthöhe des Rasenmähers unterschiedlich einstellen würde. Bei manchen Subventionen würde ich eine stärkere Abschmelzung vornehmen - wir sind der Haushaltsgesetzgeber; wir haben diese Entscheidung zu treffen, dafür sind wir gewählt, dafür haben wir die Verantwortung - und bei manchen würde ich nicht so stark ansetzen, etwa da, wo Umstrukturierungsprozesse stattfinden. Sie haben vorhin das EEG genannt, das hier nicht direkt vorkommt. Es ist politisch gewollt, regenerative Energien stärker zu fördern. Wir müssen also sehen, ob uns das gelingt. Ich halte es auch für ein Zeichen des politischen Mutes, darüber zu entscheiden. Die Entscheidung, überall gleich vorzugehen, kann jeder Beamte treffen; dafür brauchen wir keine Abgeordneten des Deutschen Bundestages. ({0}) Ich würde gern noch einmal zum 19. Subventionsbericht zurückkommen. Was Ihren Entwurf zur Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes angeht, so teile ich die Haltung der Bundesregierung, nach der eine solche Regelung nicht in das Haushaltsgrundsätzegesetz übernommen werden sollte; denn dieses regelt die Grundsätze des Haushaltsrechts, aber nicht finanzpolitische Zielsetzungen. Finanzpolitische Zielsetzungen kann der jeweilige Haushaltsgesetzgeber in jedem Jahr festlegen. Ich begrüße die Neuerung sehr, die die Bundesregierung beschlossen hat und die sich auch in Ihrem Gesetzentwurf inhaltlich wiederfindet. Grundsätzlich werden Subventionen nur noch als Finanzhilfen gewährt und damit klar sichtbar im Haushalt ausgewiesen. Das geht nicht mehr über Steuervergünstigungen, die nicht so transparent sind und auch nicht derselben Verteilung unterliegen wie Ausgaben, die im Rahmen der Haushaltsberatungen jeweils beschlossen werden müssen. Ich halte es für richtig, dass diese Finanzhilfen gesetzlich befristet und grundsätzlich degressiv ausgestaltet werden. Man muss auch überlegen - das ist zumindest meine persönliche Einschätzung -, ob man an bestehende Hilfen herangeht. Sie haben das vorhin aufgezeigt. Das könnte ein Weg sein; darüber müssen wir befinden. Dazu kann ich aber noch keine abschließende Meinung der Fraktion sagen. Die Frage ist auch, ob wir bestehende Steuervergünstigungen in Finanzhilfen überführen können. Ich würde dies sehr begrüßen, weil es letztlich dazu führen würde, dass wir in jedem Jahr bei den parlamentarischen Haushaltsberatungen - das Budgetrecht ist nun einmal das höchste Recht des Parlaments - tatsächlich überprüfen, inwieweit die Hilfen sinnvoll sind. Dazu noch eine Anmerkung. Ich glaube, dass auch das Haushaltsrecht geändert werden muss. Wir müssen Steuerungsinstrumente bekommen, die es uns erlauben, zu erkennen: Wie sinnvoll ist die eine oder andere Subvention? Welche Ziele erreichen wir? Wir können jetzt eigentlich nur noch Soll- und Istzahlen feststellen, aber nicht, ob die Hilfen tatsächlich sinnvoll sind. Ich halte also eine Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes für notwendig. Wir haben dieses Gesetz 1997 - da war ich noch nicht dabei - geändert und für die Regierung eine hohe Flexibilität geschaffen. Diese Flexibilität ist grundsätzlich zu begrüßen, aber das Parlament hat Steuerungsinstrumente aus der Hand gegeben. Ich für meinen Teil finde, dass wir diese wieder zurückbekommen müssten, dass wir praktisch wie ein Aufsichtsrat Controllinginstrumente haben müssten. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Jochen-Konrad Fromme von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jochen Konrad Fromme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schneider, wenn Sie die Rolle des Bundesrats beklagen, dann sollten Sie einmal einen Blick zurück werfen. Wenn Sie damals den Petersberger Beschlüssen zugestimmt hätten, hätten Sie den größten Subventionsabbau in der Geschichte erreicht - da sehen Sie, welchen Mut wir in dieser Frage hatten -; ({0}) das müssen Sie sich heute vorhalten lassen. ({1}) Der FDP-Gesetzentwurf ist auf den ersten Blick sympathisch. Mit drei Paragraphen sozusagen das ganze Problem zu lösen klingt gut, aber der Antrag ist eben FDP: faszinierend, doch problematisch. ({2}) Er ist ein guter Denkanstoß, aber im Detail ist es doch ein wenig schwieriger. Was sind denn Subventionen? Ist die Kilometerpauschale eine Subvention oder nur Ausfluss des Nettoprinzips? So wie sie jetzt ist, ist sie als Gegenleistung für die Ökosteuer überhöht und mit Sicherheit eine Subvention. Aber im Kern steht nach meiner Auffassung das Nettoprinzip dahinter. Wie ist es denn mit den Zuweisungen für den Straßenbau oder für den Schienenbau? ({3}) Nur deshalb, weil das jetzt über die Bahn abgewickelt wird, steht es als Zuwendung im Haushalt. Aber es ist doch eine Infrastrukturmaßnahme und bleibt eine öffentliche Aufgabe. An die Adresse der SPD: Wie ist es mit der Steuerfreiheit für Nacht- und Feiertagszuschläge? Da haben Sie sich ja geziert. Das ist eine Subvention und nichts anderes. Herr Kollege Diller, wenn Sie sich hier mit einem großen Zahlenwerk hinstellen und ausführen, wie erfolgreich Sie waren, dann muss ich doch sagen: Zählen Sie einmal die Finanzhilfen, die Subventionen und die Steuerbefreiungen zusammen, dann sehen Sie, dass gerade das, wovon Sie gesprochen haben, nicht erreicht worden ist. Wenn ich einmal die Zahlen des Instituts für Wirtschaft zugrunde lege, hatten wir 1998 59 Milliarden Euro, im Jahre 2003 waren es wieder 58,6 Milliarden Euro. Wir haben das Ziel noch nicht erreicht. Der Subventionsbericht ist nicht umsonst 24 Seiten dicker geworden; es liegt nur daran, dass Sie die Subventionen nicht abgebaut, sondern neue Subventionen geschaffen haben. Ich erinnere an die so genannte ökologische Steuerreform, die weder öko noch logisch ist. Aber durch sie wurden riesige Subventionen geschaffen. Sie haben einen Fehler gemacht und das wussten Sie. Deswegen haben Sie, um den Standort Deutschland nicht zu gefährden, an bestimmten Stellen Ausnahmen eingeräumt und neue Subventionen geschaffen. Das zeigt doch, wie fragwürdig das Ganze ist. Im folgenden Jahr kommt dann Herr Eichel und streicht diese Subventionen. Ihre Subventionspolitik bzw. Nichtabschaffungspolitik macht den Standort kaputt. ({4}) Sie rühmen sich, besonders erfolgreich zu sein. Wenn ich mir allerdings die Eichel-Liste im Haushalt ansehe, stelle ich fest, dass davon relativ wenig übrig geblieben ist. Die Eigenheimzulage zum Beispiel - Ihr Jäger 90 haben Sie schon mindestens dreimal verbraten: zur Haushaltssanierung, zur Stadtsanierung und jetzt für die Bildung. Was wollen Sie denn eigentlich? Sie können das Geld doch nur einmal ausgeben. Dass Sie sich ausgerechnet die Eigenheimzulage herausgegriffen haben, kann ich verstehen. Das hat ideologische Gründe. Ihnen ist es nicht recht, dass Menschen, die Besitz haben, anders denken. Vor diesem ideologischen Hintergrund haben Sie sie abgeschafft, nichts anderes war der Grund. ({5}) - Das macht nichts, es bleibt trotzdem wahr. Wenn Sie einen solchen Zwischenruf machen, beweist das, dass Sie sich getroffen fühlen. Das zeigt mir, dass ich Recht habe. Verbreiten Sie doch nicht die Legende, die Union sei nicht zum Subventionsabbau bereit. Ich habe es gesagt: Wir haben mit den Petersberger Beschlüssen den umfassendsten Vorschlag vorgelegt. Sie haben ihn blockiert. Sie hätten es natürlich gerne gehabt, dass wir im Zuge des Haushaltsbegleitgesetzes viele Subventionen geopfert hätten, in den Orkus Ihrer chaotischen Haushaltspolitik geworfen hätten, um Ihnen aus der Patsche zu helfen. Aber das werden wir nicht tun. Wenn wir Subventionen abbauen, dann nur in Verbindung mit strukturellen Veränderungen. Wir wollen die Subventionen nicht einfach wie Tafelsilber verschleudern, um die laufenden Ausgaben zu decken, sondern wir wollen strukturelle Veränderungen. Wir wollen das Geld für eine Steuerreform einsetzen, damit mehr Kaufkraft im Binnenmarkt und mehr Investitionskraft bei den Unternehmen entsteht. Das ist unser Konzept. ({6}) Wenn Sie da mitmachen, meine Damen und Herren, dann werden wir uns an dieser Stelle sehr schnell handelseinig. Wir haben mit der Koch/Steinbrück-Liste bewiesen, dass wir selbst auf Ihren fragwürdigen Weg ein Stück weit eingehen. Aber Sie marschieren in die falsche Richtung, indem Sie - ich habe es gesagt - neue Subventionen einführen. Bei der Windenergie spielt das überhaupt keine Rolle. Auch wenn es formal nicht um eine Subvention geht, das Geld wird den Bürgern weggenommen und umverteilt. Weg ist weg, egal wie das heißt. Dieses Vorgehen mindert die Kaufkraft und ist wirtschaftspolitisch der falsche Weg. In demselben Augenblick, in dem über die Koch/Steinbrück-Liste verhandelt worden ist, haben Sie die Kohlesubvention in Milliardenhöhe unkritisch verlängert. So kann man das nicht machen. ({7}) Die Schlagworte müssen lauten - insofern ist der FDP-Antrag richtig -: Begrenzung, Befristung, Degression. Dabei muss ein gezielter Zweck verfolgt werden; es darf nicht etwas konserviert werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Fromme, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Anja Hajduk?

Jochen Konrad Fromme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Anja Hajduk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003547, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Kollege Fromme, Sie haben vom Opfern der Subventionen gesprochen. Ich möchte Sie zu den genannten Subventionen, bei denen Sie uns kritisiert haben, fragen: Ist Ihnen wenigstens bewusst, dass bei der relativ jungen Windenergieförderung, die ja nicht direkt über den Haushalt stattfindet - das hatten Sie auch gesagt -, schon in den letzten Jahren eine ganz starke Degression stattgefunden hat, die in den nächsten zehn Jahren fortgesetzt wird, nämlich von 50 Prozent und noch einmal 40 Prozent, dass bei den von Ihnen erwähnten hohen und politisch sicherlich nicht einfachen Kohlesubventionen ebenfalls eine Degression stattfindet und dass die jetzige Planung, die bis 2012 reicht, ausdrücklich einem Sperrvermerk unterliegt, weil dieser Punkt noch ausgestaltet werden soll? Ist Ihnen das aus der Haushaltsausschusssitzung noch in Erinnerung?

Jochen Konrad Fromme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber natürlich ist mir das in Erinnerung. Mir ist das auch bewusst. Trotzdem haben Sie das Volumen der Kohlesubvention beachtlich ausgeweitet. Das halte ich für einen falschen Weg. ({0}) Die Degression ist richtig. Das Subventionsvolumen bei der Windenergie wird beachtlich steigen, obwohl eine Degression vorgesehen ist. Das halte ich für einen falschen Weg. ({1}) Wir können nicht ständig über Subventionsabbau reden, aber faktisch - auch wenn eine Degression vorgesehen ist - das Gegenteil bewirken. Der Ansatz ist richtig, aber er ist nicht konsequent zu Ende gedacht. Ich sage es noch einmal: Für uns bedeutet Subventionsabbau, dass wir substanzielle Veränderungen erzielen; er bedeutet aber nicht, Geld zu verschleudern, indem Defizite im laufenden Haushalt ausgeglichen werden, die Sie durch Ihre schlechte Wirtschaftspolitik verursacht haben. Da müssen Sie einen anderen Weg suchen. Auch ich weiß, dass es im Zuge des Subventionsabbaus Opfer geben wird. Mit jeder Veränderung bei den Subventionen tritt man bestimmten Gruppen auf die Füße. Es ist daher nicht einfach, Subventionen durchzusetzen. Wir sind dazu bereit, aber nicht um Ihren Preis, sondern um den Preis einer nachhaltigen Verbesserung der wirtschaftlichen Lage in Deutschland. Koch/Steinbrück zeigt, dass wir bereit sind, etwas zu tun. Gleichzeitig wird klar, dass es gefährlich ist, mit Ihnen einen Weg gemeinsam zu gehen. Es wurde nämlich im Vermittlungsausschuss ausdrücklich vereinbart, dass die Liste von Koch/Steinbrück unter Beteiligung des Haushaltsausschusses umgesetzt wird. Sie stellen sich die Parlamentsbeteiligung aber so vor: Sie präsentieren eine Liste, die von der Bundesregierung vorgegeben wird. Die Beratung darüber betrachten Sie als Majestätsbeleidigung. Also erfolgt sofort die Abstimmung, weil Sie keine Lust haben, mit uns darüber zu reden. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Sie haben sich sogar generell vorbehalten, die Koch/Steinbrück-Liste zu verfälschen. Sie haben diese Liste gar nicht umgesetzt, sondern Sie haben Punkte, die ursprünglich nicht enthalten waren, aufgenommen und wiederum andere Punkte ausgespart. Es wurde im Vermittlungsausschuss beispielsweise klar vereinbart, dass die Landwirtschaft ausgenommen wird. Trotzdem gehen Sie ans Branntweinmonopol. Im Einzelplan 17 haben Sie Kürzungen der Mittel für die Integration von Zuwanderern, bei Zuschüssen für Vertriebenenverbände und für Zivildienstleistende vorgenommen, die bei Koch/Steinbrück gar nicht vorgesehen waren. Sie wollten nicht einmal eine Diskussion darüber zulassen. Das ist Ihr Weg. Sie benutzen die Koch/Steinbrück-Liste als Ausrede und vernebeln damit Ihre Politik. ({2}) Ministerpräsident Steinbrück hat Ihnen dieses aufgeschrieben. Wir haben die Maut unter zwei Gesichtspunkten beschlossen: Ausländische LKWs sollen zur Steuerzahlung herangezogen werden und der Verkehrshaushalt soll mithilfe dieser Einnahmen aufgestockt werden. Was aber haben Sie gemacht? Sie haben den Verkehrshaushalt fortgeschrieben, haben die Mautmittel - unabhängig davon, ob sie fließen oder nicht - eingestellt und haben erst einmal 2 Milliarden Euro sozusagen abgezwackt, um Ihre Haushaltslöcher an anderer Stelle zu stopfen. Aber in der Öffentlichkeit erklären Sie, dass wegen der fehlenden Mauteinnahmen und wegen der Kürzungen aufgrund der Koch/Steinbrück-Liste der Verkehrshaushalt nicht aufgestockt werden kann. Mit Genehmigung des Präsidenten lese ich Ihnen einen Satz aus dem Brief des Ministerpräsidenten Steinbrück, der kein Ministerpräsident der CDU ist, vor: Deshalb ist Ihre Begründung der Kürzung von Investitionen im Straßenbau unter Berufung auf unsere Vorschläge schlicht falsch. Das sagt Ihr eigener Ministerpräsident, der bei der Erstellung dieser Liste beteiligt war. So kann man mit uns nicht umgehen. ({3}) Ich sage Ihnen: Wer Subventionsabbau wirklich will, ({4}) der kann das nicht mit Ihnen machen; ({5}) denn Sie haben kein Konzept. Sie setzen die aus dem Subventionsabbau frei werdenden Mittel nur dafür ein, Haushaltslöcher zu stopfen. Damit schmeißen Sie Geld aus dem Fenster heraus. Das ist Perlen vor die Säue werfen. Wir brauchen strukturelle Veränderungen, die wir mit Mitteln aus dem Subventionsabbau finanzieren wollen. Das geht aber nicht mit Ihnen und insbesondere nicht mit Ihrem neuen Parteivorsitzenden, der bei jeder Veränderung zurückrudert, anstatt den Blick nach vorn zu richten und für tatsächliche strukturelle Veränderungen zu sorgen. Das geht nur mit einem Regierungswechsel. Danke schön. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 15/2061 und 15/1635 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid Arndt-Brauer, Norbert Barthle, Veronika Bellmann und weiterer Abgeordneter Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von Geburt an - Drucksache 15/1544 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Interfraktionell ist vereinbart, für die Aussprache zwei Fünfminutenrunden vorzunehmen. Gibt es dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Rolf Stöckel das Wort.

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Aktuell sind etwa 13,8 Millionen Mitglieder des deutschen Staatsvolkes, nämlich alle Kinder und Jugendlichen, von der Geburt bis zum 18. Geburtstag vom Wahlrecht ausgeschlossen. Wir Abgeordneten aller Fraktionen, die den vorliegenden Antrag eingebracht haben, wollen das ändern und fordern die Bundesregierung auf, dazu einen Gesetzentwurf einzubringen. ({0}) Das heißt konkret, das Wahlalter auf null zu senken und den nachrangigen Art. 38 Abs. 2 des Grundgesetzes wie das Bundeswahlgesetz in den entsprechenden Vorschriften zu ändern. ({1}) Bis das Wahlrecht auch persönlich ausgeübt werden kann, wird es durch die gesetzlichen Vertreterinnen oder Vertreter ausgeübt. Eine Absenkung der persönlichen Wahlrechtsausübung auf 16 oder sogar auf 14 Jahre ist damit ausdrücklich nicht ausgeschlossen. Wir haben nicht die Illusion, dass wir hierfür auf Anhieb eine Zweidrittelmehrheit erreichen. Aber wir sind uns mit vielen, die in Deutschland für Kinderrechte, Generationengerechtigkeit und eine familienfreundliche Gesellschaft arbeiten, in unseren Zielen einig, ({2}) nicht zuletzt mit der Jugendministerin Renate Schmidt, die unsere Debatte heute leider nicht persönlich verfolgen kann und mich gebeten hat, herzliche Grüße auszurichten. ({3}) Meine Damen und Herren, wir wollen ernsthaft und unserer Meinung nach im Einklang mit Buchstaben und Geist unseres Grundgesetzes mehr Demokratie wagen. Wir fordern ein Wahlrecht von Geburt an ({4}) als überfälligen Fortschritt in der demokratischen Entwicklung, in der das Prinzip „one man - one vote“ bzw. „jeder Mensch - eine Stimme“ noch nicht verwirklicht ist und eine von drei Generationen keinen Einfluss ausüben kann. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ und nicht nur vom volljährigen Volke. ({5}) „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Jeder Deutsche hat in jedem Land die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten. Das sind die Grundrechte mit Dauergarantie in unserer Verfassung, in Art. 79 Abs. 3. Das ist der Kern unserer demokratischen Grundordnung. Die gesetzliche Festlegung eines Mindestwahlalters ist dagegen der politisch-sozialen Entwicklung und Aushandlung unterworfen wie etwa die Absenkung des Wahlrechtsalters im Jahre 1970 auf 18 Jahre. Die Demokratie entwickelt sich wie die Gesellschaft weiter und beide können dabei auf längere Sicht nur gewinnen. Die Geschichte des Wahlrechts seit der Antike, die Überwindung des Dreiklassenwahlrechts, die Einführung des Frauenwahlrechts in der Weimarer Verfassung belegen das eindrucksvoll. Ein Vertretungswahlrecht kennen wir bei der Briefwahl. Es ist zum Beispiel im Vereinigten Königreich, dem Mutterland der Demokratie, lange Praxis. Weil wir reflektieren, wie die Weiterentwicklung des gleichen Wahlrechts auf die langfristige Überwindung von Diskriminierungen im Rechts- und Lebensalltag der zuvor ausgeschlossenen Menschen wirken kann, und vor dem Hintergrund der Bevölkerungsentwicklung und unserer Verantwortung für die Nachkommen, für zukünftige Generationen sind wir überzeugt, dass die Interessen von Kindern und Familien an politischem Gewicht gewinnen müssen und dass dazu das Wahlrecht ab Geburt einen wesentlichen Anschub leisten wird. ({6}) Stets sind die Initiatoren demokratischen Fortschritts belächelt oder für verrückt gehalten worden, bis alle so weit waren und dann sogar ein Streit um die Urheberrechte entbrannte. ({7}) Stets hat es interessengeleitete und kleinmütige Bedenken der Beharrenden gegeben, die die praktische Undurchführbarkeit, den Missbrauch, ja sogar den Untergang der staatlichen Ordnung beschworen haben. Gegen das Wahlrecht ab Geburt bleiben meines Erachtens im Grunde nur zwei wesentliche Einwände, die erst in der Praxis widerlegt werden können: Erstens. Kinder blieben Anhängsel der Eltern, die das delegierte Wahlrecht missbrauchen könnten, bzw. es gebe Probleme, zu entscheiden, welcher Elternteil es ausüben solle. Dazu sage ich: Gesetzliche Vertreter fällen unabhängig von der Familiensituation alle öffentlichrechtlichen Entscheidungen für ihre Kinder. Sie sind dabei in der Pflicht und der Verantwortung, den Willen ihrer Kinder zu berücksichtigen und zu ihrem Wohle zu handeln. ({8}) Risiken eines zusätzlichen Missbrauchs sind, wie auch in anderen Wählergruppen, wie die Chancen für alle Parteien gleich verteilt. Sie sind in einer stabilen Demokratie aushaltbar. Manche Jugend- und Familienpolitiker und auch -verbände behaupten - das ist der zweite Einwand -, es handele sich nur um ein Alibirecht und behindere die direkte Partizipation von Minderjährigen. Dazu sage ich: Die Chancen von Kindern für Teilhabe und Demokratisierung in den Familien und in der Gesellschaft wären größer, mitnichten kleiner als beim bisherigen Wahlrecht. Das Wahlrecht ab Geburt ist im Gegenteil die Einladung zum demokratischen Dialog innerhalb der Familien. Die Chancen von entwicklungsgemäßer Mitwirkung und von Demokratie-Lernen wachsen. Das Wahlrecht ab Geburt behindert nicht die direkte Mitwirkung von Minderjährigen. Vielmehr ergänzt und bestärkt sich beides gegenseitig. Das Wahlrecht ab Geburt ist wie ein paar Schuhe, mit dem Kinder in der Demokratie laufen lernen. Das Bild der Erwachsenen, insbesondere der Politik, von Kindern würde sich - da bin ich mir sicher - wandeln. Das ist dringend geboten, wenn wir Zukunft gewinnen wollen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben mit diesem Antrag die Gelegenheit, an einer historischen Weichenstellung für Kinderrechte in unserer Demokratie teilzunehmen. Verhindern Sie eine Beerdigung erster Klasse in den Ausschüssen! Geben Sie sich einen Ruck! Seien Sie dabei! Vergessen Sie nicht: Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ingrid Fischbach. ({0})

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Rolf Stöckel, wir haben schon manche Schlacht für die Kinder in unserem Lande geschlagen. Ich muss deutlich sagen: Heute stehen wir nicht auf einer Seite. Heute unterscheiden sich unsere Aussagen ganz deutlich, wenn es darum geht, die Belange der Kinder und ihre Teilhabe zu berücksichtigen. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Keine Frage - auch Kinder sind „das Volk“. Immerhin fast 20 Prozent - ein Fünftel - der Bevölkerung sind Kinder. ({0}) Es ist schon sympathisch, dass dieser Antrag heute debattiert wird und der Fokus der Öffentlichkeit auf die Familien, auf die Kinder gelenkt wird. Das ist eine tolle Sache, die ich voll und ganz unterstütze. ({1}) Denn wer von uns will nicht Kinder und Familien stärken? Ich glaube, wir alle haben das gleiche Ziel. Nur in dem Weg dorthin unterscheiden wir uns. Ich habe große Zweifel, ob mit dem Antrag, der heute vorliegt, das Ziel, das die Antragsteller verfolgen, nämlich Kindern und Jugendlichen die Ausübung der Staatsgewalt zu ermöglichen, wirklich erreicht wird. Denn die Umsetzung dieser Idee hat nicht nur demokratietheoretische Mängel, sondern auch verfassungsrechtliche Mängel ({2}) und vor allen Dingen, lieber Rolf Stöckel, praktische Mängel. Ich weiß nicht, liebe Frau Vizepräsidentin, ob es richtig ist, einen Antrag auf den Weg zu bringen und zu sagen: Die Praxis wird zeigen, was wir noch machen müssen. ({3}) Das wird den Kindern und ihrem Anspruch auf echte Partizipation und Beteiligung nicht gerecht. ({4}) Meine Damen und Herren, unsere Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass wir Wählerstimmen nur zählen, aber nicht wägen. Das bedeutet, dass es nicht unterschiedliche Arten von Stimmen geben kann. Es kann nicht sein, dass Eltern privilegiert werden. ({5}) Ich würde selber davon profitieren. Ich habe eine Tochter und könnte selber über ein höheres Stimmengewicht verfügen. Aber das kann es nicht sein. In unserer Demokratie können wir nicht einige Stimmen mit besonderem Gewicht belegen. ({6}) Wenn ich etwas ketzerisch wäre, könnte ich sagen: Wir kommen hier zu einem etwas moderneren Klassenwahlrecht. Das hatten wir schon einmal und das sollte es nicht wieder geben. ({7}) Wenn Sie ehrlich sind, dann müssen Sie zugeben - das ist auch für mich der wichtigste Punkt -: Wenn Sie von der treuhänderischen Wahrnehmung des Stimmrechtes durch die Eltern sprechen, geht es eigentlich nicht darum, dass Kinder und Jugendliche das Wahlrecht bekommen. ({8}) Dann müsste logischerweise erst einmal ein Antrag kommen, das Wahlalter herabzusetzen. Aber der kommt nicht. ({9}) Sie sagen, die Eltern sollen treuhänderisch das Wahlrecht für die Kinder wahrnehmen. Jetzt machen wir uns doch nichts vor: In welchen Familien ist es denn wirklich nicht schon einmal vorgekommen, dass die Kinder eine andere politische Meinung haben als die Eltern? ({10}) - Da sagt der Kollege Haupt: Das ist das Leben, die Praxis soll es richten; wir gehen zum Familiengericht und der Richter entscheidet, welche Stimme gewertet wird. ({11}) Lieber Klaus Haupt, wir können ja wieder für Arbeitsplätze sorgen, aber ich glaube, das ist der falsche Weg. ({12}) Was machen wir also in den Fällen, wo Dissens zwischen den Eltern und den Kindern besteht? Was machen wir in den Fällen, wo Dissens zwischen den Elternteilen besteht? Auch das kommt vor: Der Mann ist für die CDU und die Frau ist für die SPD, die Grünen oder sonst was. Viel wichtiger für mich ist: Wie wird sichergestellt, lieber Herr Stöckel, dass die Eltern ihr Stimmrecht im Sinne und im Interesse der Kinder ausüben? ({13}) Das kann niemand kontrollieren; denn die Stimme wird geheim abgegeben. ({14}) Letztendlich gehe ich an die Wahlurne und entscheide als Elternteil im Sinne und zum Nutzen meiner Tochter. Genau das werden andere Eltern auch tun. ({15}) Ich glaube auch, dass Ihr Begriff „Wahlrecht von Geburt an“ in die Irre führt; denn so, wie es dargestellt wird und wie es faktisch aussieht, wird kein Kind und kein Jugendlicher vor der Vollendung des 18. Lebensjahres wählen können. Also ist das ein Etikett, das ein wenig an eine Mogelpackung erinnert. ({16}) Meine Damen und Herren, ich will gar nicht näher auf die Fälle eingehen, die aufgeklärt werden müssen. Was ist in Scheidungsfällen? Nimmt der Ehepartner, der die Familie verlässt, das Wahlrecht mit? ({17}) Was ist denn, wenn Minderjährige Eltern werden? Dann haben wir zweimal Großeltern, die die elterliche Fürsorge für die minderjährigen Eltern haben. ({18}) Diese bekommen dann Viertelstimmen. ({19}) Genau das ist der Punkt, lieber Herr Haupt: So sympathisch Ihr Antrag ist, er wird dem Ziel nicht gerecht, Kinder wirklich wahrzunehmen, ernst zu nehmen und ihnen Beteiligung zu ermöglichen. ({20}) Ich glaube, wir werden, liebe Frau Lenke, den Kindern besser gerecht, wenn wir für echte Partizipation sorgen, wenn wir also dafür sorgen, dass Kinder beteiligt werden. Wenn Sie es ernst meinen mit Ihrem Antrag, dann müsste der nächste Antrag folgen, nämlich der Antrag auf die Herabsetzung des Wahlalters. Das wäre die logische Konsequenz. Ich bin gespannt, wie viele von Ihnen dann noch hier stehen und diesen Antrag unterschreiben werden. ({21})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zur Erläuterung für die Zuschauer will ich sagen, dass ich die Zugehörigkeit zu den Fraktionen nicht bekannt gebe, wenn ich die Redner aufrufe, weil es Zustimmung aus allen Fraktionen und ebenso Ablehnung aus allen Fraktionen gibt. Diese Debatte richtet sich also direkt an die Abgeordneten, ohne parlamentarische oder fraktionelle Bindung. Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus Haupt. ({0})

Klaus Haupt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zugegeben, der überparteiliche Antrag für ein Wahlrecht von Geburt an ist unkonventionell. Er ist mutig quer gedacht, er verlässt die eingetretenen Pfade der Verfassungsinterpretation und wirft Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf. Mir sind drei Punkte ganz besonders wichtig: erstens das Demokratieprinzip, zweitens die Generationengerechtigkeit, drittens die Rolle der Familie in unserer Gesellschaft. ({0}) Dem Demokratieprinzip kommt in unserem Grundgesetz eine dominierende Rolle zu. Art. 20 bestimmt, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht - nicht nur vom volljährigen Volk, sondern von jedem Deutschen ab der Geburt. Die Staatsgewalt wird durch Wahlen und Abstimmungen ausgeübt. ({1}) Dieses Prinzip gehört zum Verfassungskern und ist vor jeder Änderung prinzipiell geschützt. ({2}) In Art. 38 wird diese Ausübung der Volkssouveränität jedoch auf die Staatsbürger beschränkt, die das 18. Lebensjahr vollendet haben. Die rund 14 Millionen Minderjährigen werden davon ausgeschlossen. Das heißt, nur etwa 80 Prozent des Volkes legitimieren so die Staatsgewalt, aber mit erheblicher Wirkung auch für die nicht beteiligten 20 Prozent. Unbestreitbar sehen heute Verfassungsjuristen die Kinder als Träger von Grundrechten von Geburt an. Unstrittig ist, dass das Wahlrecht ein entscheidendes Grundrecht, ein zentrales Bürgerrecht ist und dass Kinder Bürger sind. ({3}) Kollegin Fischbach, unser Rechtssystem sieht, soweit Rechtsfähigkeit und Geschäftsfähigkeit auseinander fallen, übrigens schon seit 100 Jahren die Möglichkeit der Stellvertretung vor und weist diese im Falle von Minderjährigen den Eltern als geborene Stellvertreter ihrer Kinder zu. Aus Art. 6 des Grundgesetzes, dem besonderen Elterngrundrecht, folgen generelle Wahrnehmungsrechte der Eltern, auch und gerade im Bereich der Ausübung der Grundrechte ihrer Kinder. Beispielsweise vertreten Eltern ihre Kinder bei der Ausübung der als Grundrecht ausgestalteten Religionsfreiheit bis zum Eintritt der Teilrechtsmündigkeit mit 14 Jahren. Warum soll das nicht auch beim Grundrecht auf politische Mitwirkung, beim Wahlrecht, möglich sein? ({4}) Deshalb sollen Kinder nach unserer Ansicht Inhaber des Wahlrechts werden, das treuhänderisch von ihren Eltern ausgeübt wird, bis die Kinder das Wahlalter erreicht haben. Selbstverständlich wird man darüber diskutieren dürfen, ab wann junge Menschen ihr Wahlrecht selbst ausüben. Der vielfach gegen unseren Antrag ins Feld geführte Grundsatz der Höchstpersönlichkeit steht nicht im Grundgesetz. Schon heute wird er in der Praxis vielfach durchbrochen. In anderen demokratischen Ländern wie Frankreich oder Großbritannien gibt es ihn in dieser Form überhaupt nicht. In jedem Fall aber ist er gegenüber der ausdrücklichen Verfassungsbestimmung, dass die Staatsgewalt vom Volke ausgeht, absolut nachrangig. ({5}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, angesichts der hoch aktuellen Probleme von Verschuldung, Rentenkürzung und Bildungsmisere verschärft sich in Deutschland die Debatte um das Thema Generationengerechtigkeit. Solange unsere Gesellschaft finanzielle und soziale Lasten auf Pump finanziert, sie auf die junge Generation verschiebt und ihr die Zukunftschancen raubt, so lange ist keine Generationengerechtigkeit möglich. Der Grundfehler der heutigen Politik ist, dass sie nur auf zwei Generationen fokussiert ist. Der Generationenvertrag setzt jedoch ein solidarisches Miteinander von drei Generationen voraus. Die Einführung eines Wahlrechts ab Geburt würde bedeuten, der Zukunft eine Stimme zu geben. Mit einem Dreigenerationenwahlrecht würde der Generationenvertrag mit neuem Leben erfüllt. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Familien mit Kindern werden in Deutschland gravierend benachteiligt. Kinder sind in unserer Gesellschaft inzwischen eines der größten Armutsrisiken, vor allem für Alleinerziehende. ({7}) Obwohl die Familie durch Art. 6 des Grundgesetzes unter besonderen staatlichen Schutz gestellt ist, haben sich die Lebensverhältnisse der Familien kontinuierlich verschlechtert. Warum? Ihr Einfluss auf politische Entscheidungen ist relativ gering. ({8}) Aufgrund der demographischen Entwicklung wird er noch dramatisch zurückgehen. ({9}) Wir können die Zukunft der Familien und damit unserer ganzen Gesellschaft aber nur sichern, wenn wir das politische Gewicht von Familien und Kindern ihrer gesellschaftlichen Bedeutung entsprechend durch die Einführung eines Wahlrechts ab Geburt erhöhen. ({10}) Noch vor 200 Jahren galt ein allgemeines Männerwahlrecht als fixe Idee. ({11}) Vor 100 Jahren erschien ein Frauenwahlrecht als ebenso absurd. ({12}) All diese Änderungen wurden zunächst als abwegig, suspekt und utopisch abgetan. Mit der Anerkennung des Wahlrechts von Geburt an würde unser Wahlrecht durch den Grundsatz „Jeder Mensch - eine Stimme“ wirklich zu einem allgemeinen Wahlrecht vollendet. Politik würde zukunftsfähiger und nachhaltiger, übrigens zum Vorteil der gesamten Gesellschaft. ({13}) Denn schon Martin Luther stellte fest: „Bei den Kindern muss angefangen werden, damit es im Staate besser wird.“ Danke. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk. ({0})

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Kinder an die Macht!“ - das wünschte sich Herbert Grönemeyer. Und das suggerieren auch die Antragsteller und Antragstellerinnen mit ihrem Antrag auf Einführung eines Wahlrechts von Geburt an. Aber werden Kinder tatsächlich mehr Macht erhalten, wenn ihre Eltern stellvertretend für sie wählen können? ({0}) Ich sage: Nein. ({1}) Denn nicht die Kinder erhalten mehr Macht, sondern deren Eltern. Darum müsste es ehrlicherweise Elternwahlrecht heißen oder - in vielen Fällen vielleicht besser - Väterwahlrecht. ({2}) Wir alle wissen doch: In vielen Fällen wären sie es, die für ihre Kinder die „richtige“ Partei aussuchen würden. Einer der Antragsteller, der Kollege Singhammer, hätte wunderbare sieben Stimmen. ({3}) Ich gehe einmal davon aus, dass die CSU sie bekäme. Dass so ein „parlamentarisches Kindergeld“ einen Reiz hat, ist zuzugeben. Unser Grundgesetz hat aber gerade dies nicht gewollt und 75 Prozent unserer Bevölkerung sind gegen eine solche Wahlrechtsänderung. ({4}) Die Grundsätze der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl schließen es aus, Gruppen verschiedene Stimmengewichte beizumessen. Die Kollegin Fischbach hat gesagt, das preußische Klassenwahlrecht mit unterschiedlicher Stimmengewichtung - je nach dem Stand, ob Adel oder nicht - wurde 1918 abgeschafft. Also versuchen wir doch jetzt nicht, ein solches für Eltern wieder einzuführen. ({5}) Der Gleichheitsgrundsatz gehört zum Kern des Grundgesetzes und ist somit jeder Veränderung durch das Parlament entzogen. Das Elternwahlrecht käme aber auch in Konflikt mit dem Prinzip der Höchstpersönlichkeit. Ein höchstpersönliches Recht ist unveräußerlich, unübertragbar und unverzichtbar, Herr Haupt. ({6}) Das Wahlrecht duldet keine Stellvertretung. Auch der Grundsatz der geheimen Wahl wäre gefährdet, wenn sich Eltern mit ihren Kindern darüber auseinander setzen, welche Partei zu wählen wäre. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Ziele - mehr Rechte für Kinder bei politischen Entscheidungen, eine familienfreundlichere Politik durchzusetzen - teile ich ausdrücklich. ({7}) Verantwortungsvolle Politik, gleich welcher Couleur, muss die Interessen von Familien und Kindern ernst nehmen. ({8}) Generationengerechtigkeit ist das zentrale Thema. Die Kinder sind unsere Zukunft, sie sind es auch, die künftig die Folgen von Staatsverschuldung, Bildungsmisere und Umweltproblemen schultern müssen. Darum ist hier die Politik insgesamt gefragt. Es wäre doch für dieses Haus geradezu ein Armutszeugnis, wenn wir als Politiker und Politikerinnen quasi eine Bankrotterklärung abgeben würden und die Eltern als Garanten für eine gute Politik bräuchten. ({9}) Ich kann Ihnen sagen: Seit 1998 sind die Ausgaben für Familien von 40,2 auf 60 Milliarden Euro im Jahre 2003 erhöht worden. Das ist eine riesengroße Summe. Trotzdem brauchen wir weitere Anstrengungen. Die Einführung eines Elternwahlrechts ist aber nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich, sondern auch lebensfremd: Wer sich die konkrete Situation in Familien einmal vorstellt, entdeckt noch weitere, nicht aufzulösende Widersprüche. ({10}) Sind die Kinder noch nicht in der Lage, einen eigenen Wahlwunsch zu bekunden, müssen sich die Eltern darüber einigen, durch welche Entscheidung sie dem Kind zum Recht verhelfen. ({11}) Gerade bei älteren Kindern und Jugendlichen ist es doch schon fast der Regelfall, dass die politische Meinung der Eltern von der der Kinder abweicht. Ich hätte mich jedenfalls nicht durch meine Eltern vertreten lassen wollen. ({12}) Wie sollen die Eltern damit umgehen? Sie sind nicht an Weisungen ihrer Kinder gebunden, wie zum Beispiel Wahlhelfer, die Menschen mit Behinderungen helfen. Ob sich die politische Meinung der Kinder tatsächlich im Stimmverhalten der Eltern widerspiegelt, ist mehr als fraglich. Der Vergleich, den Herr Haupt vorhin brachte, dass Eltern ihre Kinder in zivilrechtlichen Angelegenheiten vertreten könnten, ist in keiner Weise stichhaltig. Bei einer politischen Wahl handelt es sich um eine politische und ideelle Willensentscheidung und nicht um eine Privatangelegenheit und ein Privatinteresse. ({13}) Geradezu lächerlich wird es, wenn Eltern untereinander oder Eltern und Kind unterschiedliche Meinungen haben. Dafür schlagen Sie den Gang vor das Familiengericht vor. ({14}) Das soll dann entscheiden, welcher Elternteil nach Einschätzung des Gerichts eher im Sinne und zum Wohle des Kindes abstimmen würde. Für mich ist das eine absurde Vorstellung und eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die die Gerichte kurz vor den Bundestagswahlen lahm legen würde. Eigentlich stellt sich die Frage: Was ist mit der Änderung des Wahlrechts beabsichtigt? Eine Veränderung der Parteienlandschaft? In Ihrer Begründung steht Dabei ist … nicht von einer grundsätzlichen Verschiebung innerhalb des parteipolitischen Spektrums auszugehen. Geht es um mehr Macht und mehr Rechte für eine bestimmte Personengruppe? Davon hatten wir uns meiner Meinung nach schon 1918 verabschiedet. Unsere Demokratie zeichnet sich doch gerade dadurch aus, dass alle Menschen unabhängig von ihrer Lebensweise die gleichen Rechte haben. Das sollte auch so bleiben. Das berechtigte Ziel, die Interessen von Kindern und Jugendlichen stärker zu berücksichtigen, lässt sich durch andere Maßnahmen wie die Absenkung des Wahlalters oder durch eine verbindliche Beteiligung von Kindern an politischen Prozessen und Entscheidungen erreichen, die ihre Belange betreffen. Ich danke Ihnen. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Pau.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt immer wieder Bestrebungen, ein Wahlalter unter 18 Jahren einzuführen. Sie kommen aus verschiedenen Parteien. Die PDS spricht sich seit langem dafür aus. ({0}) Eine Absenkung des Wahlalters ist ebenso überfällig wie mehr direkte Demokratie auf Bundesebene. Allerdings gibt es - wir bekamen dies eben schon illustriert selbst bei den Befürwortern unterschiedliche Auffassungen über die Art und Weise, wie Kinder und Jugendliche mitbestimmen sollen. Ein wiederkehrender Vorschlag meint, Eltern sollten das Stimmrecht für ihre Kinder wahrnehmen. Ich halte dies für falsch; ({1}) denn es wäre für die Kinder und Jugendlichen keine Mitbestimmung. Sie würden selbst dann fremdbestimmt, wenn ihnen die Eltern sehr nahe stünden. ({2}) Eine solche stellvertretende Wahl widerspräche übrigens auch dem Grundsatz der geheimen Wahl. Die Kinder und Jugendlichen müssten doch vorher sagen, wen sie wählen würden, und sie wären sich hinterher nicht einmal sicher, ob ihr Wunsch tatsächlich erfüllt wurde. Wenn schon das Szenario gerichtlicher Streitigkeiten hier an die Wand gemalt wurde, dann glaube ich, dass wir diese Streitigkeiten nicht nur vor der Wahl, sondern auch mit Blick auf das Wahlergebnis nach der Wahl hätten, wenn Kinder nachrechneten und feststellten, dass ihr Wille offensichtlich nicht umgesetzt wurde. ({3}) Spannender sind allerdings alle Debatten, die sich wirklich um das Wahlalter drehen. Die einen meinen, eine Absenkung auf 16 Jahre wäre denkbar. Andere plädieren für 14 Jahre. Die Kinderrechtsorganisation „KRÄTZÄ“ aus Berlin wirbt mit guten Gründen für keinerlei Altersbeschränkung. Die „Kinderrächtszänker“, wie sie in Langfassung heißen, argumentieren demokratietheoretisch. Sie plädieren aber auch aus Erfahrung, wenn sie sagen, nur jene, die wählen könnten, würden auch von der Politik ernst genommen. Kinder gehören leider viel zu selten dazu. Die PDS ist gegen alle Formen, bei denen ohne Not stellvertretend gewählt wird. Wir sind zugleich für eine deutliche Senkung des Wahlalters. ({4}) Grundsätzlich sind wir für mehr Demokratie. Dies sage ich auch mit Blick auf Vorschläge, künftig nur noch alle fünf statt bislang alle vier Jahre zur Wahl zu rufen. Der Bundestagspräsident bringt dies gelegentlich auch in die Debatte. Darüber lässt sich reden, vorausgesetzt, mehr Bürgerinnen und Bürger - auch Kinder und Jugendliche, die immer auch betroffen sind - können zwischendurch in Sachfragen mehr direkt bestimmen. Dafür steht auch die PDS im Bundestag. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Singhammer. ({0})

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Demokratie bedeutet im Kern Herrschaft der Mehrheit und Schutz der Minderheit. Kinder sind in Deutschland leider zu einer Minderheit geworden, die Tag für Tag mehr schrumpft. Im Jahre 1950 waren noch 27,7 Prozent der Menschen in Deutschland unter 18 Jahren, heute sind es nur noch 18,3 Prozent oder 13 Millionen Kinder und Jugendliche. Noch nie war Deutschland ein so von Erwachsenen geprägtes Land wie in diesen Tagen. ({0}) Die Entwicklung wird so weitergehen. Die Deutschen werden immer weniger. Die demographische Entwicklung verschiebt sich dramatisch. Ein Herausgeber der „FAZ“ hat vor wenigen Tagen ein Buch mit dem Titel „Das Methusalem-Komplott“ veröffentlicht, in dem er darauf hinweist, dass jetzt geborene Kinder eine Lebenserwartung von 100 Jahren hätten und sich das Verhältnis von Jung und Alt weiter zuungunsten der Kinder und zugunsten der Erwachsenen verschieben werde. Wir wollen mit diesem Antrag den Kindern Gehör verschaffen. Wir glauben nicht, dass damit eine Umkehr in der demographischen Entwicklung verbunden ist. Dazu sind viele andere grundlegende Weichenstellungen nötig. ({1}) Aber wir glauben schon, dass die Interessen der Kinder durch ein allgemeines Wahlrecht besser zur Geltung gebracht werden können. ({2}) Mit einem Wahlrecht für alle wird sich die Politik nicht mehr ausschließlich um die Stimmen der Majorität der Älteren und Erwachsenen bemühen, sondern wird auch die Anliegen der Kleinsten, Jüngsten und Jugendlichen nicht mehr aus den Augen verlieren. ({3}) Die Betrachtung des Umfelds aus 80 Zentimetern Augenhöhe muss nicht zu einer Verzwergung der Politik führen, sondern kann auch eine neue humane Dimension eröffnen. ({4}) Nun wird eine ganze Reihe von Argumenten dagegen vorgebracht, beispielsweise dass Eltern eigene Interessen haben, die nicht mit denen der Kinder identisch sind. Ich nehme das Argument ernst, meine aber, dass Eltern ohnehin originäre Vertreter ihrer Kinder sind. Dies ist in vielen anderen Lebensbereichen so. Warum dann nicht bei der Wahl? ({5}) Es werden immer wieder die Fragen gestellt: Was ist, wenn Vater und Mutter unterschiedlicher Meinung sind? Wer darf dann abstimmen? Was ist bei Geschiedenen? Welche anderen organisatorischen Probleme tun sich in diesem Bereich noch auf? Ich denke, es ist hinreichend dargelegt worden - mittlerweile auch im Schrifttum -, dass alle diese organisatorischen Fragen lösbar sind. Ich möchte nur stellvertretend auf ein Interview hinweisen, das der Verfassungsrichter Paul Kirchhof - er ist nicht irgendjemand, sondern ein anerkannter Experte - zu diesem Thema gegeben hat: Alle diese Probleme sind organisatorisch lösbar. Es wird oft gesagt: Das hat es noch nicht gegeben, das hat man bisher nirgendwo so gemacht. Das ist vor jeder Ausweitung des Wahlrechts so kundgetan worden. 1848 wurde das Wahlrecht von den selbstständigen Hausvätern auf alle Männer, die das 25. Lebensjahr vollendet hatten, erweitert. 1919 in der Weimarer Republik wurde das Wahlrecht auf alle Männer und erstmals auch auf Frauen im Alter von mindestens 20 Jahren ausgedehnt. 1949 in der Bundesrepublik wurde das Wahlrecht ab 21 Jahren eingeführt. 1972 erfolgte die Absenkung des Wahlalters auf 18 Jahre. Es gibt einen starken Trend, das Wahlrecht für alle einzuführen - bei den Kindern und Jugendlichen bis zum Alter von 18 Jahren wahrgenommen durch die Eltern. Wir sollten uns diesem Trend nicht entgegenstellen. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Barbara Wittig.

Barbara Wittig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003267, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zukunft unserer Gesellschaft sichern, familien- und kinderfreundliche Politik durchsetzen, Belange der jungen Generation in Gesellschaft und Politik angemessen berücksichtigen - das sind Ziele, die ich voll und ganz unterstütze. Die Frage ist nur: Führt ein Wahlrecht von Geburt an dorthin? ({0}) - Nein. Behauptet wird: Schließe man Minderjährige von der Teilnahme an Wahlen aus, bleibe es bei einer Schieflage der Familien mit Kindern. Dazu muss ich sagen: Eine Schieflage gab es in der Tat. Nicht umsonst rügte das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil vom 10. November 1998, ({1}) dass die Vorgängerregierung den Familienleistungsausgleich nicht angemessen weiterentwickelt hat. Unsere Reaktion darauf war: mehr Erziehungsgeld für Kinder, Erhöhung des Kinderfreibetrages, mehr BAföG, 4 Milliarden Euro für die Einrichtung von Ganztagsschulen, Steuerentlastungsbetrag usw. Mit anderen Worten: Seit Jahren arbeiten wir an der Beseitigung der vom Bundesverfassungsgericht gerügten Mängel. ({2}) Wir tun das, was gemäß Art. 38 des Grundgesetzes vorgesehen ist: Wir sind die Vertreter des ganzen Volkes und somit auch die der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren. ({3}) Eine Teilnahme von Minderjährigen an den Wahlen war für die Aktionen, die ich vorhin aufgezählt habe, einfach nicht nötig. Das soll auch so bleiben. ({4}) Herr Haupt, schon die Wahlgrundsätze in Art. 38 des Grundgesetzes sprechen gegen ein Wahlrecht von Geburt an. Erstens: die unmittelbare Wahl. Die Stimmabgabe ist verfassungsrechtlich nur höchstpersönlich möglich. Selbst ein Briefwähler hat an Eides Statt zu versichern, dass er sein Kreuz persönlich gemacht hat. Das Gebot der höchstpersönlichen Stimmabgabe ist in § 14 Bundeswahlgesetz normiert. ({5}) Dadurch werden die Grundsätze des Art. 38 Grundgesetz konkretisiert. Wenn man sich Art. 38 Grundgesetz anschaut, dann sieht man - ich zeige es Ihnen noch einmal -, dass in Abs. 3 ausdrücklich steht, dass das Nähere ein Bundesgesetz bestimmt. Was wollen Sie also bitte streichen? Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl ergibt sich natürlich auch daraus, dass zwischen dem wahlberechtigten Kind oder Jugendlichen und dem Wahlbewerber eine dritte Person geschaltet würde. Es wäre eben nicht sichergestellt, dass der unverfälschte Wille des Wahlberechtigten zum Durchbruch käme. Zudem würde sich die Frage stellen, von welchem Willen die Eltern eigentlich ausgehen sollen. (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Nichts verstanden! - Klaus Haupt [FDP]: Sie haben das Problem nicht erkannt! Zweitens: die freie Wahl. Da sich die Eltern auch gegen den Willen der schon verständigen Kinder und Jugendlichen an der Wahl beteiligen oder auch nicht beteiligen könnten, kann von einer freien Wahl wohl kaum die Rede sein. Zudem ist auch nicht auszuschließen, dass im Rahmen der gewünschten Eltern-Kind-Gespräche eine Beeinflussung im Sinne der Wahlentscheidung der Eltern erfolgt. Drittens: die gleiche Wahl. Sofern Eltern stellvertretend für ihre Kinder zusätzliche Stimmen erhielten, verfügten sie gegenüber anderen Wahlberechtigten über ein stärkeres Stimmengewicht und somit über einen unterschiedlich großen Einfluss auf das Wahlergebnis. Das Bundesverfassungsgericht stellt dazu übrigens fest: ({6}) Angesichts der in der demokratischen Grundordnung verankerten unbedingten Gleichheit aller Staatsbürger bei der Teilhabe an der Staatswillensbildung darf es keine Wertungen geben, die es zulassen würden, beim Zählwert der Stimmen zu differenzieren. Viertens: die geheime Wahl. Dieser Grundsatz wäre auch verletzt, da sich Wahlberechtigter und Vertreter grundsätzlich austauschen müssten. Die Initiatoren wollen ja gerade, dass die Eltern die Wahlentscheidung mit den schon verständigen Kindern und Jugendlichen besprechen müssen. ({7}) - Das, was Sie erzählen, ist doch Quatsch. Lassen Sie mich zusammenfassen: Ein Wahlrecht von Geburt an ist mit den allgemeinen Wahlgrundsätzen des Grundgesetzes nicht vereinbar. ({8}) Es kann weder erwartet noch kontrolliert werden, ob die über eine oder mehrere Stimmen verfügenden Eltern diese auch im Interesse ihrer Kinder einsetzen. Wir Abgeordnete sind die Vertreter des ganzen Volkes; das habe ich vorhin schon ausgeführt. ({9}) Wir wollen auf unserem Weg zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, zur Verbesserung von Betreuungsmöglichkeiten, zu mehr Selbstbestimmung, meine Herren von der FDP, gegen Fremdbestimmung durch ein Stellvertreterwahlrecht und zu mehr Beteiligung von Kindern und Jugendlichen durch das Einüben eines demokratischen Verhaltens weitermarschieren. Um die Verwirklichung dieses verfassungsrechtlichen Auftrags geht es. Sie können gerne mitmachen. Ich danke Ihnen. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Antje Vollmer. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, ein positives Zwischenergebnis können wir angesichts der Heftigkeit mancher Debattenbeiträge erst einmal festhalten: Diese Debatte hat der demokratischen Kultur in diesem Raum auf jeden Fall gut getan. ({0}) Ich kann auch nicht bedauern, dass das Wahlrecht in dieser Debatte und in der Öffentlichkeit zu einer heiß umkämpften Kostbarkeit wird. Das nützt dem Wahlrecht, der Demokratie und dem Parlament. ({1}) Die Tonlage der Kritiker wundert mich allerdings manchmal. Ich bin ja für das Wahlrecht von Geburt an. Ganz ehrlich: Vieles kommt mir genauso vor - ich habe einmal die gesamten Akten studiert - wie der damalige Kampf um das Frauenwahlrecht. ({2}) Man fragte zum Beispiel: Sind sie denn schon einsichtig genug? Wird das nicht die Mehrheitsverhältnisse ändern? ({3}) All dies sind altbekannte Argumente. Das Wahlrecht in der Demokratie gilt aber nun einmal ohne Vorbedingungen. Man kann dabei nicht ausrechnen, was zum Schluss herauskommt; denn das Wahlrecht ist das Königsrecht der Demokratie. Im Moment streiten wir vor allen Dingen über den Punkt: Wer ist eigentlich Bürger dieses Landes? Das Wahlrecht ist schließlich das vornehmste Bürgerrecht. Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass der Bürgerbegriff in der Geschichte tatsächlich eine hochinteressante Entwicklung genommen hat. Im alten Griechenland war er an das Eigentum und an einen bestimmten Rang gebunden. Danach gab es das Dreiklassenwahlrecht. Dann galt nur das Wahlrecht für Männer, ab einem bestimmten Zeitpunkt schließlich auch für Frauen. Später kam noch das Wahlrecht für Ausländer hinzu. Diesen Gedanken spinnen wir weiter, indem wir sagen: Bürger ist jeder existierende Mensch dieses Landes. Damit ist das Wahlrecht das zentrale Menschenrecht in einer Demokratie. ({4}) Ich möchte einen weiteren Gedanken ansprechen, von dem ich vermute, dass er bei einigen der Kritiker eine Rolle spielt. Kinder vom Wahlrecht auszunehmen geht von der Idee eines besonderen Schonraums für Kinder aus, in dem die Politik keine Rolle spielen soll. Es geht um einen Raum der Privatheit, der von einer meist als böse verstandenen politischen Welt ausgenommen sein soll. Nicht nur in diesem Bereich müssen wir feststellen, dass es in diesem Sinne diesen Schonraum, diesen Freiraum von Politik, Werbemöglichkeiten und anderen Einflussnahmen überhaupt nicht mehr gibt. Kinder sind Objekte von Werbestrategien und Medien. Kinder merken es, wenn ihre Eltern unter Kriegsängsten leiden. Das sind Alltagsthemen von Kindern. Deswegen muss man Abschied von der Idee nehmen, es gebe für Kinder einen Schonraum, völlig unberührt von dem, was in der Welt passiert. Umgekehrt aber wissen alle - das hat sich in den Debatten der letzten Wochen widergespiegelt -, dass die Situation von Familien mit Kindern in einer immer älter werdenden Gesellschaft außerordentlich schwierig geworden ist. Ich frage mich die ganze Zeit, warum diese älter werdende Gesellschaft als Geste und Vertrauen schaffendes Angebot die jüngere Generation, die fast 20 Prozent ausmacht, nicht einfach dadurch einbezieht, dass sie ihr das Recht gibt, über die Zukunft, die vor allem ihre Zukunft ist, mit zu entscheiden. Das wäre eine Vertrauen schaffende Maßnahme. Alle wissen, dass die praktische Umsetzung solcher Maßnahmen sehr schwierig ist. Deswegen ist es die Absicht der Antragsteller, die Politik durch so eine Entscheidung zu binden. Viele Befürworter dieser Initiative wollen Politiker dadurch mehr binden, dass sie diese knapp 20 Prozent der Gesellschaft in ihren Entscheidungen berücksichtigen müssen. ({5}) Mich wundert bei manchen Kritikern deren Heftigkeit und Häme. Ich kann nicht umhin, in dieser Häme und Heftigkeit manchmal auch die Gegenwartsfesselung der Singlegesellschaft zu sehen. Wenn man die Parallelen zur Debatte um das Wahlrecht für Frauen sieht, wundert mich vor allen Dingen, warum sich gerade die herausragenden Vertreterinnen der Feministinnen so heftig gegen dieses Wahlrecht von Geburt an sperren. Ich persönlich, die ich von dieser Frauenbewegung sehr viel profitiert habe, glaube, dass sie an dieser Stelle einen großen historischen Fehler wiederholt. Er besteht darin, in das Zentrum der Fraueninteressen nicht das Leben mit Kindern zu rücken, sondern nur das Leben der Frauen für sich. Das war schon in der Vergangenheit ein Fehler der Feministinnen. Ich finde, sie sollten ihn in diesem Fall nicht wiederholen. ({6}) Es gab einmal eine Zeit, in der alle Argumente gegen eine Ausweitung des Wahlrechts gegen die Frauen gewendet wurden. Daran sollte man sich gelegentlich erinnern. Eltern - so wird angeführt - entscheiden für ihre Kinder. Wenn die Eltern nicht für ihre Kinder entscheiden, dann entscheiden eben diejenigen, die nicht mit Kindern zu tun haben; denn deren Votum wird Wirkung haben. Wir wissen doch alle: Eltern entscheiden vieles, auch Hartes und Schwieriges für Kinder. Sie entscheiden, auf welche Schule ein Kind kommt, sie entscheiden, welchen Wohnort das Kind hat, sie entscheiden, ob es einer Religionsgemeinschaft angehört oder nicht und sie entscheiden auch, ob sie sich trennen und die Kinder damit eine große Belastung des persönlichen Lebens erleiden. All dieses entscheiden immer Eltern. Das kann man nicht ändern. Wieso sollen sie nicht auch in diesem Fall für eine kurze Zeit entscheiden? Ich bin übrigens sehr dafür, das Wahlalter zu senken. Das wird ohnehin die Konsequenz sein; denn die Kinder werden von den Eltern wissen wollen, wie diese das Wahlrecht verwalten. Sie werden dann sagen, dass sie es selber früher ausüben wollen. Das ist aber Schule in Demokratie in den Familien. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was dagegen sprechen soll. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Daniel Bahr.

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon erfreulich, dass wir heute über dieses wichtige Thema eben nicht parteipolitisch diskutieren. Die Meinung zur Frage eines Familienwahlrechts geht quer durch alle Parteien. Es ist auch bemerkenswert, dass sich der erste Gruppenantrag in dieser Legislaturperiode mit dem Altersaufbau unserer Gesellschaft beschäftigt, einem Thema, das uns noch viel mehr beschäftigen und zu Konsequenzen anleiten sollte. Es ist ebenfalls bezeichnend, dass wir heute am 1. April über diesen Antrag diskutieren. Heute treten nämlich Belastungen für die Rentnerinnen und Rentner in Kraft. Erstmals werden die Renten in Deutschland de facto gekürzt. Der demographische Wandel unserer Gesellschaft ist eine der größten Herausforderungen, der wir Politiker uns stellen müssen. Immer mehr ältere Menschen werden immer weniger jüngeren Menschen gegenüberstehen. Im Jahre 2030 werden die über 60-jährigen Menschen knapp 40 Prozent der deutschen Bevölkerung ausmachen. Zum Vergleich: Heute ist es nur ein Viertel. Natürlich - das will ich gar nicht bestreiten - wirkt sich das auf die Wählerstimmen aus. Die junge Generation hat deswegen die Sorge - die ist berechtigt -, dass ihre Interessen unter die Räder der quantitativ stärkeren Wählerklientel geraten könnten. Angesichts der Situation der umlagefinanzierten Sozialsysteme - Rente, Gesundheit und Pflege - drohen Rentnerfunktionäre heute schon mit der Gründung einer Rentnerpartei. Ich halte davon nichts. Wer glaubt, mit einer Rentnerpartei unsere strukturellen Probleme lösen zu können, irrt gewaltig. Der Antrag, den wir heute beraten, macht aber auch eines deutlich: Wir dürfen die Interessen der jungen und der älteren Generation nicht gegeneinander ausspielen. ({0}) Ich möchte keinen Generationenkrieg heraufbeschwören. Deshalb müssen wir die unbestreitbaren Lasten, die auf uns zukommen, fair verteilen. Das Ziel des Antrages ist es, eine nachhaltige Politik im Interesse der Kinder zu unterstützen. Mit dem Antrag wird das Ziel aber nicht erreicht, weil sich nicht das Wahlrecht ändern muss, sondern weil sich die Politik ändern muss, damit wir Nachhaltigkeit hinbekommen. ({1}) Das Familienwahlrecht ist nicht geeignet, das Ungleichgewicht zwischen den Generationen zu verändern. Dass ein neugeborenes Kind nicht zur Wahlurne gehen kann, ist doch jedem klar. Bei einem Wahlrecht ab Geburt muss also jemand anderer, also ein Stellvertreter, das Wahlrecht wahrnehmen. Das wären die Eltern oder die Erziehungsberechtigten. Deswegen, Frau Kollegin Vollmer, ist die Debatte nicht mit dem Frauenwahlrecht zu vergleichen. ({2}) Denn das Frauenwahlrecht wäre analog dem Modell des vorliegenden Antrags eigentlich ein Ehemännerwahlrecht, wobei die Ehemänner das Wahlrecht stellvertretend für die Frauen wahrnehmen. Darum geht es hier nicht. ({3}) Die Stellvertreter, also die Eltern, vertreten einen Willen, den das Kind zu diesem Zeitpunkt noch nicht äußern kann. Worin besteht aber der Wille des Kindes? Wonach werden die Eltern entscheiden? Sind es nicht die Eltern, die dann über den Willen der Kinder entscheiden? Manche Eltern können sich noch nicht einmal auf den Namen ihres Kindes einigen. Wie sollen sie sich dann auf die Wahl einer Partei einigen? ({4}) - Das ist nicht „one man, one vote“, weil mit dem Familienwahlrecht nicht die Interessen der Kinder vertreten werden, sondern die Interessen der Eltern mehr Gewicht erhalten. ({5}) - Klaus Haupt [FDP]: Nein!) - Lieber Kollege Klaus Haupt, ein Vater, der im Steinkohlebergbau arbeitet, wird möglicherweise für sein Kind die Partei wählen, die die Subvention erhalten will. Öffentliche Gelder würden weiterhin für die Vergangenheit ausgegeben und für Zukunftsinvestitionen wie Bildung fehlen. ({6}) Ein weiteres Problem ist Folgendes: Was ist denn, wenn sich während des Reifeprozesses der Jugendlichen herausstellt, dass sich ihre politische Meinung und die ihrer Eltern voneinander unterscheiden? Ich bin im Alter von 16 Jahren Mitglied einer Partei geworden. Welche Partei hätten denn meine Eltern möglicherweise gewählt, wenn ich mich ihnen gegenüber schon als 16-Jähriger für eine Partei ausgesprochen hätte? Wie kann denn sichergestellt werden, dass die Eltern die Partei wählen, die ihr Kind bevorzugt? Wie können wir verhindern, dass sich die Eltern darauf berufen, dass sie besser wissen, was für ihr Kind gut ist, und dementsprechend wählen? Der Grundsatz der Höchstpersönlichkeit der Wahl würde damit unterlaufen. ({7}) Ich will nicht verhehlen, dass sich der Vorschlag sympathisch anhört. Aber mich hat ein Argument für das Daniel Bahr ({8}) Familienwahlrecht sehr erstaunt. Es wird gesagt, wenn die jüngere Generation ein erweitertes Stimmrecht hätte, dann würde die Politik auch mehr auf die Interessen dieser Generation eingehen und sich nicht von den Älteren dominieren lassen. Das aber ist die Kapitulation der Politik. Damit würden wir zugeben, dass in der Politik die Entscheidungen eindeutig nach Wählergruppen ausgerichtet werden. ({9}) - Das ist aber nicht unsere Aufgabe, lieber Klaus Haupt. Unsere Aufgabe ist doch, das Wohl nicht nur unserer Wählerinnen und Wähler, sondern des gesamten deutschen Volkes zu mehren. Deswegen ist Ihr Vorschlag nicht geeignet. ({10}) Meine Damen und Herren, wir müssen uns für eine wirklich generationengerechte Politik engagieren, das heißt, die strukturellen Probleme in Deutschland zu ändern. Der letzte Finanzierungsüberschuss im Bundeshaushalt wurde 1970 erzielt. Seitdem sind die Schulden immer weiter gestiegen. Dabei handelt es sich um Hypotheken auf die Zukunft, die wir der jungen und kommenden Generation hinterlassen. Deswegen brauchen wir Handschellen, die die Politiker an die Aufgabe binden, eine generationengerechte Politik zu gestalten. Das bedeutet für mich zum Beispiel, dass wir einmal in jeder Legislaturperiode eine Generationenbilanz auflegen, die zeigt, welche Lasten der jungen Generation in Form von Schulden, Pensionslasten und Rentenversprechen auferlegt werden und welche Zukunftsinvestitionen in Bildung und Infrastruktur getätigt werden. Mit einer solchen Generationenbilanz wird sichtbar, ob die Politik generationengerecht ist. Warum verankern wir das Prinzip der Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit nicht endlich auch im Gesetz? Das würde die Politik mehr binden als ein Familienwahlrecht, das nicht in erster Linie den jüngeren Generationen, sondern den Familien zugute kommt. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich möchte mich zunächst einmal bei allen bedanken, die sich an dieser Diskussion beteiligt haben. Es war eine wirklich gute und interessante Diskussion, wie man sie öfter wiederholen sollte. ({0}) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/1544 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb ({1}) - Drucksache 15/1487 ({2}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3}) - Drucksache 15/2795 Berichterstattung: Abgeordnete Dirk Manzewski Jerzy Montag Es liegen vier Änderungsanträge der Fraktion der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach das Wort. ({4})

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Herr Präsident! Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die vorliegende Reform unseres Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb ist in einer Arbeitsgruppe beim Bundesministerium der Justiz im Dialog mit Vertretern der Wirtschaft, der Verbraucherverbände, mit Wissenschaftlern und Richtern intensiv vorbereitet worden. Wir sind uns in den Zielen weitgehend einig: Wir wollen die Stellung der Verbraucherinnen und Verbraucher stärken, das Werberecht liberalisieren und die Europatauglichkeit unseres nationalen Rechts verbessern. ({0}) - Was bedeutet das im Einzelnen, Peter? ({1}) Das neue UWG hebt Überregulierungen auf. Sommer- und Winterschlussverkäufe, Jubiläums- und Räumungsverkäufe werden nicht länger über Verbote eingeengt. Wir schaffen damit Raum für kreative Verkaufsideen. Auch künftig werden aber Sommer- und Winterschlussverkäufe möglich sein. Der Einzelhandel kann solche Verkaufsaktionen zeitlich flexibel und damit auch regional unterschiedlich gestalten und ist auch nicht wie bisher auf den Verkauf von Saisonartikeln beschränkt. Der Handel kann sich gemeinsam entscheiden, und zwar innerhalb einer Stadt oder Gemeinde, einer Einkaufsstraße oder Passage. Wir setzen auf SelbstreguParl. Staatssekretär Alfred Hartenbach lierung statt auf staatliche Reglementierung. Das Kartellrecht steht dem nicht entgegen. Das hat uns das Bundeskartellamt ausdrücklich bestätigt. Wichtig ist mir auch: Das neue UWG wird den Verbraucherschutz stärken. Wirtschafts- und Verbraucherrechte sind keine Gegensätze. Im Gegenteil: Die Aufgabe eines modernen Wirtschaftsrechts ist, beidem gerecht zu werden, ({2}) nämlich die Wirtschaft von unsinnigen Fesseln zu befreien, aber die Verbraucher dabei nicht zum Freiwild werden zu lassen. ({3}) Verbraucherinnen und Verbraucher werden in unserem Gesetzentwurf erstmals als Schutzsubjekte ausdrücklich erwähnt. Diesen Programmsatz konkretisieren wir in den Einzelbestimmungen. So wird die belästigende Werbung ausdrücklich geregelt. Ich finde es richtig, dass wir hier streng sind. Ich teile deshalb nicht die Auffassung, dass wir künftig die Telefonwerbung, die bekanntlich bereits nach geltendem Richterrecht verboten ist, erlauben sollten. ({4}) Das würde zu erheblichen Belästigungen der Verbraucher durch Telefonanrufe gerade in den Abendstunden führen. - Das haben Sie, Herr Funke, scheinbar noch nicht erlebt, weil Sie eine Geheimnummer haben. ({5}) Das sieht im Übrigen nicht nur die Bundesregierung so. In einer Umfrage des Westdeutschen Rundfunks lehnten 96,5 Prozent der Befragten unverlangte Telefonwerbung im privaten Bereich ab. ({6}) Ich möchte noch einmal festhalten: Da hier keine Verschärfung des geltenden Rechts erfolgt, kann diese Regelung schwerlich Arbeitsplätze vernichten. Die Argumente der Werbewirtschaft, die mit großformatigen Anzeigen wie dieser, die ich gerade hochhalte, gegen den Gesetzentwurf Front macht, sind schlichtweg falsch. Ich sage aus Erfahrung: Wer solche Anzeigen nötig hat, ist immer im Unrecht. ({7}) - Wir schalten nicht solche Anzeigen wie die Werbewirtschaft, sondern farblich gestaltete. Das ist etwas ganz anderes.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Staatssekretär, der Kollege von Klaeden möchte offenbar - wahrscheinlich weil er auf die Entfernung die Adresse nicht komplett lesen konnte ({0}) das im Einzelnen vorgelesen bekommen. Das ist möglich, wenn Sie ihm Gelegenheit geben, diese Bitte auch förmlich vorzutragen.

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Ich weiß zwar nicht, was er will, aber bitte.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, da Sie gerade die Minderwertigkeit eines Anliegens mit der Größe einer Anzeige in Verbindung gebracht haben, frage ich Sie: Können wir damit rechnen, dass die Bundesregierung jetzt beginnt, ihren Etat für Öffentlichkeitsarbeit zu reduzieren, oder war das eine verkappte Kritik an der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung, die ja mit ähnlich großen Anzeigen Steuermittel zum Fenster hinauswirft? ({0})

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Verehrter Herr Kollege von Klaeden, da ich heute und in den vorangegangenen Tagen häufiger hier anwesend war, weiß ich, dass Ihre Zwischenfragen nicht immer besonderen Tiefgang haben. Das gilt auch für diejenige, die Sie gerade gestellt haben. Wenn Sie zugehört hätten, dann wüssten Sie, dass ich gesagt habe: wer solche Anzeigen nötig hat. Aber wir machen schönere Anzeigen. ({0}) - Herr Präsident, darf ich noch auf den Zuruf von Herrn Gehb reagieren?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ja, Herr Staatssekretär. Wenn Sie aber schönere Anzeigen versprechen, dann müssen Sie die demnächst auch mitbringen.

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Herr Präsident, da ich Ihren scharfen Geist zu schätzen und zu achten weiß, sage ich einfach: bessere Anzeigen als diejenige, die ich hoch gehalten habe. Einverstanden, Herr Gehb? Wenn Sie die Adresse nicht mehr lesen wollen, möchte ich meine Rede fortsetzen. Eine erhebliche Verbesserung des Verbraucherschutzes bringt auch die Neuregelung des Gewinnabschöpfungsanspruchs. Wer vorsätzlich viele Verbraucher um kleine Beträge schädigt, wird den Gewinn künftig nicht behalten können. Unsere Regelung zum Gewinnabschöpfungsanspruch geht dem Handel zu weit und den Verbraucherverbänden nicht weit genug. Das ist ein sicheres Indiz dafür, dass wir in der Mitte und damit genau richtig liegen. Ein Blick auf die EU-Regelungen zeigt, dass unser neues UWG vorbildlich sein wird. In der EU sollen Wettbewerb und Verbraucherschutz in vollkommen unkoordinierten Vorschriften geregelt werden. Wir dagegen tun gut daran, beides in unserem UWG zu regeln. Wenn aber Handel und Verbraucher auf Dauer in diesem gemeinsamen Haus wohnen sollen, dann müssen sich beide, auch die Verbraucher, darin wohl fühlen. Dazu brauchen sie eigene, wohnliche Zimmer. In der EU galt unser altes UWG als antiquiert und in manchen Bereichen wie eine Zwangsjacke. Bei diesem Ruf war es für uns schwierig, im Rat Gehör zu finden. Durch diese Reform können wir uns in Europa künftig sehen lassen. Dies wird uns helfen, die notwendigen Nachbesserungen bei den anstehenden Rechtsakten der EU zu erreichen. Wir haben in der Kooperation mit allen Beteiligten einen Grundkonsens gefunden, auch und gerade bei den angenehmen Diskussionen der Berichterstatter und in den Ausschüssen dieses Hohen Hauses. Hierfür möchte ich mich bedanken, auch bei der Opposition. Herr Grosse-Brömer war da sehr hilfreich, Herr Funke ebenfalls. ({0}) - Ich habe gesagt: Sie waren hilfreich. Das ist doch gut, oder? Sie haben dazu beigetragen, dass wir nicht so entschieden haben, wie Sie es wollten. Noch größer wäre meine Freude, wenn die Opposition über ihren Schatten springen und angesichts der nur noch sehr geringen Differenzen zustimmen könnte. Da heute Abend keine Sonne scheint, gibt es keinen Schatten; der Sprung würde also nicht so schwer fallen. Vielen herzlichen Dank. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Ingo Wellenreuther, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ingo Wellenreuther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003658, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Anlass dieser Rede ist ein trauriger: Wir beerdigen heute ein weiteres Projekt von Rot-Grün, nämlich die Schaffung eines modernen Wettbewerbsrechts. ({0}) Es ist noch kein Jahr her, dass es aus dem Justizministerium hieß, Herr Ströbele: Das neue deutsche Wettbewerbsrecht soll das liberalste in ganz Europa werden. Außerdem hieß es: Deutschland als Vorreiter in Sachen freier Wettbewerb. Damit sind Sie gescheitert. Die vorliegende UWG-Novelle ist weder wirtschaftsfreundlich noch praktikabel. Deswegen lehnen wir sie ab. Seit der ersten Lesung im letzten Herbst ist es Ihnen nicht gelungen, in entscheidenden Punkten Verbesserungen vorzunehmen. Thema Telefonmarketing: Sie sind in Ihrem Gesetzentwurf bis heute bei der so genannten Opt-in-Regelung geblieben. Danach darf nur angerufen werden, wer vorher sein ausdrückliches Einverständnis gegeben hat. Auf den ersten Blick erscheint dies vernünftig, weil es verständlich zu sein scheint, dass keiner durch ungewollte Telefonanrufe belästigt werden möchte. Aber bei genauerem Hinsehen ist das kein Argument, weil dadurch eine ganze Branche aus Deutschland vertrieben wird. Wir alle wissen, wie es derzeit um die wirtschaftliche Lage in Deutschland steht: Die Zahl der Arbeitslosen steigt weiter. Dank rot-grüner Wirtschaftspolitik gibt es nur noch wenige Bereiche, die heute Wachstum versprechen und Arbeitsplätze schaffen. Einer davon sind die so genannten Callcenter. Gerade in den neuen Bundesländern haben sich besonders viele solcher Center angesiedelt. In dieser Branche gibt es deutschlandweit knapp 400 000 Arbeitsplätze. Dort wurden über 20 000 Ausbildungsplätze geschaffen. Auf der einen Seite haben Sie heute Morgen hier im Bundestag den unsäglichen Gesetzentwurf zur Ausbildungsplatzabgabe vorgestellt und auf der anderen Seite gefährden Sie durch die UWG-Novelle eine Vielzahl von Lehrstellen. Das verstehe wer will. Ich bin gespannt, Herr Hartenbach, wie Sie den Bürgerinnen und Bürgern diesen Widerspruch klar machen wollen. ({1}) Bereits heute sind viele Callcenter ins Ausland abgewandert. Mit Ihrem Gesetz werden weitere 50 000 Arbeitsplätze vernichtet. Ich kann nur sagen: Deutsches Wettbewerbsrecht als Standortnachteil. Na, bravo! Wie dramatisch die Lage wirklich ist, Herr Hartenbach, beweist eine Anzeige in der „FAZ“ von gestern, die die führenden 13 Callcenterbetreiber geschaltet haben. ({2}) - Herr Ströbele, zuhören, dann verstehen Sie es besser! Ich zitiere nur kurz: Dieses Gesetz vernichtet Ausbildungs- und Arbeitsplätze, ist keine Basis für den Übergang ins Informationszeitalter und verlagert massiv Beschäftigung ins liberalere Ausland. Dies, meine Damen und Herren von Rot-Grün, ist keine Stimmungsmache, sondern ein verzweifelter Hilfeschrei der deutschen Wirtschaft, der Sie wirklich zum Nachdenken bringen sollte. Herr Hartenbach, ich glaube, Sie müssen sich diese Anzeige noch einmal anschauen. Haben Sie eigentlich einmal verfolgt, wie die meisten unserer europäischen Nachbarn den Wettbewerb regeln? In zwölf von 15 EU-Mitgliedstaaten ist das Telefonmarketing grundsätzlich zulässig. England und Frankreich haben sich für die so genannte Opt-out-Regelung entschieden. Das heißt, wer nicht mehr mit Telefonwerbung belästigt werden möchte, kann dies im Laufe des Telefonats kundtun und darf dann nicht mehr telefonisch beworben werden. ({3}) Unsere Fraktion wäre für einen vernünftigen Kompromiss zu haben gewesen. Wir sind dafür eingetreten, dass bei bestehenden Geschäftsverbindungen Anrufe auch ohne vorherige ausdrückliche Erlaubnis gestattet sein sollen. Im Gegensatz zur Bundesregierung setzen wir auf den mündigen Bürger, der in seinen Entscheidungen frei ist. Sie haben sich für die restriktivste Regelung entschieden, mit der Begründung, dass damit nur die ständige Rechtsprechung in Gesetzesform gegossen wird. Herr Manzewski, wenn Sie, wie angekündigt, ein liberales Wettbewerbsrecht schaffen wollen, dann ist das Aufschreiben dieser deutschen Rechtsprechung allein einfach zu wenig. ({4}) Ihre weitere Behauptung, es gebe wegen des im internationalen Recht heute geltenden Marktortprinzips keinen Standortnachteil für deutsche Unternehmen, ist schlichtweg falsch. Ein englisches Unternehmen, das in Deutschland werben möchte, muss sich zwar derzeit an deutsches Recht halten - heute liegen Sie mit dieser Beurteilung also richtig -, aber die Frage ist: Was ist morgen? Der Gesetzesvorschlag von Ihnen steht im Widerspruch zu dem Vorschlag für eine europäische Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken. Diese Richtlinie enthält eine so genannte Binnenmarktklausel, nach der sich jedes Unternehmen nur an das Wettbewerbsrecht seines eigenen Landes halten muss. Wenn diese Richtlinie planmäßig im nächsten Jahr verabschiedet wird, dann können Unternehmen mit Sitz im Ausland in Deutschland unbeschränkt Telefonmarketing betreiben, während deutsche Unternehmen weiter an die Opt-in-Regelung gebunden sind. ({5}) - Sie können es nachher erklären, Herr Manzewski. ({6}) Die vorgeschlagene Richtlinie verbietet unerwünschte Telefonanrufe nur dann, wenn sie hartnäckig erfolgen. Ein erstmaliger Anruf oder ein Anruf im Rahmen bestehender Geschäftsbeziehungen, den Sie verbieten wollen, wäre nach dieser EU-Richtlinie also zulässig. Es ist nicht zu verstehen, warum Sie diese eindeutigen europäischen Vorgaben ignorieren. Es ist genauso wenig richtig, dass das Verbot von unerwünschten E-Mails, den so genannten Spams, auch zum Verbot von Telefonmarketing führen muss. Sie haben sich dabei auf die Mitteilung der Europäischen Kommission über Spams bezogen. Aber dieser Vergleich geht ins Leere. Er zeigt eigentlich ganz deutlich, dass Sie sich mit der Materie nicht intensiv auseinander gesetzt haben. Die Telefonwerbung ist in dem genannten Entwurf der EU-Richtlinie ausdrücklich geregelt. Diese Regelung ist eine speziellere. Für einen Rückgriff auf die Spam-Regelung besteht daher kein Raum. Welch seltsame Konsequenzen Ihr Entwurf haben wird, möchte ich abschließend an einem kleinen Beispiel verdeutlichen. Wenn ein Vertreter an der Haustür klingelt und der Verbraucher den Hörer der Sprechanlage abnimmt, ist das zulässiges Marketing. Wenn ein Mitarbeiter eines Callcenters anruft und der Verbraucher ans Telefon geht, dann soll das unzulässig sein. ({7}) Sie hätten diese kuriose Rechtslage ändern können - Herr Ströbele, das hätte vorausgesetzt, dass man sie überhaupt verstanden hat -, aber passiert ist nichts. Zweites Thema: Gewinnabschöpfungsanspruch. Rechtspolitisch begrüßen wir den Gedanken, dass jemand das, was er durch wettbewerbswidriges Verhalten erlangt hat, wieder herausgeben muss. Der Herr Montag hat gesagt, der Gewinnabschöpfungsanspruch sei ein scharfes Schwert zur Durchsetzung des Verbraucherschutzes. Falsch. Das Schwert ist stumpf, und zwar aus mehreren Gründen: Erstens. Warum sollten die Verbände von ihrem Klagerecht überhaupt Gebrauch machen? Wenn sie verlieren, tragen sie alle Kosten. Wenn sie gewinnen, müssen sie den Gewinn an die Staatskasse abführen. Zweitens. Der ursächliche Zusammenhang zwischen wettbewerbswidrigem Verhalten und erzieltem Gewinn kann nicht festgestellt werden. Auch die Instanzrichter müssen eine etwaige Schätzung auf Fakten stützen. Sie können nicht einfach ins Blaue hinein handeln, auch nicht über § 287 ZPO. Meine armen Kollegen bei den Instanzgerichten tun mir jetzt schon Leid. Die einzige Folge Ihrer unpraktikablen Regelung ist Rechtsunsicherheit. Zu guter Letzt lehnen wir Ihren Gesetzentwurf auch wegen der fehlenden Marktzutrittsregelungen ab. Anders als noch im Referentenentwurf vorgesehen, enthält die Novelle eine solche Regelung nicht mehr. Mittelständische Unternehmen hätten dadurch vor einer rechtswidrigen Betätigung der Kommunen - sie erschließen sich wettbewerbswidrig neue Einnahmequellen - geschützt werden können. Leidtragender ist dabei wieder einmal der Mittelstand; denn die Tätigkeit der Kommunen führt zu einer massiven Wettbewerbsverzerrung. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, mit dieser Novelle haben Sie die Chance vergeben, ein liberales und praktikables Wettbewerbsrecht zu schaffen. Trotz einiger zugegebenermaßen guter Ansätze in Ihrem Gesetz bleibt es dabei, dass gut gemeint eben nicht gut gemacht ist. Ich danke Ihnen. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile der Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/ Die Grünen, das Wort.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte auch ich mich bedanken, und zwar bei meinen Kollegen von SPD und Grünen für die gute Zusammenarbeit in puncto Querschnittsaufgabe Verbraucherschutz. Das Gesetz, das wir heute verabschieden, bringt uns beim Verbraucherschutz ein großes Stück voran. ({0}) Unternehmer erhalten ein modernes Lauterkeitsrecht, das schwarze Schafe - zu denken ist zum Beispiel an die eben erwähnten unerwünschten Telefonanrufe und lästigen Spam-Mails - eindeutig in die Ecke stellt. ({1}) Hier ist klar und unmissverständlich geregelt, dass kein Werbekontakt ohne die vorherige Einwilligung des Verbrauchers erfolgen darf. Alles andere ist und bleibt rechtswidrig. Im Gegensatz zur Opposition wollen wir dem Bürger nicht zumuten, Zeit, Geld und Nerven aufwenden zu müssen, um seine Privatsphäre zu schützen. ({2}) Es gibt die einfache Regel: Wenn ich nicht ausdrücklich auffordere oder zustimme, Werbung zu erhalten, dann sind mein Telefon, mein PC und mein Briefkasten tabu. Wir haben dieses Thema im Übrigen auch in einer Anhörung im Rechtsausschuss intensiv beleuchten lassen. Die Experten haben den Gesetzentwurf in diesem Punkt ebenfalls mehrheitlich begrüßt und uns eine redaktionelle Klarstellung für Ausnahmen empfohlen, damit zum Beispiel Kundenkontakte im laufenden Vertragsverhältnis unmissverständlich im Rahmen des UWG liegen. Dem sind wir gefolgt. Mich wundert, dass die CDU/CSU in diesem Bereich so unverblümt dem Missbrauch und, wie ich finde, einer enormen Wirtschafts- und Verbraucherschädigung Rückendeckung gibt. Ich bin gespannt, was Frau Heinen gleich dazu sagen wird. Arbeitsplätze, die auf einem solchen Missbrauch beruhen, sind auf Sand gebaut. Außerdem muss man betonen, dass diese Belästigungen und der Missbrauch des gesamten Systems wirklich wirtschaftsschädigenden Charakter haben. ({3}) Also noch einmal: Telefonmarketing ist nur mit der Zustimmung des Kunden erlaubt. Auch der Gewinnabschöpfungsanspruch, besser gesagt, der Anspruch auf die Abschöpfung von unrechtmäßig erzielten Gewinnen, ist noch einmal auf seine Praktikabilität hin überprüft worden. Der neu geregelte Anspruch kann von den Verbraucherverbänden in Zukunft geltend gemacht werden, wenn jemand vorsätzlich gegen das UWG verstößt und dadurch Gewinne anhäuft. Bei Werbefaxen - ein typisches Beispiel übrigens -, die mittlerweile zu Dutzenden täglich dazu auffordern, über eine kostenpflichtige Nummer die Zusendung wieder abzubestellen, ist der Schaden des Einzelnen möglicherweise gering; der Gesamtgewinn des Werbenden aber summiert sich bei hunderttausendfach verschickten Faxen beachtlich. Neben dem Recht auf Unterlassungsklage haben Verbraucherorganisationen nun also eine weitere Möglichkeit, gegen diese Rechtsverstöße vorzugehen. Wir haben festgestellt, dass das Verfahren noch etwas vereinfacht werden kann, allerdings nicht in der Art und Weise, wie es uns die FDP in ihren Änderungsanträgen empfiehlt. ({4}) Die Abschöpfung von unrechtmäßig erzielten Gewinnen hat - das muss man noch einmal sagen - keinen Strafcharakter. Der Gewinn, der dem Unternehmen wegen rechtswidrigen Verhaltens nicht zusteht, wird wieder weggenommen. Das ist noch keine Strafe; die würde erst danach kommen. Mit der Abschöpfung von unrechtmäßig erzielten Gewinnen wird lediglich der Anreiz genommen, vorsätzlich gegen das UWG zu verstoßen. Damit hat diese Regelung eine präventive Wirkung und das ist im Grunde auch beabsichtigt. Dieses Verfahren kann in bewährter Weise durch Verbraucherverbände und die anderen berechtigten Einrichtungen eingeleitet werden. Dass die FDP hier auf einmal den staatlichen Eingriff fordert, verwundert doch sehr. Die unrechtmäßig erzielten Gewinne sollen direkt an den Bundeshaushalt abgeführt werden. Auch das ist eine Vereinfachung. Zudem wird das Merkmal „auf Kosten einer Vielzahl von Abnehmern“ durch das Tatbestandsmerkmal „zulasten einer Vielzahl von Abnehmern“ ersetzt. Dadurch soll klargestellt werden, dass der Anspruch auf Abschöpfung von unrechtmäßig erzielten Gewinnen nicht die Ermittlung von einzelfallbezogenen Nachteilen voraussetzt. Vielmehr ist es ausreichend, dass durch die Zuwiderhandlung eine Schlechterstellung bei einer Vielzahl von Abnehmern eingetreten ist. Die letzte wichtige Änderung, die wir mit den Kollegen dankenswerterweise erzielen konnten: Menschenverachtende Werbung ist auch weiterhin eine Unlauterkeitshandlung und daher ausdrücklich verboten. Der hohe Rang der menschlichen Würde, die durch Art. 1 des Grundgesetzes geschützt ist, erfordert ihre Achtung und Wahrung auch im Wettbewerb. Wettbewerbshandlungen sind dann menschenverachtend, wenn sie dem Betroffenen durch Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung oder durch andere Verhaltensweisen seinen Achtungsanspruch als Mensch absprechen. Wir haben mit den Regelungen im Rahmen dieser Novelle klargestellt, dass wir diese Art von Werbung nicht dulden. Mit diesen Änderungen - sie betreffen auch andere Bereiche, nicht nur den Verbraucherschutz - wird das vorliegende Gesetz eine runde Sache, die auch für Europa vorbildlich ist. Unlautere Geschäftspraktiken treffen Konsumenten und Mitbewerber gleichermaßen. Hier muss es - auch Sie haben es angesprochen - europaweite Regelungen geben. Dafür werden wir uns einsetzen. Denn Wettbewerb macht vor den Grenzen nicht halt. Danke schön. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Rainer Funke, FDPFraktion.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Liberalisierung des Lauterkeitsrechts ist eine alte Forderung der FDP, aber auch der Wirtschaft und des Handels. Wir freuen uns daher, dass das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb novelliert wird, nachdem wir schon zu der Zeit der alten Regierung im Jahr 1996 entsprechende Anstöße gegeben haben. ({0}) Herr Kollege Hartenbach, Sie haben völlig Recht: Unser altes UWG-Recht ist antiquiert und muss deswegen novelliert werden. ({1}) Ihr Gesetz jedoch hat Licht und Schatten. ({2}) Ich will zunächst auf das Licht eingehen. Die bisherigen starren Regelungen im Hinblick auf Schlussverkäufe, Jubiläums- und Räumungsverkäufe fallen weg. Zukünftig soll es jedem Händler erlaubt sein, wann immer er will, eine Sonderaktion durchzuführen. ({3}) Die FDP begrüßt diese neue Regelung ausdrücklich. Sie entspricht den Vorstellungen einer liberalen Marktordnung. Hiervon werden insbesondere die Verbraucherinnen und Verbraucher profitieren. Wichtig war uns, dass die Händler auch weiterhin die Möglichkeit haben, sich zur Durchführung von Sonderveranstaltungen zusammenzuschließen. Ich komme nun zum Schatten. Zu den Verlierern des neuen Wettbewerbsrechts gehören die Anbieter von Telefonwerbung. Was in Europa fast überall erlaubt ist, bleibt in Deutschland verboten. Es sei denn, es liegt ein Einverständnis vor. Der deutsche Sonderweg bei der Telefonwerbung schwächt Wachstumspotenziale und gefährdet Arbeitsplätze, ({4}) auch und gerade in den neuen Bundesländern, wo sich besonders viele Callcenter angesiedelt haben. Dabei handelt es sich um Arbeitsplätze, die sich im Übrigen hervorragend für eine Teilzeitbeschäftigung eignen und deshalb unter dem Gesichtspunkt der Vereinbarkeit von Familie und Beruf insbesondere für Beschäftigte mit Kindern interessant sind. Der deutsche Sonderweg bei der Telefonwerbung ist ein weiteres Beispiel für die mittelstandsfeindliche und arbeitsplatzvernichtende Politik von Rot-Grün. ({5}) Er ist ein Beitrag - das gebe ich zu - zum Aufbau Ost, nämlich zum Aufbau in Warschau und Prag. Vielleicht sorgt er auch für einen Aufschwung in Luxemburg und Irland. Unternehmen werden sich nämlich dort ansiedeln, wo Telefonwerbung erlaubt ist. Nach dem Herkunftslandprinzip können sie dann von dort aus ungestört mit dem deutschen Verbraucher in Kontakt treten. Lieber Herr Hartenbach, wenn Sie ins Hamburger Telefonbuch schauen, werden Sie darin den Namen Rainer Funke finden. Jeder kann mich anrufen: jeder Bürger und natürlich jeder Staatssekretär. Als mündiger Verbraucher bin ich Manns genug, einen Anruf abzuweisen. ({6}) - Mein Name steht doch schon jetzt im Telefonbuch. Mich kann jeder erreichen. Unterstützen Sie also unser Bemühen, diese Telefonwerbung wenigstens in eingeschränktem Umfang zu erhalten! Entsprechende Änderungsanträge liegen Ihnen vor. Unterstützen Sie uns ferner in unserem Bemühen, den Gewinnabschöpfungsanspruch aus dem UWG zu streichen! Der Gewinnabschöpfungsanspruch führt zu einem nicht akzeptablen Eingriff in den Markt. Unter dem Vorwand des Verbraucherschutzes räumt Rot-Grün den Verbraucherschutzverbänden Rechte ein, die dem deutschen Recht bisher aus gutem Grund fremd waren und uns eher aus der amerikanischen Rechtsordnung mit ihren exzessiven Schadensersatzprozessen bekannt sind. Marktteilnehmer werden unzumutbaren Prozessrisiken ausgesetzt, ohne dass der Verbraucher irgendeinen Vorteil hätte. Der Gewinnabschöpfungsanspruch liegt allein im Verbandsinteresse und im Haushaltsinteresse des Bundes. ({7}) Derartige Interessen haben im UWG nichts zu suchen. Der Gewinnabschöpfungsanspruch begegnet deshalb schwer wiegenden rechtssystematischen Bedenken. Lassen Sie mich zum Schluss zum unfairen Wettbewerb von Kommunen kommen. Unter dem Deckmantel der Daseinsvorsorge stoßen Kommunen in immer neue Geschäftsfelder vor: in das Friedhofswesen, den Straßenbau und in viele andere Bereiche. Leidtragende dieser Entwicklung sind insbesondere kleine und mittlere Betriebe im Mittelstand und im Handwerk, ({8}) die weder über eine garantierte Finanzausstattung noch über günstige Finanzierungsmöglichkeiten verfügen ({9}) und zudem einem permanenten Insolvenzrisiko unterliegen. Nach geltendem Recht haben die Unternehmen praktisch keine Möglichkeit, sich gegen diesen unfairen Wettbewerb zu wehren.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Funke, Sie denken an Ihre Redezeit?

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, nur noch wenige Sätze, wenn ich darf. Das UWG wäre ein geeigneter Ort gewesen, diesen hemmungslosen erwerbswirtschaftlichen Betätigungen der Kommunen eine enge Grenze zu setzen. Im Übrigen: Die Regierung war damit einverstanden. Sie wollte diese Betätigungen nur nicht hier geregelt haben. Aber das ist eine faule Ausrede; denn gerade diese gehören in das Wettbewerbsrecht. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die letzte unvermeidliche Beschimpfung der Bundesregierung war entschieden außerhalb der Redezeit. ({0}) Dafür hat nun das Wort der Kollege Dirk Manzewski für die SPD-Fraktion. ({1})

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute abschließend über die Reform des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb. Streitig sind, auch wenn das hier anders dargestellt worden ist - ich denke dabei an die Rede des Kollegen Funke oder an die Rede des Kollegen Wellenreuther -, allenfalls vier Punkte. Deswegen braucht man, wenn man Ihre Kritik übernimmt, auch wenn sie mit der Sache nichts zu tun hat, nicht wie üblich den Untergang des Abendlandes an die Wand zu malen. Zum einen geht es um die Frage - das ist hier angesprochen worden -, wie wir zukünftig in Deutschland mit Telefonmarketing umgehen. Die Bundesregierung hat sich insoweit für die so genannte Opt-in-Regelung entschieden. Das heißt, Telefonwerbung darf nur nach vorherigem Einverständnis mit dem Empfänger erfolgen. Ich halte das anders als Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, für richtig - und dies nicht nur deshalb, weil die Bundesregierung damit der heute geltenden Rechtsprechung folgt. Schon heute ist anderes verboten. Für die Rechtsprechung stellen nämlich unaufgeforderte private Telefonanrufe zur Werbung oder zur Geschäftsanbahnung einen groben Missbrauch durch unkontrollierbares Eindringen in die häusliche Sphäre dar und sind deshalb verboten. ({0}) Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land - einige sitzen ja heute im Zuschauerbereich - können froh sein, dass das so ist. Wenn man Ihnen folgen würde, wäre die Konsequenz, dass man zu jeder Tages- und Nachtzeit Anrufe bekommen würde, um mit mehr oder weniger frohen und unsinnigen Werbebotschaften und Angeboten beglückt zu werden. Die Bürgerinnen und Bürger wären dem hilflos ausgeliefert; ({1}) denn sie wissen ja nicht, wer sie anruft, und sind quasi gezwungen, zunächst das Telefonat anzunehmen, gleich wo sie sich gerade befinden und womit sie sich gerade beschäftigen. Wenn erst einmal ein Unternehmen damit angefangen hat, dann wird sich dies ausweiten. Denn andere Unternehmen werden spätestens dann nachziehen müssen, wenn sie Verluste beim eigenen Marktanteil hinnehmen müssen. Darauf, dass man sich in diesem Zusammenhang insbesondere die schwächeren Marktteilnehmer heraussuchen wird und bei dieser Art von Werbung die größeren Unternehmen den kleineren Unternehmen gegenüber klar im Vorteil sind, will ich nicht weiter eingehen. Im Übrigen - das ist hier nicht richtig deutlich geworden - sind Anrufe nicht völlig ausgeschlossen. Das muss nur vorher ausdrücklich vereinbart werden. In einem Vertrag kann geregelt sein, dass Anrufe erlaubt sind. Auch Anrufe im mutmaßlichen Interesse sind möglich. Wenn zum Beispiel eine Gesetzesänderung durch den Bundestag Einfluss auf einen LebensversicherungsDirk Manzewski vertrag hat, kann der Lebensversicherer selbstverständlich bei seinem Kunden anrufen und ihn darauf hinweisen, dass eine Anpassung des Vertrages möglich ist. Das geht. ({2}) - Natürlich nicht die Konkurrenz. Das wollen wir auch nicht. ({3}) Wir wollen nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger zu jeder Tages- und Nachtzeit mit solchen Werbeanrufen belästigt werden. Wie Sie das anders sehen können, kann ich nicht begreifen. ({4}) Meine Damen und Herren, dass das alternativlos ist, zeigt im Grunde genommen schon Ihr eigener Vorschlag. Sie präferieren die so genannte Opt-out-Lösung. Das heißt, die Unternehmen dürfen nach Belieben anrufen. Derjenige, der dies nicht möchte, muss sich in eine so genannte Robinsonliste eintragen lassen. Wer sich darin eintragen lässt, wird angeblich nicht angerufen. ({5}) Aber wer führt diese Robinsonliste? Wer bringt sie immer wieder auf den neuesten Stand? Dabei meine ich nicht nur Neuanmeldungen, sondern auch Adressen- und Namensänderungen. Das sind alles ungeklärte Fragen. ({6}) - Man merkt, wie nervös Sie werden, weil Sie dagegen nicht vernünftig argumentieren können. Entscheidend ist aber Folgendes: Was passiert, wenn ein Unternehmen sich einfach nicht an diese Robinsonliste hält, wenn es gleichwohl die hierin festgehaltenen Personen anruft? Hier wird relativ schnell deutlich, dass die Robinsonliste überhaupt keine Verbindlichkeit hat. Dementsprechend hätte ein solches Vorgehen keine Konsequenzen für die Unternehmen. Weil dies so ist, stellt sie keine annehmbare Alternative zum Gesetzentwurf dar. ({7}) Wie wenig Erfolg dieser Vorschlag verspricht, ergibt sich im Übrigen aus Folgendem: Die Werbewirtschaft hat uns schriftlich mitgeteilt, dass es bei einem gesetzlichen Telefonmarketingverbot zu einem Abbau von Arbeitsplätzen kommen werde. Aber dies kann nur der Fall sein, wenn schon heute Menschen in einem Bereich arbeiten, der verboten ist. Denn solche Anrufe sind bereits verboten, ({8}) wenn auch bislang nur durch die Rechtsprechung. Wer sich heute schon nicht an die Rechtsprechung hält und derart unerlaubt wirbt, der wird sich erst recht nicht an eine unverbindliche Robinsonliste halten. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Manzewski, jetzt möchten gleich mehrere Kollegen Zusatzfragen stellen. ({0}) Zunächst der Kollege Gehb.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Manzewski, habe ich richtig in Erinnerung, dass Sie bei Forderungen der Opposition, Tatbestände - etwa Graffiti - unter Strafe zu stellen, häufig gesagt haben, das habe gar keinen Sinn, weil man der Täter sowieso nicht habhaft werden könne? ({0}) Wie erklärt sich Ihre spontane Sucht nach Bestrafung im Vergleich zu Ihrer Haltung, wenn man nachts die Häuser vollgespritzt bekommt? ({1})

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Was? - Ich habe offen gestanden nicht verstanden, Kollege Gehb, was das mit meinem Vortrag zu tun hat.

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Er hat es nicht verstanden, Herr Präsident; dann wiederhole ich die Frage. ({0})

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne. ({0})

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Habe ich richtig verstanden, dass Sie in der Vergangenheit häufig Forderungen der Opposition nach Bestrafung bestimmter Tatbestände mit dem Einwand begegnet sind, die Strafbewehrung - materielles Recht - bringe nichts, weil man der Täter im Verfolgungswege kaum habhaft werden könne, so etwa beim Graffiti?

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Worin sehen Sie den Unterschied zwischen der Verfolgung etwa von Graffititätern und der Verfolgung von Leuten, die einen nachts oder wann auch immer anrufen? ({0}) Können Sie mir das erklären?

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das habe ich immer noch nicht verstanden. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? ({0}) - Die Frage war so dämlich, Kollege Gehb, dass man sie nicht verstehen konnte. Nächste Frage.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun möchte der Kollege Rossmanith eine Frage stellen.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, selbstverständlich.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön. ({0}) - Es hilft nicht weiter, wenn der Präsident die Frage verstanden hat, Herr Schauerte. Das muss schon zwischen dem Fragesteller und dem Redner abgewickelt werden. ({1}) Bitte schön, Herr Rossmanith.

Kurt J. Rossmanith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001887, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Manzewski, halten Sie die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes für so unfähig, ({0}) dass sie nicht in der Lage sind, den Telefonhörer schlicht und einfach wieder aufzulegen? ({1})

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Darf ich diese Frage beantworten, liebe Kolleginnen und Kollegen? - Das ist genau das Problem, das ich angesprochen hatte. Darum geht es meiner Auffassung nach nicht. Natürlich können die Bürger entsprechend reagieren. Aber in jeder Situation - wo immer sie sich gerade befinden, zu jeder Tages- und Nachtzeit - sind sie erst einmal gezwungen, sich zum Telefon zu begeben und das Telefonat anzunehmen. Sie müssen sich das einfach einmal vorstellen. Das passiert nicht nur einmal am Tag, sondern mehrfach. Genau diese Situation hat der Bundesgerichtshof als nicht hinzunehmendes Eindringen in die Privatsphäre bezeichnet. Diese Einschätzung teile ich; das sehe ich genauso wie der Bundesgerichtshof. ({0}) Ich folge mit meiner Auffassung der ständigen Rechtsprechung dazu. ({1}) Mich wundert im Übrigen schon sehr, liebe Kolleginnen und Kollegen, wie sehr sich die Opposition andererseits für das Spam-Verbot einsetzt, also gegen die Werbung mittels elektronischer Post. Das wundert mich sehr, weil die elektronische Post bei weitem nicht so weit in die Privatsphäre eingreift wie eben Telefonate. Auf eine SMS-Mitteilung oder eine E-Mail brauche ich nicht immer gleich zu reagieren; ich kann sie mir gegebenenfalls noch später anschauen oder brauche sie mir, wenn ich nähere Erkenntnisse über den Adressaten habe, auch gar nicht anzuschauen. Wenn allerdings das Telefon klingelt - damit gehe ich noch einmal auf Ihre Frage ein, Herr Kollege Rossmanith -, sieht das völlig anders aus: Ich bin gezwungen, den Anruf erst anzunehmen, um festzustellen, wer am anderen Ende ist. Da sehe ich schon einen erheblichen Unterschied. Wie sehr die Wirtschaft darunter leidet, ergibt sich nicht zuletzt aus der aktuellen Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament über unerbetene Werbenachrichten. Das ganz große Problem ist, dass sich in der Regel nicht die seriösen Unternehmen dieses Mediums bedienen, sondern eher die unseriösen Unternehmen. Gerade bei Spam ist es mittlerweile sogar so, dass die seriösen Unternehmen Angst davor haben. Sie sagen: Das Medium gerät in ein derart schlechtes Licht, dass wir mit unserem seriösen Verhalten dort gar keine Marktchancen mehr haben. Wenn Sie auf die Situation im europäischen Ausland aufmerksam machen, wo dies tatsächlich laxer gehandhabt wird, dann kann ich Ihnen nur eines sagen: Man muss nicht jeden Unsinn, der in anderen Ländern gemacht wird, mitmachen, Herr Kollege Wellenreuther. Wenn Sie auch noch sagen, die entsprechende Richtlinie zum UWG handhabe das anders, dann muss ich Ihnen entgegnen: Die Richtlinie, die Sie angesprochen haben, geht von einer Vollharmonisierung aus. Einer Vollharmonisierung steht jedoch immer noch Rom II entgegen. Wenn wir nicht zu einer Vollharmonisierung kommen, wird bei uns auch nicht das Herkunftsprinzip gelten. Wie vorsichtig - das ist ganz interessant, weil Herr Kollege Schauerte gleich noch redet - man mit Liberalisierungen im Wettbewerbsrecht umgehen muss, zeigt im Übrigen der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, nämlich die Abschaffung von Sommer- und Winterschlussverkauf. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie sehr hat uns die Wirtschaft noch in der letzten Legislaturperiode immer wieder dazu gedrängt, so schnell wie möglich Rabattgesetz und Zugabeverordnung abzuschaffen! Mittlerweile hat sich das Bild ein wenig geändert; denn insbesondere beim Einzelhandel hat man feststellen müssen, dass der Bürger trotz vermeintlicher Billigangebote nur das ausgeben kann, was er im Portemonnaie hat, dass die Großen mehr davon profitieren als die Kleinen und dass Geiz nicht immer geil sein muss. Die Bürger werden zurzeit derart mit Rabattaktionen überfrachtet, dass sich die hiervon versprochenen Effekte für die Wirtschaft nicht ergeben haben. Ganz im Gegenteil, liebe Kolleginnen und Kollegen: Meiner Auffassung nach sind die Verbraucher eher verunsichert. Ich hatte seinerzeit erhebliche Probleme damit, genauso wie der Kollege Schauerte am Anfang, ich bin aber als Jurist für eine stringente Regelung. Nach Aufhebung von Rabattgesetz und Zugabeverordnung machen Sommer- und Winterschlussverkauf einfach gar keinen Sinn mehr, schon allein deshalb nicht, weil anders als früher kurz zuvor zum Beispiel mit einem Vorsommerschlussverkauf oder einer wie auch immer gearteten ähnlichen Rabattaktion geworben werden darf. Dies hat nicht zuletzt der letzte Winterschlussverkauf mit seinen schlechten Ergebnissen gezeigt. Sommer- und Winterschlussverkauf - das hat die Anhörung ergeben - würden einzig noch eine kostenlose Werbung für den Einzelhandel darstellen. Das kann nicht Sinn und Zweck des UWG sein. Streitig ist des Weiteren noch die Frage nach dem so genannten Gewinnabschöpfungsanspruch. Bei unlauteren Wettbewerbshandlungen gibt es bislang nur die Möglichkeiten einer Unterlassungsklage oder einer Klage auf Schadenersatz. Insbesondere in den Fällen, in denen eine Vielzahl von Abnehmern nur zu jeweils kleinen Beträgen geschädigt worden ist, kam es oft zu dem unbefriedigenden Ergebnis, dass der unlauter Handelnde den hieraus gezogenen Gewinn behalten durfte. Dies kann eigentlich niemand ernsthaft wollen, zumal sich der Anspruch nur gegen vorsätzlich Handelnde richten soll. Soweit die Opposition die Gewinnermittlung für problematisch erachtet, teile ich diese Bedenken, die ich anfangs auch etwas hatte, nicht mehr. Ich bin insbesondere nach der Befragung des Vertreters des Bundesgerichtshofs in der Sachverständigenanhörung zu dem Ergebnis gekommen, dass dies meinen Kolleginnen und Kollegen aus der Rechtsprechung keine Probleme bereiten wird. Eine Gewinnermittlung ist insbesondere dem BGB ja nun auch nicht völlig unbekannt; ich erinnere an § 721 und § 252 BGB. Einen Strafrechtscharakter vermag ich auch nicht zu erkennen, da hier kein Strafausspruch erfolgt, sondern lediglich die Herausgabe des widerrechtlich Gewonnenen verlangt wird. Wenn kritisiert wird, dass sich der Bund dabei etwas zuschustere, muss man ganz klar sagen: Da sind wir auf die Ergebnisse der Anhörung eingegangen; das war am Anfang im Gesetz ganz anders geregelt. Von den Sachverständigen ist der Vorschlag gekommen, dass diese Gelder - anders, als es geplant war - nicht den Verbänden, sondern dem Bund zufließen sollen. Sie werden mir Recht geben, dass das die breite Meinung in dem Sachverständigenkollegium war. Ich halte den Gewinnabschöpfungsanspruch für praktikabel und richtig. ({2}) Zuletzt ist von den Vertretern der Opposition gerügt worden, dass im UWG keine Aussage zum wirtschaftlichen Handeln der öffentlichen Hand gemacht wird. Ich meine, dass das UWG allgemeinverbindlich zu sein hat und eine Lex, die die öffentliche Hand betrifft, deshalb nichts im UWG zu suchen hat. Meine Damen und Herren, ich meine, dass der Bundesregierung mit diesem Gesetzentwurf ein guter Entwurf gelungen ist. ({3}) Ihre Kritik ist marginal und beschränkt sich auf wenige Punkte. Wie Sie meiner Rede entnommen haben, sind Ihre Argumente auch nicht besonders stichhaltig. ({4}) Deshalb fordere ich Sie auf, ({5}) dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zuzustimmen. ({6}) Wir jedenfalls werden das tun. Ich danke Ihnen. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Ursula Heinen, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Ursula Heinen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das tue ich aber mit ganz besonderem Vergnügen, weil so viele Fragen offen geblieben sind. Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Bundesregierung wollte bei der Reform des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb auch EU-Recht beeinflussen und hierfür ein Vorbild schaffen. ({0}) Das ist ein Ziel, das wir durchaus unterstützen. Wir haben immer wieder gesagt, dass das eine gute Idee ist, damit wir in Deutschland einmal Vorreiter für die Rechtsetzung auf europäischer Ebene sind. Wir brauchen - darüber sind wir uns sicherlich alle einig - eine grenzübergreifende Harmonisierung des Lauterkeitsrechts. Aber die Antwort auf eine Frage sind Sie völlig schuldig geblieben, obwohl verschiedene Kollegen, zum Beispiel Herr Funke oder Herr Wellenreuther, diese Frage aufgeworfen haben: Wie vereinbaren Sie zum Beispiel beim Telefonmarketing unsere UWG-Regelung mit der Binnenmarktklausel und der Rechtsetzung im jeweiligen Herkunftsland? Sprich: Nach der Binnenmarktklausel soll bei Wettbewerbsverstößen - so ist es geplant - das Herkunftslandprinzip gelten. Das heißt, dass ein Unternehmen aus dem Ausland bei uns in Deutschland anrufen darf. ({1}) In Deutschland gilt der Bezug auf den Marktort, also das Recht des Angerufenen. Wie wollen Sie diese Regelungen miteinander verbinden? Wie wollen Sie, wenn die Binnenmarktklausel gilt, verhindern, dass die Unternehmen tatsächlich, wie es manche Kollegen gesagt haben, vom Ausland aus bei uns in Deutschland anrufen, weil sie das nach dem EU-Recht dürfen? Die Antwort auf diese Frage sind Sie schuldig geblieben. ({2}) Daher kann ich Ihnen vorhersagen, dass die von Ihnen vorgesehene UWG-Bestimmung eine Haltbarkeit von gerade einmal einem halben Jahr haben wird. Das war Punkt eins. ({3}) Punkt zwei. Jetzt komme ich auf den Inhalt Ihres Entwurfs zu sprechen. Beim Thema Telefonmarketing zeigt sich Ihre gesamte Denkweise, was Sie vom Verbraucher halten und wie er Ihrer Meinung nach geschützt werden muss. In der Tat scheint es eine gute Idee zu sein, zu sagen, dass die Verbraucher nicht angerufen werden dürfen, das Telefonmarketing also - bis auf laufende Geschäftsbeziehungen - ganz zu verbieten. Allerdings muss man dann festlegen, wann es sich um eine laufende Geschäftsbeziehung handelt. Handelt es sich also um keine laufende Geschäftsbeziehung, wenn man sie erst vor ein paar Wochen eingegangen ist, sodass man nicht angerufen werden darf? Oder gilt das erst bei längeren Zeiträumen? Das ist mir nicht ganz klar. Wir haben vorgeschlagen, eine modifizierte Opt-inRegelung einzuführen. Es wäre in der Tat überhaupt kein Problem gewesen, sie in Art. 7 aufzunehmen ({4}) und festzulegen: Wenn ein Unternehmen die elektronische Adresse und die Telefonnummer eines Kunden bekommen hat, darf es ihn auch anrufen. Ich verstehe nicht, warum man diesen Zusatz nicht eingefügt hat. Das wäre eine Opt-in-Regelung gewesen, die eine Ausnahme ermöglicht. Das wäre gegenüber der Wirtschaft und den Verbrauchern fair gewesen. ({5}) Welche Regelung besteht jetzt? Nach Ihrem Vorschlag darf beispielsweise die Firma Mercedes-Benz keinen BMW-Kunden mehr anrufen, ({6}) weil es sich hierbei nicht um eine laufende Geschäftsbeziehung handelt. Aber wie sieht es beim Thema Wahlwerbung aus, die natürlich gesondert geregelt wird? Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, dürfen meine mutmaßlichen Wähler belästigen. ({7}) Ich finde, Sie müssten auch dem einen Riegel vorschieben. Wieso darf die SPD meine Leute anrufen, aber Mercedes-Benz die BMW-Kunden nicht anrufen? Ich muss sagen: Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. ({8}) Wenn Sie glauben, dass Ihre Anrufe die Leute nicht nerven, dann ist Ihnen nicht zu helfen. Tatsächlich gehen Ihre Vorstellungen an der Lebenswirklichkeit vorbei. ({9}) Ich kann Sie nur herzlich auffordern, sich noch einmal anzuschauen, was Sie da angerichtet haben, und zu versuchen, unseren Vorschlägen, die auch von der Wirtschaft unterstützt werden, entgegenzukommen. Wir kümmern uns um die Verbraucher, wir kümmern uns aber auch um die Wirtschaft, weil es um den Ausgleich der Interessen beider geht. ({10}) Ich will noch etwas zu den E-Mails sagen: Ich glaube, Sie haben nicht ganz begriffen, warum Firmen anrufen. Sie rufen doch nicht an, um die Leute zu belästigen; ({11}) sie wollen Kunden werben. Es gibt einen Unterschied zwischen automatisierten E-Mails bzw. Faxen und persönlichen Anrufen über Callcenter; ({12}) das sollten Sie bei Ihren Überlegungen beachten. ({13}) Ich wette mit Ihnen heute hier, dass wir, wenn die Binnenmarktklausel, das EU-Recht kommt, wir wieder hier sitzen müssen, um das UWG zu überarbeiten - wie alles, was Sie hier in diesem Hause durchpeitschen. Danke schön. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Hartmut Schauerte für die CDU/CSU-Fraktion.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will drei Punkte noch einmal kurz ansprechen; denn eigentlich beschäftigen wir uns mit einer Materie, bei der man sich nicht streiten muss, wenn guter Wille auf allen Seiten da ist. Das eine ist das Thema Gewinnabschöpfungsanspruch. Sie haben ja nachgebessert - Sie haben selber erkannt, dass Ihre ersten Entwürfe viel zu weit gingen und bestimmten Klagen und Fehlentwicklungen Tür und Tor geöffnet hätten -, eine Beschränkung auf Vorsatz vorgenommen und verfügt, dass der abgeschöpfte Gewinn an eine staatliche Stelle abzuführen sei. Die Regelung ist aber sehr kompliziert. Immer noch besteht ein hohes Interesse, zu klagen. Wir haben eine einfachere Regelung vorgeschlagen: Die Gewinnabschöpfung soll das Kartellamt vornehmen; der Fall soll beim Kartellamt landen. Das ist ein absolut handhabbarer Weg: Keiner muss Angst haben, dass seine Geschäftsgeheimnisse, seine kalkulatorischen Grundlagen vor einer staunenden Öffentlichkeit ausgebreitet werden. Das Kartellamt kennt die Fälle und die Probleme ohnehin; das wäre einfach zu handhaben gewesen und vernünftig. Sie haben sich dem nicht beugen können, weil Sie Ihren Verbraucherverbänden etwas Geschmäckle machen wollten, ein eigenes geschäftliches Interesse, permanent solche Klagen anzustrengen. Wir sagen: Vorsicht! Wir wollen keine amerikanischen Verhältnisse im Wettbewerbsrecht. Sie alle wissen, wie das die Wirtschaft lähmen kann, zu welchen abstrusen Entwicklungen das führen kann, wie fehlgesteuert reine Geldinteressen sind, wie Abmahnvereine ihr Unwesen entwickeln, sodass man nicht mehr zum normalen Wirtschaften kommt. Deshalb ist unsere Empfehlung: Ändern Sie Ihre Position an der Stelle noch einmal und öffnen Sie sich unseren Vorschlägen! Ansonsten werden wir es ändern, wenn wir regieren. Wir halten Ihren Weg für falsch. ({0}) Der zweite Punkt ist das Sonderveranstaltungsrecht. Wir haben das Rabattgesetz Gott sei Dank gemeinsam abgeschafft. Der Wunsch nach der Durchführung von Sommer- bzw. Winterschlussverkäufen ist jetzt problematisch. Deswegen haben wir uns dem nicht geöffnet, auch wenn die Verbände das gefordert haben. Klar sein muss aber - das hätte man etwas klarer machen können, wenn man es in die Begründung aufgenommen hätte -, dass die Verbände gemeinsam einen Sommer- oder einen Winterschlussverkauf oder allgemein einen Schlussverkauf für eine Region und für eine bestimmte Zeit verabreden können. Was natürlich nicht sein darf, sind Preisvereinbarungen. Es gibt ein berechtigtes Interesse des Handels, solche Vereinbarungen treffen zu können. Aber diesbezüglich ist Ihr Gesetzentwurf unserer Meinung nach nicht klar genug formuliert. Nach dem, was ich höre, will sich das Bundeskartellamt vernünftig verhalten, von den Länderkartellbehörden droht aber das eine oder andere. ({1}) Wenn es in der Begründung etwas klarer formuliert worden wäre, hätten wir dieses Problem lösen können. ({2}) Ich will einen dritten Punkt benennen, der heute noch gar nicht angesprochen worden ist, den wir allerdings unter Mittelstandsgesichtspunkten für sehr wichtig halten. Wir hatten mit einer Reihe von Verbänden darum gebeten, die wirtschaftliche Betätigung von Kommunen im UWG-Recht mit zu erfassen. In der jetzigen Fassung sieht § 3 Nr. 11 vor, das Marktverhalten im Interesse der Marktteilnehmer zu regeln. Wir wollten, dass „oder den Marktzutritt“ hinzugefügt wird. Was verbirgt sich hinter dieser schlichten Formulierung? Sie wissen, dass wir unendlich viele Abgrenzungsprobleme haben und in wachsendem Maße bekommen werden, was öffentliche Hände wirtschaftlich tun sollen und was die Privatwirtschaft tun soll. In vielen Ländergesetzen wurde beschlossen, was die öffentlichen Hände in Form von wirtschaftlicher Betätigung nicht tun sollen. Wir wollen mit diesem kleinen Zusatz an unser Bestreben erinnern, dass sich alle an diese Landesgesetze halten. Wir müssen es an irgendeiner Stelle ahnden und unter Strafe stellen, wenn dies nicht geschieht. Eigentlich ist an die SPD die Frage zu stellen: Warum wollt ihr nicht, dass ein Gesetz, das ihr selber auf Bundes- oder auf Landesebene beschlossen habt, anschließend auch ernsthaft beachtet und eingehalten wird? Nur um diese Frage ging es. Ihrer Klärung haben Sie sich verweigert; das ist schade. Wir werden deswegen eine Reihe weiterer Prozesse führen müssen. Sie alle kennen die Abgrenzungsprobleme, die vermeidbar gewesen wären. Wenn man einen eindeutigen Hinweis darauf ins Gesetz geschrieben hätte, hätte jeder, auch jeder Kämmerer, gewusst, worauf er zu achten hat; denn die Marktzutrittsregelungen sind genauso ernsthafte Wettbewerbsund Lauterkeitsregeln wie die Marktverhaltensregelungen. Eigentlich gehört das sinnvollerweise zusammen. Hier lagen die Unterschiede. 80 oder 90 Prozent dessen, was jetzt vorliegt, ist vernünftig; das haben wir gemeinsam entwickelt. Da es beim Rest an Vernunft bei Ihnen gefehlt hat - das ist, gemessen an Ihren sonstigen Gesetzgebungsvorhaben, eine ausgesprochen kleine Defizitquote -, können wir nicht zustimmen. Dafür werden Sie sicherlich Verständnis haben. Herzlichen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb auf der Drucksache 15/1487. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/2795, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Dazu liegen vier Änderungsanträge der FDP-Fraktion vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 15/2852? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 15/2853? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch dieser Änderungsantrag ist abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 15/2854? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Ich ahne, was mit dem vierten Änderungsantrag auf Drucksache 15/2855 passiert. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Es reicht nicht; der Änderungsantrag ist abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Cajus Caesar, Peter H. Carstensen ({0}), Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Urwaldschutz durch nachhaltige Holz- und Forstwirtschaft stärken - Drucksache 15/2747 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt eine halbe Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Kollegen Cajus Caesar das Wort. ({2}) - Wenn ich „Julius“ gesagt hätte, könnte er meinen, er hätte noch zusätzliche Redezeit. Davon kann keine Rede sein. Bitte schön, Herr Kollege.

Cajus Julius Caesar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Union sieht im Erhalt unserer Urwälder eine der zentralen Herausforderungen unserer Gesellschaft. Wichtig ist dies, um die Ernährung der vor Ort lebenden Menschen zu sichern, für den Klimaschutz, für die Artenvielfalt und die komplexen Ökosysteme, aber natürlich auch um den wertvollen Rohstoff Holz nachhaltig zur Verfügung zu haben. Illegalität, Kriminalität und auch Profitgier Einzelner dürfen nicht zulasten der Natur und unserer Gesamtgesellschaft gehen. CDU und CSU wollen deshalb mit dem hier eingebrachten Antrag deutlich machen, wie wichtig dieses Vorhaben auch für unsere Kinder, für unsere Enkel, ja für die zukünftigen Generationen ist. Unser Antrag findet aufgrund seiner Wichtigkeit daher sicherlich die Unterstützung aller Fraktionen. ({0}) 15 Millionen Hektar Urwald gehen jährlich verloren. Das entspricht der Fläche von Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen. Das ist eine riesige Fläche, die jährlich verloren geht. Hier in Deutschland reden wir über Versiegelung, dort reden wir über Verwüstung, Versteppung und damit auch über eine Vernachlässigung unseres Klimas. Nur 20 Prozent der Urwälder sind noch unberührt. Deshalb gibt es aus unserer Sicht dringenden Handlungsbedarf. Wir setzen darauf, dass die Bundesregierung vor dem Hintergrund unserer sechs Punkte in diesem Bereich tätig wird; denn das ist wichtig. Wir bitten die Bundesregierung deshalb, den illegalen Holzeinschlag schnellstmöglich zu stoppen. Durch Raubbau, durch illegalen Einschlag werden riesige Flächen entwaldet. Diese Flächen werden innerhalb kürzester Zeit - drei bis fünf Jahre - vorübergehend landwirtschaftlich genutzt. Dann versteppen sie oder sie werden zur Wüste. ({1}) Schauen wir uns einmal die Verhältnismäßigkeit der Mittel an, die wir zum Klimaschutz und zur CO2-Reduzierung einsetzen. In diesen Tagen streitet die Bundesregierung über den Emissionshandel. ({2}) Wir reden über die zukünftigen Regelungen im EEG. Wir diskutieren auch darüber, ob wir 2, 2,5 oder 3 Milliarden Euro im Zuge von Stromeinspeisung für die erneuerbaren Energien ausgeben. Hinzu kommen rund 500 Millionen Euro als Steuersubventionen für Investitionen und rund 500 Millionen Euro allein in Norddeutschland für die Kosten der Netzerweiterung. Die Tatsache, dass gleichzeitig täglich 40 000 Hektar Wald auf Dauer verloren gehen und versteppen, hat weitaus größere Auswirkungen auf das Klima. Da richten wir mit zweieinhalb Milliarden Euro im Jahr für den Klimaschutz nur wenig aus. Das kann nicht sein. ({3}) Wie sieht es mit den entsprechenden Mitteln im Bundeshaushalt aus? 1998, zu Unionszeiten, hatten wir noch etwa 130 bis 150 Millionen Euro pro Jahr für diesen Bereich im Haushalt. Die Mittel sind kontinuierlich zurückgegangen auf jetzt rund 100 Millionen Euro im Jahr. Dadurch werden wichtige Projekte vernachlässigt. Das trägt nicht dazu bei, voranzukommen, stattdessen schreitet die negative Entwicklung weiter fort. Deshalb bitten wir als Union Sie, hinsichtlich dieses Antrages tätig zu werden, sowohl haushaltsrelevant als auch gesetzgeberisch. ({4}) Dies ist auch eine Frage der Wirtschaft. Sie haben einen Zwischenruf gemacht. Sie sollten natürlich auch an die Kooperation zwischen den Menschen vor Ort, an die wirtschaftliche Entwicklung und an den Klimaschutz denken. Wenn Holz in Deutschland illegal eingeführt wird, dann schadet das auch unserer Holzwirtschaft, ({5}) weil das Holz zu Dumpingpreisen verkauft wird. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Caesar, darf der Kollege Schauerte eine Zwischenfrage stellen?

Cajus Julius Caesar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber selbstverständlich, Herr Präsident.

Hartmut Schauerte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002770, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Caesar, ich bedanke mich für die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen. Wir alle sind der Meinung, dass für die Rettung des Urwalds unterschiedliche Wege möglich sind, aber viel getan werden muss. Was halten Sie von Aktionen wie die meiner benachbarten Brauerei Krombacher, die sagt: Wenn man einen Kasten Bier von ihr kauft, kauft und sichert sie dafür dauerhaft 1 Quadratmeter Urwald?

Cajus Julius Caesar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bedanke mich beim Kollegen Schauerte für diese Frage. Natürlich ist es sinnvoll, wenn sich jeder Einzelne aus dem Bereich der Naturschutzverbände und der Wirtschaft sowie natürlich auch jeder von uns für die Erhaltung des Urwaldes und damit natürlich auch für die dort lebenden Menschen, für die Natur und für die wirtschaftliche Entwicklung der Menschen dort und hier engagiert. Deshalb können wir solche Aktionen auch nur unterstützen. Ich darf sagen: Das ist sehr positiv. Weiter so - auch im Kreis Olpe! ({0}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn wir von der Verhältnismäßigkeit reden, dann ist es schon wichtig, dass wir dabei natürlich auch daran denken, dass es nicht sein kann, dass wir den 1,3 Millionen Waldbesitzern hier durch eine geplante Novellierung des Bundeswaldgesetzes vorschreiben wollen, welche Pflanze auf welchem Quadratmeter in welcher Höhe gesetzt wird, gleichzeitig aber das Große aus den Augen verlieren. Ich denke, es ist wichtig, zu wissen, dass 50 Prozent aller Pflanzenarten der Welt in den tropischen Urwäldern vorkommen. Deshalb gilt es, hier den Schutz anzusetzen. Auf einem Hektar Regenwald am Amazonas leben etwa 400 verschiedene Baumarten und damit mehr als in ganz Europa. Auch das zeigt, wie wertvoll diese Gebiete für unsere Natur sind. Diejenigen, die durch die Natur schreiten, wissen, dass es hier etwa einige Monate dauert, bis aus den Blättern Humus wird. Schauen wir uns einmal die Besonderheiten des Urwaldes an. Was glauben Sie, wie lange es im Tropenwald dauert? - Dort sind es vier Tage. Daran erkennen wir, welche Kräfte das Klima dort freisetzt und welche Möglichkeiten dort vorhanden sind. 50 000 verschiedene Tierarten leben im Regenwald auf einem Quadratkilometer. Deshalb sagen wir als Union: Es lohnt sich, hier tätig zu werden und den Urwald für unsere Welt, für unsere Generation und auch für unsere Kinder zu erhalten, zu schützen und dort, wo er zerstört wurde, wieder zu entwickeln. ({1}) Wesentlich ist auch - darüber haben wir auch hier im Plenum schon mehrfach diskutiert -, wie es mit unserem Wasservorkommen und unserer Wasserreinheit aussieht. Schauen wir uns einmal die Tropenwälder an. Diese versorgen 1 Milliarde Menschen mit Süßwasser. Sie sind zudem ein gigantischer Filter für Luft und Wasser. Auch dies dürfen wir nicht außer Acht lassen. Diese Urwälder sind in Hundert Millionen Jahren entstanden und werden in wenigen Jahren zerstört. Es ist wichtig, den Lebensraum der Menschen vor Ort, die direkt im Wald leben, zu sichern. Nur ein Wald, der seinen An- und Bewohnern die Chance des wirtschaftlichen Überlebens bietet, kann auf Dauer selbst überleben. Deshalb müssen wir uns anschauen, wie die Menschen vor Ort ihren Wald beobachten und wie sie jagen, fischen und sich von Wildpflanzen ernähren. Dabei nehmen sie von der Natur nicht mehr in Anspruch, als erforderlich ist, um auf Dauer - also nachhaltig - dort leben zu können. Wenn die Wälder dort illegal genutzt und abgeholzt werden, dann bedeutet das, dass diesen Menschen ihre Lebensgrundlage genommen wird und sie in die Städte abwandern müssen. In den Armutsvierteln der Städte leben sie dann in Armut, unterernährt und in Arbeitslosigkeit. Auch das muss man hier berücksichtigen. Das betrifft nicht einen oder zehn, sondern zig Millionen Menschen. Es ist wichtig, zu beobachten, was dort geschieht. Durch die illegale Nutzung eines wertvollen Mahagonistammes, der dort für etwa 30 Euro erworben wird, ist es möglich, auf dem Exportmarkt 3 000 Euro zu erzielen. Wenn man den Stamm in Blockwaren massiv und Furnierholz zerlegt, dann kann er beim Verkauf an den Endverbraucher einen Wert von rund 100 000 Euro erzielen. Daran erkennen Sie die Gewinnspannen. Das kann nicht sein. Das schadet allen - auch unserem Holzmarkt. Deshalb müssen wir hier tätig werden. ({2}) Noch gibt es 13,5 Millionen Quadratkilometer Urwald. Das sind aber nur noch etwa 20 Prozent der ursprünglichen unberührten Fläche. Deshalb müssen wir handeln: an der Westküste Kanadas mit tausendjährigen Zedern, Fichten, Tannen und dem Vorkommen des Wolfes genauso wie in den Bergwäldern Chiles, aber auch im westlichen Russland, in den Schneewäldern Sibiriens, in den Regenwäldern Südostasiens oder in den Regenwäldern des Amazonas mit über 60 000 Pflanzen, 1 000 Vogel- und mehr als 300 Säugetierarten. Was sollte die Bundesregierung tun? Wir haben das in unserem Antrag in sechs Punkten formuliert. Es ist aber zusätzlich wichtig, dass durch Waldinventuren die wertvollen Gebiete - ich meine wertvoll für die Natur, den Artenschutz und die wirtschaftliche Entwicklung dokumentiert werden und dass insbesondere durch internationale Vereinbarungen sichergestellt wird, diese Gebiete zu erhalten. Unser Antrag zielt darauf, das Miteinander von Schutz, Erhalten und nachhaltiger Entwicklung zu gewährleisten. Nachhaltige Entwicklung ist nichts anderes, als nicht mehr Holz zu nutzen, als im gleichen Zeitraum auf einer bestimmten Fläche nachwächst. Wir müssen die Rahmenbedingungen für die vor Ort lebenden Menschen entsprechend gestalten. Das hat etwas mit dem Wald, mit legaler Holznutzung, aber auch mit der dortigen Landwirtschaft zu tun. Man muss wissen, dass viele Flächen nur wenige Jahre landwirtschaftlich genutzt werden können, weil dann die Nährstoffe verbraucht sind. Damit gehen diese Flächen für die Ernährung der Bevölkerung endgültig verloren. Deshalb muss man auch im Rahmen der Landwirtschaft tätig werden, wodurch die Lebensgrundlagen der Menschen gewährleistet werden können, sodass sie nicht auf Einnahmen aus dem Wald angewiesen sind. Wir müssen im Bereich der Entwicklungshilfe bei der Ausbildung aktiv werden. An unseren Fachhochschulen und Universitäten müssen wir junge Menschen ausbilden, die anschließend vor Ort tätig sein werden. Wir müssen aber auch internationale Instrumente und Vereinbarungen nutzen, um hier voranzukommen, indem wir nur zertifiziertes Holz aus nachhaltiger Wirtschaft in unseren Wirtschaftskreislauf einführen. Wir müssen ebenso dafür sorgen, dass Bereiche, die illegal abgeholzt wurden und noch nicht versteppt und verwüstet sind, durch Wiederaufforstungsmaßnahmen und auch durch Plantagen - das sage ich ganz deutlich; denn eine Plantage ist mir immer noch lieber als eine Wüste - wieder in den Kreislauf eingebunden werden. Ich sage es noch einmal: Schluss mit illegalem Holzeinschlag! Es ist besonders wichtig, dass nicht jährlich eine bewaldete Fläche von der Größe der Waldfläche der Bundesrepublik Deutschland verloren geht. Das können und dürfen wir uns nicht leisten, sonst steht im Jahre 2050 - so sagen es die Experten - am Amazonas kein Baum mehr. Wir werden unserer Verantwortung nur dann gerecht, wenn wir jetzt tatsächlich aktiv werden. Deshalb darf ich Sie alle bitten: Unterstützen Sie die sechs Forderungen in unserem Antrag! Dann sind wir im Bereich der Armutsbekämpfung, des Klimaschutzes, der Artenvielfalt und der nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung auf dem richtigen Weg. Ich bedanke mich. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort der Kollegin Gabriele HillerOhm, SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Caesar, nicht Sie, sondern Greenpeace hat vor kurzem den Entwurf eines Urwaldschutzgesetzes in die Diskussion gebracht. Ich habe dieses wichtige Thema in der letzten Plenardebatte zum Wald aufgegriffen und eine gemeinsame politische Initiative aller Fraktionen dieses Hauses angeboten. Dieses Angebot steht nach wie vor. ({0}) Ich war allerdings schon überrascht, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, dieses Angebot nicht aufgegriffen haben ({1}) und nun Ihren Antrag im Alleingang präsentieren. Was sagt uns das? Sie haben mit diesem Verhalten wieder einmal Ihre Schwäche unter Beweis gestellt. ({2}) Sie machen dicke Backen, sorgen aber nicht für die notwendigen parlamentarischen Mehrheiten, um Ihre Anliegen durchzubringen. Für die Sache wäre ein breiter politischer Konsens wichtig. Vielleicht, Herr Kollege Caesar, bekommen wir das im Ausschuss hin. Man sieht es dem Holz nicht an, ob es legal oder illegal geschlagen wurde. Wir finden es deshalb richtig, dass dem Importeur eine Pflicht zur Nachvollziehbarkeit der Produkt- und Handelskette auferlegt wird. Das ist eine Forderung in Ihrem Antrag. Wie können wir das erreichen? Ein wirksamer Weg ist eine umfassende, international anerkannte Zertifizierung, die auch die sozialen Belange der Länder und deren Bevölkerung einschließt. FSC ist zurzeit das einzige Siegel, das diese Kriterien im internationalen Maßstab erfüllt. Wenn es Ihnen mit Ihrer Forderung ernst ist, dann müssen Sie Ihren ideologisch befrachteten Widerstand gegen dieses Siegel endlich aufgeben. Ihr vorliegender Antrag beschränkt sich fast ausschließlich auf nationale Sanktionen. Das ist uns zu wenig. Mit nationalen Alleingängen retten wir die Urwälder nicht. Wir brauchen weltweit völkerrechtlich verbindliche Regelungen. ({3}) Die Bundesregierung ist auf internationaler Ebene treibende Kraft. ({4}) Dazu zwei Beispiele. Das erste Beispiel ist die 7. Vertragsstaatenkonferenz zur Konvention über die biologische Vielfalt. Bis 2010 soll ein internationales Netzwerk von geschützten Gebieten zu Land und bis 2012 ein solches für die Weltmeere geschaffen werden. Das zweite Beispiel ist der europäische Aktionsplan zum Schutz der internationalen Wälder, kurz: FLEGT. Mit den betroffenen Ländern werden Partnerschaften geschlossen und gemeinsam wirksame Systeme zur Rückverfolgbarkeit des Holzes entwickelt. Dies geschieht übrigens zurzeit mit Russland. Um international glaubwürdig zu bleiben, müssen wir alle uns zur Verfügung stehenden nationalen Maßnahmen ausschöpfen. Das ist überhaupt keine Frage. Ein wirksames Instrument könnte vielleicht das Geldwäschegesetz sein. Aber ist es richtig und sinnvoll, eine rein nationale Insellösung anzustreben? Wir haben ein starkes Europa und müssen den Raubbau an den letzten Urwäldern gemeinsam bekämpfen. Das ist eine viel wirkungsvollere Strategie. Die Europäische Kommission arbeitet zurzeit an einem Verordnungsvorschlag zum Nachweis der legalen Herkunft von Holz in der EU. Ergebnisse werden bis Mitte dieses Jahres erwartet. Ich bin schon über das Verhalten der CDU/CSU in diesem Punkt überrascht. Sonst sind Sie doch auch immer gegen nationale Alleingänge. Ich habe noch sehr wohl die Diskussion über die Schweinehaltungsverordnung und die Käfighaltung von Legehennen im Ohr. Da hieß es: Bloß kein deutscher Sonderweg. - Und jetzt? Volle Rolle rückwärts. Das ist schon ein bisschen erstaunlich. Was können wir noch tun, um Importe von illegal geschlagenem Holz einzudämmen? Wir stärken den Absatz von heimischem Holz, zum Beispiel mit der Charta für Holz. Die Chancen stehen gut; denn wir haben deutlich mehr Holzressourcen, als wir verbrauchen. Im Gegensatz zu den Urwäldern, die immer mehr schwinden, wachsen unsere Holz- und Waldbestände. Dies ist ein Erfolg rot-grüner Umwelt- und Wirtschaftspolitik. ({5}) Mit der Novellierung des Bundeswaldgesetzes und der Festschreibung naturnaher Waldwirtschaft werden wir diesen Erfolgskurs fortsetzen. Wir machen das auch mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz. Sie, Herr Kollege Caesar, haben es angesprochen. Dieses Gesetz schließt unsere Wälder als Energieträger ein und sieht eine angemessene Förderung von Waldholz als Biomasse zur Stromgewinnung vor. Ihnen ist diese Aufwertung in Ihrer Regierungszeit nicht gelungen, obwohl Ihnen der Wald offensichtlich so am Herzen liegt. Das Gesetz wird morgen hier im Bundestag beschlossen werden. Sie werden es nicht ablehnen können, meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, ({6}) wenn es Ihnen wirklich ernst mit den Wäldern ist. Morgen werden Sie in diesem Hause Ihre politische Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen müssen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie sie, wie schon so oft, wieder einmal verspielen werden. Ihre großen Worte sind nichts als heiße Luft, ({7}) die möglicherweise zur Klimaerwärmung, aber nicht zum Schutz unserer Wälder beitragen werden. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Christel HappachKasan, FDP-Fraktion.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie hier noch ausharren! Frau Hiller-Ohm, es ist schon einzigartig, die Schweinehaltungsverordnung mit dem Urwald in Indonesien in Verbindung zu bringen. Ich habe nicht den Eindruck, dass Ihnen der Urwaldschutz wirklich am Herzen liegt. ({0}) Jeder von uns hat eine Vorstellung davon, was Urwälder sind. Sie sind Sinnbild für eine ursprüngliche Natur. Weil wir in Deutschland fast keine ursprüngliche, vom Menschen nicht beeinflusste Natur mehr haben, üben Urwälder eine besondere Faszination auf uns aus. Wir beobachten seit Jahrzehnten die Zerstörung der Urwälder der Erde. Der brutale illegale Raubbau ist eine wesentliche Ursache dafür. Ich finde, Sie haben das eindrucksvoll beschrieben, Herr Caesar. Die Armut der Bevölkerung in verschiedenen Ländern der Erde trägt aber ebenfalls zur Zerstörung der Urwälder bei. Wir brauchen die Urwälder für die Menschen vor Ort, für den Schutz von Klima, Wasser und Artenvielfalt, aber auch als Quelle für den nachwachsenden Rohstoff Holz. Für die Bekämpfung beider Ursachen für die Zerstörung von Urwäldern müssen wir eine jeweils eigene Strategie finden. Holz aus illegalem Raubbau darf bei uns keinen Markt finden und nicht zu Dumpingpreisen angeboten werden. ({1}) Um den Import von Holz aus illegalem Einschlag zu unterbinden, enthält der Antrag praktische und gute Vorschläge, die auf die Umsetzung der bestehenden Gesetze setzen. In Ergänzung dazu muss die Nutzung heimischen Holzes aus nachhaltiger Waldwirtschaft in Deutschland gestärkt werden. Aber auch das reicht noch nicht aus. In Deutschland hat sich aufgrund der hohen Bedeutung, die die Wälder seit Jahrhunderten für die Sicherung der Existenz der Menschen und die Entwicklung von Wohlstand hatten, ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Bedeutung von Wald und den Schutz der Wälder entwickelt. Der multifunktionale Wald ist unser Leitbild. Wir sollten versuchen, den armen Ländern der Erde zu helfen, ihre Wälder in entsprechender Weise für die Bekämpfung der Armut zu nutzen und gleichzeitig ein Bewusstsein für die Bedeutung des Schutzes ihrer Wälder zu entwickeln. Statt internationaler Verordnungen, die zu mehr Bürokratie führen, ist Hilfe zur Selbsthilfe angesagt, Frau Hiller-Ohm. ({2}) Einen Beitrag dazu könnte die von der Weltbank entwickelte neue Strategie zum Schutz der Wälder leisten. Die Weltbank will das Potenzial der Wälder zur Verminderung der Armut einsetzen, Wälder in eine nachhaltige Entwicklung integrieren und lokal und global bedeutsame Wälder schützen. Das ist, wie ich meine, ein richtiger Ansatz. Wir alle haben eine durchaus konkrete Vorstellung davon, was Urwälder sind. Dennoch gibt es keine international abgestimmte Definition des Begriffs Urwald. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf meine Kleine Anfrage hervor. Dies ist bedauerlich; denn eine solche international abgestimmte Definition ist durchaus erforderlich. Sie verhindert, dass der Begriff Urwald für ganz andere Ziele als den Schutz der Urwälder missbraucht wird. Ein Beispiel dafür ist die Initiative von Greenpeace, mit der versucht wurde, die finnische Forstwirtschaft in Misskredit zu bringen, und zwar nicht aus Sorge um die dortigen Wälder, sondern um ein in Deutschland überaus erfolgreiches Zertifikat für Holz zu diskreditieren. ({3}) Dieses Verhalten von Greenpeace wird unserer Sorge um den Erhalt der Urwälder und der dringenden Notwendigkeit, ihren Schutz voranzubringen, nicht gerecht.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Zeit.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zu meinem letzten Satz. - Wir brauchen den Erhalt der Wälder für das Leben der Menschen vor Ort, den Artenschutz, die Sicherung der Wasserressourcen und den Klimaschutz. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Greenpeace - davon war gerade die Rede - hat Anfang dieses Jahres unter anderem den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung des Handels mit illegal geschlagenem Holz zum Schutz von Urwäldern und anderen Primärwäldern - ein so genanntes Urwaldschutzgesetz - vorgelegt. Das haben wir, die Bundestagsfraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, begrüßt; denn laut FAO gehen jährlich 15 Millionen Hektar Urwald verloren. Hielte diese Tendenz an, wären die Urwälder in wenigen Jahrzehnten verschwunden. Es besteht also tatsächlich akuter Handlungsbedarf. Allerdings ist das Problem nicht neu. In ihrem ersten Gesamtwaldbericht vom Juli 2001 hat die Bundesregierung sowohl eine Situationsanalyse vorgenommen als auch Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt. Es gibt bereits zahlreiche Initiativen gegen die Urwaldzerstörung. Nichtsdestotrotz konnte ihr bisher kaum Einhalt geboten werden. Eine Urwaldkonvention kam bislang nicht zustande. Welches sind die Triebfedern für Waldzerstörung und Raubbau? Übergreifend sind hier StrukturschwäCornelia Behm che und die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen - anders ausgedrückt: Unterentwicklung - zu nennen. So gehen mangelhafte oder fehlende Umwelt- und Sozialstandards eine unheilige Allianz mit Brandrodung, forstlicher Übernutzung, Anlagen von Plantagenwäldern und dem Handel mit Holz aus illegalem Einschlag ein. Etwa zwei Drittel der Urwälder befinden sich in wirtschaftlich schwachen Ländern, also in Ländern, in denen Korruption an der Tagesordnung ist und deshalb dem Kriminalitätsdruck auf die Nutzung der Wälder wenig Widerstand entgegengesetzt wird. Angesichts dessen verwundert es nicht, dass circa 10 Prozent des weltweit gehandelten Holzes aus illegalem Einschlag stammen. Um das Übel an der Wurzel zu packen, müssen die ursächlichen Verhältnisse verändert werden. Deutschland leistet hier durchaus seinen Teil, zum Beispiel durch gezielte Entwicklungshilfe und internationale Abkommen. Für grundsätzliche Veränderungen müssen aber viele Akteure ins Boot geholt werden. Trotzdem dürfen wir als bedeutendes Holzabsatzland nicht mit Verweis auf internationale Abkommen und die Verantwortung der Erzeugerländer unseren Beitrag zum Urwaldschutz verweigern. Da der illegale Holzeinschlag zu den Hauptursachen der Waldzerstörung gehört, bedarf es tatsächlich wirksamer Instrumente sowohl gegen illegalen Holzeinschlag als auch gegen den Handel mit Holz aus illegalem Holzeinschlag. Mit den von Greenpeace vorgeschlagenen Sanktionen gegen den wissentlichen Handel mit Holz aus illegalem Holzeinschlag könnten die schwarzen Schafe unter den Unternehmen des Holzhandels und der Holzverarbeitung zurückgedrängt werden. Insofern kann ein Urwaldschutzgesetz mit entsprechenden Sanktionen durchaus zielführend sein. Mein Fazit lautet: Wir müssen das eine tun und dürfen das andere nicht lassen. Das bedeutet auch, die Maßnahmen umzusetzen, die die Bundesregierung im Gesamtwaldbericht vorschlägt. Dazu gehören die Verstärkung der Forschung, die Unterstützung der Kennzeichnung von Tropenholz aus nachhaltiger Nutzung und die Forcierung waldrelevanter Vorhaben bei der Entwicklungszusammenarbeit Deutschlands, der EU und der Vereinten Nationen. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, an dieser Stelle komme ich wieder auf ein viel strapaziertes Thema zu sprechen. Um Sanktionen zu entgehen, werden Handel, Industrie und Verbraucher künftig verstärkt zertifiziertes Holz nachfragen; denn ein anspruchsvolles forstwirtschaftliches Zertifikat ist die beste Gewähr für eine legale Holzwirtschaft. Wirksame Maßnahmen gegen den Handel mit Holz aus illegalem Einschlag haben also einen doppelten Effekt: Sie tragen zum Schutz von Urwäldern bei und verbessern die Vermarktungsbedingungen für nachhaltig erzeugtes und einheimisches Holz. ({0}) Aus diesem Grund prüft die Bundesregierung, welche der von Greenpeace vorgeschlagenen Maßnahmen sinnvoll und umsetzbar sind. Dabei ist klar: Die Regelungen müssen so unbürokratisch wie möglich sein. So sinnvoll der Ansatz ist, gesetzwidriges Handeln durch Sanktionen zurückzudrängen, so muss ich noch einmal darauf hinweisen: Dieser Ansatz ist nur ein Teil der Lösung. ({1}) Die Ursachen für den Raubbau an Urwäldern kann eine Sanktionierung des Handels mit Holz aus illegalem Einschlag nicht beseitigen. Dennoch freue ich mich, dass die CDU/CSU-Fraktion den vorliegenden Antrag zur Sanktionierung des Handels mit Holz aus illegalem Einschlag eingebracht hat. Er offenbart, dass wir in diesem Punkt einig sind. Unser Wunsch wäre es, dass wir im Laufe der parlamentarischen Beratungen zu einem fraktionsübergreifenden Konsens kommen, um einen gemeinsamen Beschluss zum Urwaldschutz zu fassen. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Reinhold Hemker, SPD-Fraktion.

Dr. Reinhold Hemker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002670, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Kollege Caesar, herzlichen Dank, dass Sie, offensichtlich ein Freund nicht nur des Waldes in Deutschland, in Ostwestfalen, sondern auf der ganzen Erde, sich wieder so eingebracht haben. Ich habe nachgeschaut: Seit Sie im Deutschen Bundestag sind, haben Sie eine Reihe von Aktivitäten entfaltet, die Ihnen eigentlich zu dem Ehrennamen „amicus silvae“, Freund des Waldes, verhelfen müssten. ({0}) Ich freue mich schon auf das, was Sie zu unserer Diskussion im Ausschuss beitragen. Sie haben auch aufgezeigt, dass der Ansatz im Forderungskatalog des Unionsantrages eigentlich zu kurz greift. Sie haben Dinge vorgetragen, die den ordnungsrechtlichen Rahmen dieses Forderungskataloges weit übersteigen. Das ist gut so. Insbesondere Cornelia Behm, meine liebe Kollegin von den Grünen, hat eben darauf hingewiesen, dass wir in den Diskussionen im Ausschuss ein Stück weiterkommen müssen. Die Grundlage für das, worüber wir heute Abend sprechen, ist der Gesamtwaldbericht 2001. Wenn ich richtig gezählt habe, hat es danach insgesamt sieben Initiativen aus diesem Parlament gegeben - Kleine Anfragen, zum Beispiel von der Union; eine Große Anfrage der Union; zuletzt hat die FDP dankenswerterweise eine Kleine Anfrage gestellt -, die immer darauf abzielten, zu fragen, wie sich die Bundesregierung an weltweiten Initiativen beteiligt, Stichworte: Entwicklungsoptionen, globale Umweltfazilität und vieles mehr. Es ging auch um die Option - ich sehe gerade meinen alten Kollegen aus dem Landtag Nordrhein-Westfalen -, soziale und ökologische Standards für den Bereich der WTO-Verhandlungen zu berücksichtigen. Mit all dem sind Forderungen verbunden, die wir seit der Rio-Konferenz 1992 bis zur Rio-Nachfolgekonferenz erhoben haben. Wenn man das, liebe Kolleginnen und Kollegen und insbesondere lieber Kollege Caesar, ernst nimmt, dann heißt das, dass wir im Ausschuss noch einmal deutlich machen müssen: Wichtig ist, jetzt nicht nur ein bisschen zu zählen. Die Bundesregierung hat 2001 auf eine Anfrage geantwortet: Im Haushalt 2002 stehen 125 Millionen Euro zur Verfügung. Heute beteiligt sich die Bundesregierung an den entsprechenden Programmen, etwa an denen von UNDP und von UNEP. Es gibt übrigens Dankesschreiben des Kollegen Töpfer, mit denen er zum Ausdruck bringt, dass wir in der globalen Strukturpolitik mittlerweile ein Stück weitergekommen sind und Naturschutz sowie biologische Vielfalt ernster nehmen als noch vor einigen Jahren. ({1}) Ich sage Ihnen schon heute - das werden wir im Ausschuss noch diskutieren -: Es wird nicht möglich sein - darüber müssen wir uns im Klaren sein; Sie können mit dem Kollegen Schauerte einmal über die Frage des Ordnungsrechts sprechen; wir haben das auch damals in der Kommission getan -, überall solche Kontrollmechanismen überhaupt in Gang zu setzen, selbst dann nicht, wenn sich alle WTO-Mitgliedstaaten darauf einigen, dass solche Kontrollen und auch solche Sanktionen durchgesetzt werden müssen. Das ist der Punkt. Ich bin zwar dafür; aber ich bin mittlerweile schon allzu lange im Parlament und weiß, wie die Realität weltweit ist. Es ist wichtig, dass wir uns in den Ausschüssen - Ausschuss für Verbraucherschutz, Landwirtschaft und Ernährung, Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und insbesondere im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung - darauf einigen, welche Förderfähigkeit möglich ist und welche Programme sowohl multilateral als auch bilateral eingesetzt werden müssen. Wenn das geschieht, dann ist es auch in diesem Rahmen möglich, darüber zu reden, wie etwa solche Kontrollbehörden wie die, in der Sie, Herr Caesar, in Ostwestfalen einmal gearbeitet haben, auch in Entwicklungsländern eingerichtet werden können. In den meisten Ländern, aus denen über Raubbau und andere Formen der Illegalität Holz zu uns exportiert wird, kann eine entsprechende Kontrolle gar nicht durchgeführt werden. Hinzu kommt Folgendes - das zu sagen ist ganz wichtig -: Es sind ja nicht die armen Waldbauern oder Holzfäller, die für kurze Zeit beschäftigt werden, die den Preis von 30 Euro, der hier erwähnt worden ist, ermöglichen, sondern es sind diejenigen, die dafür sorgen, dass zu Dumpingpreisen eingekaufte Hölzer dann hier vermarktet werden. Dieser Zusammenhang muss auch im Ausschuss deutlich gemacht werden. Ich finde es gut, dass Sie heute einen Einstieg gefunden haben. Liebe Kollegin von der FDP, ich unterstütze die Bewertung der Bundesregierung in der Antwort auf die Kleine Anfrage, die Sie Anfang dieses Monats gestellt haben. Ich fand es übrigens gut, Herr Staatssekretär, dass die Bundesregierung in so kurzer Zeit geantwortet hat; das trägt die Unterschrift des beamteten Staatssekretärs.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ein ausführliches Lob der Bundesregierung ist jetzt allerdings nicht mehr möglich, weil die Redezeit das nicht mehr hergibt.

Dr. Reinhold Hemker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002670, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich sage nur noch einen letzten Satz. - Bisher - so die Bewertung - konnte in der Staatengemeinschaft jedoch kein Konsens über ein Rechtsinstrument für Wälder erzielt werden; daneben muss, vor allem in den Ländern der Tropen, weiter an der Beseitigung der Ursachen von Waldvernichtung angesetzt werden. Ich nenne zum Beispiel: ländliche Armut, politische Instabilität, volkswirtschaftliche Unterentwicklung und mangelnde Beteiligung der lokalen Bevölkerung. Darüber werden wir im Ausschuss diskutieren. Herzlichen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2747 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu stelle ich Einvernehmen fest. Dann ist die Überweisung so be- schlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP Rating-Agenturen: Integrität, Unabhängig- keit und Transparenz durch einen Verhaltens- kodex verbessern - Drucksache 15/2815 - Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war hier- für eine halbe Stunde vorgesehen. Das wäre sicherlich auch so beschlossen worden, hat sich aber dadurch erle- digt, dass die Kollegen Reinhard Schultz, Stefan Müller, Hubert Ulrich und Carl-Ludwig Thiele ihre Reden zu Protokoll geben.1) Damit kommen wir gleich zur Abstimmung über den Antrag aller Fraktionen auf der Drucksache 15/2815. Wer stimmt für diesen Antrag? - Stimmt jemand dage- gen oder möchte sich jemand der Stimme enthalten? - 1) Anlage 3 Vizepräsident Dr. Norbert Lammert Das ist nicht der Fall. Dann ist der Antrag einstimmig angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Gisela Piltz, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Passagierdatensammlungen und Datenschutzrechte - EU-Abkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika - Drucksache 15/2761 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Tourismus Auch hierzu gibt es eine interfraktionelle Vereinbarung über eine halbstündige Debatte. - Auch dazu stelle ich Einvernehmen fest. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Kollege Ernst Burgbacher für die FDP-Fraktion.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern hat sich das Europäische Parlament gegen das von der EU-Kommission mit den USA ausgehandelte Übereinkommen zur Übermittlung von privaten Fluggastdaten ausgesprochen. Die liberalen Kollegen im Europaparlament haben eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für den Fall angekündigt, dass die EU-Kommission die Zahl der an die USA übermittelten Daten nicht einschränkt. Worum geht es? Seit März 2003 verlangen die USA von europäischen Luftfahrtgesellschaften, die in die USA fliegen oder dort einen Zwischenstopp einlegen, einen Online-Zugriff auf den so genannten Passenger Name Record. ({0}) Dieser Record speichert eine Fülle von Informationen: Name, Reiseverlauf, Art der Bezahlung, Kreditkartennummer, ausgewählter Platz bis hin zu Essenswünschen. Insgesamt handelt es sich um 34 Datenelemente, auf die dem US Bureau of Customs and Border Protection Zugriff gewährt werden muss. Fluggesellschaften, die dies ablehnen, müssen mit hohen Geldstrafen oder dem Entzug der Landerechte rechnen. Gemeinsame Anstrengungen für die Sicherheit sind vor dem Hintergrund der furchtbaren terroristischen Angriffe selbstverständlich. Auch wir wissen natürlich, dass zu diesen gemeinsamen Anstrengungen zur Erhöhung der Sicherheit die Übermittlung von Daten gehört - darum geht es in dieser Debatte überhaupt nicht; das ist, denke ich, völlig unstrittig -, um potenzielle Täter frühzeitig finden zu können. Allerdings sind wir als FDP-Bundestagsfraktion der Überzeugung, dass staatliche Zugriffe auf persönliche, schutzbedürftige Daten nur unter Beachtung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit zu rechtfertigen sind. ({1}) Dabei kommt dem Datenschutz ganz besondere Bedeutung zu. ({2}) Die Haltung der Bundesregierung in diesem Punkt verwundert mich sehr. Einerseits erklärt sie in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP wörtlich: Im Hinblick auf den Datenschutz schließt sich die Bundesregierung der Bewertung durch die Europäische Kommission an. Die Europäische Kommission hatte im Juni 2002 zum Online-Zugriff auf PNR-Daten festgestellt, dass die entsprechende Verpflichtung der Fluggesellschaften mit den infolge der EG-Datenschutzrichtlinie 96/46/EG erlassenen Datenschutzgesetzen der EU-Mitgliedstaaten im Widerspruch stehen kann. ({3}) Andererseits erklärt jetzt offenbar Bundesinnenminister Schily, es sei alles mit dem Datenschutz vereinbar. Er geht in die USA und nach Brüssel und sagt, die Bundesrepublik werde selbstständig mitmachen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier ist ein Bruch, den wir so nicht mittragen. ({4}) Die Brüsseler Art.-29-Datenschutzgruppe hat große Bedenken angemeldet. Wir haben das im Innenausschuss vom Bundesdatenschutzbeauftragten Schaar noch einmal bestätigt bekommen. Herr Schaar hat im Innenausschuss dezidiert darauf hingewiesen, welche Bedenken er hat und dass er nicht bereit ist, dieses Vorgehen zu unterstützen. Auch das musste uns nachdenklich machen. ({5}) Wir teilen die Vorbehalte der Art.-29-Gruppe. Deshalb haben wir diesen Antrag eingebracht. Als einzige Fraktion haben wir einen Antrag eingebracht. Wir lehnen eine Zustimmung zu einem einfachen internationalen Abkommen, einem so genannten Light International Agreement, wie die EU-Kommission es will, strikt ab. Wir setzen uns stattdessen für den Abschluss eines internationalen Übereinkommens der EU mit den USA ein. ({6}) Ein solches Übereinkommen muss dann übrigens auf Gegenseitigkeit beruhen. ({7}) Es kann nicht sein, dass die USA Daten von uns wollen, wir aber keine Daten von den USA bekommen. Ich nenne einige Eckpunkte: Es geht um die Zweckbindung der Datenübermittlung. Natürlich dürfen Daten nur zur Bekämpfung terroristischer Straftaten übermittelt werden. Es geht um den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Liste der zu übermittelnden Daten darf nicht über das Notwendige hinausgehen. Ein Punkt ist von besonderer Bedeutung. Die USA fordern das so genannte Pull-Verfahren, das heißt, die USA wollen online auf unsere Datensätze zugreifen. Wir sagen, das kann nicht sein. Das Pull-Verfahren muss durch das Push-Verfahren ersetzt werden, das heißt, es muss in unserer Entscheidung liegen, welche Daten übermittelt werden. ({8}) Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt hinweisen. Es ist völlig ungeklärt, wer eigentlich bei fehlerhaften Eingaben haftbar gemacht werden soll. Was passiert denn, wenn im Reisebüro eine fehlerhafte Eingabe erfolgt? Wer soll dafür haftbar gemacht werden? Wir wollen klarstellen, dass bei Fahrlässigkeit kein Haftbarkeitsgrund vorliegt. Auch ohne diese Regelung können wir nicht zustimmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss. Ich halte diesen Antrag für unabdingbar, weil wir nicht mittragen können, dass der deutsche Innenminister unter Missachtung jeglicher Persönlichkeitsrechte und jeglichen Datenschutzes nach Brüssel und Washington geht und die Zustimmung Deutschlands signalisiert. Wir werden dem nur zustimmen, wenn die Datenschutzrechte wirklich gewahrt bleiben. Wir wollen ein sauberes Abkommen; einem solchen werden wir selbstverständlich nicht im Wege stehen. Ich freue mich auf die Diskussion, aber vor allem auf die Zustimmung zu unserem Antrag, die mir eigentlich von verschiedenen Seiten signalisiert worden ist. Herzlichen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Frank Hofmann, SPD-Fraktion. ({0})

Frank Hofmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002682, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Burgbacher, Sie freuen sich in meinem Fall ein bisschen zu früh auf die Zustimmung zu Ihrem Antrag. - Seit einiger Zeit beschäftigen sich die Fluggesellschaften, die EU-Kommission, das Parlament, die Datenschutzbeauftragten und die Öffentlichkeit mit dem Problem der Weitergabe von personenbezogenen Daten durch Fluggesellschaften bei Transatlantikflügen. Wenn man Ihren Antrag liest, dann muss man sich schon fragen, warum die FDP den Teufel an die Wand malt. Sie befürchtet nämlich, dass Millionen von Fluggästen „in die Gefahr allgemeiner Überwachung und Kontrolle durch ein Drittland“ geraten. Sie wollen aus dem europäischen Abseits heraus und an den Tisch der Europaparlamentarier. ({0}) Dazu ist Ihnen jedes Mittel recht. Deswegen bringen Sie einen solchen Antrag ein. Dieses Spiel mache ich nicht mit. Ich will mich nicht von Science-Fiction-Autoren der FDP, sondern von der Realität leiten lassen. Nach dem 11. September 2001, dem Terroranschlag auf das World-Trade-Center, tun die USA alles zum Schutz ihres Landes und ihrer Bevölkerung. Nicht alles stößt in Europa und in Deutschland auf Zustimmung. Es ist aber nur zu gut verständlich, dass die Amerikaner die Gefahr, die von Flugzeugen oder durch Flugzeuge ausgehen kann, als besonders gravierend einschätzen und eine entsprechende Verschärfung der Kontrollen ihrer Grenzen und der Einreisewilligen ergriffen haben. Gleich im November 2001 haben die Vereinigten Staaten die Vorschrift erlassen, dass Fluggesellschaften, die Flüge nach, von oder durch die USA durchführen, den amerikanischen Zoll- und Grenzbehörden Zugang zu Fluggastdatensätzen zu gewähren haben. Diese legitimen Sicherheitsinteressen dienen der Verbesserung der Flugsicherheit und des Grenzschutzes und sollen Terrorismusverdächtige identifizieren, bevor sie in die USA einreisen können. Im Gegensatz zu Deutschland ist der Schutz der Privatsphäre in den USA kein Grundrecht, sondern lediglich als Verfassungszusatz erwähnt. ({1}) Der Datenschutz in den USA steht in einem völlig anderen Rechtsgefüge. Die FDP erwartet - das kann man dem Antrag entnehmen -, dass die USA voll und ganz die deutschen und europäischen Rechtsvorschriften über den Schutz personenbezogener Daten übernehmen. Kann man das realistischerweise von einem anderen autonomen Staat erwarten? Auf der Grundlage dieser völlig anderen Konzeption von Datenschutz hatte die US-Regierung Anforderungen an die Daten gestellt, die dem europäischen Standard, wie er in der europäischen Datenschutzrichtlinie zum Ausdruck kommt, nicht standhalten. Weder kann man erwarten, dass die US-Regierung den europäischen Standard zu ihrem eigenen macht, noch kann man erwarten, dass sich die europäischen Staaten mit dem US-Standard zufrieden geben. Die EU-Kommission und die USA haben sich bemüht, bei der Lösung des Problems im Zusammenhang mit der Übermittlung von PNR-Daten die RechtsvorFrank Hofmann ({2}) schriften beider Seiten zu respektieren. Hierbei ist es aus meiner Sicht der Kommission gelungen, von den USA Zusagen zu erhalten, die den europäischen Datenschutzvorstellungen nahe kommen. Die Grundzüge unseres Datenschutzrechts spiegeln sich in dieser Verpflichtungserklärung wider. Sie wird zwar nicht eins zu eins umgesetzt, aber zu erheblich mehr als 50 Prozent erfüllt. So wurde der Umfang der Datensätze begrenzt. Die Speicherdauer wurde drastisch verkürzt. Die Zweckbindung der Passagierdaten, die auch Sie angesprochen haben, wurde erreicht für die Übermittlung, Verwendung und Weiterübermittlung. Die Zoll- und Grenzbehörden werden die Reisenden über den Zweck der Datenübermittlung und Datenverarbeitung informieren. Mittlerweile haben alle - ich betone: alle - EU-Mitgliedstaaten dem Vorschlag der Kommission zugestimmt. Währenddessen wird in dem FDP-Antrag davon ausgegangen, dass verschiedene europäische Staaten - Sie nennen aber nur Frankreich; andere Staaten werden nicht aufgeführt - erklärt hätten, sie könnten dem Abkommen nicht zustimmen. Es haben aber alle zugestimmt. Das Engagement des Europäischen Parlaments hat sicherlich dazu beigetragen, die Position der Europäischen Kommission zu stärken und die Rechte der europäischen Bürgerinnen und Bürger auch in den USA zu berücksichtigen. Die USA und Europa bewegen sich aufeinander zu: bei der internationalen Terrorismusbekämpfung und beim Datenschutz. Ich finde, das ist ein gutes Zeichen. Danke. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich bedanke mich für die seltene Unterschreitung der angemeldeten Redezeit und erteile mit diesem leuchtenden Vorbild vor Augen nun der Kollegin Beatrix Philipp von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Beatrix Philipp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002750, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht genau, ob ich dem Vorbild des Herrn Hofmann gerecht werde. Ich gebe zu: In vielen Passagen hat er Recht. Herr Burgbacher, als ich Ihren Antrag gelesen habe, habe ich ein Déjà-vu-Erlebnis gehabt. Wenn man die Seite 16 in der Stellungnahme 2/2004 der Art.-29-Datenschutzgruppe genau nachliest, findet man, um es vorsichtig auszudrücken, tatsächlich mehr als nur Anregungen für Ihren Antrag. Nur, Herr Burgbacher, diese sind zum Teil überholt. Darauf hat Herr Hofmann bereits hingewiesen. Nun will ich nicht behaupten, dass der vorliegende Antrag deswegen ein typischer FDP-Antrag ist. Aber er ist eben, um es vorsichtig auszudrücken, etwas unverständlich. Ich führe das darauf zurück, dass das Verständnis der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für die Datenschützer der 29er-Gruppe nicht immer besonders groß ist. Es ist dort ja, glaube ich, in federführender Funktion der neue Datenschutzbeauftragte, der Herr Schaar, tätig, den Sie, die FDP und die Koalitionsfraktionen, gewählt haben. Wir konnten uns nicht darauf verständigen. Wenn man die Berichte nachliest und an seinen gestrigen Auftritt im Innenausschuss denkt, ({0}) hat das unsere Meinung eher bestätigt, als uns verunsichert. Herr Hofmann hat sehr ausführlich darauf hingewiesen, worum es eigentlich geht; deswegen kann ich mich kurz fassen. Es handelt sich dabei - und es ist bedauerlich, dass durch Ihren Antrag eher Verunsicherung in die Bevölkerung getragen wird, als dass zur Beruhigung beigetragen wird - um die üblichen, völlig normalen Angaben, die für die Buchung eines Tickets erforderlich sind. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, mir diese genauer anzuschauen; ich nehme an, auch andere haben das getan. Hier stehen also das Datum der Reservierung, die geplanten Abflugdaten, der Name des Flugpassagiers, die Anschrift usw. Ich habe damit keine Probleme. Diese Daten muss ich auch jetzt angeben, wenn ich fliegen will. ({1}) Das ist allgemein so. Ich glaube, das gilt auch für uns, auch im Bundestag. Wenn Sie fliegen wollen, müssen Sie wohl sagen, wer Sie sind. Nicht mehr und nicht weniger als die ganz normalen Daten müssen angegeben werden. Übrigens ist mir das Redepult hier viel zu hoch. Ich weiß nicht, wie man es hinunterfahren kann. Das ist die Technik. - Jetzt funktioniert es.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Es gab bis vorhin einen Knopf, mit dem man das selber machen konnte. Wenn der Vorredner diesen nicht beseitigt hat, müsste das nach wie vor möglich sein.

Beatrix Philipp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002750, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich will jetzt aber nicht suchen. Ich will jetzt nicht weiter albern sein; denn es geht ja um ein ernstes Thema. Die Übermittlung von Fluggastdaten an die USA ist ein Thema, das die Bürger, die Luftfahrtgesellschaften und auch die Tourismuswirtschaft sehr beschäftigt. ({0}) Dabei geht es im Wesentlichen um eine unzureichende Information der Fluggäste; das ist richtig. Ebenso gab es Rechtsunsicherheit; auch das ist richtig. Wir haben daher eine sehr ausführliche Anfrage gestellt. Ich muss ganz ehrlich sagen: Mit großem Erstaunen haben wir zur Kenntnis genommen, dass die Bundesregierung bzw. das Innenministerium ausgesprochen exakt und ausgesprochen ausführlich gearbeitet hat. ({1}) - Nein, das ist eben nicht immer so! Wenn alle Anfragen in dieser Qualität beantwortet würden, dann würde das unsere parlamentarische Arbeit sehr erleichtern. Davon kann normalerweise keine Rede sein. ({2}) Unter der Leitung von Herrn Bolkestein sind, wie man in der Antwort nachlesen kann - das empfehle ich jedem -, sehr intensive und, wie ich glaube, schwierige Verhandlungen geführt worden. Basis war, wie eben schon erwähnt wurde, die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 9. Oktober 2003. Es ist, wie ich finde, ein vernünftiger Kompromiss gefunden worden. Das hat auch die Bundesregierung so gesehen und hat deswegen, wie ich nach eigenem Bekunden feststellen konnte, am 27. Februar zugestimmt. Dieser ausgehandelte Kompromiss basiert auf einer Verpflichtungserklärung des Heimatschutzministeriums der USA und dessen Zoll- und Grenzschutzbehörde, die für die Datenerhebung auf amerikanischer Seite verantwortlich ist. Die wesentlichen Punkte dieser Verpflichtung sind - ich mache es kurz - erstens die ausdrückliche Zweckbindung der Datenübermittlung und -verwendung für die Bekämpfung des Terrorismus, von Zusammenhangsstraftaten und schwerer länderübergreifender Straftaten. Dagegen kann man eigentlich nichts haben. Zweitens. Die Speicherfristen wurden auf drei Jahre und sechs Monate verkürzt. Das ist erheblich weniger, als die USA ursprünglich beabsichtigten. ({3}) Drittens. Eine umfassende Information der Reisenden durch die US-Behörden ist vorgesehen. Auch das war nicht selbstverständlich, entspricht aber unseren Anforderungen an einen modernen Datenschutz. Viertens. Die US-Behörden haben Auskunfts- und Berichtigungsansprüche der Passagiere ausdrücklich anerkannt. Auch dies ist keine Selbstverständlichkeit. Fünftens. Die sofortige Löschung so genannter sensibler Daten ist zugesagt worden. Das ist eine Vorsichtsmaßnahme, weil man der Möglichkeit vorbeugen will, dass durch freiwillige Angaben - ({4}) - Wenn es von Ihnen kommt, schon gar nicht. Aber mit den USA habe ich bisher keine schlechten Erfahrungen machen müssen. Deswegen bin ich da optimistisch. Ich habe vielleicht auch ein anderes Amerikabild als Sie. Das kann sein. ({5}) Sechstens. Auch die Beschwerdemöglichkeit halte ich für wichtig. Für die Verhältnisse Amerikas, wo man, wie auch Herr Hofmann gesagt hat, mit Daten völlig anders umgeht als bei uns, ist die vorgesehene Möglichkeit, dass sich die Passagiere durch ihren nationalen Datenschützer oder direkt bei den Zoll- und Grenzschutzbehörden beschweren, nicht selbstverständlich. Siebtens. Die jährliche gemeinsame Überprüfung der Umsetzung dieser Verpflichtung in den USA durch ein EU-Team ist ebenfalls verankert. Meine Damen und Herren, gegen diesen Kompromiss kann man eigentlich nichts haben. Hinzu kommt, dass die Amerikaner nach den Ereignissen des 11. September ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis haben. Sie haben viel mehr, als im normalen Umgang miteinander üblich, dafür gesorgt, dass sie wissen, wer ihr Land betritt. Dafür habe ich volles Verständnis. Ich würde mir an mancher Stelle wünschen, dass auch wir in Deutschland Wege und Möglichkeiten fänden, unsere Außengrenzen sicherer zu machen und Einreisen effektiver zu kontrollieren. Aber das ist wirklich ein anderes Thema. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Philipp, ich will Sie weder stören noch erschrecken. Aber die Kollegin LeutheusserSchnarrenberger würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. ({0})

Beatrix Philipp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002750, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es wird nicht auf Ihre Redezeit angerechnet. ({0})

Beatrix Philipp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002750, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin ganz ruhig.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich habe auch nur eine ganz kurze Frage. Frau Philipp, wie bewerten Sie die Entscheidung des Europäischen Parlaments von gestern? Ich meine nicht den Beschluss vom letzten Jahr. Gestern hat das Europäische Parlament mit Mehrheit beschlossen, dass die Voraussetzungen für die Angemessenheitsfeststellung, die der erste Schritt in diesem Verfahren ist, nicht gegeben seien. Ich denke, das ist eine Aufforderung an uns, dass wir uns nicht nur damit befassen, sondern auch neu überlegen, inwiefern den Bedenken, die dort mehrheitlich zum Ausdruck gekommen sind, entsprochen werden kann. ({0})

Beatrix Philipp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002750, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Leutheusser-Schnarrenberger, auch bei uns gibt es Leute, die Bedenken haben. Das bestreite ich überhaupt nicht. Das ist übrigens in diesem Hause etwas ganz Normales. Aber ich teile diese Bedenken nicht. Wir reden heute zum ersten Mal darüber. Wir werden uns mit diesen Bedenken auseinander setzen. Das ist ein ganz normaler Vorgang, den ich schon lange gelernt habe. Ich werde das auch hier anwenden. ({0}) Wir müssen noch einmal darauf hinweisen, dass die Amerikaner sich in einem ungewöhnlich hohen Maße bewegt haben. Bisher haben die Amerikaner die Daten einfach gezogen - nach der so genannten Pull-Methode. Demnächst wird es an uns liegen, die Daten zu übermitteln. Das war ein für amerikanische Verhältnisse ausgesprochen großer Schritt. Wir werden diese Daten filtern und selektieren und dann erst versenden. Herr Burgbacher, auch der Fall, dass in den Reisebüros einmal ein Fehler passiert - das haben Sie angesprochen -, ist geregelt. Die Luftfahrtgesellschaften tragen dafür die Verantwortung. Auch das ist expressis verbis zum Ausdruck gebracht worden. Im Gegensatz zu Ihnen - wenn ich es richtig sehe bin ich sehr optimistisch, dass es eine schnelle Umsetzung geben wird. Ich denke, dass die Fluggesellschaften ein eigenes Interesse daran haben, dass diese neuen Vereinbarungen so schnell wie möglich umgesetzt werden. Nun noch ein paar Bemerkungen zu Ihrem Antrag. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass Sie sich an die Maximalforderungen der Art.-29-Datenschutzgruppe - um es vorsichtig auszudrücken - mindestens angelehnt haben. Sie sollten vielleicht noch einmal darüber nachdenken, wie realistisch die Forderung ist, dass die Bundesregierung eine bereits erteilte Zustimmung von internationaler Bedeutung zurückziehen soll. Ich wünschte mir, dass viele andere Beschlüsse der Bundesregierung zurückgenommen würden; das will ich überhaupt nicht verhehlen. Aber eine Zurückziehung dieser Zustimmung von internationaler Bedeutung zu fordern ist einfach weltfremd. Auch die Forderung nach einer vollständigen Aussetzung der Übermittlung von Fluggastdaten bis zum Abschluss eines internationalen Übereinkommens ist ebenfalls etwas weltfremd. Dann sagen die Amerikaner: Ohne diese Daten kommt ihr hier nicht rein. Die „Süddeutsche Zeitung“ - sie ist nicht gerade unsere Hauspostille ({1}) schreibt: Die wichtigste Rolle spielen in diesem grenzüberschreitenden Konflikt ohnehin die Passagiere selbst. Sie müssen letztlich entscheiden, ob ihnen der Flug in die USA wichtiger ist als die Preisgabe von Daten - in der Regel sind das im Fluggeschäft nicht mehr als ein Dutzend. Das ist von heute, also ganz aktuell. Übrigens ist der Artikel ausgesprochen lesenswert. Meine Damen und Herren, ich habe auf das akute amerikanische Sicherheitsbedürfnis bereits hingewiesen. Ich denke, es ist richtig, wenn wir die Initiative der Kommission begrüßen, einen weltweiten Standard für die Fluggastdatenübermittlung zu schaffen. Diese Initiative liegt im Augenblick bei der ICAO. Einheitliche Datenschutzstandards sind sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Nun warten aber die Terrorgefahren - auch das ist jedem bekannt - nicht bis zum Abschluss weltweiter Verhandlungen, sodass der Vorschlag der Kommission, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, auch vor dem Hintergrund der zeitnahen Schaffung klarer Datenübertragungsregeln gesehen werden muss. Wir dürfen das nicht auf die lange Bank schieben. Wenn die FDP, so wörtlich, „seriöse Garantien“ seitens der Vereinigten Staaten verlangt, dann habe ich Probleme mit dem Bild, das die FDP von Amerika - vielleicht auch nur von der Datenschutzgruppe nach Art. 29 - hat. Für die Union ist jedenfalls die Verpflichtungserkärung des US-Heimatschutzministeriums, die eine jährliche Überprüfung, und zwar vor Ort durch ein EU-Team - auch das ist sehr ungewöhnlich -, beinhaltet, absolut seriös und auch akzeptabel. Ich weise auch noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass der Datenschutz kein Selbstzweck ist, der isoliert betrachtet werden kann. Es geht, wie es eben schon gesagt wurde, um eine Verhältnismäßigkeitsabwägung. Es ist einfach zu respektieren, dass in den USA eine völlig andere Gewichtung bei der Abwägung zwischen Sicherheit und Datenschutz getroffen wird. Wir meinen, der Kompromiss trägt dem Rechnung. Schließlich: Wir haben nicht in die Politik - auch nicht in den Datenschutz - der USA einzugreifen oder sie zu bewerten. Es war eigentlich schon immer so, dass sich die Besucher eines Landes den Gesetzen des Gastlandes unterzuordnen hatten. Ich wünschte mir, dass zumindest in diesem Punkt Einigkeit in diesem Haus bestünde; ich bin mir allerdings nicht ganz sicher, ob wir diese Einigkeit herstellen können. Es geht um die Passagierdaten derjenigen, die in die Vereinigten Staaten reisen wollen. Insofern haben sie auch die entsprechenden Einreisebestimmungen zu akzeptieren. Wenn die Amerikaner in ihrem Land ein „Superdatenerfassungssystem“ wie CAPPS II installieren wollen, dann ist das eine hoheitliche Maßnahme, die sich unserer Bewertung und Beurteilung entzieht. Das gilt natürlich auch dann, wenn ein derartiges System nicht unseren Auffassungen entsprechen würde. Insofern kann sich unsere heutige Debatte nur auf den Umfang der auf europäischer Seite rechtmäßig zu erhebenden und zu übermittelnden Daten beziehen, nicht aber auf inneramerikanische Angelegenheiten. Ich habe das Gefühl, dass der Antrag der FDP das leider verkennt. Der Überweisung dieses Antrags an den Innenausschuss stimmen wir selbstverständlich zu. Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Stokar von Neuforn für Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist hier schon mehrfach gesagt worden: Das Europäische Parlament hat sich gestern gegen die von der EU-Kommission ausgehandelte Weitergabe von Fluggastdaten an die USA ausgesprochen. Ich glaube, das Europäische Parlament hat es sich mit dieser mehrheitlich gefassten Entscheidung nicht einfach gemacht. ({0}) Das Europäische Parlament fordert die EU-Kommission auf - ich finde, das ist eine berechtigte Forderung -, erneut in Verhandlungen einzutreten. Ich begrüße diese Haltung des Europäischen Parlaments ausdrücklich. Ich habe den Anspruch an eine rot-grüne Bundesregierung, dass sie diesen Beschluss des Europäischen Parlaments als politische Verpflichtung aufnimmt, auch wenn er politisch nicht bindend ist. Die Termine sind auch gesetzt; über dieses Abkommen wird in der EU-Kommission und im EU-Rat erneut geredet werden müssen. Deswegen ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt dafür, dass sich auch der Deutsche Bundestag - wenn auch in kleiner Besetzung - mit diesem Thema befasst. ({1}) In ihrer Bewertung sind die europäischen Abgeordneten - genau das ist ihre Aufgabe - zu dem Ergebnis gekommen, dass das ausgehandelte Abkommen gegen das europäische Gemeinschaftsrecht verstößt und mit den EU-Datenschutzbestimmungen nicht vereinbar ist. Hier hat das Parlament seine Kontrollfunktion wahrgenommen. Die Rechte der EU-Bürgerinnen und -Bürger sind durch dieses Abkommen nicht hinreichend geschützt. EU-Bürger werden wesentlich schlechter gestellt als USBürger. Zum Beispiel haben sie - das erkennt man erst anhand der Details der Verpflichtungserklärung - keinen Rechtsanspruch darauf, dass falsche Daten korrigiert werden, und kein Auskunftsrecht. Der wichtigste Punkt ist: Sie haben keine Kontrolle mehr darüber, in welcher Form ihre Daten weiterverarbeitet und an andere Länder weitergegeben werden. ({2}) Die Anzahl der übermittelten Daten steht in keinem Verhältnis zum Sicherheitsgewinn. In diesem Punkt sind wir nicht auseinander. Wir sind doch alle darin einig, dass die USA ein Interesse daran und auch ein Recht darauf haben, Passagierdaten zu erfahren. Aber wenn Sie sich die Liste, über die verhandelt wurde, anschauen, stellen Sie fest: Die USA forderten, alle 38 Datenelemente zu erfahren. Dann hat man sich auf 34 Datenelemente geeinigt. Um die entsprechenden Sicherheitsinteressen zu gewährleisten, ist - unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - die Übermittlung von 19 Datenelementen erforderlich. Die Weitergabe genau dieser 19 Datenelemente hat die EU-Datenschutzgruppe nach Art. 29 in den Verhandlungen akzeptiert. Hier einen Widerspruch zwischen den Sicherheitsinteressen der USA und ihrer Behinderung durch den Datenschutz herzustellen, das ist der völlig falsche Ansatz. ({3}) Die US-Behörden haben sich in diesen Verhandlungen geweigert. Sie haben keinerlei Belege oder Hinweise vorgelegt, aus denen sich ableiten ließe, inwieweit die Verarbeitung weiter gehender Datenelemente - über die genannten 19 Datenelemente hinaus - tatsächlich für die Terrorismusbekämpfung erforderlich ist. Auch wir haben in all unseren Papieren den Grundsatz definiert, dass wir die Maßnahmen, die für die Gewährleistung der Sicherheit erforderlich sind, durchführen. Aber wenn darüber hinaus Datenmengen gesammelt werden, ohne dass politisch belegt oder begründet wird, worin der daraus resultierende Sicherheitsgewinn besteht, und ohne dass Sicherheit bezüglich der Weitergabe dieser Daten besteht, ist das ein Ansatz, den wir als grüne Fraktion nicht mittragen können. ({4}) Ich kritisiere, dass nicht hart genug mit den Vereinigten Staaten verhandelt worden ist. Ich denke, dass Europa gut daran tut, auch bei der Entwicklung einer europäischen Sicherheitsstrategie - nach Madrid führen wir diese Diskussion ja verstärkt - auf Souveränität und Eigenständigkeit zu achten. Wir als grüne Fraktion wollen ein sicheres Europa und ein Europa der Bürgerrechte. In diesem Sinn kann ich die Bundesregierung nur ermutigen, sich für die Aufnahme neuer Verhandlungen mit den USA einzusetzen. Danke schön. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zum Schluss hat die Parlamentarische Staatssekretärin Ute Vogt für die Bundesregierung das Wort.

Ute Vogt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002823

Danke schön, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Burgbacher, der Antrag der FDP-Fraktion beginnt recht hoffnungsvoll. In seiner Einleitung heißt es, dass wir den internationalen Terrorismus nur gemeinsam in der internationalen Staatengemeinschaft bekämpfen können und dass ein gemeinsames Handeln die zwingende Voraussetzung dafür ist. Das findet sicherlich die Zustimmung des ganzen Hauses. Auch sind wir uns darin einig, dass die Bekämpfung des Terrorismus den Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger voraussetzt, und zwar insbesondere durch eine vorbeugende Bekämpfung des Terrorismus; denn wir werden nicht in der Lage sein, alle weichen Ziele umfassend zu schützen. Sonst würden wir in der Tat Bürgerrechte wie die Bewegungsfreiheit einschränken müssen. Insofern geht es darum, vorbeugend eingreifen zu können, von vornherein zu verhindern, dass mögliche Attentäter Anschläge planen und insbesondere begehen können. Dazu ist der Austausch von Daten unserer Ansicht nach ein bedeutender Aspekt, nicht nur ein kleiner Teilaspekt. Dabei ist es für uns selbstverständlich, dass es notwendig ist, die Bürgerrechte zu schützen. Der Datenschutz, der zu den Bürgerrechten gehört, darf nicht außer Acht bleiben. Wenn wir Bürgerrechte aufkündigen würden, hätten wir dem Terrorismus bereits zu viel Raum gegeben. Aus diesem Grund hat die Bundesregierung die Bemühungen der Europäischen Kommission, zu verhandeln, unterstützt. Wir haben uns bemüht, das Auskunftsverlangen in unserem Sinne zu gestalten und den datenschutzrechtlichen Anforderungen anders nachzukommen, als es nach dem ersten Entwurf der USA der Fall gewesen ist. Es ging darum, bei der Gestaltung mitzumachen. Übrigens ist es entgegen der Vermutung Ihres Antrags so, dass die ganze Bundesregierung, insbesondere auch das Justizministerium, unsere Zustimmung in diesem Punkt unterstützt hat. Unser Datenschutzrecht verlangt für internationale Datenübermittlungen ein angemessenes Datenschutzniveau, es verlangt keine Gleichwertigkeit. Es wäre eine falsche Vorstellung, wenn wir glaubten, wir könnten mit den USA die Gleichwertigkeit in Bezug auf den Datenschutz erreichen; dafür haben wir eine zu unterschiedliche Kultur im Umgang mit Daten - schon in den europäischen Ländern, erst recht aber im Vergleich mit den USA. Wir haben die Aufgabe, unter Berücksichtigung aller Umstände ein inhaltlich und rechtlich angemessenes Datenschutzniveau zu gewährleisten. Das haben wir erreicht. Die Kollegin Philipp hat dankenswerterweise schon einige der konkreten Verhandlungserfolge aufgezählt. Es ist eben nicht so - Sie haben ausdrücklich darauf hingewiesen -, dass die USA weiterhin auf dem Online-Abrufverfahren beharren. Vielmehr hat man zugesichert, dass sie so schnell wie möglich auf eine aktive Übermittlung umstellen wollen. Wenn man beklagt, dass die Speicherfrist von 3,5 Jahren zu lang sei, muss man sehen, dass vorher 50 Jahre vorgesehen waren. Bei Verhandlungen geht es darum, dass man etwas erreicht. Wir sind der Meinung: Wir haben mit dieser Lösung etwas erreicht, was unserem gemeinsamen Interesse entgegenkommt, die internationale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus zu fördern. ({0}) Das bedeutet, dass wir zusammenwirken müssen, auch bei ganz unterschiedlichen Voraussetzungen: bei unterschiedlichen nationalen Gesetzgebungen und einer anderen Kultur im Umgang mit Daten. Ich glaube, dass Sie mit Ihrem Antrag nicht den Kern der tatsächlich getroffenen Vereinbarungen treffen und an manchen Stellen nicht den aktuellen Stand der Vereinbarungen wiedergegeben haben. ({1}) Ich empfehle Ihnen, die tatsächlichen Details einmal nachzulesen. Unsere Antwort auf die Anfrage zu dem Thema zeigt, dass wir zu dieser Vereinbarung guten Gewissens stehen können, weil wir nichts zu verbergen haben, weil wir große Verhandlungserfolge erreicht haben und weil wir eine angemessene Lösung durchsetzen konnten, im Übrigen - das ist mindestens genauso bemerkenswert wie die Tatsache, dass wir mit den USA in diesem wichtigen Punkt einen großen Schritt vorangekommen sind - im Zusammenwirken mit allen anderen EU-Staaten. Das alles war zum Nutzen der Bürgerinnen und Bürger: Deren Schutz ist gewahrt und ihre Bürgerrechte sind besser geschützt als nach dem vorherigen Verfahren. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Pau hat eine vorbereitete Rede zu Pro- tokoll gegeben1). Damit schließe ich die Aussprache. Stimmen Sie der interfraktionell vorgeschlagenen Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2761 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu? Das ist überraschenderweise einvernehmlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gero Storjohann, Dirk Fischer ({0}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Kleinlaster sicherer machen - Drucksache 15/2577 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit 1) Anlage 4 Vizepräsident Dr. Norbert Lammert Das ist ein Thema, das sich für diese Nachtzeit vorzüglich geeignet hätte und zu dem auch eine halb- stündige Aussprache vorgesehen war. Nun haben sich die Kollegen Uwe Beckmeyer, Gero Storjohann, Ursula Sowa, Horst Friedrich und auch die Parlamentarische Staatssekretärin Iris Gleicke entschlossen, ihre Reden zu Protokoll zu geben,1) ({2}) sodass ich, wie die Zwischenrufe zu Recht deutlich ma- chen, mit Bedauern feststellen muss, dass damit die Aus- sprache entfällt. 1) Anlage 5 Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2577 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu besteht offenkundig ebenfalls Einvernehmen. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 2. April 2004, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.