Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/29/1999

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gebe ich das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung von gestern abend über die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur Wiedererhebung der Vermögensteuer auf Drucksachen 14/11 und 14/1614 bekannt: Abgegebene Stimmen 528. Mit Ja haben gestimmt 497, mit Nein haben gestimmt 28, Enthaltungen 3. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 527; ja: 496 nein: 28 enthalten: 3 Ja SPD Brigitte Adler Gerd Andres Ingrid Arnd-Brauer Rainer Arnold Hermann Bachmaier Ernst Bahr Dr. Hans-Peter Bartels Eckhardt Barthel ({0}) Klaus Barthel ({1}) Ingrid Becker-Inglau Dr. Axel Berg Hans-Werner Bertl Friedhelm Julius Beucher Petra Bierwirth Lothar Binding ({2}) Klaus Brandner Anni Brandt-Elsweier Willi Brase Dr. Eberhard Brecht Rainer Brinkmann ({3}) Bernhard Brinkmann ({4}) Hans-Günter Bruckmann Edelgard Bulmahn Ursula Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Martin Bury Hans Büttner ({5}) Marion Caspers-Merk Dr. Peter Wilhelm Danckert Christel Deichmann Karl Diller Rudolf Dreßler Dieter Dzewas Dr. Peter Eckardt Sebastian Edathy Ludwig Eich Marga Elser Peter Enders Petra Ernstberger Annette Faße Lothar Fischer ({6}) Gabriele Fograscher Iris Follak Norbert Formanski Rainer Fornahl Hans Forster Dagmar Freitag Lilo Friedrich ({7}) Harald Friese Anke Fuchs ({8}) Arne Fuhrmann Monika Ganseforth Konrad Gilges Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Renate Gradistanac Günter Graf ({9}) Angelika Graf ({10}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Hans-Joachim Hacker Christel Hanewinckel Anke Hartnagel Klaus Hasenfratz Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Frank Hempel Rolf Hempelmann Monika Heubaum Reinhold Hiller ({11}) Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({12}) Walter Hoffmann ({13}) Frank Hofmann ({14}) Ingrid Holzhüter Christel Humme Barbara Imhof Brunhilde Irber Gabriele Iwersen Renate Jäger Jann-Peter Janssen Ilse Janz Dr. Uwe Jens Volker Jung ({15}) Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Sabine Kaspereit Susanne Kastner Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Marianne Klappert Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Anette Kramme Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Horst Kubatschka Ernst Küchler Konrad Kunick Dr. Uwe Küster Werner Labsch Christine Lambrecht Brigitte Lange Christian Lange ({16}) Detlev von Larcher Christine Lehder Klaus Lennartz Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann ({17}) Christa Lörcher Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dieter Maaß ({18}) Winfried Mante Dirk Manzewski Tobias Marhold Ulrike Mascher Christoph Matschie Heide Mattischeck Markus Meckel Ulrike Mehl Ulrike Merten Angelika Mertens Dr. Jürgen Meyer ({19}) Christoph Moosbauer Michael Müller ({20}) Jutta Müller ({21}) Christian Müller ({22}) Franz Müntefering Andrea Nahles Volker Neumann ({23}) Gerhard Neumann ({24}) Dr. Edith Niehuis Günter Oesinghaus Leyla Onur Manfred Opel Holger Ortel Adolf Ostertag Kurt Palis Albrecht Papenroth Dr. Martin Pfaff Georg Pfannenstein Johannes Pflug Joachim Poß Karin Rehbock-Zureich Margot von Renesse Renate Rennebach Bernd Reuter Reinhold Robbe René Röspel Michael Roth ({25}) Birgit Roth ({26}) Marlene Rupprecht Thomas Sauer Gudrun Schaich-Walch Rudolf Scharping Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild Horst Schmidbauer ({27}) Ulla Schmidt ({28}) Silvia Schmidt ({29}) Dagmar Schmidt ({30}) Wilhelm Schmidt ({31}) Regina Schmidt-Zadel Heinz Schmitt ({32}) Olaf Scholz Karsten Schönfeld Fritz Schösser Gisela Schröter Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann ({33}) Brigitte Schulte ({34}) Reinhard Schultz ({35}) Volkmar Schultz ({36}) Ilse Schumann Dr. R. Werner Schuster Dr. Angelica Schwall-Düren Ernst Schwanhold Rolf Schwanitz Bodo Seidenthal Erika Simm Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie SonntagWolgast Wieland Sorge Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Ludwig Stiegler Rolf Stöckel Rita Streb-Hesse Reinhold Strobl ({37}) Dr. Peter Struck Joachim Stünker Joachim Tappe Jörg Tauss Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Adelheid Tröscher Rüdiger Veit Simone Violka Ute Vogt ({38}) Hedi Wegener Wolfgang Weiermann Reinhard Weis ({39}) Matthias Weisheit Gert Weisskirchen ({40}) Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker Hans-Joachim Welt Dr. Rainer Wend Hildegard Wester Lydia Westrich Dr. Norbert Wieczorek Heidemarie Wieczorek-Zeul Dieter Wiefelspütz Heino Wiese ({41}) Klaus Wiesehügel Brigitte Wimmer ({42}) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Verena Wohlleben Hanna Wolf ({43}) Waltraud Wolff ({44}) Heidemarie Wright Peter Zumkley CDU/CSU Peter Altmaier Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Brigitte Baumeister Meinrad Belle Dr. Sabine Bergmann-Pohl Otto Bernhardt Hans-Dirk Bierling Renate Blank Dr. Heribert Blens Dr. Norbert Blüm Friedrich Bohl Dr. Maria Böhmer Wolfgang Börnsen ({45}) Wolfgang Bosbach Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig Dr. Ralf Brauksiepe Paul Breuer Georg Brunnhuber Hartmut Büttner ({46}) Cajus Caesar Peter H. Carstensen ({47}) Leo Dautzenberg Wolfgang Dehnel Hubert Deittert Albert Deß Renate Diemers Thomas Dörflinger Hansjürgen Doss Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Rainer Eppelmann Dr. Hans Georg Faust Ulf Fink Ingrid Fischbach Dirk Fischer ({48}) Axel Fischer ({49}) Dr. Gerhard Friedrich ({50}) Dr. Hans-Peter Friedrich ({51}) Jochen-Konrad Fromme Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Georg Girisch Michael Glos Dr. Reinhard Göhner Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Kurt-Dieter Grill Manfred Grund Horst Günther ({52}) Gottfried Haschke ({53}) Gerda Hasselfeldt Hansgeorg Hauser ({54}) Klaus-Jürgen Hedrich Ursula Heinen Manfred Heise Siegfried Helias Ernst Hinsken Peter Hintze Martin Hohmann Klaus Holetschek Joachim Hörster Hubert Hüppe Georg Janovsky Dr. Dietmar Kansy Manfred Kanther Irmgard Karwatzki Eckart von Klaeden Ulrich Klinkert Manfred Kolbe Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Thomas Kossendey Rudolf Kraus Dr. Martina Krogmann Dr. Paul Krüger Dr. Hermann Kues Dr. Karl A. Lamers ({55}) Dr. Norbert Lammert Dr. Paul Laufs Karl-Josef Laumann Peter Letzgus Ursula Lietz Walter Link ({56}) Eduard Lintner Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann ({57}) Julius Louven Dr. Michael Luther Erwin Marschewski Dr. Martin Mayer ({58}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Meinolf Michels Dr. Gerd Müller Bernward Müller ({59}) Elmar Müller ({60}) Bernd Neumann ({61}) Claudia Nolte Günter Nooke Franz Obermeier Friedhelm Ost Eduard Oswald Norbert Otto ({62}) Dr. Peter Paziorek Anton Pfeifer Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp Ronald Pofalla Marlies Pretzlaff Dr. Bernd Protzner Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Helmut Rauber Peter Rauen Christa Reichard ({63}) Hans-Peter Repnik Klaus Riegert Franz Romer Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose Kurt Rossmanith Norbert Röttgen Dr. Christian Ruck Anita Schäfer Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Heinz Schemken Gerhard Scheu Norbert Schindler Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({64}) Andreas Schmidt ({65}) Birgit Schnieber-Jastram Dr. Rupert Scholz Reinhard Freiherr von Schorlemer Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Schulhoff Clemens Schwalbe Dr. Christian SchwarzSchilling Wilhelm-Josef Sebastian Horst Seehofer Heinz Seiffert Werner Siemann Präsident Wolfgang Thierse Bärbel Sothmann Margarete Späte Wolfgang Steiger Erika Steinbach Andreas Storm Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl ({66}) Michael Stübgen Dr. Rita Süssmuth Dr. Susanne Tiemann Edeltraut Töpfer Gunnar Uldall Angelika Volquartz Andrea Voßhoff Dr. Theodor Waigel Peter Weiß ({67}) Gerald Weiß ({68}) Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese ({69}) Hans-Otto Wilhelm ({70}) Gert Willner Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer ({71}) Matthias Wissmann Werner Wittlich Dagmar Wöhrl Aribert Wolf Elke Wülfing Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Gila Altmann ({72}) Marieluise Beck ({73}) Volker Beck ({74}) Ekin Deligöz Franziska Eichstädt-Bohlig Hans-Josef Fell Andrea Fischer ({75}) Rita Grießhaber Winfried Hermann Kristin Heyne Ulrike Höfken Michaele Hustedt Dr. Angelika Köster-Loßack Steffi Lemke Dr. Helmut Lippelt Dr. Reinhard Loske Klaus Wolfgang Müller ({76}) Kerstin Müller ({77}) Winfried Nachtwei Christa Nickels Cem Özdemir Simone Probst Claudia Roth ({78}) Christine Scheel Albert Schmidt ({79}) Werner Schulz ({80}) Christian Sterzing Ludger Volmer Helmut Wilhelm ({81}) F.D.P. ({82}) Rainer Brüderle Gisela Frick Horst Friedrich ({83}) Hans-Michael Goldmann Joachim Günther ({84}) Dr. Karlheinz Guttmacher Klaus Haupt Ulrich Heinrich Walter Hirche Ulrich Irmer Dr. Klaus Kinkel Dr. Heinrich L. Kolb Jürgen Koppelin Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Hans-Joachim Otto ({85}) Detlef Parr Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Gerhard Schüßler Marita Sehn Dr. Hermann Otto Solms Dr. Max Stadler Carl-Ludwig Thiele Dr. Guido Westerwelle Nein PDS Eva Bulling-Schröter Roland Claus Heidemarie Ehlert Dr. Ruth Fuchs Wolfgang GehrckeReymann Dr. Gregor Gysi Uwe Hiksch Dr. Barbara Höll Sabine Jünger Gerhard Jüttemann Rolf Kutzmutz Ursula Lötzer Dr. Christa Luft Heidemarie Lüth Angela Marquardt Manfred Müller ({86}) Kersten Naumann Rosel Neuhäuser Christine Ostrowski Dr. Uwe-Jens Rössel Christina Schenk Dr. Ilja Seifert Dr. Winfried Wolf Enthalten BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Irmingard ScheweGerigk Hans-Christian Ströbele Sylvia Voß Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der NAV, der OSZE oder der IPU Abgeordnete({87}) Adam, Ulrich, CDU/CSU Behrendt, Wolfgang, SPD Bühler, Klaus ({88}), CDU/CSU Haack, Karl Hermann ({89}), SPD Dr. Hendricks, Barbara, SPD Maaß, Erich ({90}), CDU/CSU Schütz, Dieter ({91}), SPD Siebert, Bernd, CDU/CSU Dr. Wodarg, Wolfgang, SPD Zierer, Benno, CDU/CSU Die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses ist angenommen. Der Antrag der PDS ist damit abgelehnt. Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der Selbständigkeit - Drucksache 14/1855 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({92}) Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine dreiviertel Stunde vorgesehen - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Peter Dreßen, SPD-Fraktion.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich eingangs feststellen: Die Arbeitslosenzahlen sinken, wenn auch zu langsam. Das wirtschaftliche Wachstum zieht an und verspricht, sich in den nächsten Jahren positiv auf die Arbeitslosigkeit auszuwirken. Soziale Gerechtigkeit ist durch den verbesserten Kündigungsschutz und durch die volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle, aber auch durch die sozial gerechte Steuerreform für jedermann erfahrbar geworden - um nur einige Punkte zu nennen. Das ist wahrlich eine stolze Bilanz der Regierungskoalition von SPD und Grünen. ({0}) Präsident Wolfgang Thierse - Auch diesen Punkt können wir in die Liste aufnehmen. Nun zur Sache. Mit dem Gesetz zur Korrektur der Sozialversicherung haben wir am 19. Dezember 1998 auch die Bekämpfung der Scheinselbständigkeit beschlossen. Wir haben damals bestehendes Richterrecht in Gesetzesform gegossen. ({1}) Die Diskussion der letzten Monate hat gezeigt, daß Regelungen im Bereich der Existenzgründung, aber auch die Beitragsbescheide der diversen Sozialversicherungsträger in der Praxis zu Problemen geführt haben. Nun werden die Damen und Herren von der Opposition sagen: Klar, das hatten wir Ihnen ja schon damals gesagt. ({2}) Ich gebe jedoch zu bedenken, daß im damaligen BlümMinisterium in den letzten Jahren fieberhaft nach einer Regelung gesucht wurde, wie das Problem der Scheinselbständigkeit gelöst werden könnte. Es wurden damals Studien verfaßt, auf deren Zahlen wir uns heute noch beziehen. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, haben jedoch nie den Mut gehabt, ein Gesetz zur Bekämpfung der Scheinselbständigkeit einzubringen, ({3}) weil Sie wußten, daß das keine einfache Materie ist, und weil Sie wohl Angst hatten, daß Sie sich dabei eine blutige Nase holen. Der Stillstand war für Sie bequemer, auch wenn Sie damit zugelassen haben, daß die Sozialversicherung Beitragszahler verliert, daß die Beitragssätze steigen und daß die Betroffenen in späteren Jahren der Sozialhilfe zur Last fallen. Um sicherzustellen, daß dieses Gesetz Existenzgründer zukünftig nicht behindert und gleichzeitig eine im Detail einheitliche Rechtsanwendung und Entbürokratisierung schafft, wurde eine Kommission aus Fachleuten unter dem Vorsitz des ehemaligen Bundesarbeitsgerichtspräsidenten Professor Dr. Thomas Dieterich, ein ausgewiesener Fachmann und Praktiker, eingesetzt. Diese Kommission hat zügig, sachlich und gut gearbeitet. Ich möchte deshalb den Mitgliedern der Kommission, ganz besonders Herrn Professor Dieterich, für die Vorschläge herzlich danken. ({4}) Dies drückt sich auch darin aus, daß wir diese Vorschläge quasi eins zu eins umsetzen. Unverändert gilt, daß Scheinselbständigkeit ein erheblicher Störfaktor auf dem Arbeitsmarkt ist. Das Gesetz ist - entgegen der Forderung der Opposition, es abzuschaffen - dringend notwendig, um erstens die Betriebe, die ordnungsgemäß Sozialversicherungsbeiträge zahlen, vor den Betrieben zu schützen, die sich dieser Pflicht entziehen, und damit zweitens die Betroffenen im Alter vor lauter Selbstausbeutung nicht der Sozialhilfe anheimfallen. ({5}) Es darf in unserem Land nicht durch das Bezahlen von Sozialversicherungsbeiträgen zu Wettbewerbsverzerrungen kommen. Das Gesetz ist auch notwendig, um auf dem Arbeitsmarkt wieder einen fairen Wettbewerb herzustellen und Ordnung zu gewährleisten. So wird in diesem Gesetz erstens klargestellt, daß die gesetzliche Neuregelung an der bestehenden Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbständigkeit festhält. Diese Abgrenzung verschiebt sich also nicht zu Lasten der Selbständigkeit, auch wenn dies von der Opposition immer wieder wahrheitswidrig behauptet wird. Zweitens wird der Kriterienkatalog präzisiert und ergänzt sowie ein zusätzliches Bezugskriterium eingeführt. Drittens wird ein Antragsverfahren zur Statusklärung und Klarstellung eingeführt, in dem auf Grund einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls zu entscheiden ist, ob abhängige Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit vorliegt. Viertens werden unzumutbare Beitragsnachforderungen ausgeschlossen, und es wird ein vorläufiger Rechtsschutz gewährt. Fünftens werden die Möglichkeiten zur Befreiung von der Rentenversicherungspflicht für Selbständige insbesondere zur Förderung von Existenzgründungen erweitert, und die Frist für den Befreiungsantrag wird verlängert. Weder durch das Gesetz selbst noch durch seine Umsetzung wird es künftig zu Beeinträchtigungen von Existenzgründungen kommen. Ganz wesentlich trägt dazu bei, daß künftig mindestens drei von fünf - statt wie bisher zwei von vier - Kriterien erfüllt sein müssen, um als Scheinselbständiger eingestuft zu werden. Diese Kriterien, nach denen vermutet wird, daß die betreffende Person abhängig beschäftigt ist, sind kurz gefaßt folgende: erstens daß sie auf Dauer und im wesentlichen nur für einen Auftraggeber tätig ist, wobei Übergangsfristen gelten, um Existenzgründern keine Steine in den Weg zu legen, zweitens daß keine Mitarbeiter beschäftigt werden, drittens daß Tätigkeiten, wie sie die Erwerbsperson ausübt, bei ihrem oder einem vergleichbaren Auftraggeber von Arbeitnehmern verrichtet werden, viertens daß typische Merkmale unternehmerischen Handelns nicht zu erkennen sind, fünftens - das kommt jetzt neu hinzu - daß ihre Tätigkeit dem äußeren Erscheinungsbild nach der Tätigkeit entspricht, die sie für denselben Auftraggeber zuvor auf Grund eines Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt hatte. Des weiteren wird die Anwendung der Vermutungsregelung, nach der ein Sozialversicherungsträger die mögliche Einordnung als Scheinselbständiger vornimmt, konkretisiert. Die Vermutung kommt erst zum Tragen, wenn ein Betroffener die Mitarbeit zur Klärung des Sachverhalts, ob es sich um eine selbständig ausgeübte Tätigkeit oder einen Arbeitnehmerstatus handelt, verweigert. Es gibt also keine Automatik mehr, nach der eine Einordnung als möglicher Scheinselbständiger erfolgt. Zudem wird die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte alleine für die Prüfung zuständig sein. Dies dient dazu, divergierende Entscheidungen zu vermeiden und das Verfahren dementsprechend zu beschleunigen. Diese Kriterien sind praxisorientierter gefaßt. So gelten auch Familienangehörige künftig als Mitarbeiter, solange sie versicherungspflichtig beschäftigt sind und ein Entgelt von mehr als 630 DM erhalten. Dies alles schafft erheblich mehr Rechtssicherheit für die Selbständigen und deren Auftraggeber. Die Ausnahmeregelungen für Handelsvertreter bleiben erhalten. Insgesamt bietet die Gesetzesänderung mehr Freiheit für Selbständige und Existenzgründer. ({6}) - Herr Niebel, wenn ich bei Freiheit an die F.D.P. denke, wird mir ganz schummrig. Ich bin wirklich froh, daß Sie so dezimiert sind und um Ihre Zukunft bangen müssen. Das ist für mich eine Freude. ({7}) Dazu zählt auch, daß Existenzgründer in der Gründungsphase für drei Jahre von der Versicherungspflicht befreit werden können. Für eine zweite Existenzgründung kann der dreijährige Befreiungszeitraum erneut in Anspruch genommen werden. Ich sage das ganz offen: Auch wenn dies für Sozialpolitiker ein Wermutstropfen ist, haben wir dem im Interesse von Existenzgründern zugestimmt. Ich halte das für ein Signal. Wir legen Existenzgründern wirklich keine Steine mehr in den Weg. Auf das Getöse der Union zu hören, das Gesetz wieder abzuschaffen, hieße, so weiterzumachen, wie es die Regierung Kohl tat, nämlich den Kopf in den Sand zu stecken, lieber nichts zu tun und die Organisation der Sozialversicherung unverändert zu lassen, statt den Arbeitsmarkt zu ordnen. Dieser These stimmen wir nicht zu. Ich denke, mit dem Gesetz ist eine gute Lösung für die aufgetretenen Probleme getroffen worden. Darin bestärkt werde ich auch durch die Stellungnahmen verschiedener Verbandsvertreter anläßlich der Anhörung zum Antrag der CDU/CSU, das 630-DM-Gesetz und die Neuregelung der Scheinselbständigkeit zurückzunehmen, am 29. September dieses Jahres. Dort wurden die Vorschläge der Dieterich-Kommission - wenn auch nur am Rande - gutgeheißen, denn sie waren nicht das eigentliche Thema der Anhörung. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich stelle fest, daß dies das erste Gesetz der Regierung ist, das geändert wird, auch wenn Sie immer meinen, es wäre anders. Ich will Ihnen nicht vorrechnen, wie viele Gesetze Sie in den letzten vier Jahren geändert haben. ({8}) Wichtig ist, daß wir im Interesse von Existenzgründern eine Verbesserung ihrer Situation vorgenommen haben, um bestehende Zweifel zu beseitigen. Mithin ist dies wiederum ein Baustein zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Ich finde es phantastisch, daß uns auch die Wirtschaftsinstitute prognostizieren, daß die Arbeitslosenzahlen im nächsten Jahr weiter sinken werden. Das wird von Ihnen immer wieder bestritten. Aber es ist so, schauen Sie sich die Presse an. ({9}) Sie müßten doch eigentlich mit uns darüber jubeln, daß die Arbeitslosenzahlen sinken. Ich verstehe Ihr Weltbild, daß Sie das auch noch verteufeln, nicht mehr. Das ist für mich unverständlich. Das ist der Unterschied, meine Damen und Herren von der Opposition: Bei Ihnen sind die Arbeitslosenzahlen permanent gestiegen. Wir stellen die Regierung, die die Trendwende am Arbeitsmarkt schafft. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun der Kollege Johannes Singhammer, CDU/CSU-Fraktion.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Geschichte dieses Gesetzes gegen die Scheinselbständigkeit ist ein herausragendes Symbol für den Pfusch der rotgrünen Bundesregierung, sozusagen ein Prototyp eines völlig mißglückten Gesetzgebungsverfahrens. ({0}) Ich hasse alle Pfuscherei wie die Sünde, besonders aber die Pfuscherei in Staatsangelegenheiten, woraus für Tausende und Millionen nichts als Unheil hervorgeht. ({1}) Dies wußte schon Deutschlands größter Dichter, Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe. ({2}) Seit dem Regierungsantritt vor einem Jahr hat Rotgrün Unheil, schlimmen Schaden und Existenznot für Hunderttausende von Selbständigen verursacht. Das ist die Wahrheit. ({3}) Ohne Not haben Sie dieses Gesetz gegen unseren Rat und gegen den Rat nahezu aller Experten hastig und übereilt als eines der ersten auf den Weg gebracht. Jungen Existenzgründern wurde buchstäblich der Teppich unter den Füßen weggezogen, statt sie zu ermutigen. ({4}) Der Schaden ist groß. Viele freie Mitarbeiter erhalten keine Aufträge mehr, weil den Auftraggebern das bürokratische Verfahren zu kompliziert ist und sie sich vor den Folgen für das eigene Unternehmen fürchten. ({5}) Eine ganze Generation von Existenzgründern wurde abgestraft. Ich nenne Ihnen einige Beispiele dafür. Allein der Deutsche Franchise-Verband stellt fest, daß mit dem bisher geltenden Scheinselbständigengesetz der Arbeitsplatzzuwachs, der im Jahr 1998 noch 40 000 bei Franchisenehmern betrug, gestoppt wurde. Neue Selbständige im Franchisesystem sind kaum mehr hinzugekommen, und geplante Vertragsverhandlungen wurden abgebrochen. Im Bundesverband für Informationstechnologien hatten mehr als 6 000 der insgesamt 15 000 Mitglieder bereits im Juni dieses Jahres die Kündigung erhalten. Nach den Angaben des Bundesverbandes der Freien Berufe wurden in diesem Bereich über 50 000 Chancen zu neuen Existenzen in Frage gestellt. Der Bundesverband der Dolmetscher und Übersetzer beklagt für 20 000 Mitglieder schlimme Auswirkungen, besonders für Frauen auf Grund der Zerstörung der Möglichkeit einer flexiblen Arbeitszeitgestaltung. - Ich könnte diese Liste beliebig fortsetzen. Das ist die Wahrheit; das ist das Chaos, das Sie angerichtet haben. ({6}) Deshalb, Herr Dreßen, sage ich: Ihrem neuen Gesetzentwurf fehlt ein wesentlicher Inhalt. Ihm fehlt nämlich die Antwort auf die Frage: Wie soll dieser hunderttausendfach eingetretene Schaden korrigiert werden? Wo ist die Schadenersatzleistung für die Menschen, denen Sie in dem vergangenen Dreivierteljahr die Existenz geraubt haben? ({7}) Das hätten Sie in das Gesetz hineinschreiben müssen. Sie sollten sich sehr genau überlegen, wie Sie denjenigen, die unter dem Gesetz gelitten haben, deren Existenz zerstört ist, deren Auftraggeber entschwunden sind und die buchstäblich vor dem Ruin stehen, wieder helfen wollen. Die politisch Verantwortlichen, allen voran der Arbeitsminister, sollten sich entschuldigen. Der Bundeskanzler hat bei den Rentnern bereits vorgemacht, wie man sich ordentlich entschuldigt. Ich denke, daß nunmehr der Arbeitsminister an der Reihe ist, sich bei den Existenzgründern zu entschuldigen, denen er Schlimmes angetan hat. ({8}) Notwendig ist ein klares Bekenntnis zur Selbständigkeit. Das muß die Botschaft sein, die von dem neuen Gesetzentwurf ausgeht. Junge Menschen, die überlegen, ein eigenes Unternehmen zu gründen und sich selbständig zu machen, und damit ein Risiko eingehen - vielleicht zunächst nur mit einem einzigen Kunden, wie wir es oft erleben -, müssen ermutigt werden, statt durch einen Schlinger- und Schleuderkurs der Bundesregierung fortwährend verunsichert zu werden. Leider hat diese Bundesregierung in der Vergangenheit mit einer Kette von widersprüchlichen Äußerungen und Irrtümern nicht die Scheinselbständigkeit, sondern im Ergebnis die Selbständigkeit bekämpft. ({9}) Um die Sache abzukürzen, zitiere ich Ihnen nur einige Äußerungen. Schon neun Wochen nach Inkrafttreten dieses Gesetzes, am 8. März 1999, war die richtige Einsicht da, beispielsweise bei den Grünen. Die Kollegin Margarete Wolf formulierte damals in einem Magazin: „Das war ein Schnellschuß, den wir korrigieren müssen.“ Recht hat sie gehabt! ({10}) Zwei Wochen später, am 27. März 1999, läßt der Bundesarbeitsminister verkünden, die Bundesregierung plane selbstverständlich keinerlei Nachbesserung und kein neues Gesetz. Nach weiteren sechs Monaten, mit neuen Verzögerungen, haben wir nunmehr den von Ihnen eingebrachten Entwurf auf dem Tisch des Hohen Hauses. Herr Riester hat sechs Monate gebraucht, um den Rückzug anzutreten, und bemüht sich jetzt, den angerichteten Scherbenhaufen zusammenzukehren und ein neues, besseres Gesetz vorzulegen. In der Zwischenzeit werden immer wieder Fristen für die Altersvorsorge von Selbständigen verlängert oder rückwirkend korrigiert. Wir hatten in der Zwischenzeit mindestens dreimal eine Fristenverlängerung. Diejenigen, die sich immer bemüht haben, sich dem jetzigen Gesetzesstand anzupassen, sind letztendlich die Dummen. Jetzt soll der Rechtszustand rückwirkend ab dem 1. Januar 1999 gelten. Da kennt sich doch niemand mehr aus, und derjenige, der durchzublicken sich bemüht, wird am Schluß noch abgestraft. Das haben Sie angerichtet. ({11}) - Seien Sie ganz ruhig, Herr Dreßen! In einem gebe ich Ihnen ja recht: Der jetzige Gesetzentwurf ist auf alle Fälle besser als die geltende Rechtslage. Das ist aber auch kein Wunder, denn es gilt der Satz: Schlimmer ging's nimmer! ({12}) Aber auch der jetzige Entwurf bedarf eingehendster Beratung und Prüfung. Sie haben ihn sehr kurzfristig vorgelegt; erst vor zwei Tagen haben Sie in Ihrer Fraktion die Meinungsbildung abgeschlossen. Schon jetzt lassen sich allerdings einige neue Schwachstellen erkennen. Das gilt beispielsweise für den Bereich der Handelsvertreter, von denen bereits wieder massive Kritik erhoben worden ist. In drei Punkten haben Sie Fortschritte gemacht und zeigen Sie einen gewissen Lernerfolg, den ich Ihnen auch zugestehen will. Das gilt für die erweiterten Befreiungsmöglichkeiten und für die dreijährige Schonfrist für Existenzgründer. Da sind Sie auf dem richtigen Weg; das gebe ich Ihnen zu. Aber ein modernes Gesetz, ein unbürokratisches Regelungswerk, das wir uns vorstellen, ist das, was Sie vorgelegt haben, natürlich immer noch nicht. Die Ausweitung von vier auf fünf Kriterien für die Beantwortung der Frage, wer selbständig und wer noch nicht selbständig ist, ist letztendlich eine eingeschränkte Vermutungsregelung mit Umkehrklausel. Genau darin liegt die Kompliziertheit. Die notwendige Rechtssicherheit werden Sie dadurch nicht erreichen. Wenn Sie schon auf uns nicht hören, dann hören Sie wenigstens auf eine Reihe von Experten. Beispielsweise hat der 11. Deutsche Anwaltstag den Kommissionsentwurf, auf dem der Gesetzesvorschlag weitgehend basiert, so eingestuft. Das bedeutet neue Rechtsunsicherheit. Komplizierter geht es beim jetzigen Gesetzentwurf auch in folgendem nicht mehr - einen Punkt möchte ich noch herausgreifen -: Wenn jetzt ein freier Mitarbeiter einer Zeitung als Beschäftigter der Sozialversicherungspflicht unterliegt, kann es durchaus sein - das wird in vielen Fällen wahrscheinlich sein -, daß er steuerrechtlich gleichwohl als Selbständiger angesehen wird. Das ist nur einer der Widersprüche, der sich aus dem jetzigen Gesetzeswerk ergibt. Deshalb sage ich abschließend: Bemühen Sie sich, es besser zu machen! Beraten Sie sorgfältig! Brechen Sie ein solches Gesetz nicht mehr über das Knie! Überlegen Sie genau, wägen Sie die Argumente ab, und hören Sie auf uns! Hätten Sie am 1. Januar dieses Jahres auf uns gehört, wären Ihnen eine riesige Blamage und vielen Hunderttausenden von Existenzgründern ein nachhaltiger Schaden erspart geblieben. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Singhammer, wenn wir auf Sie gehört hätten, könnten wir in diesem Lande immer noch nicht den Mißbrauch abstellen, den Sie über Jahre haben aufkommen lassen. ({0}) Wir haben es hier mit einer Grauzone am Arbeitsmarkt zu tun, die sich über viele Jahre hinweg am Rande der Selbständigkeit dadurch entwickelt hat, daß Arbeitgeber Menschen, die eindeutig abhängig beschäftigt waren, als selbständig definiert haben. Das einzige Ziel war dabei, das Sozialversicherungssystem zu unterlaufen und Sozialabgaben einzusparen, und die einzige Wirkung war, daß diese Frauen und Männer keinen Sozialversicherungsschutz in Anspruch nehmen konnten. Sie wissen ganz genau, daß sich die merkwürdigsten Beschäftigungsverhältnisse entwickelt haben: der selbständige Schlachter am Fließband oder die Kellnerin, die zwischen dem Tresen und der Kundschaft angeblich selbständig ist. ({1}) Das sind Entwicklungen - Herr Niebel, das müssen auch Sie einsehen -, die sowohl den Beschäftigten nicht guttun als auch unsere Sozialkassen aushebeln. ({2}) Die alte Regierung hat sich an dieses Problem nicht herangewagt. Sie haben nicht den Mut bewiesen, sich für den Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die nicht selbständig sind, auf der einen Seite und für die Förderung von Existenzgründern und Selbständigen auf der anderen Seite einzusetzen. Auf Grund der in den letzten Jahren gerade auf dem Arbeitsmarkt stattfindenden Veränderungen müssen die Sozialversicherungssysteme mit eindeutigen Regelungen angepaßt werden. ({3}) - Die alte Bundesregierung hat - mit Ihrer Hilfe - diese Situation einfach ausgesessen und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zusätzlich höhere Sozialabgaben zugemutet, anstatt Antworten derauf zu geben, womit wir uns heute und in der Zukunft auseinandersetzen müssen, nämlich damit, daß immer häufiger ein Wechsel zwischen selbständiger Tätigkeit, abhängiger Beschäftigung und Arbeitslosigkeit stattfindet. Wir müssen Strukturen finden, die diesen Wandel berücksichtigen. Dem tragen wir mit diesem Gesetz Rechnung. Wenn man sich mit einer derartigen Grauzone am Arbeitsmarkt auseinandersetzt, dann ist es - gerade auch angesichts der Dynamik, die dort zu verzeichnen ist klar, daß es Probleme bei der Umsetzung eines solchen Gesetzes gibt. Wir geben freimütig zu, daß dieses Gesetz nach dem ersten Durchgang Irritationen ausgelöst hat und korrekturbedürftig ist. Darum diskutieren wir ja hier darüber. Ich weiß nur nicht, wo das Problem ist, Herr Singhammer: Wir machen Regelungen für die Betroffenen klarer und berücksichtigen dabei in besonderer Weise den Schutz der Existenzgründer. Um dieses schwierige Thema zu regeln, haben wir dies geht zurück auf eine deutliche Unterstützung durch die Grünen - die mit großem Sachverstand ausgestattete Kommission, bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern von Ministerien und anderen Rechtsexperten, eingeJohannes Singhammer richtet. Wir haben uns mit den Problemen, die in der praktischen Umsetzung aufgetreten sind, beschäftigt und hier vernünftige Lösungen vorgelegt. ({4}) Meine Fraktion hat sich gerade für die Verbesserung der Regelungen zum Schutz von Existenzgründerinnen und Existenzgründern stark gemacht. Wir sind sehr froh über die gefundene Regelung. ({5}) - Nein, nicht zu spät, sondern für die Existenzgründerinnen und -gründer gerade rechtzeitig. Eine der neuen Regelungen besagt, daß keine rückwirkenden Zahlungen geleistet werden müssen. ({6}) Hier ist Klarheit geschaffen worden, und das bringt uns weiter. Es dient auch dazu, der schleichenden Erosion der Sozialsysteme entgegenzuwirken, was bitter nötig war. Wir haben jetzt eine, wie ich denke, klare und faire Gesetzeslage. Die Vermutungsregelung greift nur in Ausnahmefällen - diese Regelung ist präzisiert worden; allerdings war das schon nach dem alten Gesetz so, das hatten viele nur nicht begriffen -, nämlich dann, wenn sich Personen verweigern, in Zusammenarbeit mit den Sozialversicherungsträgern festzustellen, welchen Status sie haben. Bei dieser Feststellung des Status sind die Sozialversicherungsträger gehalten, alle wirtschaftlichen und branchentypischen Gesichtspunkte zur Klärung heranzuziehen. Das ist wichtig in einer Situation, in der sich ständig neue Berufe entwickeln, in der eine ungeheure Dynamik herrscht. Die Erwerbstätigen können in diesem Verfahren ihre wirtschaftliche Situation darstellen. Unter Würdigung aller Gesichtspunkte ihrer Tätigkeit wird dann in Ausnahmefällen festgestellt, ob sie selbständig sind. Der Kriterienkatalog ist ausgeweitet worden. Nunmehr ist es so, daß drei von fünf Kriterien erfüllt sein müssen, um Scheinselbständigkeit festzustellen. Besonders wichtig ist, daß Familienangehörige als „normale Beschäftigte“ gerechnet werden. Wir haben ernstzunehmende Einwände - gerade der Informationstechnologie und Werbebranche - aufgenommen und berücksichtigt. Zudem haben wir - das ist eine weitere Änderung - eine Schonfrist von drei Jahren für Existenzgründerinnen und Existenzgründer eingeführt, die zweimal im Leben in Anspruch genommen werden kann. Wir haben die Kritikpunkte gerade der Selbständigen in unserem Gesetzentwurf aufgenommen und haben sehr große Zustimmung für diese Veränderungen erhalten. Diejenigen, die heute selbständig sind und eine angemessene Altersvorsorge vorweisen können, werden auch weiterhin nicht in die Rentenversicherungspflicht eingebunden. Last, not least: Im Rahmen des Voranfrageverfahrens können die Betroffenen - gerade dann, wenn sie gegen ihren Willen in die Scheinselbständigkeit gedrängt worden sind - ihren Status überprüfen lassen. Dies wird langwierige Klärungsprozesse beenden. Alles zusammengenommen - wir werden darüber noch ausgiebig diskutieren -: Wir sind davon überzeugt, daß wir echte Verbesserungen vorgenommen haben, ({7}) und zwar auf der Basis einer vernünftigen Balance zwischen der Verhinderung von Mißbrauch und der Förderung von Selbständigen. Dafür hätten schon Sie sorgen sollen. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dirk Niebel, F.D.P.-Fraktion.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann mir nicht vorstellen, daß es auf Dauer diesem Land sonderlich dienlich ist, wenn sich die Politik dieser Regierung mehr und mehr zur Realsatire entwickelt. Heute erfreut uns Rotgrün mit der Korrektur des Korrekturgesetzes von 1998. ({0}) Der Irrtum, das Gesetz im Intranet des Deutschen Bundestages als „Gesetz zur Förderung der Scheinselbständigkeit“ zu bezeichnen, sorgt vielleicht noch für ein gewisses Maß an Amüsement. Aber der richtige Titel „Gesetz zur Förderung der Selbständigkeit“ ist an Zynismus kaum noch zu überbieten. ({1}) Als Sie von Rotgrün vor einem Jahr noch Spaß am Regieren hatten, ({2}) haben Sie zum Rundumschlag gegen die Selbständigen angesetzt. Sie haben mit Ihrer Vermutungsregelung Selbständige zu Arbeitnehmern deklariert. ({3}) Wer die Vermutung, scheinselbständig zu sein, widerlegen konnte, wurde kurzerhand als arbeitnehmerähnlicher Selbständiger eingestuft und in die Zwangsversicherung hineingedrängt. ({4}) Das, was Sie in Ihrem Gesetzentwurf lapidar als Anlaufschwierigkeiten und Mißverständnisse bezeichnen, hat das Institut für Mittelstandsförderung in Bonn ein bißchen genauer überprüft. Im Jahr 1998 wurden 286 927 Gewerbe abgemeldet. Allein bis Mai 1999 wurden bereits 306 319 Gewerbe abgemeldet. ({5}) Ihr Gesetz ist seit Januar dieses Jahres geltendes Recht. Sie tun so, als könnten Sie rückwirkend alles umdrehen. Sie haben Existenzen vernichtet. Sie haben Menschen in die Arbeitslosigkeit getrieben. Sie haben das Wirtschaftswachstum in diesem Land geschädigt. ({6}) Sie haben durch einige kleine Schritte Lernfähigkeit bewiesen. Sie haben zum Beispiel die Diskriminierung der Familienbeschäftigung aus Ihrem Gesetz herausgenommen. Dies ist in Ordnung. Dafür hätte spätestens das Bundesverfassungsgericht gesorgt; denn es kann ja wohl nicht sein, daß man einem Selbständigen empfehlen muß, sich von seiner Frau, die zum Beispiel die Buchhaltung macht, scheiden zu lassen, damit er nicht mehr unter die Kategorie der sogenannten Scheinselbständigen fällt. ({7}) - Frau Kollegin Dückert, ich finde es außerordentlich hilfreich, daß Sie vor mir gesprochen haben. Wer Ihnen gut zugehört hat, der hat nämlich festgestellt, daß Sie überhaupt keine Ahnung haben, wie Selbständige in diesem Land arbeiten. Dies zeigt sich auch in der Politik von Rotgrün. ({8}) Sie haben das Prinzip der Zwangsversicherung, das für Selbständige absolut inakzeptabel ist, nicht aufgegeben. Sie haben nur zugestanden, daß sich die über 58jährigen nicht zwangsversichern müssen. Weiterhin haben Sie gesagt: Na ja, den Existenzgründern lassen wir in den ersten drei Jahren, in der Anlaufphase, auch ein bißchen Luft; in diesem Zeitraum können sie sich für viel Geld eine Lebensversicherung für die Altersvorsorge zulegen. Aber wenn die Existenzgründer im vierten Jahr seit der Existenzgründung nach Ihrer Ansicht womöglich noch immer scheinselbständig sind und in die Rentenversicherung hineingedrängt werden, dann haben sie auch noch die Kosten für die private Altersvorsorge zu tragen. Dies kann im Endeffekt nicht sonderlich hilfreich sein. Darüber hinaus haben Sie die die Übergangsregelungen betreffenden Kriterien verändert, indem Sie sinnvollerweise anerkannt haben, daß nicht nur Lebensversicherungen der Sicherung im Alter dienen können, sondern daß es auch andere Anlageformen gibt. Das wird ganz besonders diejenigen Selbständigen freuen, die aufgrund Ihres jetzt geltenden Gesetzes Wertpapiere oder Immobilien veräußert haben, um sich in der Lebensversicherung einzukaufen. ({9}) Meine Damen und Herren, der Existenzgründer im vierten Jahr wird von Ihnen in eine staatliche Zwangslotterie „Drei aus Fünf“ gepreßt, und der Selbständige hat garantiert verloren. Den Jackpot bekommt die Sozialversicherung. Zur Freude aller Beteiligten versuchen Sie die Wahlfreiheit in der Altersvorsorge auch im Bereich der Selbständigen gänzlich abzuschaffen. ({10}) Dieses Gesetz ist eine Mischung aus Murks und Marx, und es dient in keiner Weise der Schaffung neuer Arbeitsplätze. Der Mensch beginnt bei Ihnen bei der gesetzlichen Sozialversicherung. Das ist keine zukunftsweisende Politik. Ich bin sehr enttäuscht darüber, daß Sie es bei dieser Diskussion zu diesem Gesetz, die wir alle so lange mit ertragen und erleiden mußten, nicht gelernt haben, endlich mit den Füßen auf den Boden der Tatsachen zurückzukommen und Politik für Arbeitsplätze zu machen. - Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Klaus Grehn, PDS-Fraktion.

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Verehrter Herr Kollege Dreßen, Sie haben Ihre Ausführungen mit einer ob ihrer Unrichtigkeit bemerkenswerten Ausage begonnen. Sie haben gesagt, soziale Gerechtigkeit ist für jedermann erfahrbar. ({0}) Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten das am Dienstag den Bauern, am Mittwoch den Obdachlosen und am Donnerstag den Rentnern erzählt. Ich lade Sie ein, das heute bei den Aktionen der Erwerbslosen und der Sozialhilfeempfänger zu wiederholen und sich die Antwort abzuholen, wie diese Menschen das sehen. Im übrigen war das nicht Gegenstand des heutigen Tagesordnungspunktes, sondern es ging darum, daß die Regierung und die sie tragende Koalition in den zurückliegenden Monaten das getan haben, was eigentlich vor Eingriffen in das Gefüge von Wirtschaft und Gesellschaft selbstverständlich sein sollte: Sie haben nach einem - vorsichtig ausgedrückt - nicht ganz geglückten verwirrenden ersten Anlauf die Aussprache gesucht und sich der Diskussion in der Gesellschaft gestellt. Nicht alles, was da an Meinungsäußerungen gekommen ist, diente tatsächlich einer gerechteren Regelung. Vieles war das übliche Spiel der Lobbyverbände, die ihre in diesem Falle ungerechtfertigten und gesellschaftlich schädlichen Vorteile behalten wollten. Bemerkenswert ist, daß viele Beteiligte, darunter vor allem die Gewerkschaften, in ihren Stellungnahmen den Zugewinn an Gerechtigkeit des alten Gesetzentwurfs gegen Scheinselbständigkeit deutlich gemacht haben. Auch wir möchten die regierende Koalition ermutigen, nicht von dem eingeschlagenen Weg abzuweichen, dem Druck und dem Wehklagen des Unternehmerlagers nicht nachzugeben, denn die von nicht wenigen Unternehmen praktizierte Reduzierung des Personalbestandes zugunsten der künstlichen Schaffung von ihnen abhängiger Scheinselbständiger schuf und vergrößerte den Sumpf der ungesicherten Beschäftigungsverhältnisse, der Einkommensverluste, der mangelhaften oder gänzlich fehlenden sozialen Absicherung - letztlich zu Lasten des einzelnen wie auch der Gesellschaft als Ganzer. Fehlentwicklungen, Mißbrauch und Betrügereien auf dem Arbeitsmarkt zu unterbinden ist ein richtiger und auch zeitgemäßer Vorsatz. Vorgetäuschte Selbständigkeit in der Wirtschaft mit all ihren Steuer- und Abgabenprivilegien und auch das Wuchern von versicherungsfreien Billiglohnjobs waren und sind Quellen der sozialen Ungerechtigkeit. Es wäre schön, wenn die Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion das auch anerkennen könnten. Der jetzt vorgelegte Gesetzentwurf zur Änderung des SGB IV ergänzt oder verändert die Vorschriften für die Sozialversicherung und stellt sich zum Ziel, genauer zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbständigkeit abzugrenzen. Schein oder Nichtschein bleibt aber die Frage angesichts der Zielungenauigkeit mancher Formulierungen in den Merkmalen. Erst die Praxis wird zeigen, ob und wie sicher diese Frage beantwortbar sein wird. Wir haben zu kritisieren, daß zwischen der Vorlage des Entwurfs und der heutigen Debatte im Bundestag erneut nur wenige Tage liegen, erneut also Zeitdruck erzeugt wurde, der eine Entscheidungsfindung unnötig erschwert. Nicht alles, was jetzt als Präzisierung oder als Änderung vorgelegt wird, ist nachvollziehbar; anderes ist zustimmungsfähig. Trotz des berechtigten Anspruches, Existenzgründern günstige Startbedingungen einzuräumen - was wir unterstützen -, halten wir die extensiven Möglichkeiten ihrer Befreiung von der Rentenversicherungspflicht für viel zu großzügig und auch für unnötig. Diese Großzügigkeit geht letztlich und im Ernstfall zu Lasten der Sozialkassen. Natürlich wird eine der Zielstellungen auch wegen weiterer Feststellungsprozeduren nicht erreicht werden, nämlich die Senkung des bürokratischen Aufwandes. Die Gleichstellung von Familienangehörigen mit den normalen Beschäftigten beseitigt eine Ungerechtigkeit im Erwerbsleben. Das kann man nur begrüßen. Dem Drängen der Unternehmerlobby gegen das Gesetz darf nicht weiter nachgegeben werden. Jede Aushöhlung würde Nachteile für den Arbeitsmarkt und für die Solidargemeinschaft bedeuten. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Birgit Roth, SPD-Fraktion.

Birgit Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003214, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Liebe Interessierte! Herr Niebel, Ihre Kritik war unsachlich und in einigen Aspekten fachlich falsch. ({0}) Ich möchte ganz kurz auf einige Ihrer Behauptungen eingehen. Was ist eigentlich Scheinselbständigkeit? Eine Person wird aus einer Festanstellung herausgedrängt, weil der Arbeitgeber die Lohnnebenkosten sparen will. Wenn ich Sie als Liberalen ansprechen darf: Das ist meines Erachtens eine enorme Wettbewerbsverzerrung - aber das nur ganz am Rande. ({1}) Sie gehen im Grunde genommen davon aus: Es gibt überhaupt keine Scheinselbständigkeit. ({2}) Angeblich haben Tausende von Selbständigen ihre Existenz verloren. Mit anderen Worten: Sie bieten überhaupt keine Alternative, das Problem, das definitiv besteht, in den Griff zu bekommen. Sie ignorieren einfach einen Tatbestand. Diesbezüglich möchte ich Sie ganz kurz auf einige Urteile des Bundesarbeitsgerichtes oder auch des Landesarbeitsgerichtes Rheinland-Pfalz von 1996 und von 1997 aufmerksam machen. So wurde zum Beispiel die Firma Eismann wegen illegaler Scheinselbständigkeit rechtskräftig verurteilt; dies nur nebenbei, Herr Niebel. ({3}) Es bereitet mir eine ganz besondere Freude, Ihnen zu sagen, daß es in der letzten Wahlperiode einen Entschließungsantrag unter anderem Ihrer Fraktion gegeben hat, in dem steht: Der Deutsche Bundestag hält es für erforderlich, daß trotz aller Notwendigkeit größerer Flexibilisierung sichergestellt wird, daß für schutzbedürftige Personen auch in Zukunft ein ausreichender Versicherungsschutz besteht und auch die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme für die Zukunft gesichert wird … Nachdem ich Ihre Rede, Herr Niebel, gehört habe, fällt mir spontan der Satz ein: Was kümmert mich mein dummes Geschwätz von gestern; denn heute bin ich in der Opposition und werde genau das Gegenteil von dem behaupten. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin Roth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?

Birgit Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003214, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte, Herr Niebel. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Roth, natürlich bin ich hier nicht als Vertreter der Firmen Eismann oder Iglo. Würden Sie mir aber darin zustimmen, daß, bevor Sie letztes Jahr im Deutschen Bundestag Ihr erstes Korrekturgesetz verabschiedet haben, schon nach geltender Rechtsprechung der vorhin angesprochene Kellner, der in einer Gaststätte zwei Tische mietet und dann als selbständiger Gastronom herumläuft, strafbar gewesen ist? Würden Sie mir zustimmen, daß das schon immer illegal gewesen ist? Würden Sie mir zustimmen, daß eine Regelung gar nicht notwendig gewesen ist? ({0})

Birgit Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003214, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Niebel, ich glaube nicht, daß Sie mich zu fragen brauchen, ob diese Regelung wirklich notwendig gewesen ist. Sie wissen ganz genau, was für ein Mißbrauch im Bereich der Scheinselbständigkeit getrieben worden ist. ({0}) Sie hatten Frau Dückert gefragt, ob sie einmal selbständig war. Herr Niebel, ich muß Ihnen die provozierende Frage stellen: Waren Sie jemals selbständig? Können Sie die Situation beurteilen? ({1}) Dies ist aber nicht der Punkt, den ich in erster Linie ansprechen möchte. Meines Erachtens geht es vornehmlich um das von der Regierung realisierte Gesetz zur Förderung der Selbständigkeit. Schauen wir uns einfach einmal die Konditionen an, die Jungunternehmerinnen und Jungunternehmern gegeben werden. In der Anfangsphase werden Beiträge für die gesetzliche Rentenversicherung in Höhe von 123 DM fällig - gesetzt den Fall, der Existenzgründer/die Existenzgründerin möchte in die gesetzliche Rentenversicherung aufgenommen werden -, wenn am Anfang der Umsatz entsprechend gering ist. 123 DM, meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie wissen ganz genau, was heutzutage eine Arbeitnehmerin/ein Arbeitnehmer in die gesetzliche Rentenversicherung einbezahlt: zwischen 800 DM und 900 DM monatlich. Wir, Herr Niebel, kommen genau dieser Personengruppe entgegen und sagen: Die Anfangsphase ist schwer; wir sind bereit, diese Klientel finanziell massiv zu unterstützen, mit Mindestbeiträgen von 123 DM und 440 DM. Und da wollen Sie mir sagen, wir betrieben keine aktive Mittelstandspolitik? Herr Niebel, ich bitte Sie! ({2}) Das möchte ich Ihnen auch noch sagen: Keine private Rentenversicherung ist auch nur annähernd in der Lage, vergleichbare Konditionen zu bieten. ({3}) - Keine private Rentenversicherung bietet die Konditionen, wie Sie sie hier durch die gesetzliche haben können. Wir drängen auch keine Existenzgründerin und keinen Existenzgründer in die gesetzliche Rentenversicherung hinein. Das ist sachlich falsch. Ganz im Gegenteil - Frau Dr. Dückert hat es bereits angedeutet geben wir Existenzgründerinnen und Existenzgründern sogar die Möglichkeit der dreijährigen Befreiung, ohne Nachweis wohlgemerkt. Das heißt, wir geben einen Vertrauensvorschuß genau an diese Klientel, die uns wichtig ist, die nämlich auch Arbeitsplätze aufbaut. Damit realisieren wir politische Rahmenbedingungen, die den nötigen Spielraum, den nötigen Freiraum lassen. ({4}) - Wer die Praxis kennt, Herr Niebel - was ich Ihnen abspreche -, der weiß, wie schwer es ist, bei uns eine Firma zu gründen. Wenn es beim ersten Versuch nicht so klappt, wie man es sich vorstellt, sind wir auch bereit, auf diese Leute zuzugehen und zu sagen: Ja, ihr habt eine zweite Chance; wir sind bereit, eine zweite Möglichkeit der Befreiung zu geben. ({5}) - Herr Niebel, wenn Sie es binnen sechs Jahren nicht geschafft haben, sich selbständig zu machen, dann sollten Sie es auch besser sein lassen. ({6}) In einem Punkt gebe ich Ihnen recht: Wir haben Verunsicherung produziert, was ich sehr schade finde und auch bedaure. ({7}) Aber auf der anderen Seite haben wir natürlich auch die Konsequenz gezogen: Der Stichtag, auf den man sich jetzt geeinigt hat, bezieht sich auf den 31. Dezember 1999. Das heißt, wir erwarten von arbeitnehmerähnlich Selbständigen, von Jungunternehmerinnen und Jungunternehmern schlicht und ergreifend, daß eine adäquate Vorsorge für das Rentenalter in einer vernünftigen Höhe getroffen wird. Ich denke, das können wir auch verlangen. Denn es kann nicht sein, daß diese Klientel anschließend direkt in die Sozialhilfe geht. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Roth, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Singhammer?

Birgit Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003214, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, der war mir vorhin zu unsachlich. Um nochmals auf die Absicherung im Rentenalter zurückzukommen: Wie diese Vorsorge für das Rentenalter ausgestattet ist, bleibt den Personen individuell überlassen. Ob es nun die gesetzliche oder die private Rentenversicherung oder eine andere Art der Vorsorge ist, wichtig ist, daß diese Vorsorge betrieben wird. Und es besteht ein Vertrauensschutz. Dies ist in meinen Augen wiederum aktive Wirtschaftspolitik, die von dieser Regierung realisiert wird. Um es zusammenzufassen, Herr Niebel: ({0}) Wir fördern Existenzgründungen, wo wir können: durch direkte finanzielle Erleichterungen in der gesetzlichen Rentenversicherung, durch großzügige Übergangsregelungen - bedenken Sie bitte: der Stichtag wurde auf den 31.12.1999 verlegt -, durch die Wahlfreiheit, ob Sie sich in der gesetzlichen Rentenversicherung oder in einer privaten engagieren, Hauptsache in adäquater Höhe, es gibt langjährige Befreiungsmöglichkeiten und, wie gesagt, auch eine zweite Chance. Das sind die politischen Rahmenbedingungen, die dieses Land braucht, und das ist eine aktive Wirtschaftspolitik. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat der Kollege Norbert Hauser, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Norbert Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003141, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn Sie von einem Misthaufen Mist wegkarren, bleibt immer noch Mist übrig. So ist das auch mit dem Korrekturgesetz und Ihren jetzigen Änderungen: Sie sind und bleiben, was sie waren: Mist. ({0}) Ihre Politik krankt vor allem an zwei gravierenden Mängeln: Sie wollen einen Zwangsbeitrag an die gesetzliche Rentenkasse für alle Erwerbstätigen einführen, und zusätzlich türmen Sie bürokratische Hürden auf, statt den Mißbrauch wirksam zu bekämpfen. ({1}) Statt wieder neue Details zu formulieren und am Kriterienkatalog herumzubasteln, hätte man sich auf die bis 1998 geltenden Regelungen besinnen sollen. Dieses Gesetz war klar. Es ließ die notwendigen Maßnahmen gegen Personen zu, die sich zu Unrecht selbständig nannten. Die Leidtragenden Ihrer Politik bleiben die Selbständigen. Vor allem Ihr Versuch, die Selbständigen in die gesetzliche Rentenversicherung zu pressen, statt eigenverantwortliche Lösungen zu unterstützen, ist eine Zumutung. ({2}) Können Sie mir einmal sagen, welchen Grund ein Selbständiger haben sollte, sich für die gesetzliche Rentenversicherung zu entscheiden, wo Sie gerade den Rentnern eine Diät nach Kassenlage zumuten? ({3}) Sie wollen die Zwangsrekrutierung neuer Mitglieder für die gesetzliche Rentenversicherung, und zwar heute. ({4}) Es geht Ihnen nicht um die Solidargemeinschaft und Gerechtigkeit; wegen Ihrer verfehlten Rentenpolitik brauchen Sie „fresh money“. Das ist Ihr Problem. ({5}) Daß die Erwerbstätigen, selbständig oder nicht, Herr Dreßen, für ihr Alter vorsorgen, um nicht den Sozialstaat zu belasten, ist ein richtiger Ansatz. Dieses Ziel unterstützt meine Fraktion ausdrücklich.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Hauser, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?

Norbert Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003141, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hauser, gestehen Sie mir zu, daß wir nur für diejenigen etwas machen wollen, die nicht für ihr Alter vorsorgen können, weil sie mit einem niedrigen Lohn in die Selbständigkeit abgedrückt worden sind? Würden Sie zugestehen, daß das Gesetz zuläßt, daß jemand, wenn er etwas Adäquates nachweist, nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung sein muß?

Norbert Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003141, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dreßen, der Fehler - ich hatte es soeben schon einmal Birgit Roth ({0}) gesagt - besteht in Ihrem Ansatz. Sie meinen, daß Sie das Problem nur dann in den Griff bekommen können, wenn Sie großartige gesetzliche Regelungen aufbauen. Ihre gesetzlichen Regelungen sind aber praxisfremd. Sie hätten bereits mit der alten Rechtslage - das ist ja auch passiert - Mißbrauch bekämpfen können. Dazu aber hatten Sie kein Vertrauen, und nun meinen Sie, Sie müßten mit einer Ausweitung des § 7 Abs. 4 SGB IV und der zusätzlichen Einführung des § 7b diesen Wust noch einmal zusätzlich aufbauschen. Sie glauben, damit zu einer besseren Regelung zu kommen. Aber auch das schaffen Sie nicht, weil Sie die Konkretisierungen in diesem Bereich wieder auf die BfA und die Sozialversicherungsträger abwälzen. Wir erhalten dann große Loseblattsammlungen, in denen steht, was Sie meinen. Es lebe die Bürokratie. Das ist der falsche Weg, so sollten Sie nicht vorgehen. ({1}) - Ja gut, aber das ist eher eine Drohung, wie wir mittlerweile wissen. ({2}) Entscheidend ist allein, Herr Kollege, daß die Selbständigen über eine angemessene Altersvorsorge - insoweit komme ich Ihnen ja entgegen - verfügen. Wenn sie gewährleistet ist, ist automatisch auch der Mißbrauch durch vorgetäuschte Selbständigkeit ein für allemal beseitigt. Aber die Entscheidung darüber, wie die Selbständigen ihre eigene Altersvorsorge gestalten wollen, sollten wir ihnen selbst überlassen. ({3}) Wir sind der Auffassung, daß eigenverantwortliche Lösungen allemal besser sind als Regulierungen. Ein Selbständiger ist zunächst einmal für sich selbst verantwortlich. In Ihr Verständnis von Politik paßt es, daß nach Ihrem Gesetzesvorschlag - ich hatte es bereits angedeutet - nur die Träger der Sozialversicherung über die Scheinselbständigkeit entscheiden sollen. Sie überantworten die Unternehmer der Bürokratie. Daß andere Vorsorgemaßnahmen, wie zum Beispiel die Lebensversicherungen, zusätzlich von Ihnen besteuert werden sollen, paßt ebenfalls ins Bild Ihrer Politik. ({4}) Ihre Politik führt außerdem zum Anstieg der Lohnnebenkosten, obwohl Sie immer vorgeben, das Gegenteil zu wollen. Schröder, Riester, Fischer und ihre Blutsbrüder handeln nach dem Motto: Nach uns die Sintflut. Da haben sie ja nicht einmal so unrecht. Denn in drei Jahren ist dieser Spuk ja sowieso vorbei. ({5}) Die Bundesregierung ist mit dem Ziel angetreten, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Geblieben ist davon nichts. Im Gegenteil: Seit dem Amtsantritt der Regierung Schröder ist die Zahl der Erwerbstätigen um 367 000 zurückgegangen. ({6}) Von dieser Misere sind auch die Selbständigen nicht verschont geblieben. ({7}) Wir müssen davon ausgehen, daß durch Ihr Gesetz 50 000 selbständige Existenzen vernichtet oder gefährdet worden sind. Eines steht darüber hinaus fest: Die Überschrift „Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Selbständigkeit“ ist eine arglistige Täuschung. ({8}) Sie fördern doch nicht die Selbständigkeit. Was Sie versuchen, ist, mit diesem Gesetzentwurf die allerschlimmsten Fehler Ihres vorherigen Chaosgesetzes zu beseitigen. ({9}) Was einzelne Änderungen angeht, sind auf der einen Seite sicher Verbesserungen auszumachen. Das gestehen wir Ihnen zu. Auf der anderen Seite gibt es viele Regelungen, die nur oberflächlich sind oder unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten. Zum Teil sind Sie nicht einmal den diesbezüglichen Kommissionsvorschlägen gefolgt. Viel zu häufig sind Worte wie „Klarstellung“, „Präzisierung“ und „Ergänzung“ zu lesen. Viele Fragen also und wenig Antworten! Kein Wunder ist es deshalb, daß schon jetzt Juristen vor einem solchen Gesetz warnen. Der Bonner Arbeitsrechtler Meinhard Heinze bemängelt etwa, die Vorschläge der Dietrich-Kommission würden neue Rechtsfragen nur aufwerfen, aber alte nicht beseitigen. Recht hat er. Außerdem werden bei der Umsetzung des Gesetzes neue bürokratische Oxer aufgebaut. Dies gilt insbesondere für das Anfrageverfahren; denn dadurch wird kein Mißbrauch bekämpft. Oder glauben Sie wirklich daran, daß ein Auftraggeber oder ein Auftragnehmer, der Mißbrauch betreiben möchte, auch noch um Prüfung seines Status nachsucht? ({10}) Durch die Beseitigung der schlimmsten Fehler entsteht eben noch kein gutes Gesetz. Ihnen fehlt der Mut, das ursprüngliche Gesetz in den Reißwolf zu stecken. ({11}) Norbert Hauser ({12}) So bleibt nur die Korrektur des Korrekturgesetzes, also eine Scheinkorrektur. Mein Fazit lautet: Zahlreiche Änderungen wären notwendig, um ein wenigstens einigermaßen erträgliches Gesetz zu erhalten. Die beste Lösung wäre, die geltende Regelung von 1998, begleitet von der Sicherstellung einer Altersvorsorge mit Wahlfreiheit für Selbständige, zu wählen. An dieser Lösung mitzuwirken, bieten wir Ihnen an. Sie sollten dieses Angebot annehmen. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/1855 an die in der Tagesordnungspunkt aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Werner Lensing, Ilse Aigner, Axel E. Fischer ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Ausbau der Förderung der beruflichen Aufstiegsfortbildung - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über die Umsetzung und Inanspruchnahme des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes ({2}) - Drucksachen 14/541, 14/1137, 14/1893 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Ernst-Dieter Rossmann Antje Hermenau Dr. Heinrich Fink Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen, SPD.

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Aufstiegsfortbildungsgesetz hat die finanzielle Förderung von Fachkräften zum Ziel, die über eine abgeschlossene Erstausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf verfügen. Damit haben Betroffene in unserer Gesellschaft einen Rechtsanspruch auf Förderung der Teilnahme an Lehrgängen, die auf Prüfungen oberhalb des Niveaus der Facharbeiter-, Gesellen- oder Gehilfenprüfung oder eines Berufsfachschulabschlusses vorbereiten. Deshalb hat dieses Gesetz den Namen Meister-BaföG erhalten. Daneben enthält dieses Gesetz mit dem teilweisen Darlehenserlaß für Existenzgründer Komponenten zur Förderung von Selbständigkeit und damit zur Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen. Die Wiedereinführung des Rechtsanspruchs auf Förderung knapp drei Jahre nach Abschaffung der zweckmäßigen Förderung nach dem Arbeitsförderungsgesetz durch die frühere Bundesregierung war sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung, auch wenn er von Anfang an mit vielen Unzulänglichkeiten verbunden war. Der von der Bundesregierung vorgelegte Bericht über die Umsetzung des AFBG und die Inanspruchnahme zeigt deutlich eine Reihe von Defiziten dieses Gesetzes auf, auf die übrigens der Bundesrat schon im Gesetzgebungsverfahren 1995 hingewiesen hat. Die Bundesregierung begrüßt es deshalb sehr, daß sich nunmehr die CDU/CSU - ich denke, auch die F.D.P. - die Sicht des Bundesrates und der damaligen Opposition im Parlament zu eigen gemacht hat und die Reformbedürftigkeit dieses Gesetzes betont, wenn auch um etwa vier Jahre verspätet. Selbst im dritten Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes haben nur zwei Drittel der damals geschätzten 90 000 Personen pro Jahr an förderfähigen Fortbildungen teilgenommen. Selbst im Handwerksbereich, einem Schwerpunkt des AFBG, haben nur etwa ein Drittel der geschätzten Personen an Meistervorbereitungskursen, im IHK-Bereich sogar nur ein Viertel der geschätzten Personen an förderfähigen Lehrgängen teilgenommen. Der Mittelabfluß beträgt auf Grund der Schwächen dieses Gesetzes nur knapp ein Viertel des seinerzeit geschätzten Finanzbedarfs. Er wurde nunmehr durch die Bundesregierung der tatsächlichen Inanspruchnahme angepaßt. Die Mittelstandskomponente dieses Gesetzes, der Darlehenserlaß, hat im Berichtszeitraum kaum gewirkt. Der Anteil der geförderten Frauen und Ausländer ist nach wie vor viel zu gering. Die rechtlichen und zeitlichen Hürden für förderfähige Fortbildung sind zum Teil zu streng und haben förderwürdige Fortbildung etwa im Gesundheits- und Pflegebereich ausgegrenzt. Die Förderung von Fortbildungsteilnehmern und -teilnehmerinnen mit Familie ist unzureichend. In Einzelfällen wurde beklagt, daß die Förderung unter dem Sozialhilfeniveau liegt. Meine Damen und Herren von der Opposition, das ist Ihre Negativbilanz. Es ist nun Aufgabe dieser Bundesregierung, dieses Gesetz positiv weiterzuentwickeln. ({0}) Das Bundeskabinett hat im Juni dieses Jahres den Erfahrungsbericht verabschiedet. Ich kann Ihnen heute mitteilen, daß sich das Bundesministerium für Bildung und Forschung und das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie darauf verständigt haben, als Konsequenz aus der Mängelliste des Erfahrungsberichts Norbert Hauser ({1}) eine Reform des AFBG vorzubereiten, die im Jahre 2001 in Kraft treten soll. ({2}) Dies ist eine klare Aussage, an der wir uns messen lassen. Unsere Überlegungen, die uns bei der Vorbereitung auf die Novellierung leiten, zielen auf folgende Schwerpunkte: Erstens. Entbürokratisierung und Verwaltungsvereinfachung. Es ist erstaunlich, daß Sie ein Gesetz mit einem derartigen Bürokratiewust produziert haben. ({3}) Wir müssen die Verfahren zur Beantragung und Bewilligung der Leistungen aus dem AFBG für die Antragsteller grundlegend vereinfachen. So wollen wir etwa die Darlehensgewährung statt bisher in zwei Schritten künftig in einem Schritt ermöglichen. Für die Betroffenen ist es auch wichtig, durch Anwendung der Verfahrensvorschriften des Sozialgesetzbuches sicherzustellen, daß ein Widerspruch für den Antragsteller kostenfrei bleibt. Es ist erstaunlich, daß Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, dies nicht vorweg regeln konnten. Zweitens. Es geht um die verbesserte Förderung von Familien, Frauen und Alleinerziehenden. Wir müssen die Förderung so ausgestalten, daß eine berufliche Weiterqualifizierung auch für Familienväter und -mütter sowie für Alleinerziehende attraktiv und möglich ist. Hier können wir uns eine Erhöhung des Zuschlags für Kinder und/oder eine Anhebung des Kinderbetreuungszuschusses für Alleinerziehende vorstellen. ({4}) Drittens. Wir brauchen eine Einbeziehung förderungswürdiger Fortbildung in Berufsbereichen, die zukünftig von wachsender Bedeutung sind. Das AFBG muß deshalb entsprechend seiner ursprünglichen Intention als ein umfassendes Instrument zur Förderung der beruflichen Fortbildung ausgestaltet werden. Dazu bedarf es einer bundeseinheitlichen Förderung der Fortbildung in Gesundheits- und Pflegeberufen und eine Einbeziehung der Fortbildung an staatlich anerkannten Ergänzungsschulen. Präside Wolfgang Thierse: Kollege Catenhusen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jork?

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Bitte.

Dr. - Ing. Rainer Jork (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, Sie haben eben gesagt, daß diese Mängel schon seit vielen Jahren bekannt sind. Wir haben auch im Ausschluß darüber gesprochen, was verbessert werden könnte. Könnten Sie mir bitte sagen, warum wir noch bis zum Jahr 2001 warten müssen, bis die seit langem bekannten Mängel gesetzlich kompensiert werden?

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Das ist eine interessante Frage, die Sie sich vielleicht einmal selbst beantworten sollten. ({0}) Warum sind Sie denn während Ihrer Regierungszeit, obwohl die Mängel von Anfang an bekannt waren, fast drei Jahre lang untätig geblieben? Ich verstehe, daß Sie sich jetzt besonders beeilen wollen, diese auf Sie zurückgehenden Mängel abzustellen. Es gibt aber ein klares Verfahren, das folgendermaßen abläuft: Zuerst muß ein Erfahrungsbericht erstellt werden - der liegt jetzt vor -, dann müssen Eckpunkte festgelegt werden - die werden wir mit allen Beteiligten erörtern -, danach wird der Referentenentwurf vorgestellt, der einen sinnvollen Ausgleich der Interessen von Wirtschafts- und Bildungsseite beinhalten wird. Schließlich werden wir in ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren eintreten. Sie kennen unsere Auffassung, daß wir im Bereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ein gründliches Gesetzgebungsverfahren den von Ihnen erlassenen Hauruckgesetzen vorziehen. Dann wird dieses Gesetz rechtzeitig in Kraft treten. Wenn sich die Union nun dadurch profilieren will, daß sie fordert, es statt innerhalb eines Jahres schon innerhalb weniger Monate zu erlassen, verstehe ich das psychologisch: Sie wollen sich nämlich so beeilen, damit die Diskussion über die von Ihnen nicht beseitigten Mängel schnell beendet wird. Ich bitte aber um Verständnis, daß man eine derartig grundlegende Reform auch gründlich vorbereiten muß. Das möchte ich an dieser Stelle betonen. ({1}) Es geht uns viertens um die Verbesserung der Existenzgründungskomponente des Gesetzes. Das ist uns ein ganz wichtiges Anliegen. Wir müssen die Existenzgründungskomponente im AFBG stärken, damit es auch tatsächlich die gewünschten Impulse für mehr Existenzgründungen, Arbeits- und Ausbildungsplätze geben kann. Davon konnte bisher kaum die Rede sein. Diesem Ziel könnten wir etwa durch eine Verlängerung der Gründungs- und Einstellungsfristen für zwei Beschäftigte oder durch einen höheren Darlehenserlaß als zusätzlichen Anreiz näherkommen. Fünftens geht es um eine verbesserte Förderung von Fortbildungsmaßnahmen. Angesichts der derzeitigen Benachteiligung von Teilzeitmaßnahmen, die nur mit verzinslichen Darlehen gefördert werden, müssen wir auch über eine größere Ausgewogenheit bei der Förderung, etwa durch eine teilweise Bezuschussung der Maßnahmekosten für alle AFBG-Empfänger, nachdenken. Auch die Einbeziehung der Kosten des Meisterstücks wäre aus der Sicht von vielen Betroffenen eine wünschenswerte Verbesserung. ({2}) Sechstens ergreifen wir Maßnahmen zur Erhöhung des Ausländeranteils. Wir müssen die Förderung für die in Deutschland lebenden ausländischen Facharbeiter, die sich weiterqualifizieren und eventuell selbständig machen wollen, auch im Hinblick auf Impulse für den Arbeitsmarkt stärker öffnen. Hier erscheint vor allem eine erleichterte Zulassung durch entsprechende Änderungen der Vorschriften der Handwerksordnung geboten, so daß ausländische Facharbeiter bereits nach drei Jahren Erwerbstätigkeit zur Meisterprüfung zugelassen werden könnten. In welchem Umfang und in welcher Intensität Leistungsverbesserungen in diesen Bereichen durch die Reform möglich sind, hängt vom finanziellen Spielraum ab. Ich sage Ihnen ganz deutlich, daß das Bundesministerium für Bildung und Forschung gemeinsam mit dem Bundeswirtschaftsministerium alle Möglichkeiten zur Erweiterung des bisherigen Finanzrahmens sorgfältig ausloten wird. All diese Fragen werden wir in einem geordneten Verfahren nach sorgfältiger Auswertung des Erfahrungsberichts in Gesprächen mit Verbänden und Ländern diskutieren und dann mit der gebotenen Gründlichkeit die notwendigen gesetzgeberischen Konsequenzen ziehen. Lassen Sie mich zum Antrag der CDU/CSU-Fraktion noch einige kurze Anmerkungen machen: Schon der Zeitpunkt des Antrages zeigt, daß es Ihnen nicht um eine gründliche Auswertung geht, denn Sie wußten, daß die Bundesregierung bis zum Juni diesen Erfahrungsbericht vorlegen würde. Der Erfahrungsbericht ist Ihnen zugeleitet worden. Wir sind der Meinung, daß die weiteren Beratungen jetzt auf der Grundlage dieses Erfahrungsberichtes fortgesetzt werden sollten. Es freut mich allerdings auch sehr, daß kein Streit darüber besteht - von unserer Seite her war das immer unstrittig -, daß die von der alten Bundesregierung eingeführte Regelung in ihrer jetzigen Form nicht nur deshalb verbesserungswürdig ist, weil die Akzeptanz zu wünschen übrig läßt, sondern weil es auch Mängel und strukturelle Schieflagen gibt. Nun will ich Ihnen noch inhaltlich etwas zu zwei Änderungsvorschlägen zu bedenken geben: Die Anhebung des Zuschußanteils auf 50 Prozent nur bei den Unterhaltsbeiträgen würde Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Teilzeitfortbildungsmaßnahmen benachteiligen und mit Sicherheit den auch im Erfahrungsbericht dargestellten Trend zur Vollzeitfortbildung noch verstärken. Die Familienkomponente des Gesetzes ist nicht hinreichend entwickelt; es ist allerdings fraglich, ob sie sich mit den vorgeschlagenen marginalen Maßnahmen grundlegend verbessern läßt. Wir sind der Meinung, daß Verbesserungen gezielter und nachhaltiger dort ansetzen müssen, wo die Probleme der Unterhaltssicherung am dringendsten sind, nämlich bei Familien mit Kindern, während bei kinderlosen Ehepaaren ein höherer Unterhaltsbeitrag nicht in gleicher Weise notwendig ist. ({3}) Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich alle Fraktionen des Hauses einladen, sich konstruktiv an der Vorbereitung und der Durchführung der Novellierung des Gesetzes zu beteiligen. Ich denke, die Betroffenen haben einen Anspruch darauf, daß der Gesetzgeber Mängel korrigiert und ein handhabbares und den Interessen der Betroffenen gerecht werdendes Gesetz vorlegt. Danke schön. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Werner Lensing, CDU/CSU-Fraktion.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mein Gruß gilt dem Herrn Präsidenten und dem Hohen Hause. Die Ausführungen des Staatssekretärs Catenhusen haben an das angeknüpft, was wir die ganze Zeit schon verkünden konnten: Vom Ansatz her ist der von uns damals eingebrachte Antrag zum Meister-BAföG eine Erfolgsnummer geworden. Das bestätigt sehr deutlich, daß das erfolgreich war, was der damalige Bundesminister Dr. Rüttgers damit beabsichtigte, nämlich eine Politik für einen qualifizierten Nachwuchs und zugunsten der vielgepriesenen Kultur der Selbständigkeit einzuleiten. Ich wiederhole es daher gern in der notwendigen Deutlichkeit für die in dieser Frage zum Teil etwas begriffsstutzigen Damen und Herren der Regierungskoalition: Besonders die von meiner Fraktion begründete Politik zugunsten einer effektiven Fortbildung setzte insgesamt entscheidende Impulse im Rahmen des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Lensing, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hilsberg?

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Natürlich.

Stephan Hilsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Lensing, können Sie bestätigen, daß der Gesetzentwurf, den der damalige Minister Rüttgers vorgelegt hatte, von Anfang an bewirkte, daß die Förderungszahlen niedriger waren als bei der alten AFG-Regelung, die es davor gab, und können Sie bestätigen, daß wir von der SPD als damalige Opposition von Anfang an erhebliche Kritik an Ihrem Gesetzentwurf vorgebracht haben und Ihnen alle Schwierigkeiten, über die wir seit einigen Jahren reden, bereits vorhergesagt haben?

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kann Ihnen, Herr Kollege, bestätigen, daß Sie von vornherein dagegen waren, weil Sie Sachverstand nicht in genügender Weise eingebracht haben. Unseren Überlegungen lag allerdings Sachverstand zugrunde. ({0}) Ich kann in keiner Weise bestätigen, daß wir nicht Erfolg gehabt haben. Ich will Ihnen das einmal mit einigen Zahlen deutlich machen: Bei rund 40 000 Förderanträgen im jährlichen Durchschnitt dürften bis Ende 1999 bei den zuständigen Verwaltungsstellen zirka 160 000 Förderanträge bewilligt worden sein. Ich darf Ihnen weiterhin sagen, daß die Gefördertenzahl von über 70 000 Personen mit einer Gesamtfördersumme von 780 Millionen DM eine deutliche Sprache spricht. ({1}) Insofern bin ich schon der Auffassung - ich bleibe dabei -, daß wir auf dem richtigen Wege waren. ({2}) Ich gebe natürlich zu, daß wir hier und da - diese Erfahrung kann man bei jedem Gesetz machen; das wird durch die Praxis belegt - Nachbesserungsbedarf haben. Diesem Nachbesserungsbedarf kommen wir ja auch sehr deutlich nach. Ich werde das gleich begründen. Die Entwicklung der Gefördertenzahlen hat nicht den Erwartungen entsprochen; das ist wahr. Das hängt aber auch damit zusammen, daß die Umsetzung dieses sogenannten Meister-BAföG-Gesetzes an der Basis zunächst zu erheblichen Schwierigkeiten geführt hat, die nicht die Bundesregierung zu verantworten hatte. Ich gebe auch zu, daß der Anteil der geförderten Frauen um einen deutlichen Wert den üblichen Anteil der Frauen an den Meisterkursen des Handwerks übersteigt, und daß dennoch die derzeitigen Förderbedingungen für Frauen offensichtlich keinen hinreichenden Ansatz für eine stärkere Beteiligung geboten haben. Wir sehen diese Bedenken und versuchen, sie abzustellen. Deshalb sind wir ja mit unserem, wie ich finde, sensationell guten Antrag übergekommen - und zwar deutlich vor dem von der Bundesregierung vorgelegten Bericht. Von daher verstehe ich nicht, wenn Sie, Herr Catenhusen, sagen, daß wir dafür eine bestimmte Zeit gebraucht hätten. Wenn Sie tatsächlich von vornherein, wie Sie behaupten, die Mängel erkannt haben, dann hätten Sie ja auch schon von vornherein handeln können, und Sie hätten nicht so lange warten müssen, bis der Bericht vorgelegt wurde. ({3}) Wir brauchen eine Erweiterung der Maßnahmebeiträge durch Übernahme der Prüfungskosten, einen Ausbau der Unterhaltsbeiträge, eine Verbesserung der Darlehensmodalitäten und Verfahrenserleichterungen durch ein vereinfachtes Antragsverfahren. Wenn wir jetzt unseren Antrag zur Diskussion stellen, dann möchte ich zum Ausdruck bringen, daß wir sehr glücklich darüber sind, daß uns beispielsweise der Geschäftsführer des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks am 22. Oktober dieses Jahres mitgeteilt hat: Wir … begrüßen die darin enthaltenen Vorschläge sehr. Die Verbesserungsvorschläge der CDU/CSUFraktion decken sich inhaltlich mit den Forderungen des Handwerks für eine Novellierung des AFBG. Daher lade ich Sie hiermit ein, unsere konkreten Vorschläge sowohl mit den Änderungswünschen aus Industrie und Handwerk als auch mit den Ergebnissen des Erfahrungsberichtes genauestens zu vergleichen. Ich nenne nun unsere 11 konkreten Vorschläge: Erstens. Wir wollen beim Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz im Hinblick auf die Ausbildung wie schon beim allgemeinen Bundesausbildungsförderungsgesetz den Zuschußanteil der Förderbeträge verbessern, um die angestrebte förderungsrechtliche Gleichstellung von Studium und Aufstiegsfortbildung zu erreichen. Zweitens. Wir wollen entsprechend dem Hochschulstudium, das für Studenten bis zum Abschluß des Examens kostenlos ist, die Förderungsdauer bis zum Zeitpunkt der letzten Prüfung ausdehnen. Drittens. Wir wollen wie bei der universitären Ausbildung die Lehrgangs-, Prüfungs- und Meisterstückkosten im Vollzeit- und im Teilzeitbereich zu 100 Prozent übernehmen. Viertens. Wir wollen, um vor allem bei Frauen und verheirateten Aufstiegswilligen einen verstärkten Anreiz für eine Fortbildung zu schaffen, die Leistungen für Familien und die für die Betreuung von Kindern erhöhen. Fünftens. Wir wollen über die Vorschläge unseres Antrages hinaus gemeinsam mit der Regierungskoalition darüber nachdenken, ob das Gesetz im Bereich der Familienförderung zur Einhaltung eines angemessenen Lebensstandards in Zukunft nicht besser von den entsprechenden Sätzen des allgemeinen BAföG abgekoppelt werden sollte. Sechstens. Wir wollen, um Alleinerziehenden die Vereinbarkeit von Fortbildung und Kinderbetreuung zu erleichtern, die Leistungen für die Kinderbetreuung angemessen erhöhen. Siebentens. Wir wollen, um jegliche Abschreckung zu vermeiden, die Inanspruchnahme des Gesetzes verfahrenstechnisch vereinfachen. Achtens. Wir wollen die Anreize für anschließende zügige Existenzgründungen deutlich verstärken. Neuntens. Wir wollen die Regelung zur Vermögensanrechnung mit dem Ziel überprüfen, daß Existenzgründer ihre Ersparnisse verstärkt da einsetzen können, wo sie hingehören, nämlich bei der Betriebsgründung. Zehntens. Wir wollen gemeinsam mit Ihnen darüber nachdenken, ob man die Vermögensanrechnung auf Grund des unverhältnismäßig großen Verwaltungsaufwandes und des abschreckenden Zwanges zur Offenlegung besser ganz streichen sollte. Elftens. Wir wollen schließlich die Rückzahlungsbedingungen erleichtern und die Karenzzeit verlängern. Natürlich wissen wir alle, daß die Realisierung mit einem verstärkten finanziellen Aufwand verbunden ist und daß wir entsprechende Gelder freisetzen müssen. Deswegen haben wir überhaupt kein Verständnis dafür, daß Ihrerseits im ursprünglichen Haushaltsansatz, den noch Herr Dr. Rüttgers zu verantworten hatte, die finanziellen Mittel gerade für diesen Bereich von immerWerner Lensing hin 167 Millionen DM radikal auf zunächst 80 Millionen DM und jetzt sogar um weitere 2 Millionen DM auf nur noch 78 Millionen DM gekürzt wurden. Dies geschah mit dem fadenscheinigen Argument, eine größere Menge Geldes sei ja nicht abgerufen worden. Das ist Kurzsichtigkeit in Potenz, denn eine Novellierung der Aufstiegsfortbildung im Sinne unseres Antrages und eine damit verbundene Bereitstellung zusätzlicher Mittel wären die entscheidenden und wichtigen Schritte auf dem Wege zur bereits lange geforderten und dringend benötigten Existenzgründertätigkeit und zu einer Vielzahl qualifizierter Ausbildungs- und Arbeitsplätze gewesen. ({4}) Wenn Sie nur unsere wesentlichsten Forderungen aufgreifen würden - beispielsweise die Übernahme der Prüfungskosten, die bezuschußte Förderung von Teilzeitmaßnahmen oder die Anhebung der Unterhaltsbeiträge -, kämen wir gut mit dem damals von uns vorgesehenen Haushaltsansatz klar. Was sonst noch die Ausgabe von Geldern angeht, so konnten wir uns davon gestern in der Aktuellen Stunde ein Bild machen. Ich möchte darauf jetzt nicht eingehen. Ich möchte aber auf eine Äußerung des SPDKollegen Christian Lange Bezug nehmen, der noch am 16. Oktober in einem „dpa“-Gespräch erklärt hat - ich zitiere -: Ein vernünftiges Meister-BAföG muß Selbständigkeit und Privatinitiativen begünstigen und auf diese Weise Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung geben. ({5}) - Genau dies empfinden Sie als gute Aussage: Es sind genau die Forderungen, die wir mit unserem Antrag, den wir - ich wiederhole dies sehr deutlich - bereits vor dem Bericht der Bundesregierung eingebracht haben, erfüllen wollen. Rückmeldungen aus verschiedenen regionalen Handwerkskammern, vom BDA, ZDH, DIHT und sogar aus Teilen des Deutschen Gewerkschaftsbundes geben uns recht. Ich mache Ihnen auch unsererseits das Angebot: Arbeiten Sie mit uns zusammen. Der erste Schritt zu einer sinnvollen Kooperation ergibt sich aus der Bereitschaft Ihrerseits, diesem konstruktiven Antrag meiner Fraktion zuzustimmen, der auch schon deswegen gut zu sein scheint, weil er die Argumente berücksichtigt, die Herr Staatssekretär Catenhusen vorgelegt hat. Verweigern Sie dem Antrag jedoch die Zustimmung, werden Sie sich später fragen lassen und auch begründen müssen, warum Sie kostbare Zeit verschwendet haben, anstatt eine dringend notwendige Reform zügig und angemessen zu vollenden. ({6})

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es war

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Lieber Kollege, Sie müssen zum Schluß kommen.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- wunderbar mit Ihnen. Ich habe Ihnen zu danken. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Danke. - Ich erteile das Wort nun Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Lensing, wenn Sie uns vorwerfen, daß wir einen Bericht zur Grundlage unserer Entscheidungsfindung machen, dann frage ich Sie: Werfen Sie uns tatsächlich vor, daß wir eine sachliche Auswertung, eine wissenschaftliche Evaluation zur Grundlage der Entscheidungsfindung machen, oder wollen Sie uns damit nur sagen, daß Sie so etwas gar nicht brauchen, um Politik zu machen? ({0}) Das Gesetz zur Förderung der beruflichen Aufstiegsfortbildung, das sogenannte Meister-BAföG, war einer der Wahlkampfschlager der alten Regierung. Aber Sie hatten sicherlich auch gute Gründe für dieses Gesetz.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Deligöz, gestatten Sie sofort eine Zwischenfrage des Kollegen Lensing?

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte schön, Herr Lensing.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Zwischenfrage ergibt sich nur aus der Tatsache, daß Sie mich angesprochen haben, Frau Kollegin Deligöz. Es ist doch selbstverständlich, daß wir nicht die geringsten Einwände dagegen haben, daß sich eine neue Bundesregierung kritisch mit den Leistungen der alten Bundesregierung auseinandersetzt. Es ging mir jedoch primär darum, zu verdeutlichen, daß das, was die heutige Regierung meint, an neuer Wissenschaftlichkeit und Erfahrung gewinnen und schriftlich fixieren zu müssen, längst bei uns angekommen ist und daß wir natürlich versucht haben, unser eigenes Gesetz mit kritischem Verstand zu begleiten, und daß wir schließlich, da wir diesen kritischen Verstand haben und kreative Kraft dazu, von daher schon heute diesen Antrag eingebracht haben. Ich denke doch - das ist jetzt meine Frage -, daß Sie diesen Ansatz sicherlich verstehen werden, oder? ({0})

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie haben vorhin vorgetragen, Sie könnten nicht verstehen, daß wir zunächst den Bericht abwarten wollten. Ich verstehe nicht, daß Sie mit Vorschlägen kommen, noch bevor Sie die Ergebnisse des Berichts kennen. Ich meine, wenn wir tatsächlich konstruktiv gemeinsam arbeiten wollen, dann sollten wir eine sachliche Grundlage haben. ({0}) Sie sollten auch berücksichtigen, daß wir uns darin einig sind, in dieser Richtung in der Tat etwas machen zu müssen. Die Frage ist nur, was wir machen und wie wir das Ganze gestalten. Sie haben einige Vorschläge vorgelegt. Ich werde darauf eingehen. Wir sind der Meinung, daß Ihre Vorschläge einfach nicht ausreichend sind. Wir haben im internationalen Vergleich in Deutschland eine viel zu geringe Quote an Selbständigen und Existenzgründern. Viele talentierte und fleißige Handwerkerinnen und Handwerker können sich den beruflichen Aufstieg nicht leisten, weil er mit einer kostenintensiven Weiterqualifizierung verbunden ist. Gerade diejenigen Handwerkerinnen und Handwerker, die eine Familie haben, fallen so oft unter den Tisch und verzichten notgedrungen auf die volle Entfaltung ihrer Talente. Ein weiteres drängendes Problem ist der Generationenwechsel in vielen kleinen und mittleren Betrieben. Viele Betriebe stehen schon allein deshalb vor dem Aus, da für die Firmenchefs, die in den Ruhestand gehen, keine geeigneten Nachfolger bereitstehen, und zwar deshalb, weil es an der erforderlichen Formalqualifikation fehlt, aber auch, weil es häufig am notwendigen Kapital für die Ablöse fehlt. Die Aufgabe, die mit diesem Gesetz zur Förderung der beruflichen Aufstiegsfortbildung verbunden ist, ist wichtig und sehr anspruchsvoll. Darin sind wir uns einig. Heute können wir jedoch feststellen: Gut gemeint haben Sie das Gesetz sicherlich schon, aber gut gemacht war es nicht. ({1}) Unsere Kritikpunkte haben sich im nachhinein bestätigt: Wenn lediglich ein Bruchteil der dafür eingestellten Mittel abgerufen wird, so ist das angesichts der beschriebenen Handlungsnotwendigkeit ein Armutszeugnis für solch ein Gesetz. Symptomatisch ist auch der bürokratische Aufwand, der geleistet werden muß, um eine Förderung zu erhalten: ein 25 Seiten starkes Antragsformular. Dies ist sicherlich kein Meisterstück, sondern dies ist ein Zeugnis bürokratischer Regelungswut. ({2}) Vom schlanken Staat zu reden ist notwendig, aber dafür etwas zu tun ist entscheidend. Weil Sie vermutlich schon geahnt haben, daß das Gesetz in der durchgebrachten Form nicht funktionieren wird, sondern sich zu einem Flop entwickeln wird, haben Sie den Antrag formuliert, der heute zur Debatte steht. ({3}) Ich muß Ihnen sagen: Egal, was Sie machen, das merkt man. Daran ändert sich auch nichts, wenn ich zugleich anmerke, daß einige Ihrer Ansätze sicherlich vernünftig sind. Ich finde trotzdem, daß auch Ihr zweiter Anlauf wenig durchdacht ist. Lassen Sie mich deshalb auf einige Punkte Ihres Antrags eingehen. Es ist im Prinzip vernünftig, den Darlehenserlaß bei einer Existenzgründung mit großzügigeren Fristen zu verbinden. Aber es kann einfach ein paar Jahre dauern, bis ein neues Unternehmen zwei Mitarbeiter einstellen kann. Deswegen hat es in den vergangenen Jahren auch nur 251 Darlehenserlasse gegeben. Von einer von der alten Regierung ausgelösten Existenzgründerwelle kann wahrhaftig keine Rede sein. Statt eines bisher 50prozentigen Darlehenserlasses halten wir bei erfolgreichen Existenzgründungen einen100prozentigen Darlehenserlaß für sinnvoll. Ähnlich unsinnig finde ich Ihren Vorschlag, nur einen Antrag für einen Förderungszeitraum von vier Jahren zu stellen. Es gäbe dann zwischenzeitlich keinerlei Überprüfungsmöglichkeit. Dies führt geradezu zu Mitnahmeeffekten. Die Frage ist daher, ob wir unsere Zuschüsse mit Ausnahme des Kinderbetreuungszuschusses - das wurde schon von meinen Vorrednern angedeutet - generell nicht sehr viel effizienter auf die eigentlichen Qualifizierungsmaßnahmen konzentrieren sollten. Deshalb unterstützen wir uneingeschränkt die Einbeziehung der Kosten für die Prüfungsstücke in die Förderung. Denn dies kann zum Beispiel bei einem Heizungsbauer schon einmal 5000 DM ausmachen. Zwei weitere Maßnahmen zur Attraktivitätssteigerung sind vorstellbar: entweder ein höherer Zuschußanteil bei der Förderung - gegenwärtig liegen wir beim Meister-BAföG bei 27 Prozent gegenüber 50 Prozent beim studentischen BAföG - oder eine völlige Zinsfreiheit über den bisherigen Zeitrahmen von zwei Jahren hinaus. Die Lösung muß einerseits von der Finanzierbarkeit und andererseits von Befragungen der Betroffenen abhängig gemacht werden. Es bleibt festzustellen: Die Reform des Meister-BAföGs ist wichtig, aber sie ist nur ein Baustein, um die Qualifizierung im Handwerk zu erleichtern. Ebenso wichtig ist eine Reform des Zugangs zum Meisterbrief selbst. Hier ist - wenn wir uns das internationale Umfeld anschauen - sehr viel mehr Flexibilität sowohl hinsichtlich der Zugangsvoraussetzungen als auch hinsichtlich der Möglichkeit einer Teilzeitausbildung notwendig. Zu berücksichtigen sind die Chancen, die mit einem Meisterbrief verbunden sind. Wir halten es für sehr wichtig, daß ein Unternehmen eine längere Zeit auch ohne Meisterbrief geführt werden kann, wenn dieser berufsbegleitend nachgeholt wird. Es kann auch nicht angehen, daß ein Werkzeugmachermeister, der eine Kfz-Werkstatt aufmachen will, die gesamte Kfz-Ausbildung nachholen muß, obwohl er in vielen Teilen bereits überqualifiziert ist. Hier besteht ein dringender Handlungsbedarf. Dies ist eine Erblast, der sich die rotgrüne Koalition annehmen wird. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Cornelia Pieper, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte es gleich vorwegnehmen: Wir finden den Antrag der Unionsfraktion gut und halten ihn für richtig. ({0}) Außerdem - das wird jetzt die Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion und auch Sie, Herr Catenhusen, erfreuen - halte ich den Bericht der Bundesregierung für notwendig. Ich habe festgestellt, daß die Fakten in Ihrem Bericht durch den Antrag der Union aufgegriffen werden. Ich frage mich nur: Warum versuchen Sie nicht, eine Fortentwicklung dieses Gesetzes auf den Weg zu bringen? ({1}) Nach drei Jahren - jedes Gesetz braucht eine Anlaufphase; das wissen wir alle -, wenn man einen Zwischenbericht hat und sieht, daß es beim Meister-BAföG Fehlentwicklungen gibt, kann man als Regierung Konsequenzen ziehen. Da können Sie sich jetzt nicht aus der Verantwortung stehlen. Wenn Sie sagen, Sie wollen im Jahre 2001 einen Gesetzentwurf zur Änderung des Meister-BAföG vorlegen, frage ich Sie: Warum tun Sie das nicht jetzt? Warum tun Sie es erst kurz vor den nächsten Bundestagswahlen? Vielleicht steckt dahinter, daß Sie nicht mehr daran glauben, daß Sie im Jahr 2002 wiedergewählt werden, und deshalb denken, daß Sie dann nicht mehr die Finanzierung gewährleisten müssen. ({2}) Ich habe schon in der letzten Debatte auf zwei Gründe für die Weiterentwicklung des Gesetzes zur beruflichen Aufstiegsfortbildung verwiesen. Ich sage es auch noch einmal. Erstens. Die gesellschaftliche Forderung nach einer Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung muß ein für allemal in einem novellierten Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz festgeschrieben werden, auch deswegen, weil zwar die Zahl der Studierenden ständig steigt, aber die Berufsausbildung bzw. die Fortbildung im handwerklichen Bereich weniger angenommen wird, weil der Abschluß als Meister nicht attraktiv genug ist. Ich denke, da liegt auch der zweite Grund für eine Weiterentwicklung des Gesetzes, den ich nennen möchte. Wir müssen dahinkommen, daß es in diesem Land attraktiv wird, sich selbständig zu machen. ({3}) In Deutschland ist nicht die Geisteshaltung verbreitet das bedaure ich sehr -, junge Menschen zu ermutigen, eine Existenz zu gründen und ein Unternehmen aufzubauen. Nein, in diesem Land ist es noch immer so, daß die, die eine Existenz gründen und ein Unternehmen aufbauen wollen, die Dummen sind und abgestraft werden. Von daher sage ich: Die Selbständigkeit muß attraktiver gemacht werden. Man muß den jungen Leuten Mut machen und darf sie nicht von vornherein verdrießen. ({4}) Weiter möchte ich sagen, daß es mir um die umfassende Anwendung des Gesetzes im Sinne einer breiten Aufstiegsfortbildungsförderung geht. Das Gesetz wird in der Öffentlichkeit zu Unrecht kurz als „MeisterBAföG“ bezeichnet. Das ist aber nur eine verkürzte Darstellung, wie uns der Mittelabfluß in Bund und Ländern zeigt, und ruft offensichtlich bei den Menschen Irritationen hervor. Es wird nicht nur die Ausbildung zum Meister nach der Handwerksordnung gefördert, sondern es gibt eine Vielzahl von Fortbildungsmöglichkeiten, wie die Ausbildung zum Betriebs- und Fachwirt bzw. zum Industrie- und Fachmeister nach dem Berufsbildungsgesetz sowie vergleichbare Fortbildungen nach Bundes- und Landesrecht. Das belegen die Zahlen des Berichts der Bundesregierung über die Umsetzung und Inanspruchnahme des AFBG deutlich. Während 1997 rund 34 000 Personen ein Fortbildungsziel nach der Handwerksordnung anstrebten, taten dies nur 10 240 Personen nach dem Berufsbildungsgesetz. Sicherlich bedarf es an dieser Stelle einer breiteren öffentlichen Aufklärung. Vor allem ist ein Abbau gesetzgeberischer und bürokratischer Hürden überfällig. Für mich ist es sehr unbefriedigend, wenn die eingestellten Mittel durch eine äußerst geringe Teilnahme an Maßnahmen der Aufstiegsfortbildung in den neuen Bundesländern - hier sehe ich vor allen Dingen Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und SachsenAnhalt gefordert - nicht abfließen können. Ich glaube ebenfalls, daß der Anteil der Vollzeitmaßnahmen an der Aufstiegsfortbildung zu gering ist. Das liegt auch an dem zu geringen, am Förderzweck zu orientierenden Zuschußanteil. Einen weiteren Grund für den geringen Mittelabfluß sehe ich einerseits darin, daß die Erlasse der Darlehen und der damit verbundenen Folgekosten wie Vorfälligkeitsentschädigung und Zinsen noch nicht voll greifen, und andererseits in den zu hohen Barrieren zur Gewährung des 50prozentigen Darlehenserlasses. Zumindest die Bedingung, wonach innerhalb des ersten Jahres der Selbständigkeit mindestens vier Monate lang zwei soziEkin Deligöz alversicherungspflichtig beschäftigte Mitarbeiter zu beschäftigen sind, gehört abgeschafft, meine Damen und Herren. ({5}) Auch wenn davon auszugehen ist, daß die Teilnehmer an der Aufstiegsfortbildung in der Regel einen ersten berufsqualifizierenden Abschluß besitzen, sollte bei künftigen Überlegungen über eine Übernahme der Ausbildungs- und Prüfungskosten von Bund und Ländern nachgedacht werden. ({6}) Immerhin haben 33 Prozent der Studenten an Hochschulen vor ihrem Studium eine Berufsausbildung im dualen System absolviert. Dennoch können sie ohne Zahlung von Studiengebühren studieren und am Ende des Studiums kostenlos eine Prüfung ablegen. In ihrem Fall spielt es keine Rolle, ob zwischen der letzten Vorlesung und der Prüfung eine gewisse Zeit vergeht. Hier finden wir also einen Beweis für eine Ungleichbehandlung von Berufsbildung und Studium. Hinsichtlich dieser Personengruppen wird bewußt und eklatant der Gleichheitsgrundsatz verletzt. Daher fordert die Unionsfraktion in ihrem Antrag völlig zu Recht, wie ich meine, die Gleichstellung von Studium und Aufstiegsfortbildung. An dieser Stelle sei mir wieder der Bezug zum BAföG gestattet: Bundesausbildungsförderungsgesetz und Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz stehen in einer sehr engen Korrelation zueinander. Nicht nur das Studium, sondern auch das Erlernen eines Berufes mit dem Ziel, einen Meisterabschluß zu erlangen und damit auch den Weg in die Selbständigkeit einzuschlagen, muß attraktiver gemacht werden. Viel zu wenige junge Menschen erkennen heute die Chance, die sich mit einer selbständigen Existenz bietet. Allein die Tatsache, daß ein Ausbau der Förderung sämtlicher Formen der beruflichen Aufstiegsfortbildung zu zusätzlichen Existenzgründungen und damit auch zu zusätzlichen Arbeits- und Ausbildungsplätzen führt, zwingt uns zum Handeln.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Pieper, Sie müssen zum Ende Ihrer Rede kommen. Sie haben Ihre Redezeit schon überschritten.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, ich nehme Ihren Hinweis gern an und bitte Sie, noch folgendes sagen zu dürfen: ({0}) Die Forderungen der F.D.P. sind so alt wie das AFBG. Daher möchte ich sie an dieser Stelle nicht noch einmal nennen; ich habe sie schon breit dargestellt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen nun wirklich zum Ende kommen. Sie haben Ihre Redezeit schon um eine Minute überzogen.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, mein letzter Satz: Ich fordere die Bundesregierung auf, zu handeln und tatsächlich eine Gesetzesänderung in Angriff zu nehmen, wie es in der heutigen Debatte mehrfach vorgetragen worden ist. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile nun dem Kollegen Heinrich Fink, PDS-Fraktion, das Wort.

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr verehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit der Einführung des Meister-BAföG sollten vor allem jene Qualifikationsmöglichkeiten bekommen, die über unzureichende finanzielle Eigenmittel verfügen. Das wäre besonders für Bewerber aus den neuen Bundesländern ein Angebot. Daher ist zu reflektieren, warum sie davon so wenig Gebrauch machen. Inzwischen liegen über einen Zeitraum von drei Jahren Erfahrungen mit der Wirkung des Gesetzes vor, die im Bericht der Bundesregierung zusammengefaßt sind. Was fällt, gemessen an den Zielstellungen, mit denen das Ganze auf den Weg gebracht wurde, vor allem ins Auge? Erstens. Die Zahl der Meisterprüfungen geht zurück; dieser Trend hält seit 1993 an. Zweitens. Obwohl der Frauenanteil leicht stieg, lag er 1997 immer noch bei etwas über 16 Prozent der Geförderten. Der Anteil der Geförderten mit Kindern bewegt sich um 13 Prozent, ist also bei genau der Gruppe, die intensiv gefördert werden sollte, immer noch zu niedrig. Drittens. Der Anteil der geförderten Ausländer - das hat Herr Catenhusen schon gesagt - liegt mit etwas über 2 Prozent erheblich unter deren Anteil an den Erwerbstätigen. Interessant an diesem Bericht ist, daß das Programm regional sehr unterschiedlich in Anspruch genommen wurde. Dies ist einer gründlichen Analyse wert; denn es fällt auf, daß der Anteil der Geförderten, gemessen an der Wohnbevölkerung, in den alten Bundesländern höher als in den neuen Bundesländern ist. In den neuen Bundesländern ist der Prozentsatz weit niedriger. Möglicherweise bestehen hier Zusammenhänge zur Finanzkraft der mitfinanzierenden Länder oder zu Ausbildungsmöglichkeiten der jeweiligen Region, vielleicht auch Aufklärungsdefizite. Aber darüber gibt der Bericht keine Auskunft. Natürlich liegt dem die Erfahrung zugrunde, daß Ostdeutsche in bezug auf das Schuldenmachen nicht so risikofreudig sind, erst recht nicht, wenn es um die Ausbildung geht. ({0}) - Das stimmt, da fehlt die Tradition. Besonders aufmerksam beobachten wir natürlich den Umgang mit der hier erstmals eingeführten neuen Förderart Bankdarlehen. Deswegen ist die PDS damals gegen das Gesetz gewesen, zumal der Darlehensteil das Schwergewicht der Gesamtförderung darstellt. Hier fällt auf, daß die Zahl mit der Bank geschlossener DarleCornelia Pieper hensverträge um etwa ein Drittel unter der Zahl der Bewilligungen bleibt und das ausgereichte Darlehensvolumen unter dem Bewilligungsvolumen liegt. Der Grund dürfte kaum darin liegen, daß Leute, denen ein solches Darlehen zugesprochen wurde, kein Geld brauchen. Aber: Wer schon Schulden hat, ist nicht bereit, seine Schulden entsprechend weiter zu erhöhen. Mir verbleiben leider nur noch ein paar Sekunden Redezeit, daher möchte ich kurz zusammenfassen: Für uns ist das Schicksal des Meister-BAföG ein weiterer Beweis dafür, daß nur mit einer ausreichenden staatlichen Grundfinanzierung von Aus- und Weiterbildung, die einheitlichen Kriterien folgen muß, die gewünschte Personengruppe erreicht werden kann. Der Bericht ist interessant, aber er kann nicht besser machen, was in der Praxis nicht gut ist. Aus dieser Erfahrung muß man lernen. Der Antrag hilft dazu meiner Meinung nach nicht unbedingt. Wir werden uns allerdings an der Verbesserung beteiligen. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ernst Dieter Rossmann, SPD-Fraktion.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei aller begrüßenswerten Übereinstimmung im Grundanliegen können wir als Regierungsfraktionen der Opposition doch nicht den Vorwurf ersparen, sich widersprüchlich und unseriös zu verhalten. Zunächst zur Widersprüchlichkeit: Angesichts der Tatsache, daß Sie vor dreieinhalb Jahren - mit großem Anspruch - ein Gesetz verabschiedet haben, aber kaum, daß Sie fünf Monate in der Opposition sind, mit einem Katalog von elf markanten Forderungen kommen, die dieses Gesetz gravierend verändern, muß man sich fragen: Wollen Sie es allen so leicht machen, Ihr eigenes Gesetzeswerk derart zu entwerten? ({0}) Jeder dieser Punkte stellt eine Entwertung Ihrer eigenen Arbeit dar, die Sie noch vor dreieinhalb Jahren mit großem Applaus bedacht haben. Das nennen wir widersprüchlich. ({1}) Man kann den Wechsel von der Regierungs- auf die Oppositionsbank auch mit mehr Seriosität und mit größerer Bescheidenheit angehen. ({2}) Betreffend die Unseriosität sei das noch einmal in eine andere Relation gebracht: Ihr Gesetzeswerk, daß Sie vor dreieinhalb Jahren auf den Weg gebracht haben, geht mit einer Mittelverausgabung von 60 Millionen DM jährlich einher.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

All Ihre Forderungen, die Sie jetzt stellen, summieren sich auf einen Mehrbedarf von mehreren hundert Millionen DM. In einer Drucksache schieben Sie sogar noch nach, daß alle Lehrgangskosten durch den Maßnahmezuschuß voll gedeckt sein sollen. Wissen Sie eigentlich, was Sie dort fordern?

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, darf ich Sie noch einmal fragen: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lensing?

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Lensing hat geredet, Herr Lensing hat eine Zwischenfrage gestellt. Herr Lensing sollte sich vielleicht auf die Sache einlassen, statt den Argumentationsgang immer wieder zu unterbrechen. Angesichts eines derartigen Mißverhältnisses ist Ihr Vorgehen unseriös. Der Weg, den die Regierung jetzt geht, findet im übrigen auch bei kritischen Betrachtern in Handwerk und Wirtschaft, wenn sie denn nicht das CDU-Parteibuch tragen - dort ist natürlich eine ideologische Fixierung zu beobachten, ({0}) die sehr neben der Sache liegt -, volle Unterstützung: eine saubere Analyse, klare Schwerpunktsetzung, diese Schwerpunkte in die Erörterung einbringen, für eine solide Finanzierung sorgen und dann zu einem Gesetz kommen. Dies ist der richtige Weg. Frau Pieper, manchmal macht Zuhören auch Freude. Der Staatssekretär hat vorhin ausdrücklich gesagt: Diese Regierung bereitet für das nächste Jahr ein Gesetz vor, das im Jahr 2001 wirksam wird. Wenn Sie zugehört hätten, dann hätten Sie spätestens an dieser Stelle freudvoll mitklatschen können; denn dies ist eine seriöse Perspektive. Er hat ausdrücklich nicht gesagt, daß es im Jahr 2001 eingebracht wird, sondern daß es 2001 wirksam wird. ({1}) Daß die Regierung die richtigen Schwerpunkte setzt, erscheint nach unserer Auswertung des Berichts gegeben. Es sind nicht elf, sondern vier oder fünf Schwerpunkte. Auch dies bewegt sich im seriösen Bereich. Der Bericht belegt, daß das Gesetz nicht ganz schlecht ist. Der erste Schwerpunkt bezieht sich auf die stärkere Förderung der Teilzeitfortbildung, weil es bisher ein krasses Mißverhältnis zwischen Vollzeit- und Teilzeitfortbildung gibt. Diese Förderung läßt sich entweder über höhere Zuschüsse oder über Senkung der Darlehenszinsen erreichen. Der zweite Punkt bezieht sich auf die Beseitigung des gegenwärtig existierenden krassen Ungleichgewichts zwischen Frauen und Männern in der Aufstiegsfortbildung. Das gegenwärtige Verhältnis von über 80 Prozent Männern und unter 20 Prozent Frauen kann gerade uns Sozialdemokraten nicht ruhen lassen. ({2}) Wir wollen hier eindeutige Akzente setzen in bezug auf die Förderung von Alleinerziehenden und in bezug auf die Förderung von Menschen, die Aufstiegsfortbildung mit Familienarbeit verbinden wollen. Dazu hat auch schon der Bundesrat konkrete Vorschläge unterbreitet. Der dritte Punkt - die Regierung hat es erwähnt - betrifft die stärkere Förderung ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger. Ich möchte nur daran erinnern, daß 10 Prozent der Ausbildungsbetriebe in Deutschland ausländisch sind. Voraussetzung, daß dieser Anteil steigt - dies wäre möglich -, ist, daß es auch in diesen Betrieben Meisterqualifikationen und Fortbildungsqualifikationen im Ausbildungsbereich gibt. Der vierte Punkt bezieht sich auf die Tatsache, daß das bisher als „Meister-BAföG“ etikettierte Gesetz deutlich mehr als eine Meisterförderung ist. Wir freuen uns, daß dies auch vom Kollegen Lensing und von Frau Pieper anerkannt worden ist. Mit diesem Gesetz läßt sich der Zugang zu dieser Förderung nicht nur für Gesundheits- und Pflegeberufe erleichtern, sondern vielleicht auch für neue Dienstleistungsberufe. Der fünfte Punkt bezieht sich auf die Frage, wie durch dieses Gesetz der Mittelstand effektiver gefördert werden kann. Dies geschieht bisher absolut nicht effektiv. Wenn man sich die Gefördertenzahlen anschaut die Kollegin der Grünen hat eben betont, daß diese Zahl nur über 100 000 liegt; im Bereich der Selbständigenförderung liegt die Zahl unter 1 000 -, dann muß man feststellen, daß es ein Mißverhältnis gibt, das uns nicht ruhen lassen kann. Ich möchte das Fazit ziehen: Die Regierung hat nach einem ersten Schritt eine gute Chance, mit Unterstützung von uns allen im Rahmen eines geordneten Gesetzgebungsverfahrens ein rundes Gesetz vorzulegen. Wir Sozialdemokraten stellen die Reform der Aufstiegsfortbildung unter drei Grundsätze:

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluß kommen.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Erstens. Das Aufstiegsförderungsgesetz war immer ein Kooperationsgesetz. Es ist auf die Kooperation zwischen Bund, Ländern, Kommunen und Trägern angewiesen. Zweitens. Das Aufstiegsfortbildungsgesetz muß ein Sozialgesetz bleiben. Es muß ein Sozialgesetz bleiben, damit auch diejenigen, die materiell nicht ausreichend ausgestattet sind, an erster Stelle gefördert werden und eine Chance erhalten. Drittens - dies ist der wichtigste Punkt -: Das Aufstiegsfortbildungsgesetz ist ein Bildungsgesetz. Es paßt gut in die breite gesellschaftliche Diskussion über das „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Rossmann, Sie haben Ihre Redezeit überschritten. Bitte kommen Sie zum Schluß.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Deshalb freuen wir uns jetzt, daß die Bundesregierung jetzt ein rundes Programm vorgelegt hat und damit einen Beitrag zur gesellschaftlichen Diskussion leistet. Wir rechnen dann auch mit Ihrer Zustimmung zu diesem verbesserten Gesetz. Danke schön. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt die Kollegin Ilse Aigner.

Ilse Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003028, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte auf ein paar Punkte eingehen, die in der jetzigen Debatte angesprochen worden sind. Herr Dr. Rossmann, Sie haben von einer Entwertung unseres eigenen Gesetzentwurfs gesprochen. Ich sehe dies nicht so. Ich betrachte es als eine Optimierung. Man hat jetzt drei Jahre Erfahrungen sammeln können und nun festgestellt, daß es in manchen Bereichen Möglichkeiten zur Optimierung gibt. Deshalb haben wir unseren Antrag eingebracht. In diesem Zusammenhang finde ich es nicht redlich, dies als unseriös zu betrachten, denn wenn ich Ihre bisherige Praxis ansehe, so bringen Sie Gesetze ein, von denen Sie von vornherein schon wissen, daß sie falsch sind. ({0}) Zur Frage des Haushalts und der Unseriosität der Zahlen. Sehr geehrter Herr Dr. Rossmann, wir wollten Ihnen eigentlich auch ein wenig die Möglichkeit geben, den Haushaltsansatz auf diesem Niveau zu lassen, auch wenn es ein Leistungsgesetz ist. Herr Staatssekretär Catenhusen, ich kenne den Unterschied zum AFG. Das AFG ermöglicht nur eine Kann-Leistung, und deshalb ist das AFBG durch seinen Rechtsanspruch eine wesentliche Verbesserung. ({1}) Jetzt ist natürlich folgender Effekt eingetreten. Sie kürzen den Haushaltsansatz um die Hälfte. Sie reduzieren ihn auf 50 Prozent, auf 78 Millionen DM im Jahr 2000 gegenüber 167 Millionen DM, die bisher im Haushalt vorgesehen waren. Wenn Sie jetzt Leistungsverbesserungen finanzieren wollen, dann wird natürlich sofort der Herr Finanzminister kommen und sagen, es tut uns sehr leid, im Haushalt sind keine Mittel vorhanden, deshalb können wir auch keine Leistungsverbesserungen vornehmen. Das ist genau das Problem, das uns wahrscheinlich daran hindern wird, Mittel einbringen zu können. Sie hätten natürlich, nachdem der Bericht bereits am 11. Juni 1999 vorlag, im Prinzip schon seitdem Zeit gehabt, die von Ihnen favorisierten Leistungsverbesserungen zumindest in einem ersten Schritt dadurch vorzunehmen, daß Sie den Haushaltsansatz unverändert gelasDr. Ernst Dieter Rossmann sen hätten und damit entsprechend Gutes für diejenigen getan hätten, die diese Maßnahmen durchlaufen. Das wäre eine ehrliche Politik gewesen. Das hätten wir von Ihnen erwartet. Wir wollten Ihnen ja auch in einigen Bereichen helfen. Man hätte auch im Ausschuß darüber reden können, wo die Prioritäten gesetzt werden sollten, aber Sie waren überhaupt nicht bereit, mit uns darüber zu diskutieren. Das tut mir für die Betroffenen sehr leid. ({2}) Ich will nur auf zwei Punkte eingehen. Einer davon ist schon angesprochen worden: das Ungleichgewicht bei den Teilzeitmaßnahmen. Sie sind für uns sehr wichtig. Es hat sich erst im Laufe der letzten drei Jahre herausgestellt, daß es noch Möglichkeiten gibt, dies zu optimieren, um auch denjenigen einen Unterhaltsanspruch zuzusprechen, die diese Ausbildung in Teilzeitmaßnahmen durchlaufen. Das ist insbesondere für diejenigen wichtig, die familiär gebunden sind und Mittel für den Lebensunterhalt der Familie benötigen. Das wäre eine sehr wichtige Maßnahme. Das ist einer der Punkte, den wir noch nachgeschoben haben. Jetzt zu dem eigentlich wesentlichen Punkt. Man kann mit Sicherheit auch darüber diskutieren, ob man das in Prüfungsgebühren und Lehrgangsgebühren aufteilt oder ob man das alles in einem Betrag zusammenfaßt. Ich will Ihnen einfach einmal ein paar Beispiele aus der Praxis nennen. Ich komme aus der Praxis; ich habe ein solche Ausbildung selbst durchlaufen. Ich weiß, wovon ich spreche. Allein die Lehrgangsgebühren betragen im Schnitt 10 000 DM. Die Meisterstückskosten, die Prüfungsgebühren und der Lebensunterhalt kommen noch hinzu. Nehmen wir einen ganz konkreten Fall. Ein verheirateter Installateur und Heizungsbauer in NordrheinWestfalen zahlt Lehrgangsgebühren und Prüfungsgebühren von 13 515 DM. Die Meisterstückskosten betragen 4 000 DM. Dazu kommt der Lebensunterhalt von monatlich 1 102 DM, wobei der Zuschuß schon herausgerechnet ist. Wenn man dann 24 Monate für die Maßnahme ansetzt, ergibt sich insgesamt am Schluß eine stolze Summe von 45 000 DM. Diese Verschuldung finanziert er durch Darlehen. Es geht hier nur um Darlehen. ({3}) Jetzt sage ich noch etwas, weil das immer mit einem Studium verglichen wird. Wenn ich mich auf den Standpunkt stellen würde, daß es sich hier um eine Zweitausbildung handelt, was ich von Haus aus schon etwas anzweifeln will, weil es eine Fortbildung ist, dann vergleichen Sie diese 13 000 DM Lehrgangsgebühren einmal mit einem Zweitstudium. Wenn ich die Zweitstudiengebühren von 1 000 DM, die jetzt in Bayern eingeführt werden, ansetze, könnte einer 13 Semester Zweitstudium finanzieren und hätte im Prinzip die gleichen Belastungen. Das ist eine totale Ungleichgewichtung, ({4}) und deshalb ist das für mich ein ganz wichtiger Punkt. ({5}) Warum ist mir das so wichtig? - Sie müssen sich die Situation vorstellen. Das ist erst jetzt alles herausgekommen. ({6}) Wenn eine solche Maßnahme durchlaufen ist, hat dieser junge Mensch, wie ich vorgerechnet habe, Schulden von 45 000 DM, also im Gegenwert eines gehobenen Mittelklassewagens. Dann steht er vor der Entscheidung, sich eventuell selbständig zu machen. Er ist hochverschuldet, muß im Prinzip zur Bank gehen und sagen, ich möchte jetzt einen Betrieb übernehmen, den ich ablösen muß. Das kostet auch ein bißchen Geld. Dann soll er noch im ersten Jahr vier Monate lang einen Arbeitnehmer beschäftigen, und das muß er auch noch irgendwie finanzieren. Ich bin jedenfalls gespannt, wie das dann in der Praxis funktioniert. Das ist eine wirkliche Investition in Bildung in diesem Land. Sie haben versprochen, diese Ausgaben zu verdoppeln. Sie haben die Bildungsausgaben in diesem Bereich nicht verdoppelt, Sie haben sie halbiert. Sie hätten sie aufstocken können. Wir haben darüber schon gesprochen. Diese Kürzung ist strukturell falsch. Diejenigen, die diesen Weg durchlaufen - egal, ob es Meister oder Techniker sind -, sind qualifizierte Fachkräfte. Insbesondere die Meister können die Ausbildungsplätze im Handwerk überhaupt garantieren. Entweder halten sie welche aufrecht, weil sie die Firma übernehmen, oder sie machen sich selbständig und stellen Ausbildungsplätze zur Verfügung. Es handelt sich um eine strukturpolitische Maßnahme, die man nicht hoch genug bewerten kann. Es ist eine wirklich effektive Investition in die Bildung. Sie hätten sie aufrechterhalten, wenn nicht sogar aufstocken können. Aber Sie wollten das offensichtlich nicht, wobei ich Ihnen nicht unterstelle, daß Sie den Weg nicht mit uns gemeinsam gehen wollen. Aus parteipolitischer Sicht können Sie unserem Antrag natürlich nicht zustimmen. Ich bin auf die weitere Beratung gespannt und wie lange Sie brauchen werden. Sie hätten den Gesetzentwurf mit Sicherheit schon eher einbringen können; sonst waren Sie mit Ihren Maßnahmen auch immer relativ schnell. Wie gesagt, Ihnen lag der Bericht am 11. Juni vor. Sie hätten das vergangene halbe Jahr nutzen können, um zum Jahr 2000 Leistungsverbesserungen einzuführen. Sie haben es nicht gemacht. Sie haben den Haushaltsansatz noch einmal gekürzt. Ich bin gespannt, ob es Ihnen im Jahre 2001 gelingen wird, diese Maßnahmen aufzufangen. Wir werden den Weg mit Ihnen gehen. Wir werden Sie positiv begleiten; aber wir werden den Weg auch kritisch betrachten. Ich hoffe, daß wir am Schluß eine vernünftige Regelung für diejenigen, die diese Ausbildungsmaßnahmen durchlaufen, finden können. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Christian Lange, SPDFraktion.

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bericht der Bundesregierung zeigt, daß sich die Erwartungen an das Gesetz nicht erfüllt haben. Bei der geförderten Zahl - statt 90 000 Anträge pro Jahr nur knapp 43 000 pro Jahr, mit fallender Tendenz - und bei der für uns wichtigen Existenzgründungskomponente - statt 5 000 bis 8 000 Existenzgründer pro Jahr, wie angestrebt - lagen im Februar 1999 bei Berichterstellung lediglich 7 000 Anträge und 251 Bewilligungen vor. Selbst jetzt im Oktober sind es erst 650 Bewilligungen. Das ist keine berauschende Bilanz. ({0}) Doch welche Erwartungen, Herr Lensing, haben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, damals am 23. November 1995 bei der Verabschiedung des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes geweckt? Sie, Herr Lensing, sagten damals, der Reformansatz bestehe darin … durch das neue Gesetz die Attraktivität beruflicher Fortbildung und die Motivation des Fachkräftenachwuchses zu steigern, den Wirtschaftsstandort Deutschland durch Förderung von Existenzgründungen und Betriebsübernahmen zu sichern und eine soziale Flankierung der beruflichen Aufstiegsfortbildung zu garantieren. Sehr richtig. Doch wenn Sie sich die Zahlen heute anschauen, dann müssen Sie zu dem Ergebnis kommen: Sie haben Ihr Ziel nicht erreicht. ({1}) Man könnte sagen: Die alte Regierung, die dieses Gesetz konzipiert hat, kennt die Mängel am besten. Doch gerade Sie, Herr Lensing, sagten an jenem 23. November 1995 zur damaligen Opposition - ich will Sie ein zweites Mal zitieren -: Bekanntlich ist für eine Opposition nichts einfacher als dies: Sie träumt von Idealvorstellungen, weckt in verantwortungsloser Weise völlig unrealistische Erwartungen, erhebt zugleich die höchsten finanziellen Forderungen - wie gerade eben Frau Aigner in Höhe von 300 bis 600 Millionen DM an den Bund. Herr Lensing, ich sage Ihnen: Heute kann ich mich Ihrem Zitat nur anschließen. ({2}) Ich begrüße und unterstütze deshalb die Novellierungsabsicht der Bundesregierung, wie Sie Herr Staatssekretär Catenhusen gerade vorgetragen hat. Ich möchte den Fahrplan noch einmal kurz nennen. Erstens: Eckpunkte dieses Jahr; zweitens: ein Gesetzentwurf, eingebracht im nächsten Jahr.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Lange, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lensing?

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich habe sehr großes Verständnis dafür, daß Sie meisterhaft aus meiner damaligen Rede zitieren. Diese Äußerungen waren in ihrer Substanz damals richtig, und sie können auch heute noch so bewertet werden, wenn man es objektiv sieht. Es geht immer um die Finanzierung. In der Aktuellen Stunde gestern hat man darüber geredet, wie man mit 2 Milliarden DM umgeht. Man hat keine Prioritäten gesetzt. Wäre es nicht sinnvoller gewesen, mit diesen 2 Milliarden DM eine Politik zu betreiben, die echte Arbeitsplätze gesichert hätte? Wäre es nicht sinnvoller gewesen, eine Politik zu betreiben, die nicht nur auf umstrittene Qualifizierungsmaßnahmen und auf eine überbetriebliche Ausbildung abhebt und die damit mehr dem zweiten Ausbildungs- und Arbeitsmarkt dient? Teilen Sie meine Auffassung, daß man auch für diesen Bereich, den Sie jetzt für nicht finanzierbar halten, genügend Mittel gehabt hätte, wenn man dort Gelder abgezweigt und andere Schwerpunkte gesetzt hätte?

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Lensing, Ihre Frage unterstellt, diese Dinge seien nicht finanziert. Es gibt Vorschläge - der Herr Staatssekretär hat welche genannt, und ich werde dazu gleich auch noch etwas ausführen -, die sehr wohl finanzierbar sind. Darauf, daß das JUMP-Programm der Bundesregierung zur Förderung von Jugendlichen, um ihnen eine Chance zu geben, von der Straße wegzukommen und ihrem Leben eine Perspektive zu geben - übrigens erstmals seit 16 oder 17 Jahren in der Bundesrepublik -, ein Erfolgsprogramm ist, können wir alle sehr stolz sein. ({0}) Deshalb sage ich Ihnen, Herr Lensing: Ein Katalog nach dem Motto „Wünsch dir was“ ist nicht gefragt. Vielmehr kommt es auf ein pragmatisches Vorgehen an, um die Fehler Ihrer Regierung auszumerzen. Und deshalb sage ich Ihnen auch: Machen wir nicht den Bock zum Gärtner! ({1}) Einer der Konstruktionsfehler des AFBG ist seine starke Orientierung am Studenten-BAföG. Dies bestätigt auch der vorliegende Bericht der Bundesregierung über seine Umsetzung und Inanspruchnahme. Deshalb wer- den wir die Akzeptanz gezielt verbessern. Dazu gehört aus meiner Sicht als erstes eine Verfahrensvereinfa- chung. 15 bis 25 Formulare sind einfach zuviel. Deshalb begrüße ich es, daß die Bundesregierung in die Richtung denkt, eine Vereinfachung des Verfahrens bei Inan- spruchnahme der Bankdarlehen, ein einstufiges Verfah- ren, einzuführen. Wir haben eine verkehrte Welt. Wir sind diejenigen, die die Überregulierung, von Ihnen ver- ursacht, zurückdrehen müssen. Das ist die Wirklichkeit! [Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ein zweiter wichtiger Punkt ist die Stärkung der Existenzgründungskomponente. Derzeit gilt: Wer sich innerhalb von zwei Jahren nach erfolgreich bestandener Abschlußprüfung durch Gründung oder Übernahme eines Unternehmens oder durch eine freiberufliche Existenz selbständig macht und bis Ende des ersten Jahres der Selbständigkeit mindestens zwei sozialversicherungspflichtige Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen - Petra Bläss ({2}): Herr Kollege Lange, es gibt den Wunsch nach einer weiteren Frage, diesmal von der Kollegin Ilse Aigner.

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, danke. Lassen Sie mich wenigstens den zweiten Teil meiner Rede im Zusammenhang ausführen. Danach können wir gerne ins Gespräch eintreten. Lassen Sie mich zur derzeitigen Rechtslage zurückkommen. Wer bis Ende des ersten Jahres der Selbständigkeit mindestens zwei sozialversicherungspflichtige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mindestens für vier Monate beschäftigt hat, erhält auf Antrag die Hälfte des Darlehens für Prüfungs- und Lehrgangsgebühren erlassen, und zwar bis maximal 10 000 DM. Die hohe Zahl der Ablehnungen - Frau Kollegin Aigner, immerhin fast 60 Prozent der bisherigen Anträge - ist nach Auskunft der Deutschen Ausgleichsbank auf folgende Gründe zurückzuführen: Erstens. Die Voraussetzung, innerhalb des ersten Jahres der Selbständigkeit mindestens vier Monate lang zwei sozialversicherungspflichtige Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter zu beschäftigen, konnte nicht erfüllt werden. Zweitens. Die Karenzzeit war zum Zeitpunkt der Existenzgründung bereits abgelaufen. Drittens. Der Darlehensnehmer hat sich vor Abschluß der Maßnahme mit Sondergenehmigung der Kammer selbständig gemacht. Ich bin mir sicher, daß die Bundesregierung durch die Verbesserung der Förderbedingungen für das Meister-BAföG gerade für die Existenzgründungen ein wichtiges Zeichen setzen wird. Die Verlängerung des Karenzzeitraumes um ein Jahr wäre eine Lösung. Der Darlehenserlaß könnte dann bei 50 Prozent bleiben. Man könnte aber auch den Darlehensanteil entsprechend erhöhen. Sie sehen, es gibt mehrere Möglichkeiten, zu dem Ziel, einen Existenzgründungsschub zu organisieren, zu kommen. Diese Verbesserungen brauchen wir aber auch angesichts der rund 300 000 Betriebe, die zur Übernahme anstehen, davon alleine 200 000 im Handwerk. Lassen Sie mich mit einem Zitat unseres Bundespräsidenten Johannes Rau schließen und damit gleichzeitig ein Versprechen abgeben: „Existenzgründungen haben im Handwerk Tradition“, so Johannes Rau. Und ich sage: Sie haben mit uns auch Zukunft. Danke. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung hinsichtlich des Antrages der Fraktion der CDU/CSU zu Ausbau und Förderung der beruflichen Aufstiegsfortbildung. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/1893 unter Buchstabe a, den Antrag auf Drucksache 14/541 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Damit ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion bei Enthaltung der PDSFraktion angenommen. Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung über die Umsetzung und Inanspruchnahme des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/1893 unter Buchstabe b, die Unterrichtung auf Drucksache 14/1137 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Ladenschlußgesetzes - Drucksache 14/1671 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({0}) Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die F.D.P.-Fraktion fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile für die F.D.P.Fraktion der Kollegin Gudrun Kopp das Wort.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Liebe Kollegen und KolleginChristian Lange ({0}) nen! Mit dem von der F.D.P.-Bundestagsfraktion vorgelegten Gesetzentwurf ziehen wir einen Schlußstrich unter eine inzwischen zehn Jahre andauernde Diskussion über die Liberalisierung des Ladenschlußgesetzes. Mein Kollege, der frühere Wirtschaftsminister Günter Rexrodt, hat diese Diskussion initiiert und von Anfang an sehr engagiert geführt. ({1}) Wir wollen die quälende und zum Teil auch peinliche und kleinliche Diskussion um jede weitere mögliche Stunde Öffnungszeit beenden. Wir möchten endlich vermeiden, daß immer wieder Bußgelddiskussionen aufkommen. Wir wollen für eine klare Regelung sorgen. ({2}) - Wenn Sie ein bißchen zuhören, bekommen Sie das sicher auch mit. Diese klare Regelung sieht in unserem Gesetzentwurf so aus: erstens Abschaffung des Ladenschlußgesetzes von 1956 und damit zweitens Verzicht auf bürokratische Regelungen. ({3}) Uns geht es darum, daß Vater Staat endlich einmal beweisen soll, daß Verbraucher und Händler in die sogenannte Volljährigkeit entlassen werden, das heißt, ihre selbstbestimmte Planung am Markt durchführen können. Welch eine Botschaft für den Standort Deutschland! ({4}) Wir plädieren für die völlige Freigabe des Ladenschlusses an Werktagen, und zwar von montags bis einschließlich samstags, wobei wir den grundgesetzlich geschützten Sonntag unangetastet lassen. Wir möchten, daß die Zuständigkeit für Verkäufe an Sonntagen in Form von Sonderregelungen bei den Ländern in Absprache mit den Kommunen liegt; denn wir finden, daß die regionalen Besonderheiten dort am besten berücksichtigt werden können. Ich lege auf die Bemerkung Wert, daß der Schutz der Arbeitnehmer vor zu langen Arbeitszeiten im Arbeits- und Tarifrecht gewahrt bleibt. Der völlige Verzicht auf die Regulierung der werktäglichen Öffnungszeiten bedeutet nicht - das betone ich ganz besonders, weil das draußen immer wieder falsch verstanden wird -, daß damit ein Verkauf rund um die Uhr verordnet wird. Genau das Gegenteil ist der Fall: Wir möchten denjenigen, die damit zu tun haben, also den Händlern, den Dienstleistern und den Verbrauchern, je nach Branche und Gegebenheiten die Freiheit geben, ihr eigenes Zeitfenster einzurichten. ({5}) Die vorsichtige Erweiterung der Öffnungszeiten um ganze 90 Minuten in Jahre 1996 war erfolgreich, so urteilt jedenfalls das Ifo-Institut. Die verlängerten Ladenöffnungszeiten vor allem an den wochenendnahen Tagen - Donnerstag, Freitag und Samstag - wurden zu 50 Prozent von den Verbrauchern genutzt. Das Institut schlägt gemäß unserem Gesetzentwurf eine völlige Liberalisierung des Ladenschlusses vor. Vor allem junge und berufstätige Menschen begrüßen eine solche Regelung, weil sie ihnen ermöglicht, Arbeitszeit, Familie plus Freizeitgestaltung erheblich besser zu planen. 80 Prozent der jungen Leute im Alter von 20 bis 29 Jahren und 67 Prozent der berufstätigen Verbraucher befürworten sie, so heißt es in einer repräsentativen Umfrage des Ifo-Instituts. Für die völlige Abschaffung der Ladenschlußzeiten, wie wir sie möchten, sind 45 Prozent der Verbraucher, während 36 Prozent dagegen sind. Es ist mir wichtig, auf einen Punkt hinzuweisen: Die Sozialforschungsstelle Dortmund stellt fest, daß sich die beschäftigungspolitischen Hoffnungen mit der Lockerung des Ladenschlusses nicht erfüllt haben. Dies führt das Institut aber auf strukturelle Probleme im Einzelhandel und nicht auf die weitere Lockerung von Ladenschlußzeiten zurück. Viele Gründe spielen hier eine Rolle, zum Beispiel Innenstadtentwicklungen, CityManagement und vieles mehr. Ich will das nicht im einzelnen erörtern. Zu den kleinen und mittleren Betrieben ist zu sagen: Hier gibt es einen Strukturwandel. In den Jahren von 1980 bis 1995, also seit 15 Jahren, ist im Rahmen der nicht erfolgten Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten der Anteil der kleinen und mittleren Betriebe an der Gesamtzahl der Unternehmen von gut 55 auf jetzt 36 Prozent zurückgegangen. ({6}) Hier gibt es strukturelle Probleme bzw. Umwandlungsprozesse. Die wollen wir konstruktiv begleiten. Wir fordern also eine Modernisierung des Standortes Deutschland. Wir fordern eine Wettbewerbsfähigkeit, die sich im europäischen und internationalen Vergleich messen läßt. Wir fordern Mut zu Innovationen, nicht Stagnation. Denn Sie müssen bedenken: Wir müssen eine Antwort auf E-Commerce, auf Internetshopping rund um die Uhr, bieten. Sie wissen, daß es Stellen gibt, die heutzutage rund um die Uhr verkaufen. Wir brauchen ein Gegengewicht. Wir möchten mit diesem Gesetzentwurf Handel und Verbraucher in ihrer freiheitlichen Tätigkeit stärken. Ein letztes Wort an Wirtschaftsminister Müller, der heute leider nicht anwesend ist,

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Kopp, es muß wirklich ein allerletztes Wort sein. Ihre Redezeit ist vorüber.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- der derzeit keinen Handlungsbedarf sieht: Ich bitte darum, daß sowohl der Kanzler und der Wirtschaftsminister als auch das Parlament diesem Gesetzentwurf in Gänze zustimmen, damit wir für den modernen Dienstleistungsstandort Deutschland fit sind. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPDFraktion spricht jetzt die Kollegin Doris Barnett.

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es gleich vorweg zu sagen: Dieses „Allzeit-Bereit-Gesetz“ der F.D.P. ist keine klare Regelung, sondern Murks. Deswegen lehnen wir es ab. Ich kann Ihnen dafür vier Gründe nennen. Erstens ist es offensichtlich, daß die F.D.P. damit nicht, wie es in der Begründung des Gesetzentwurfes steht, den kleinen und mittelgroßen Einzelhändlern eine Chance verschaffen will, sondern daß sie ganz allein die Interessen der großen Kaufhäuser und Einkaufszentren auf der grünen Wiese vertritt. ({0}) Das weiß auch die F.D.P.; denn sie hat ja die entsprechenden Gutachten vorliegen, und noch kann man auch in der F.D.P. lesen, so hoffe ich. Zweitens schaden Sie mit Ihrem Vorschlag gezielt den schutzwürdigen Interessen der kleinen und mittleren Einzelhändler, die seit den von Ihnen durchgesetzten längeren Öffnungszeiten am meisten zu leiden haben. Drittens ist es eine Verhöhnung der im Verkauf Beschäftigten, wenn Sie behaupten, längere Öffnungszeiten und damit längere Arbeitszeiten schadeten nicht, weil es ja das Arbeitsschutzgesetz gebe. Von einer Humanisierung der Arbeitswelt scheinen Sie noch immer nichts verstanden zu haben.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Barnett, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper? ({0})

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das glaube ich zwar nicht; aber sie soll ihre Chance haben.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Frau Kollegin, ich muß Sie enttäuschen. Denn anscheinend wissen Sie nicht, daß es gerade hier im Osten Deutschlands vor zehn Jahren kleine mittelständische Einzelhandelsgeschäfte gegeben hat, ({0}) die als Spätverkaufsstellen Ladenöffnungszeiten hatten, die über die heutigen hinausgingen. Deswegen frage ich Sie: Warum glauben Sie, daß diese Marktlücke bzw. Nische heute nicht auch für kleine mittelständische Einzelhandelsgeschäfte interessant ist? ({1}) Warum halten Sie diese für kleine mittelständische Einzelhandelsgeschäfte interessante Nische nicht offen, und warum wollen Sie verhindern, daß auch kleine Geschäfte Umsätze machen können?

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Pieper, gerade um die kleinen Geschäfte geht es uns. Denn wenn es zur Umsetzung Ihres Vorschlages käme, würden immer mehr große Geschäfte im Osten angesiedelt. Es käme zu weiterer Konzentration, und das macht die kleinen Geschäfte kaputt. Sie wollen diese Entwicklung eben nicht sehen. Sei's darum; dann bleiben wir eben verschiedener Meinung. ({0}) Viertens zeigt Ihr Antrag, welches Gesellschaftsbild Sie vor Augen haben und umsetzen wollen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Barnett, Kollege Rexrodt möchte eine weitere Zusatzfrage stellen.

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte jetzt endlich einmal am Stück sprechen. Wenn Sie unsere Vorstellungen nicht verstehen, dann können wir uns darüber später unterhalten. ({0}) Was bei Ihnen zählt, ist einzig der Gewinn. Soziale und gesellschaftliche Werte wie Familienleben, Vereinsleben und Engagement in der Kirche gelten bei Ihnen wenig; denn sie sind ja nicht in Mark und Pfennig auszurechnen. ({1}) Es ist schon wirklich dreist, wie Sie Ihr Gesetzesvorhaben begründen. Sie sagen, es gehe Ihnen jetzt um die Wünsche und Bedürfnisse der Kunden. Wissen Sie denn überhaupt, warum das Ladenschlußgesetz eingeführt wurde? Denn um die Jahrhundertwende hatten wir doch eine vollkommene Liberalisierung. Es ging um Nachtruhe, um Arbeitsschutz und um die Wahrung gleicher Wettbewerbsbedingungen für alle Läden. Aber davon wollen Sie nichts mehr hören. Heute - das muß ich hinzufügen - dient das Ladenschlußgesetz auch dem Schutz der Arbeitsplätze. Aber darum geht es Ihnen nicht. Sie träumen wahrscheinlich immer noch davon, daß eine Dienstleistungsgesellschaft ohne jede Regel, also ohne Gesetze, geschaffen werden kann, eine Gesellschaft, in der es nur um die Wünsche der Kunden, den Umsatz und den Gewinn geht. Auf der anderen Seite des Ladentisches steht jedoch der Kostenfaktor „Arbeitnehmer“. Aber dafür haben Sie ja schon eine Lösung - das macht auch Sinn -: die geringfügige Beschäftigung - sozialversicherungsfrei, versteht sich. Gestern haben wir uns um das JUMP-Programm gestritten, unter anderem auch um die Frage nach qualifizierten Ausbildungsplätzen. Erzählen Sie einmal, woher die nach einem völligen Verzicht auf einen Ladenschluß in diesem Dienstleistungszweig kommen sollen! Werden Sie denn nicht rot, wenn Sie einem jungen Menschen vorschlagen, im Einzelhandel zu lernen, obwohl Sie wissen, daß er anschließend fast keine Vollzeit-, kaum Teilzeitarbeit, jedoch eine Menge von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen vorfinden wird? Ist das für Sie die schöne neue Dienstleistungswelt? Ist das die neue Freiheit, auf die unser Land und die jungen Menschen so lange gewartet haben? ({2}) Was ich hier sage, ist in den vorliegenden Gutachten nachzulesen. Machen Sie sich doch einmal die Mühe! Die Gutachten strafen im übrigen Ihrer Schwadroniererei von 1996 Lügen. In der Begründung des Gesetzes schwärmten Sie noch, daß eine Verlängerung der Ladenöffnungszeiten in drei Jahren 3 Prozent mehr Umsatzsteigerung bringe

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Barnett, es gibt noch einen Wunsch nach einer Frage von Herrn Burgbacher.

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- nein -, daß eine Umsatzverlagerung in Richtung kleinerer Betriebseinheiten zu erwarten sei ({0}) - das haben Sie seinerzeit in der Gesetzesbegründung gesagt - und daß mehr Arbeitsplätze entstünden. Das Ifo-Institut hat 50 000 zusätzliche Arbeitsplätze prognostiziert. Ob es sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze sind, die da entstehen, ob man mit dem Geld, das man dort verdient, tatsächlich seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, das - das muß ich Ihnen zugestehen haben Sie nicht gesagt. Wie falsch Ihre Argumentation war und ist, belegen die jetzt veröffentlichten Gutachten der Sozialforschungsstelle Dortmund und des Ifo-Instituts in München. ({1}) Sie beweisen ganz dramatisch, daß Ihr Argument, nämlich daß durch längere Ladenöffnungszeiten Arbeitsplätze geschaffen würden, völlig falsch ist. Das genaue Gegenteil ist der Fall: In dem Untersuchungszeitraum von drei Jahren sind 6 Prozent der Arbeitsplätze im Einzelhandel abgebaut worden. Mit Ihrem neuen Antrag bleiben Sie Ihrer Tradition treu, mit falschen Argumenten auf eine Änderung des Ladenschlußgesetzes hinzuarbeiten. ({2}) Auch mit Ihren alten Argumenten, mehr Kaufkraft durch längere Öffnungszeiten zu mobilisieren, liegen Sie voll daneben. Die einhellige Meinung von Fachleuten war und ist, daß dies nicht stimmt; das läßt sich auch belegen. Besonders grotesk ist Ihre Argumentation auch, weil die Regierung, an der Sie beteiligt waren, zu verantworten hatte, daß die Kaufkraft der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zum Leidwesen des Einzelhandels über viele Jahre hinweg gesunken ist. ({3}) Seien Sie froh, daß wir an der Regierung sind. Wir sorgen wenigstens dafür, daß die Leute wieder Geld in der Tasche haben. ({4}) Nun zum Verfahren: Die Bundesregierung hat eine vernünftige Vorgehensweise vorgeschlagen, die wir unterstützen. Wir werden zunächst im Detail die vorgelegten Gutachten prüfen und dann mit allen Betroffenen, aus dem Handel, den Gewerkschaften, den Kirchen, den Familienverbänden und den Sportvereinen - um die geht es vielleicht auch Ihnen -, das Gespräch suchen. Danach werden wir prüfen, inwieweit überhaupt Änderungsbedarf besteht. Wir zäumen das Pferd also nicht von hinten auf. Ihren Schnellschuß von heute sollten Sie deswegen am besten zurücknehmen. Vielen Dank. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Thomas Strobl.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst zum Gesetzentwurf der F.D.P.: Dieser Gesetzentwurf sieht eine totale Liberalisierung des Ladenschlusses vor und bezieht dabei den Sonntag ein. ({0}) In der Begründung zu Ihrem Gesetzentwurf heißt es: Der Schutz der Sonn- und Feiertage sowie von Heiligabend und Sylvester im Rahmen der verfassungsrechtlichen Regelung fällt nach Aufhebung des Ladenschlußgesetzes den Ländern zu. ({1}) Damit ist der Bund außen vor. Dies wollen wir nicht, verehrte Kolleginnen und Kollegen. Hier muß der Bundesgesetzgeber Farbe bekennen. ({2}) Für den Schutz des Sonntages muß eine bundeseinheitliche Regelung her. Diese darf man nicht auf die Länder abschieben. Wir können in diesem Bereich keinen Flikkenteppich im Lande in Kauf nehmen. ({3}) Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat bezüglich des Sonntagsschutzes eine glasklare Meinung. Wir stehen zwar prinzipiell einer weiteren Liberalisierung des Ladenschlusses positiv gegenüber. ({4}) Wir haben ja schon gemeinsam einen ersten Schritt zum 1. November 1996 vollzogen. Es gilt, diesen Weg weiterzugehen. Das betrifft aber bitte schön nur die Werktage, der Sonntag hingegen darf nach unserer Überzeugung unter keinen Umständen einer generellen Ladenöffnung preisgegeben werden. ({5}) An der Sonntagstür darf nicht gerüttelt werden. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Strobl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Burgbacher?

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß eine bundeseinheitliche Regelung auf Grund der Vorschrift in Art. 140 des Grundgesetzes schon besteht? Ist Ihnen außerdem bekannt, daß es bisher schon unterschiedliche Regelungen in den Ländern gibt?

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Werter Herr Kollege, ich wäre auf die verfassungsrechtliche Situation noch zu sprechen gekommen. Ihr Gesetzentwurf sieht vor, daß die Möglichkeit zu Ausnahmeregelungen den Ländern ohne jegliche Einschränkung eröffnet wird. Damit würde einer Erosion des Ladenschlusses am Sonntag Tür und Tor geöffnet werden. ({0}) In bezug auf die verfassungsrechtliche Situation haben Sie recht. Eigentlich ist der Bundesgesetzgeber zum Handeln verpflichtet, allerdings zu einem andern, als von Ihnen vorgeschlagen. ({1}) Richtig ist, Art. 140 des Grundgesetzes stellt in Verbindung mit Art. 139 der Weimarer Reichsverfassung den Sonntag als Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung unter verfassungsrechtlichen Schutz. ({2}) Nicht ohne Grund haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes ebenso wie schon die Mütter und Väter der Weimarer Reichsverfassung die Sonntagsruhe in den Verfassungsrang erhoben.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es gibt eine zweite Frage der Kollegin Pieper.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Strobl, habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie auch nicht wollen, daß sonntags per Internet, auf Hauptbahnhöfen oder an Tankstellen eingekauft wird? Das ist ja derzeit schon möglich.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, ich komme gleich noch auf das Argument zu sprechen, daß das Internet neue Möglichkeiten eröffnet. Bitte gedulden Sie sich noch einen Moment. Das Argument, daß Menschen in Krankenhäusern oder bei den Medien arbeiten müssen, ist wenig geeignet, um zu begründen, daß alle Läden geöffnet haben sollen. Nur die Tatsache, daß das Krankenhaus am Sonntag geöffnet haben muß, reicht nicht als Begründung dafür aus, daß auch alle Läden in der Innenstadt geöffnet haben müssen. ({0}) Der Sonntag ist nämlich nicht nur ein freier Tag, sondern er ist für viele Menschen in unserem Land ein Tag der Einkehr und der Muße.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Strobl, ich muß Sie schon wieder unterbrechen. Der Kollege Rexrodt hat auch eine Frage.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr. ({0})

Dr. Günter Rexrodt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002759, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie führen als Begründung für den Schutz des Sonntages unsere Kultur an, ({0}) zitieren das Verfassungsgebot und sprechen von Muße und Erhebung. Ich bin ab und zu in Italien. Wie erklären Sie sich eigentlich, daß die Kirchen in Italien am Sonntag proppenvoll sind, aber gleichzeitig die Läden geöffnet haben? Wie erklären Sie sich, daß in anderen Ländern, die durchaus Bestandteil unseres Kulturkreises sind, ({1}) die Möglichkeiten zu Muße, Erhebung und Begegnung mindestens so vielfältig sind wie in unserem Land?

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Rexrodt, der Vergleich mit anderen Ländern ist nur dann fair, wenn Sie alles einbeziehen, was andere Länder von der Bundesrepublik Deutschland unterscheidet. Beispielsweise haben wir in der Bundesrepublik Deutschland - das habe ich eben zu erläutern versucht - eine andere verfassungsrechtliche Situation. ({0}) - Ja, sicher. Meines Wissens ist in der italienischen Verfassung nicht geregelt, daß der Sonntag einem besonderen Schutz unterliegt. Sie sollten sich seitens der F.D.P.Fraktion klar darüber werden, ob Sie diese Verfassungsnorm akzeptieren und sie als Bundesgesetzgeber mit Leben erfüllen wollen oder ob Sie sie ablehnen. Dann müßten Sie allerdings einen Antrag mit dem Ziel stellen, das aus dem Grundgesetz herauszunehmen. ({1}) Der Sonntag ist für uns ein schützenswertes Kulturgut. Es gilt, den Sonntag als einen Tag zu erhalten, an dem eben nicht der Konsum, nicht die Möglichkeit des Einkaufens und der geschäftlichen Betätigung im Vordergrund stehen, sondern an dem eine überwiegende Zahl von Menschen in Deutschland nicht arbeiten muß und diesen Tag mit der Familie genießen kann. Ich komme noch einmal auf das Argument der Frau Kollegin Pieper zu sprechen, daß in vielen Bereichen, in der Gastronomie, in den Medien, in den Verkehrsbetrieben, in den Krankenhäusern und in weiteren Dienstleistungsbereichen, Menschen sonntags arbeiten müssen und daß deswegen niemand den heiligen Sonntag in Gefahr sieht. Dies ist - ich sage es noch einmal - nur sehr begrenzt stichhaltig. Nur weil einige wenige arbeiten müssen, kann daraus noch lange nicht der Schluß gezogen werden, daß jetzt alle am Sonntag arbeiten sollen. ({2}) Wenn wir nun über eine Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten unter der Woche nachdenken - das sage ich für die CDU/CSU-Fraktion -, so tun wir dies auch - nicht nur, aber auch - vor dem Hintergrund, dem Sonntag, abgesehen von sehr wenigen faktisch bestehenden Ausnahmen, eher einen noch höheren Schutz durch Bundesgesetze zukommen zu lassen. ({3}) Wir wollen sicherstellen, daß der Sonntag dauerhaft nicht ein Tag wie jeder andere wird, sondern daß für die Familien mit ihren Kindern, für den Großteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für eine Gesellschaft, die nicht ausschließlich am Konsum orientiert ist, der Sonntag auch in Zukunft Sonntag bleibt.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Strobl, ich muß Sie jetzt leider noch einmal unterbrechen. Ich weise aber die F.D.P.-Fraktion jetzt darauf hin, daß das die letzte Frage ist, die wir zulassen. Die Kollegin Flach möchte noch eine Zwischenfrage stellen.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr, Frau Kollegin Flach.

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, Sie haben eben darauf verwiesen, daß es nur wenige Ausnahmen gibt. Dürfte ich Sie daran erinnern, daß im Lande NordrheinWestfalen die Läden an 40 Sonntagen im Jahr offen sein dürfen, und zwar ausschließlich in Wallfahrtsorten? ({0}) Ich würde doch einmal gern Ihre Meinung dazu hören.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehen Sie, Frau Kollegin Flach, die Lebenswirklichkeit, die Ihr Beispiel für Nordrhein-Westfalen zeigt, und die Lebenswirklichkeit in meiner schönen Heimat, in Baden-Württemberg, sind völlig unterschiedlich. ({0}) Das zeigt, daß für den Fall, daß der Bundesgesetzgeber keinen gesetzlichen Rahmen für den Schutz des Sonntags mehr bieten würde, wir höchst unterschiedliche Regelungen bekommen würden und wir in manchen Bundesländern - möglicherweise gerade in NordrheinWestfalen - einen Erosionsprozeß hinsichtlich des Schutzes des Sonntags erleben müßten, den wir nicht wollen und den wir nicht akzeptieren können. Der Vorschlag der F.D.P. wird eigentlich nur noch von dem Vorschlag des Herrn Bundeswirtschaftsministers übertroffen, von dem ich neulich gelesen habe. Er will nämlich jetzt den Ladenschluß an den vier Adventssonntagen freigeben. Dazu sage ich: Frohe Adventszeit, Herr Bundesminister! Als hätten wir nicht genug vorweihnachtlichen Trubel, Konsumrausch und Einkaufshektik; als würden die Verkäuferinnen und Verkäufer im Einzelhandel durch die vier langen Samstage in der Vorweihnachtszeit nicht schon genug belastet! Vielleicht denken diejenigen, die hier mit dem Liberalisieren so flott sind, auch einmal an die Verkäuferinnen und Verkäufer, ({1}) die heute schon lange Arbeitszeiten haben und die, wenn sie gut bezahlt werden - Sechstagewoche inbegriffen -, 2 500 DM im Monat verdienen. Wir sollten auch an diese Menschen denken. Das sage ich auch für die Arbeits- und Sozialpolitiker in meiner Fraktion. Dazu kommt, daß diese Verkäuferinnen und Verkäufer, wenn sie sich zu ihrem schmalen Gehalt noch etwas hinzuverdienen wollen - indem sie beispielsweise drei-, viermal im Monat abends in der Kneipe jobben -, durch die unselige 630-Mark-Regelung dieser Regierung für ihren Fleiß bereits in ungerechtfertigter Weise bestraft worden sind. ({2}) Ich bin über Ihre Interpretation des Ifo-Gutachtens schon sehr erstaunt, sehr verehrte Frau Kollegin Barnett, um es einmal vorsichtig zu formulieren. ({3}) Die Ergebnisse des Ifo-Gutachtens zeigen ganz eindeutig, daß seit der Änderung des Ladenschlußgesetzes im Jahre 1996 die Zahl derer, die die damals beschlossenen Verlängerungen befürworten, stark gestiegen ist und daß sich parallel dazu die Zahl derer - sowohl auf der Seite der Kunden als auch auf der Seite der Geschäfte - erhöht hat, die sich weitere Veränderungen in Richtung verlängerter Öffnungszeiten vorstellen können. Diese Tatsache ist nicht zu bestreiten. Grundsätzlich scheint bei den Kunden das Bedürfnis nach mehr individueller Zeiteinteilung beim Einkauf, insbesondere beim Einkauf von Waren des täglichen Bedarfs, ständig zu steigen. Damit einher geht im übrigen auch das ständig steigende Bedürfnis der Kunden, mehr und auch ganz neue, in Deutschland bisher unbekannte Serviceleistungen der Geschäfte in Anspruch zu nehmen. Dies wiederum haben viele Geschäfte als Chance erkannt. Es reicht heute nicht mehr aus, sozusagen einfach einen Laden aufzumachen. Was die Serviceleistungen in den Geschäften anbetrifft, ist der Kunde wesentlich anspruchsvoller geworden. Die liberalisierten Öffnungszeiten besitzen meiner Meinung nach hinsichtlich der Serviceleistungen in Deutschland einen wichtigen Katalysatoreffekt. In diesem Bereich ist Deutschland nach wie vor eher ein Entwicklungsland. Gerade auch kleinere Geschäfte und Nischenanbieter müßten meiner Ansicht nach zwingend in diesen Bereich gehen - viele tun es auch -, wenn sie überleben wollen. Hier liegt - in diesem Punkt gebe ich Ihnen recht, Frau Kollegin Barnett - das Problem, das mir bei der ganzen Situation am meisten auf den Magen schlägt: Ich glaube - auch diesen Effekt weisen alle bisherigen Erkenntnisse aus -, daß die Flexibilisierung des Ladenschlusses einen Konzentrationsprozeß im deutschen Einzelhandel eher fördern wird. Insbesondere Geschäfte im Umland von Ballungszentren werden es noch schwerer haben, als es heute schon der Fall ist. Der Einzelhandel in den Großstädten wird sich ebenfalls mehr konzentrieren, da Großanbieter und Ketten schon heute eine immer stärkere Marktstellung gewinnen. Allerdings ist dies ein Prozeß, der bereits in den vergangenen Jahren auch ohne Änderung des Ladenschlußgesetzes eingetreten ist, weil es zu einem massiv erhöhten Kostendruck im deutschen Einzelhandel gekommen ist und weil durch die Zurückhaltung der Bürger im Konsumbereich der Einzelhandel Umsatzrückgänge oder nur geringe Umsatzzuwächse zu verzeichnen hatte. Ich denke daher, daß es sich hier um eine Entwicklung handelt, die weder durch eine Regelung des Ladenschlusses noch durch andere staatliche Maßnahmen aufgehalten werden kann. ({4}) Diese Marktentwicklung kann man im Rahmen der Diskussion bezüglich des Ladenschlusses kritisieren oder gutheißen. Ich möchte aber an die Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion appellieren: Akzeptieren Sie, daß letztlich der Kunde König bleiben wird! Akzeptieren Sie, daß sich die Realität gewandelt hat! ({5}) Akzeptieren Sie, daß wir in jeder mittleren und größeren Stadt beispielsweise in einer BP-Tankstelle, die sich zu einem Supermarkt entwickelt hat, 24 Stunden am Tag nahezu alle Waren einkaufen können. Die Menschen tun dies, obwohl sie mehr Geld dafür bezahlen müssen. Dies ist die gewandelte Realität. ({6}) Wenn man vor 20 Jahren gesagt hätte, ({7}) daß man Wurst und Käse neben Öl und Benzin einkaufen kann, dann wäre man wahrscheinlich für verrückt erklärt worden. Es ist eigentlich zu bedauern, daß Sie nicht bereit sind, die Wünsche der Kunden, das Verhalten der Verbraucher und die neue Entwicklung in einer ganzen Reihe von Segmenten - ich nannte bereits das Beispiel von der Tankstelle - als Realität zu akzeptieren, ({8}) sondern daß Sie ausschließlich einer dogmatischen und ideologischen Haltung frönen. Abgesehen von dem unseligen Vorschlag des Bundeswirtschaftsministers, alle vier Adventssonntage dem Konsumrausch zu opfern, hat sich die Bundesregierung bei dieser Thematik im übrigen nicht mit Ruhm beklekkert. Bundesarbeitsminister Walter Riester - wir kennen es zur Genüge von der Rente - ist mal dagegen, mal dafür, jedenfalls immer dabei. Vom Kanzler habe ich in dieser Frage noch nichts gehört. Er ist nicht dabei, und das ist auch gut so; ({9}) denn sein Wort - auch das kennen wir, Frau Kollegin Barnett, von der Rente - hat nur eine kurze Halbwertzeit. ({10}) Bleibt abzuwarten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ob diejenigen, die das Land regieren - sie wollten es sogar besser regieren -, es noch fertigbringen - dazu gab es in Ihrer Rede relativ wenig Konkretes, Frau Kollegin Barnett -, einen Gesetzentwurf auf den Tisch des Hohen Hauses zu legen, oder ob es bei dem fröhlichen internen Durcheinander bei der SPD bleibt. Wir jedenfalls sind gespannt darauf, wie es weitergeht. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Volker Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst kurz zu Ihren Ausführungen, Herr Strobl. Meiner Ansicht nach ist es der politischen Kultur in unserem Land nicht förderlich, wenn Steuern als Strafe bezeichnet werden. Dadurch werden die Fundamente unseres Sozial- und Rechtsstaats denunziert. Das dürfen wir nicht zulassen. ({0}) Beim Ladenschlußgesetz geht es darum, einen fairen Ausgleich zwischen den Interessen von Verbrauchern, von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und von Arbeitgebern zu finden. Deshalb sollten wir die Diskussion etwas gründlicher führen, als es in dem Gesetzentwurf angelegt ist. Die beiden kürzlich veröffentlichten Gutachten zum Ladenschluß haben uns Bündnisgrüne in unserer Analyse voll bestärkt. Es besteht ein Bedürfnis nach einer Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten. ({1}) Das geltende Gesetz orientiert sich nicht mehr an den Wünschen der Bürgerinnen und Bürger. Es ist veraltet, weil es den veränderten Lebens- und Konsumgewohnheiten der Bevölkerung nicht ausreichend gerecht wird. Wir müssen es daher ohne Zweifel modernisieren. ({2}) Das Münchner Ifo-Gutachten weist nach, daß gerade die jungen berufstätigen Verbraucherinnen und Verbraucher die längeren Öffnungszeiten in besonderer Weise nutzen und auch eine weitere Flexibilisierung nutzen würden. Wir müssen daran denken, daß wir es heute mit anderen Lebensmodellen, bei denen beide berufstätig sind, zu tun haben, daß es die Hausfrau, die den Einkauf übernimmt, kaum noch gibt. Es sind aber nicht nur die jungen Menschen, die längere Öffnungszeiten begrüßen, sondern generell liegt die Akzeptanz für veränderte Ladenöffnungszeiten bei 57 Prozent. Über 50 Prozent der Bevölkerung begrüßen die bisher erreichte Liberalisierung beim Ladenschluß als eine wesentliche Erleichterung bei der Gestaltung ihrer Freizeit. Wir müssen sehen, daß es einen Teil der Gesellschaft gibt, der sich eine Veränderung wünscht, daß es aber auch einen anderen Teil gibt, der den Status quo beibehalten möchte. Wir müssen dazwischen vermitteln, weil hier jeweils legitime Interessen hinter den Positionen stehen. ({3}) Ich finde es wirklich sehr lustig, wenn Guido Westerwelle als Erstantragsteller hier im Bundestag als die Jutta Ditfurth der Ladenschlußdebatte auftritt, nachdem Sie - auch Sie, Herr Rexrodt - das geltende Gesetz erst in der letzten Wahlperiode durchgesetzt haben. Es zeigt sich eben, daß es erhebliche Mängel aufweist. Das sind die Mängel, die erst einmal Sie zu verantworten haben. ({4}) Wir als Bündnisgrüne haben in der Diskussion in den letzten Wochen keinen Hehl daraus gemacht, daß wir keine vollständige Abschaffung des Ladenschlußgesetzes wollen. Eine solche Brachiallösung, wie Sie sie vorlegen, lehnen wir ab. In unserer Gesellschaft gibt es nicht nur Arbeitgeberinteressen und nicht nur Konsumenteninteressen. Es gibt andere Werte, die in einem Ladenschlußgesetz zum Ausdruck kommen müssen. ({5}) Glauben Sie denn wirklich, Sie können zum Schutz der Feiertags- und Sonntagsruhe allein auf das Grundgesetz plus Weimarer Reichsverfassung verweisen? Soll das die Bürger vor den Arbeitsgerichten schützen? Der Verweis auf die Länder zeigt, daß Sie es ihnen freistellen wollen. Anderenfalls müßten Sie einheitliche Vorgaben machen. Der Sonntag dient der Erholung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, dem Zusammenhalt der Familie. Dies muß auch gesetzlich klar zum Ausdruck kommen. ({6}) Wir Bündnisgrüne treten für ein vernünftiges Mehr an Flexibilität beim Ladenschluß ein. Eine flexiblere Lösung kann aber nur eine solche sein, die auch die Interessen der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer berücksichtigt. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Beck, es gibt eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Aber gerne.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Kollege Beck. Da Sie eben gesagt haben, Sie träten für ein vernünftiges Mehr ein, möchte ich an die Diskussion erinnern, die wir in der letzten Legislaturperiode geführt haben. Damals war für die Grünen eine Liberalisierung der Ladenschlußzeiten in geringem Umfang, wie wir das damals unter der Leitung des Kollegen Rexrodt vorgeschlagen und auch durchgesetzt haben, der Untergang des Abendlandes. Was hat sich seither geändert?

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das war für uns nicht der Untergang des Abendlandes. In unserer Partei gab es unterschiedliche Positionen. Ich kann mich noch an die Diskussion im Rechtsausschuß erinnern. Ich habe Ihrem Gesetz damals nicht zugestimmt, weil ich Ihren Vorschlag für nicht durchdacht hielt, die Ladenöffnungszeiten an Werktagen zu verlän5742 gern, am Samstag aber verkürzen zu wollen. Es gab keine mittelständische Komponente, und es gab auch keine Überlegung, wie man mit den Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinneninteressen umgehen kann. Ich hielt ihn deshalb für einen schwachen Entwurf. Ich werde Ihnen jetzt gleich unsere Vorstellungen nennen. Ich glaube, die Politik hat beim Ladenschluß eine Gestaltungsaufgabe. ({0}) Ich finde, nach Ihrem Vorschlag gibt die Politik den Gestaltungsauftrag ab und versucht nicht mehr den gerechten Interessenausgleich. Wir haben in unserer Fraktion und in unserer Partei in den letzten Jahren darüber diskutiert. Mittlerweile sehen wir auch auf Grund der Erfahrungen, die wir gemacht haben, daß die Notwendigkeit einer weiteren Änderung besteht. Das scheint auch bei uns immer mehr Zustimmung zu finden. Deshalb vertrete ich die Position, die Sie heute von mir hören. ({1}) Grundsätzlich möchten wir den Kommunen die Möglichkeit geben, regional differenziert spezifische Lösungen zu entwickeln und hierfür bundesweit einen einheitlichen Zeitkorridor von 6 bis 22 Uhr an Werktagen anzubieten. In Gesprächen mit den Verbraucherinnen und Verbrauchern, dem Handel und weiteren kommunalen Akteuren lassen sich vor Ort oftmals angemessene und spezifische Lösungen finden. Sie haben vorhin Italien angesprochen. Das will ich jetzt auch tun: In Italien haben Frauen es 1990 geschafft, daß entsprechende Änderungen in die Kommunalverfassungen aufgenommen wurden. Dort werden nun Arbeitszeiten, die Öffnungszeiten von Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen sowie die Ladenöffnungszeiten auf kommunaler Ebene koordiniert. ({2}) Die Erfahrungen sind gut, denn so können die Beschäftigten im Einzelhandel eine entsprechende Absicherung erhalten. Aber mit einer solchen „Hau-weg-den-ScheißPolitik“, wie Sie sie betreiben, kommen wir nicht zu solchen Ergebnissen. ({3}) Außerdem sollten wir unter der Parole „Freiheit für Tante Emma und für Tante Aysegül“ darüber nachdenken, die kleinen Läden mit weniger als fünf Beschäftigten auszunehmen. Dies ist unseres Erachtens verfassungsrechtlich möglich. Betriebe mit weniger als fünf Beschäftigten unterliegen auch nicht dem Kündigungsschutzgesetz. Warum sollten wir nicht gerade diesen die Möglichkeit geben, Marktnischen zu besetzen, ohne in Konkurrenz mit den Großen zu treten? Dies wäre eine Möglichkeit, den kleinen Einzelhandel zu fördern, zu einer Belebung der Innenstädte beizutragen und trotzdem nicht den Druck insgesamt zu erhöhen. ({4}) Wenn man den Ladenschluß ganz aufgibt, bedeutet das eindeutig einen Marktvorteil für die großen Ketten und die Kaufhäuser. Wir verdrängen damit die Kleinen, weil sie gegen diese Ladenöffnungszeiten auf Grund ihrer personellen Strukturen nicht ankommen und die Kosten nicht tragen können. Wir brauchen sie aber - das sage ich Ihnen auch als Innenpolitiker - zur Erhöhung der Lebensqualität in den Innenstädten durch die Präsenz der städtischen Bevölkerung dort und auch als Kriminalitätspräventionsinstrument. Wenn die Menschen präsent sind, passiert weniger, weil sie selber mit aufpassen. Dazu brauchen wir die Unterstützung für die kleinen und mittleren Betriebe des Einzelhandels.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Beck, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir müssen hier gestaltend eingreifen, um zu verhindern, daß die Konzentration im Einzelhandel die Kleinen ganz vom Markt verdrängt. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Lieber Kollege Beck, ich muß Sie leider darauf aufmerksam machen, daß Ihnen etwas herausgerutscht ist, was hier im Parlament normalerweise nicht gesagt wird. Sie wissen schon, was ich meine. ({0}) Für die PDS-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Dr. Heidi Knake-Werner.

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Kopp, die neue Freiheit, die Sie hier an Hand Ihres Gesetzentwurfs zur Aufhebung des Ladenschlußgesetzes propagiert haben, ist genau die Freiheit, wie die F.D.P. sie versteht: Sie wollen, daß die Stärkeren noch bessere Chancen haben, die Schwächeren kaputtzumachen. Aber das ist nicht die Freiheit, wie wir sie verstehen. Ich finde den Antrag der F.D.P. populistisch, unseriös und zudem zutiefst mittelstandsfeindlich.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Knake-Werner, auch an Sie wird aus den Reihen der F.D.P. eine Frage gewünscht. - Kollegin Pieper, bitte. ({0})

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, sind nicht auch Sie der Meinung, daß jemand, der ein unternehmerisches Risiko eingeht, ein Geschäft aufmacht und seine Ersparnisse investiert, eigentlich die Freiheit haVolker Beck ({0}) ben sollte, dann auch selber zu bestimmen, welche Öffnungszeiten ihm die entsprechenden Umsätze bringen? ({1})

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich bezweifle vor allen Dingen Ihre Argumente. Ich hatte Ihnen gerade gesagt: Ihr Antrag ist zutiefst mittelstandsfeindlich. ({0}) - Natürlich. Ich will Ihnen das einmal ganz kurz an ein paar Zahlen belegen. Es gibt seit den neuen Ladenöffnungszeiten, seit 1996, und in den letzten zehn Jahren insgesamt folgende Veränderung: Die Verkaufsflächen auf der grünen Wiese haben im Westen um 25 Prozent und im Osten um 200 Prozent zugenommen. Das steht in überhaupt keinem Verhältnis zum Umsatz. Dieser stagniert nämlich bzw. ist in vielen Bereichen sogar rückläufig. Solch eine Entwicklung macht gerade die kleinen und mittelständischen Läden platt und führt dazu, daß die großen Läden auf der grünen Wiese immer bessere Chancen haben. Das ist das Kernproblem. Deshalb gibt es die Freiheit für kleine Unternehmen nicht. Die Zwänge für sie nehmen bei weiterer Liberalisierung der Öffnungszeiten zu. Sie hätten sich, bevor Sie Ihren Antrag eingebracht haben, wenigstens die Zeit nehmen sollen, die Gutachten zu lesen. Möglicherweise wären Sie dann zu anderen Schlußfolgerungen gekommen. Ich will Ihnen ein paar Argumente nennen, die aus unserer Sicht dagegen sprechen. Gerade der Kollege Rexrodt hat hier immer mit den enormen Beschäftigungseffekten argumentiert, die die neuen Öffnungszeiten bringen sollten. Schauen Sie heute einmal genau hin: Das Gegenteil ist eingetreten. Wir haben eine Zunahme der Zahl von Minijobs ({1}) und einen Wandel zu prekären Beschäftigungsverhältnissen bis hin zu einer Beschäftigung auf Abruf. Das geht natürlich zu Lasten der gemeinsamen Zeit mit den Kindern, der Familie, Freundinnen und Freunden. Das ist ein Verlust an Lebensqualität zugunsten einer Kommerzialisierung aller Lebensbereiche. Genau das wollen wir nicht. Wie ist es nun mit den Umsätzen und den Einkaufsmöglichkeiten? Ich weiß gar nicht, ob es Ihnen wirklich um die Verbraucherinnen und Verbraucher geht. Die Menschen können heutzutage 80 Stunden in der Woche einkaufen gehen. Ich denke, das ist Zeit genug, um sich zu versorgen und Geld auszugeben. Der Umsatz steigt dabei nicht, sondern stagniert. Der Textileinzelhandel zieht genau die richtigen Konsequenzen und sagt: Um Gottes willen, bloß nicht noch längere Öffnungszeiten! ({2}) - Das weiß ich, Frau Kollegin. Aber es ist ja vielleicht nicht ganz unwichtig, daß gerade der notleidende Textileinzelhandel hier zu anderen Einschätzungen kommt. Noch ein Argument zu den inhabergeführten kleinen Einzelhandelsgeschäften. Es kann ja sein, daß diese in touristischen Zentren durchaus einen Vorteil erzielen können - natürlich zu dem Preis der totalen Selbstausbeutung und dem Preis, daß sich ihr Familienleben vorwiegend hinter dem Ladentisch abspielen muß. Zusätzlich entsteht das Problem, daß so die Versorgungslücken auf dem platten Land immer größer werden. Dort wird es für die Menschen immer komplizierter, ihren Alltagsbedarf in den Läden um die Ecke zu decken. Wenn sie nicht mobil sind, erleiden sie einen Verlust an Lebensqualität. Dann zu Ihrem Vorschlag, die Sonntagsöffnungszeiten den Ländern und Kommunen zu überlassen. Was glauben Sie, was dann in den Kommunen passiert? Sie konkurrieren sich zu Tode, um sich gegenseitig die Käuferinnen und Käufer abzujagen! Wir kommen dann in die Situation, daß es in den Kommunen nicht mehr um eine gute soziale Infrastruktur und nicht mehr um interessante Kulturangebote, die die Kommunen attraktiv machen, sondern um die konsumfreundlichsten Einkaufsmeilen geht. Diese Entwicklung finde ich ausgesprochen bedrückend. Eine letzte Bemerkung zur Sonntagsöffnung: Auch wir sprechen uns eindeutig für die Feiertags- und Sonntagsruhe aus. ({3}) Das ist in unserer Gesellschaft ein kulturelles Gut. Wir unterstützen in diesem Zusammenhang ausdrücklich die Kampagne der evangelischen Kirche, weil auch wir der Auffassung sind, daß Leben mehr als Arbeit, Einkaufen und Besitzen ist. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPDFraktion spricht jetzt die Kollegin Dr. Margrit Wetzel.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einkaufen rund um die Uhr - das klingt zunächst einmal ganz verlockend. ({0}) Aber nur die Hälfte der Verbraucher, vor allem jüngere und berufstätige, nutzt die seit 1996 verlängerten Ladenöffnungszeiten, und dies vorwiegend nur von donnerstags bis samstags. Der Einzelhandel hatte sich von der Liberalisierung eine Umsatzsteigerung um 20 Milliarden DM und uns 50 000 neu zu schaffende Arbeitsplätze versprochen. Das Gegenteil ist eingetreten: Der Umsatz stagniert seit Anfang der 90er Jahre kontinuierlich, ({1}) und 150 000 Arbeitsplätze sind im Einzelhandel verlorengegangen. ({2}) Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Nur gut ein Fünftel der Verkaufsstellen - das waren überwiegend Lebensmittelsupermärkte, Kaufhäuser und große Fachgeschäfte in attraktiven Citylagen - nutzt überhaupt die Möglichkeit der verlängerten Öffnungszeiten an mindestens zwei Tagen; die meisten bleiben darunter. Der Kostendruck, der dadurch zustande kommt, daß ständig größer werdende Verkaufsflächen und längere Öffnungszeiten bei gleichbleibendem Umsatz zu einer verringerten Produktivität führen, wurde im Personalbereich aufgefangen. Die Gutachten belegen, daß insbesondere die Unternehmen, die längere Öffnungszeiten genutzt haben, in erheblich größerem Maße Arbeitsplätze abgebaut haben. Die kleinen, inhabergeführten Geschäfte und der ländliche Raum waren die Verlierer dieser Entwicklung. Der Strukturwandel im Einzelhandel hat sich durch die längeren Öffnungszeiten deutlich beschleunigt. ({3}) Deshalb wundert es auch nicht, daß die kleinen Einzelhändler und die große Mehrheit aller Beschäftigten keine weitere Freigabe der Ladenöffnungszeiten wollen. ({4}) Vollzeitbeschäftigte und Führungspersonal beklagen sich über die hohen Belastungen durch Schichtarbeit und durch die unzumutbar kurzen Planungsvorläufe bezüglich ihrer wechselnden Arbeitszeiten. Es handelt sich dabei überwiegend um Frauenarbeitsplätze. Mich interessiert wirklich, wie nach den Vorstellungen der F.D.P. ({5}) von Frauen, die möglicherweise in wechselnden, kurzen Arbeitszeiten rund um die Uhr eingesetzt werden und dazu noch niedrige Einkommen haben, Kinderbetreuung geleistet werden soll. So etwas geht doch überhaupt nicht. ({6}) Der öffentliche Personennahverkehr ist immer noch nicht auf die veränderten Ladenöffnungszeiten abgestimmt, und die langen abendlichen Heimwege sind mit Sicherheitsrisiken verbunden. Würden wir eine völlige Liberalisierung einführen, wären davon die Kommunen wieder in erheblichem Umfang betroffen. Andererseits müssen wir natürlich zur Kenntnis nehmen, daß etliche unserer Nachbarländer den Schutz durch Ladenschlußgesetze nicht haben ({7}) und damit natürlich in Grenzregionen ein Wettbewerbsdruck entsteht. Außerdem ist ein Regelungsbedarf vorhanden, wenn wir den lockeren Umgang verschiedener Bundesländer und Kommunen mit der Fülle von Ausnahmebestimmungen und Sonderregelungen bei den Ladenschlußgesetzen in Verbindung mit dem Erlebnistourismus verfolgen. ({8}) - Natürlich; das gestehe ich Ihnen ja auch zu. Metropolen wie Berlin, Frankfurt und andere wollen verständlicherweise ihre Weltoffenheit und Attraktivität auch internationalen Verbrauchern präsentieren. Das allein setzt uns aber nicht unter einen irgendwie gearteten aktuellen Handlungsdruck; denn der Wunsch mobiler junger Verbraucher nach mehr Einkaufsflexibilität steht den Bedürfnissen anderer Verbrauchergruppen gegenüber. Was machen denn eigentlich die älteren Menschen, die Kinder und Jugendlichen, die Behinderten und die Immobilen in unserer Gesellschaft, wenn sich, wie in den vorliegenden Gutachten ganz klar prognostiziert, ein harter Verdrängungswettbewerb entwickelt, bei dem sich die Großen und Starken durchsetzen werden und die Kleinen auf die „geschickte Besetzung von Marktnischen“ verwiesen werden? Sollen wir unser Ziel von wohnortnahen Arbeitsplätzen wirklich aufgeben, den ländlichen Raum veröden lassen, weiteren Arbeitsplatzabbau forcieren und Zwangsmobilität schaffen? So kann Wirtschaftspolitik nicht wirken wollen. ({9}) Insofern hat Herr Beck recht, wenn er sagt, daß hier Wirtschaftspolitik und das Ladenschlußgesetz gestaltend eingreifen müssen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Wetzel, Herr Kollege Kolb möchte eine Frage stellen.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich denke, die F.D.P. hat genügend Redezeit gehabt. Ich lasse daher keine Frage mehr zu. ({0}) - Das hat nichts mit Feigling zu tun. Sie haben Ihre Redezeit ausgenutzt; das reicht. Frau Kopp hat die Entwicklung des E-Commerce ins Feld geführt, um die Freigabe zu begründen. ECommerce schluckt einen Teil vom Gesamtkuchen des Umsatzes. Dieser Anteil wird größer werden. ({1}) Wir werden auch nicht verhindern, daß technikfreundliche Verbraucher - das sind vor allem die Jüngeren und die Berufstätigen - E-Commerce nutzen. Auch die können aber jede Mark nur einmal ausgeben. Solange wir also den Umsatz nicht erhöhen, ändert sich gar nichts. ({2}) Niemand wäre auf die Idee gekommen, die Einführung der Geldautomaten und von Telebanking mit einer Rundumöffnung der Banken zu begleiten. ({3}) Im Gegenteil: Mehr Service, bessere Dienstleistungen, qualifizierte Beratung führen die Kunden zur Bank. Genau das ist es, was wir auch im Einzelhandel brauchen, wenn dieser nicht an Attraktivität verlieren, sondern sich im Gegenteil durch eine höhere Attraktivität gegenüber dem E-Commerce behaupten soll. Die Kirchen fordern zu Recht - das ist schon erwähnt worden - nachdrücklich den Sonn- und Feiertag als Ruhetag. Der Sonntag als Tag der Familie und der sozialen Lebensbezüge muß eindeutig geschützt werden und darf in niemandes Belieben gestellt werden. ({4}) Es gibt also ein umfassendes Spektrum an unterschiedlichen, zum Teil völlig gegenläufigen Interessen, die es ganz sorgsam gegeneinander abzuwägen gilt. Deshalb müssen wir, so denke ich, abwarten. ({5}) - Nein! Die Bundesregierung hat mit der steuerlichen Entlastung der Familien und dem erhöhten Kindergeld für mehr Nachfrage gesorgt. Wir müssen abwarten, ob sich diese Entwicklung stabilisiert und auf den Einzelhandel auswirkt. ({6}) Erst dann können wir prüfen, wie wir mehr Lebensqualität beim Einkauf schaffen, wie die Qualität der Beratung in den Geschäften erhöht werden kann und wie wir eine vielfältige Einzelhandelsstruktur in lebendigen Städten mit wohnortnahen Arbeitsmöglichkeiten erreichen. ({7}) Blinder Aktionismus und übereilte Entscheidungen sind nicht angesagt. Zunächst müssen wir versuchen, uns bundesweit - zwischen Bund und Ländern - zu verständigen und die verschiedenen Interessengruppen einzubeziehen, bevor wir entscheiden, in welcher Form wir handeln müssen. Ich bedanke mich. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Hans Michelbach, CDU/CSU.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon sehr eigentümlich, daß sich Rotgrün und die PDS heute gewissermaßen als Anwalt des Mittelstandes aufspielen. Ich glaube, da sträuben sich jedem hier die Haare, da biegen sich die Betonpfeiler dieses Hohen Hauses. Es geht doch heute wieder einmal nur darum, daß Sie Ihre Zerrissenheit zukleistern wollen. ({0}) Herr Bundeswirtschaftsminister Müller hat eine Ladenschlußzeit von 22 Uhr in die Debatte geworfen; die SPD-Redner wollen von all dem nichts wissen, hören und sehen und sind gegen alles. ({1}) Gleichzeitig verweigern Sie sich Hilfen für den Mittelstand, weil Sie keinen Bückling vor den Gewerkschaften machen wollen. Die Wettbewerbsfähigkeit des Mittelstandes ist durch Ihre Politik, die zur Umsatzstagnation geführt hat, verloren gegangen. ({2}) Geschadet haben dem mittelständischen Einzelhandel vor allem die auf Ihrer Chaospolitik beruhenden Konjunktureinbrüche. Das ist die Situation, vor der wir stehen. ({3}) Mit der Neuregelung der 630-DM-Jobs ist zudem die Flexibilitätsreserve des mittelständischen Einzelhandels zerstört worden. Das hat dem Mittelstand geschadet. ({4}) Im Einzelhandel haben wir 170 000 630-DM-Jobs ersatzlos verloren. Diese Situation geht zu Lasten der Bürger in diesem Land. Um was geht es beim Thema Ladenöffnungszeiten? Es geht doch um einen fairen Interessensausgleich zwischen Käufer und Verkäufer in diesem Land. Für den Einzelhandel hat die Kundenzufriedenheit höchste Priorität.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Michelbach, würden Sie bitte Ihre Kurzintervention fortsetzen und nicht einen eigenständigen Redebeitrag halten! Ihre Intervention muß sich jetzt auf die Rede der Kollegin Wetzel beziehen. ({0})

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kann Ihnen nur deutlich sagen: Wir wollen keinen Wildwuchs am Sonntag, sondern eine bundeseinheitliche Regelung. Wir wollen dem Einzelhandel nicht wie Bundeswirtschaftsminister Müller durch „Stundendebatten“ schaden. Solche Debatten schaden dem Einzelhandel, dem Mittelstand, dem Land und der gesamten Wirtschaft. Doch Sie führen solche Debatten. In diesen „Stundendebatten“ wird darauf hingewiesen, daß das Gesetz quasi als MußRegelung zu interpretieren sei. Dies aber dem MittelDr. Margrit Wetzel stand am meisten schaden, als dessen Anwalt Sie sich hier aufgespielt haben. Ich sage Ihnen deutlich: Sie haben hier nur eine Maske zur Schau getragen. Der Mittelstand weiß, daß Sie den Einzelhandel verraten und verkaufen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Erwiderung Kollegin Dr. Margrit Wetzel, SPD-Fraktion.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Michelbach, ich gehe davon aus, daß ich keine zehn Minuten für meine Erwiderung habe. Ihre Rede war keine Kurzintervention, weil Sie viele Themen angesprochen haben, die sich überhaupt nicht auf meine Rede bezogen haben. ({0}) Ich vermute, daß Sie einen eigenen Text mitgebracht haben und enttäuscht waren, daß ich die Äußerungen, die Sie mir unterstellt haben, gar nicht gemacht habe. Meine Damen und Herren, die rotgrüne Koalition und auch die SPD sind in der Frage des Ladenschlusses überhaupt nicht zerstritten. ({1}) - Darf ich jetzt antworten! Ich finde Ihre Zwischenrufe unglaublich. Sie haben auch schon vorhin meine Rede permanent gestört. Hören Sie bitte zu! Wenn Sie zugehört hätten, wäre die Kurzintervention nicht nötig gewesen. ({2}) Wenn wir in eine Gemengelage, die sich durch völlig konträre Bedürfnisse und Wünsche auszeichnet, gestalterisch eingreifen wollen, weil wir anerkennen, daß es zukünftig Handlungsbedarf in den verschiedenen Bereichen gibt - auch wenn es nur Randbereiche sind - dann haben wir wohl das Recht, die seit kurzer Zeit vorliegenden Ergebnisse der Untersuchungen über die letzte Liberalisierung gründlich zu prüfen und unsere geplanten Maßnahmen darauf abzuklopfen, welche Wirkungen sie im positiven wie im negativen Sinne haben werden. Man kann nicht einfach sagen: Ich will immer einkaufen können. Es geht darum, abzuklären, welche Bevölkerungsgruppen durch unsere Maßnahmen betroffen werden. Das ist unsere Aufgabe. Wenn wir sie verantwortlich wahrnehmen wollen, dann müssen wir entsprechend handeln. Sie können uns keine Zerstrittenheit vorwerfen, wenn wir sagen: in Ruhe prüfen, abwarten und mit den Betroffenen abklären. Die F.D.P. hat ihren Gesetzentwurf eingebracht und auf die Ergebnisse der Gutachten Bezug genommen, bevor diese veröffentlicht waren. Wenn Sie das nicht getan hätten, hätten Sie erkannt, daß die Daten und Fakten in diesen Gutachten Ihren Forderungen genau entgegenstehen. ({3}) Wir werden uns mit der beschriebenen Gemengelage auseinandersetzen. Die Ergebnisse werden wir rechtzeitig und einvernehmlich vorstellen. Zu dem 630-Mark-Gesetz möchte ich nichts sagen. Darüber habe ich nicht geredet. Dies dann in einer Kurzintervention anzusprechen, ist verfehlt. Es gibt inzwischen 2,5 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in diesem Bereich. Wir sind also auf einem guten Weg; auf ihm werden wir weiter vorangehen. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/1671 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt Zusatzpunkt 9 auf: Vereinbarte Debatte zur Entscheidung des US-Senats zum Atomteststoppvertrag Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/1894 vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 45 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die Fraktion der SPD die Kollegin Uta Zapf.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Der 13. Oktober war ein schwarzer Tag für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung. ({0}) Der US-Senat hat die Ratifizierung des Atomteststoppabkommens abgelehnt. Dies ist um so befremdlicher, als der Kongreß im Jahre 1992 ein Gesetz verabschiedet hat, das die Administration der USA verpflichtete, bis 1996 einen Atomteststoppvertrag abzuschließen. Jetzt wurde der erst seit 1996 vorliegende Vertrag abgelehnt. Dies, denke ich, ist ein Anlaß zu tiefer Sorge; denn dieses Votum ist ein Rückschlag für die langjährigen internationalen Bemühungen um nukleare Abrüstung und für die Bemühungen um die Eindämmung der Verbreitung von Kernwaffen. Der Deutsche Bundestag hat diesen Vertrag am 25. Mai 1998 mit großer Mehrheit ratifiziert. Wir waren damals alle froh über einen Vertrag, den der Deutsche Bundestag stets gefordert hatte und dessen Zielsetzung wir immer unterstützt haben. Getrübt wurde diese FreuHans Michelbach de allerdings damals durch die Atomtests Indiens am 11. und 13. Mai 1998 und die Pakistans am 28. Mai 1998. Unsere gemeinsame Befürchtung war damals, daß mit diesen Tests dem nuklearen Nichtverbreitungsregime ein schwerer Schlag versetzt worden sei. Wir waren uns einig, daß nur eine schnelle Ratifikation der Unterzeichnerstaaten, allen voran der Nuklearmächte und insbesondere der USA und Rußlands, eine schlimme Entwicklung verhindern könne. Die Nuklearmächte Frankreich und Großbritannien haben den Vertrag übrigens bereits ratifiziert. Ist eine Ablehnung der Ratifikation durch den USSenat jetzt der Todesstoß für die nukleare Abrüstung und die Nichtverbreitung von Kernwaffen? Meine Damen und Herren, die rüstungskontrollpolitische Bedeutung dieses Vertrages ist nicht hoch genug einzuschätzen. Dieser internationale Vertrag, den bislang immerhin 154 Staaten gezeichnet haben, sollte uns dem Ziel der stufenweisen Reduzierung - langfristig gesehen der Abschaffung - von Nuklearwaffen näherbringen und das Entstehen neuer Nuklearmächte verhindern. Der Comprehensive Test Ban Treaty erschwert die Fortentwicklung von Atomwaffen und verhindert weitgehend die Entwicklung neuer Nuklearwaffen-Designs. Damit ist er ein wichtiger Beitrag zur nuklearen Abrüstung. Darüber hinaus untersagt er jegliche Testsprengung, also auch zivile Testsprengungen, und ist damit ein wesentliches Element des NonproliferationsRegimes. Meine Damen und Herren, in den 51 Jahren, die zwischen dem ersten Atomwaffentest am 16. Juli 1945 und dem Abschluß des Vertrages über ein umfassendes Verbot von Atomwaffentests im Jahr 1996 liegen, wurden mehr als 2 000 Atomwaffenexplosionen durchgeführt, ungefähr 90 Prozent davon durch die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion. Die ersten Bemühungen zur Beendigung dieser Tests wurden im Jahr 1954 durch den indischen Premierminister Nehru initiiert. 1963 vereinbarten die USA und die UdSSR den sogenannten Partial Test Ban Treaty, der Atomwaffentests in der Atmosphäre und unter Wasser verbot, aber unterirdische Tests weiter gestattete. 1974 begrenzte der Threshold Test Ban Treaty die unterirdischen Tests auf eine Sprengkraft von 150 Kilotonnen. 1996 war dann endlich das Ziel erreicht, Kernwaffenexplosionen vollständig zu verbieten. Das war ein langer und mühsamer Weg. Ist er umsonst gewesen? Die Unterschriften von 44 im Vertrag namentlich aufgeführten Ländern sind nötig, damit dieser Vertrag in Kraft treten kann. 26 dieser Länder haben bisher ratifiziert. Die Ratifikation durch die USA hätte den politischen Druck auf die verbliebenen Länder erhöhen können, übrigens auch auf Indien und Pakistan, die den Willen zum Vertragsbeitritt signalisiert hatten. Alle Bemühungen, diese beiden Länder jetzt noch dazu zu drängen, diesen Vertrag zu unterschreiben, dürften enorm schwierig werden. Wie wichtig die Unterschriften gerade dieser beiden Länder wären, sehen wir an den Entwicklungen, die im Moment in dieser Region stattfinden. Es liegt in unserem Interesse, zu verhindern, daß dort ein nukleares Wettrüsten stattfindet. ({1}) Warum sollte Rußland jetzt noch motiviert sein, den Vertrag zu ratifizieren? Außerdem werden sich Schwellenländer, die wegen der Existenz des Vertrages und der Perspektive eines umfassenden internationalen Testverbots Zurückhaltung geübt haben, mögliche Optionen offenhalten wollen und deshalb nicht ratifizieren. Als 1995 - übrigens mit engagierter Unterstützung der Bundesrepublik und dieses ganzen Hauses - in New York die unbefristete und unkonditionierte Verlängerung des Atomwaffensperrvertrages besiegelt wurde, haben sich alle Teilnehmerstaaten auf einen schnellen Abschluß eines Testverbotes und eines Verbotes zur Produktion spaltbaren Materials verpflichtet. Die Verhandlungen über dieses Abkommen, den sogenannten Cut-Off-Vertrag, sind aber noch nicht einmal aufgenommen worden. Seit zwei Jahren diskutiert die Genfer Abrüstungskonferenz über ein Verhandlungsmandat bisher ohne Ergebnis. Die Hoffnung, daß es in der nächsten Sitzungsperiode der Abrüstungskonferenz in Genf Fortschritte geben wird, ist durch den Beschluß des US-Senats wohl geschrumpft oder gar ganz geschwunden. Zwar hat man sich in Genf vorgenommen, die Ergebnisse der bisherigen Beratungen über das Verhandlungsmandat nicht in den Orkus zu werfen - das war aber vor der Ablehnung im US-Senat - und damit das Ringen um das Mandat nicht wieder von vorne beginnen zu lassen. Wie groß wird aber die Bereitschaft nach dem 13. Oktober sein, dieses Versprechen tatsächlich einzulösen? Wir stehen vor erheblichen Schwierigkeiten in der Fortentwicklung des Nonproliferations-Regimes. Die USA sind das Land, das am heftigsten die Gefahren der Proliferation beschwört und andere Staaten drängt, dem Nichtverbreitungsregime beizutreten. Glaubwürdigkeit gewinnt ein solches Bemühen jedoch nur, wenn sich die USA selber einem völkerrechtlich verbindlichen Vertragswerk unterwerfen. Der NATOGipfel von Washington - er ist noch nicht so lange her hat, im übrigen mit der Stimme der USA, die Wichtigkeit des Comprehensive Test Ban Treaty bekräftigt. Es scheint, als unterschätzten starke Kräfte in den USA die Bedeutung rüstungskontrollpolitischer Abkommen für die Wahrung von Frieden und Stabilität. Es gibt nicht nur bei den Republikanern, sondern leider auch bei den Demokraten im Senat besorgniserregende Tendenzen, Abrüstung und Rüstungskontrolle für obsolet zu erklären und wieder auf Abschreckung und militärische Stärke zu setzen. Die transatlantische Gemeinschaft kann aber nur dann wirkungsvoll stabilitätsorientierte Interessen vertreten, wenn alle Partner an Abrüstung und Rüstungskontrolle festhalten. Im konventionellen Bereich ist uns das bisher - Gott sei Dank - einigermaßen gelungen. Ich erinnere an die in diesem Haus geführte Diskussion im Zusammenhang mit der Überarbeitung des KSE-Vertrages; wir werden darüber in der nächsten Woche reden. Diese Anpassung des KSEUta Zapf Vertrages soll auf dem OSZE-Gipfel in Istanbul beschlossen werden. Es wurde darüber diskutiert, ob die von den USA seinerzeit geforderten Maßnahmen über die flexible Stationierung von Kräften in Krisenfällen die Stabilität unterminieren können. Es ist in diesem Fall gelungen, einen einigermaßen tragbaren Kompromiß zu finden. Es scheint, daß hinsichtlich des Nonproliferationsregimes ein solcher Konsens jetzt stark in Frage gestellt ist. Es liegt aber im Interesse Europas und der Vereinigten Staaten, einen neuen nuklearen Rüstungswettlauf zu verhindern. Der Vertrag wäre in der Tat ein wichtiger Meilenstein auf diesem Wege. Im übrigen fordern alle europäischen Bündnispartner - wir haben einen gemeinsamen Beschluß des Rates; wir haben in verschiedenen anderen Zusammenhängen die einhellige Meinungsäußerung der europäischen Partner und Kanadas -, in diesem Bereich den Schwerpunkt auf politische Proliferationsbekämpfung zu setzen. Politische Proliferationsbekämpfung hieße, die Verträge, die dazu führen können, die Verbreitung nuklearer Waffen und die Verbreitung von Trägersystemen einzudämmen, zu stärken. Ich sage an dieser Stelle: Mir hat gut gefallen, was die Amerikaner mit Nordkorea und dem dortigen Testprogramm für die Trägersysteme gemacht haben. Das war eine Art Buy-Off-Aktion. Das ist eine politische Handlung gewesen, mit der zumindest versucht worden ist, die allzu rapide Fortentwicklung in diesem Bereich zu bekämpfen. Das ist politische Proliferationsbekämpfung, meine Damen und Herren, ({2}) nicht der Aufbau einer massiven Counter-Proliferationskapazität. Die gemeinsame abrüstungs- und rüstungskontrollpolitische Linie im Bündnis wird durch das Votum des US-Senats einer schweren Belastung ausgesetzt. Ich befürchte darüber hinaus, daß die Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages im Jahre 2000 scheitern kann. Dies hätte unabsehbare Folgen. Wir müssen alles daran setzen, um dieses Scheitern zu verhindern. Damit werden wir sicherlich recht viel zu tun haben. Alle Staaten, die 1995 in New York im guten Glauben der unbefristeten und unkonditionierten Vertragsverlängerung zugestimmt haben - eine Delegation des Deutschen Bundestages ist damals anwesend gewesen; wir haben das also hautnah miterlebt -, werden sich getäuscht fühlen. Sie werden sich deshalb getäuscht fühlen, weil die Kernwaffenstaaten in den im Zusammenhang mit der Verlängerung beschlossenen „Grundsätzen und Zielen der nuklearen Nichtverbreitung und Abrüstung“ verpflichtet worden sind - sie haben dem auch zugestimmt -, ihre Obligationen aus dem Vertrag - das ist der berühmte Artikel VI, Verpflichtung zur atomaren Abrüstung - einzuhalten. Ich denke, es ist wirklich höchste Zeit dafür; denn wer andere auf Nichtverbreitung verpflichten will, muß auch seine eigenen Obligationen aus dem Vertrag erfüllen. ({3}) Meine Damen und Herren, es ist bedrückend, daß das Schicksal weiterer Verhandlungen zur atomaren Abrüstung recht ungewiß ist. Seit einigen Jahren herrscht auf diesem Gebiet Stagnation. Nach einer Zeit, in der wir voll Freude gesehen haben, daß Verträge abgeschlossen worden sind, die die nuklearen Potentiale erheblich verringert haben, ist der START-II-Vertrag von der russischen Duma bisher nicht ratifiziert worden. Die START-III-Verhandlungen sind zwar, zum Beispiel auf dem Gipfel in Helsinki im Jahre 1997, angekündigt worden - im Zusammenhang mit anderen sehr detaillierten abrüstungs- und rüstungskontrollpolitischen Vorhaben, die wir alle sehr begrüßt haben, weil dies für uns ebenfalls ein Fortschritt gewesen wäre, da auch die taktischen Nuklearwaffen einbezogen worden sind, aber sie kommen nicht voran, weil die Diskussionen, die in den USA zur Zeit um den ABM-Vertrag und um eine geplante nationale Raketenabwehr geführt werden, diese Verhandlungen stark stören. Es gibt weitere Auswirkungen in diesem Bereich: Auf der einen Seite drohen US-Senatoren mit der Aufkündigung des ABM-Vertrages, der aus unserer Sicht ein Herzstück der Stabilität auf nuklearem Gebiet darstellt, der in der Vergangenheit ein nukleares Wettrüsten in großem Maße verhindert und auch dazu geführt hat, daß nukleare Abrüstung möglich war. Wir brauchen weitere nukleare Abrüstungsschritte und keine Stagnation, wenn nicht die internationale Sicherheit in Gefahr geraten soll. ({4}) Auf der anderen Seite konzentriert sich Rußland auf Grund dieser Diskussion und auf Grund der Tatsache, daß die Verhandlungen derart festgefahren sind, wieder mehr auf seine atomaren Arsenale - als Kompensation für seine bekannte konventionelle Schwäche und auch als Reaktion auf die Diskussion um diesen Vertrag. Meine Damen und Herren, es gibt noch eine andere Atommacht, die man vielleicht auch einmal erwähnen sollte: China verhält sich in der Regel nach dem Motto: Macht ihr mal, wir kommen dann hinterher. China hat jetzt noch, obwohl die USA den Vertrag nicht ratifiziert haben, angekündigt, den CTBT zu ratifizieren; zeitgleich hat China angekündigt, daß es über die Stärkung seiner Abwehrsysteme und seiner nuklearen Arsenale nachdenken müsse. Ich denke, das ist ein gefährliches Zeichen, auch wenn nicht ganz sicher ist, was es bedeutet. Es ist aber ein deutliches Signal dafür, daß die Frage der nuklearen Abrüstung insgesamt - und damit die Stabilität nicht nur in Europa, sondern viel mehr noch in einem Raum, in dem durch Indien und Pakistan ohnehin schon starke Probleme vorhanden sind - in Gefahr gerät. Die Rüstungsspirale hat angefangen, sich zu drehen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Zapf, Sie müssen bitte zum Schluß kommen.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin sofort zu Ende. Für zwei Argumente, die im Senat genannt werden, habe ich kein Verständnis: Erstens. Das Argument, daß man die Sicherheit der bestehenden nuklearen Systeme nicht ausreichend überprüfen könne, ist schlicht und ergreifend nicht wahr. Die Amerikaner haben ein hervorragendes System, das sogenannte Stockpile-Stewardship-Programm, entwickelt. Die Laboratorien, die dieses Programm durchführen - das sind die Nuklearlaboratorien -, bestätigen, daß damit absolute Sicherheit garantiert wird. Deshalb trägt dieses Argument nicht. Das zweite Argument, daß der Vertrag nicht verifizierbar sei, kann in keiner Weise Geltung beanspruchen; denn das im Aufbau befindliche Verifikationssystem bietet, wenn es einmal in der Endstufe ausgebaut ist, eine fast 100prozentige Sicherheit. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, Sie müssen wirklich aufhören, sonst bekommen wir beide Ärger.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir sollten alles daransetzen, daß dieser Vertrag ratifiziert wird und in Kraft treten kann, damit nukleare Aufrüstung keine Chance mehr hat. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Christian Schmidt.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, daß die Ablehnung der Ratifizierung des Atomteststopabkommens durch den US-Senat ein Rückschlag für die Politik der Nichtverbreitung von Atomwaffen ist. Es besteht auch kein Zweifel daran, daß es richtig ist, eine internationale Übereinkunft über den Atomteststop anzustreben. Dies gilt auch für die Überprüfung. Deutschland hat sich in der Vergangenheit immer engagiert in den Prozeß der nuklearen Nichtverbreitungspolitik eingebracht. Unser Land ist deshalb den verschiedenen Verträgen, die sich mit der Begrenzung der atomaren Rüstung befassen, immer frühzeitig beigetreten. So hat die Bundesrepublik Deutschland bereits 1964 ihren Beitritt zu dem ein Jahr zuvor trilateral geschlossenen Abkommen zur Verhinderung von Tests in der Atmosphäre und in den Weltmeeren erklärt. Gleiches gilt auch für den zu Beginn der 90er Jahre erfreulicherweise einsetzenden Gedanken, Atomtests und damit die Entwicklung neuer Atomwaffen vollständig zu unterbinden. Auch in diesem Fall hat die Bundesregierung schnell gehandelt und den Atomteststopvertrag 1996 unterzeichnet. Im Mai 1998 - das wurde bereits erwähnt - haben wir den Vertrag in diesem Haus ratifiziert. Die damalige Bundesregierung Kohl hat in dieser Frage immer eine klare Politik vertreten und sich intensiv in der Rüstungskontrolle engagiert. Deshalb können wir uns natürlich nicht über eine Entwicklung freuen, die das Inkrafttreten des Vertrages in Frage stellt. Dennoch warne ich davor, den US-Senat jetzt vorschnell der Verdammnis anheimzugeben, anstatt die Situation mit kühlem Kopf zu analysieren und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Die Reaktionen auf die amerikanische Entscheidung waren von Unverständnis bis hin zu der Unterstellung geprägt, daß die USA damit den Weg der Internationalität verlassen hätten und zu einem Isolationismus zurückkehren würden. Nachdem selbst der amerikanische Präsident Anlaß zu solchen Vermutungen gegeben hat, scheinen sie auf den ersten Blick zutreffend. Es werden Vergleiche zu der Nichtannahme des Versailler Vertrags 1920 gezogen, als man sich in Amerika tatsächlich im Geist des Isolationismus aus dem Völkerbundregime heraushalten wollte, das doch vom eigenen Präsident Wilson maßgeblich entworfen worden war. Tatsächlich bedurfte es einer weiteren, noch viel schlimmeren Katastrophe in Europa, um Amerika auf den europäischen Plan zurückzurufen. Aber zurück zum Hier und Heute: Immer und immer wieder betonen wir, daß es im Interesse unserer Politik ist, Amerika in Europa und in Deutschland zu halten. Unser Interesse ist der Erhalt der gemeinsamen Sicherheit, getragen von einem gemeinsamen Wertekonsens. Dies hat über mehr als 40 Jahre verhindert, daß in der zweiten Hälfte des zu Ende gehenden Jahrhunderts eine weitere Weltkatastrophe Europa seinem Untergang nahegebracht hätte. Dies ist übrigens auch durch einen nuklearen Schutzschirm erreicht worden, der im wesentlichen von den USA gewährleistet worden ist. Statt in eine weitere Katastrophe zu taumeln, ist Europa aufgeblüht. Insbesondere unser Land hat aus dieser Entwicklung einen überaus großen Nutzen gezogen, wie es vor 50 Jahren kaum einer zu träumen gewagt hätte. Ich will es wiederholen: Das amerikanische Engagement in und für Europa - begonnen mit dem Eintritt in den zweiten Weltkrieg gegen Hitler über den Marshallplan bis hin zur Sicherstellung der Freiheit des westlichen Teils unseres Landes und dieser Stadt Berlin muß angesichts der Debatte, die wir heute führen, ins Gedächtnis zurückgerufen werden. ({0}) Zu erinnern ist auch an die Bereitschaft, für die Sicherheit Europas den Umweg über einen konventionellen und nuklearen Rüstungswettlauf zu machen, der dann im Ergebnis zu weniger Waffen und mehr Entspannung geführt hat. - Dies ist nicht nur ein Thema für Erinnerungsreden zum zehnjährigen Fall der Mauer, die der eine oder andere in unserem Land dazu nutzen wird, so zu tun, als sei die Wiedervereinigung Deutschlands immer sein Ziel gewesen. Diejenigen, die aus dem amerikanischen Abstimmungsverhalten den Schluß ziehen, der US-Senat wende sich von einem seit Ende der 80er Jahre anerkannten internationalen Vertragsregime ab und statt dessen der Position zu, nur die eigene Sicherheit zu garantieren, greifen nach meiner Meinung zu kurz. Dennoch muß sich die einzig verbliebene Supermacht der Welt nach ihrem Selbstverständnis fragen lassen. Aber Fragen gehen auch an uns Europäer. Deshalb halte ich es für richtig, einen umfassenden und noch intensiveren transatlantischen Dialog zu führen. Dabei reicht es nicht aus, den Antiamerikanismus der 68er schamhaft zu verstecken. Vielmehr muß ein partnerschaftliches Engagement für eine Stärkung der transatlantischen Beziehungen entstehen. Auch der alte Dissens zwischen Atlantikern und Europäern ist ein verbrauchtes Denkmuster, das jetzt nicht mehr taugt. Wir Europäer müssen zu einer stringenten Politik übergehen, und über unsere Interessen - über unsere eigenen und über die der Amerikaner - nachdrücklich sprechen. Nur wegen unseres schönen Gesichts bleiben die Amerikaner nicht in Europa. ({1}) Nur weil Amerika Amerika ist, können wir aber auch nicht alle Dinge akzeptieren. Deswegen muß mehr und tiefer als bisher entwickelt werden, was unsere Interessen sind. Wir müssen erklären, wie wir unsere Interessen glaubhaft und angemessen verfolgen wollen. In diesem Punkt gibt es natürlich erheblichen Anlaß zur Kritik. Mit der bisherigen Umsetzung dessen, Herr Außenminister, was auf dem Kölner Gipfel der Europäischen Union beschlossen worden ist, rangiert sich die Europäische Union mehr und mehr in die Rolle eines sicherheitspolitischen Papiertigers. ({2}) Anspruch - den unterstreichen wir - und Wirklichkeit klaffen dramatisch auseinander. Einerseits eine gemeinsame Verteidigungspolitik zu fordern, andererseits einer solchen Politik den finanziellen Boden zu entziehen das kann auf Dauer nicht gutgehen. ({3}) Ich vermisse in unserem Land eine ernsthafte und seriöse Diskussion über diese Frage. ({4}) - Herr Kollege Schmidt, warten Sie nur ab. Wenn Sie sich dieser Diskussion verweigern, dann zeigen Sie, daß Sie überhaupt nichts kapiert haben. Ich vermisse in Ihrer Partei, und zwar über Ihren Verteidigungsminister hinaus, der immerhin beginnt, diese Diskussion zu führen, eine ernsthafte Diskussion über die Interessen, die in unserem Lande zu wahren sind. Diese Diskussion kann nicht von der gegenwärtigen Kassenlage bestimmt werden. ({5}) Herr Eichel jedenfalls ist der denkbar Ungeeignetste, der diese Diskussion bestimmen könnte. Spricht man mit amerikanischen Senatoren, so spürt man etwas von der hierdurch entstandenen Verunsicherung - um nicht zu sagen: Enttäuschung - der Amerikaner darüber, wie sich Europa darstellt. ({6}) Die Amerikaner wissen nicht mehr, woran sie bei der europäischen Sicherheitspolitik sind. ({7}) Wenn schon zu dem eigenartigen Mittel gegriffen wird, daß der deutsche Bundeskanzler gemeinsam mit dem französischen Präsidenten und dem britischen Premierminister einen Zeitungsartikel in der „New York Times“ veröffentlicht, dann hätten die Verfasser gut daran getan, hierzu nicht zu schweigen. Überhaupt hat es schon sehr überrascht, daß neuerdings die Veröffentlichung von Zeitungsartikeln ein Mittel der europäischen Außenpolitik sein soll. Vielleicht machen wir in Zukunft Außenpolitik über die Anzeigenabteilung der „New York Times“. So etwas ist kontraproduktiv. Sich dem Gespött eines Jesse Helms preiszugeben, haben die europäischen Staaten nicht verdient. Viele Amerikaner haben zudem noch nicht vergessen, wie sich unser Außenminister in sein Amt eingeführt hat. Man macht sich nicht zum glaubwürdigen Partner und Ratgeber des amerikanischen Kongresses, wenn man holterdiepolter den Abschied vom nuklearen Ersteinsatz - ein Kernstück der bisherigen NATO-Doktrin in die Koalitionsvereinbarung schreibt, um diesen Schnellschuß dann still und heimlich wieder einzufangen. Manche sagen, die Entscheidung im Senat sei sehr parteipolitisch geprägt gewesen. Man wollte Bill Clinton in seiner zu Ende gehenden Amtszeit keinen Erfolg mehr gönnen. Das wird dann in Belehrungspose goutiert und kritisiert, als seien bei uns alle Entscheidungen rein außenpolitisch orientiert. Jeder Kenner der parteipolitischen Szenerie weiß doch, daß Joschka Fischer den atomaren Ersteinsatz deshalb aus der NATO-Doktrin haben wollte, um seiner Partei ({8}) zu dokumentieren: Schaut her, ich mache grüne Außenpolitik! In dieser Frage mußte er ziemlich kleinlaut den Rückzug antreten, aber nicht ohne vorher zum Schaden Deutschlands Porzellan zerschlagen zu haben. Wer sich also im Zusammenhang mit der Entscheidung des USSenats über innenpolitische Motive mokiert, der möge schweigen, wenn er doch selbst so agiert hat. ({9}) Im übrigen warne ich all diejenigen, die so genau zu wissen glauben, warum sich diese Angelegenheit in WaChristian Schmidt ({10}) shington in diese Richtung entwickelt hat, vor einem zu schnellen Urteil. Für manche ist der Sachverhalt klar: Die republikanische Senatsmehrheit wollte dem demokratischen Präsidenten Clinton eine wahlkampfmotivierte Niederlage beibringen, und Bill Clinton habe davon nichts geahnt. Jim Hoagland, Herausgeber der „Washington Post“ und sicherlich nicht verdächtig, ein den Republikanern nahestehender Journalist zu sein, hat in seiner Zeitung geschrieben: Aber Clinton, seine wichtigsten Berater und die demokratischen Senatoren können sich nicht vor der Tatsache drücken, daß auch sie Verantwortung für dieses Fiasko tragen. ({11}) Wer da wem aus welchen innenpolitischen Überlegungen ein Bein hat stellen wollen, sollten wir getrost der amerikanischen innenpolitischen Diskussion überlassen. ({12}) Anläßlich des Abstimmungsverhaltens im US-Senat sollten wir auch nicht den Weltuntergang ausrufen. Wir sollten vielmehr unsere Möglichkeiten nutzen, um nicht via Öffentlichkeit, sondern im Gespräch mit unseren Kollegen im Senat auf die Probleme hinzuweisen, die sich aus dieser Entscheidung ergeben. Gott sei Dank gibt es auf beiden Seiten des Senats, sowohl bei den Republikanern als auch bei den Demokraten, längst Initiativen, die Entscheidung noch einmal zur Debatte zu stellen. Ich weise auf die gemeinsame Initiative des republikanischen Senators Chuck Hagel und des demokratischen Senators Joe Lieberman hin. Ich habe, wie sicherlich der eine oder andere auch, meine Kontakte genutzt und gestern sehr ausführlich mit Senator Hagel - er hat übrigens dagegen gestimmt - gesprochen. Dabei ist deutlich geworden, daß es eine große Chance gibt, daß sich der Senat erneut mit dem Atomteststopabkommen beschäftigen wird. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, sind hiermit auch der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Jesse Helms, sowie der Mehrheitsführer der Republikaner im Senat, Trent Lott, einverstanden. ({13}) - Es gibt überhaupt keinen Grund, darüber zu lachen. Wir sollten es uns abgewöhnen, die Oberlehrer für den amerikanischen Kongreß zu spielen. ({14}) Hochreputierliche Senatoren wie Senator Lugar, Senator McCain und andere werden sich der Angelegenheit sicherlich nicht verschließen. Ob daraus im Jahr 2000, also in den nächsten zwölf Monaten, mehr als ein Signal an die „Alliierten“, wie es genannt worden ist, wird, bleibt abzuwarten. Vielleicht wird erst ein neuer Präsident - das ist meine persönliche Einschätzung -, der sein Amt mit voller Kraft und Macht übernimmt, für den US-Senat ein akzeptables Gegenüber darstellen. Das werden wir wohl auch nicht in diesem Hause eingehend zu bewerten haben, sondern haben dieses dann als Faktum hinzunehmen. Der US-Senat selbst muß das entscheiden. Wir werden und sollten aber in unseren Gesprächen parteiübergreifend immer wieder unsere Besorgnis zum Ausdruck bringen, daß sich durch die jetzige Situation der gesamte Ratifizierungsprozeß verlangsamt. Ich bin hier nicht anderer Meinung als Kollegin Zapf. Zweifelnde und ablehnende Staaten wie Indien und Pakistan, wegen deren Haltung zur Ratifizierung wir letztes Jahr einen gemeinsamen Entschließungsantrag von CDU/CSU, F.D.P. und SPD verabschiedet haben, könnten sich durch das jetzige Abstimmungsverhalten im Senat ermutigt fühlen, dem Vertrag nicht zuzustimmen. Das muß man natürlich diskutieren und auch unseren amerikanischen Freunden sagen. Schließlich ist auch wichtig zu berücksichtigen - Sie haben auch darauf hingewiesen -, daß die Duma, die am 19. Dezember 1999 neu gewählt wird, diesen Vertrag ebenfalls noch nicht ratifiziert hat. Es müssen starke Signale ausgesendet werden, damit sich insbesondere Rußland nicht von diesem Vertragsgeschehen entfernt. All diese Punkte müssen wir mit Nachdruck mit unseren amerikanischen Freunden besprechen. Wir müssen dabei darauf hinweisen, daß die amerikanischen Interessen auch durch internationale Einbindung der RougeStates, der Problemstaaten, wie beispielsweise Nordkorea, angemessen verteidigt werden können. Natürlich müssen sowohl ernsthafte Fragestellungen zum Verifikationsgeschehen als auch die Frage, wie wir die einbinden, die möglicherweise doch versuchen, so etwas zu tun, diskutiert werden. Auch ich neige nach all dem, was ich darüber höre, dazu, zu sagen, daß es durchaus geeignete Techniken zu geben scheint, die eine ziemlich lükkenlose Überprüfung und Überwachung der Situation auf der ganzen Welt sicherstellen. Wenn es aber von einflußreichen Freunden in Washington Zweifel an dieser Frage gibt - es gibt natürlich auch andere Stimmen -, sollten wir das durchaus zum Anlaß zu Diskussionen in Freundschaft und gegenseitigem Respekt nehmen. Dabei werden wir unseren amerikanischen Freunden beweisen müssen - das hat entgegen Ihrer Ansicht sehr wohl etwas damit zu tun -, daß wir unserer gewachsenen Verantwortung im konventionellen Bereich im Rahmen der europäischen Integration, der Beschlüsse des Kölner Gipfels und der WEU gerecht werden. Diese Fragen sind ja nicht so ganz weit hergeholt. Ich verweise nur auf die Äußerungen von Verteidigungsminister Scharping zum Finanzbedarf im Verteidigungshaushalt und auf die Frage, mit welchen Mitteln wir agieren können, wenn es darauf ankommt. Wir werden nichts erreichen, wenn wir mit heißer Feder geschriebene Appelle des Deutschen Bundestages via Öffentlichkeit kommunizieren - damit kommunizieren wir nämlich im Grunde nicht. Deswegen bin ich sehr dankbar, daß wir es in Form dieser Debatte bestreiten. Christian Schmidt ({15}) Als Frankreich vor fünf Jahren kurz vor Eintritt in diesen Vertrag - Sie alle erinnern sich hier - und kurz vor dem Beginn des Teststopp-Moratoriums noch einmal eine Serie von Atomversuchen gemacht hat, haben wir in diesem Hause darüber ausführlich diskutiert. Damals gab es Kolleginnen und Kollegen, die mit symbolhaften Aktionen - vom Boykott französischen Champagners ({16}) bis hin zu Seefahrten vor dem Muroroa-Atoll - meinten, etwas bewegen zu können. Sie, Herr Minister, haben nicht dazugehört. Ich will das ausdrücklich betonen. Wir haben damals ernsthaft diskutiert. Bundeskanzler Helmut Kohl sagte seinerzeit vor diesem Hause: Unabhängig von unserer in der Sache abweichenden Haltung handelt es sich um eine souveräne französische Entscheidung.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, bevor Sie das Zitat fortsetzen, muß ich Sie darauf aufmerksam machen, daß Ihre Zeit fast abgelaufen ist.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke sehr, aber ich will nur den Bundeskanzler a. D. zitieren. ({0}) - Das darf man immer. Es entspricht dem Umgang unter Freunden, daß man auch bei sehr unterschiedlichen Auffassungen respektiert, was der andere sagt. Meinem Verständnis vom Umgang mit befreundeten Regierungen widerspricht es auch, daß wir uns öffentlich gegenseitige Aufforderungen zukommen lassen. ({1}) Dem ist auch mit Blick auf die gegenwärtige Debatte nur zuzustimmen. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich erteile jetzt das Wort dem Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Abgeordneter Schmidt, Sie haben eine aus merkwürdigen Teilen zusammengesetzte Rede gehalten. ({0}) Dabei habe ich mich die ganze Zeit gefragt: Wie werden Sie denn bei einer Sache, in bezug auf die wir - so war zu vermuten - sowohl in der Analyse des Sachverhalts als auch in der Einschätzung der Folgewirkung in hohem Maße übereinstimmen, ({1}) zu der oppositionellen Pflichtübung eines Angriffs auf die Bundesregierung kommen? Ich schätze ja durchaus die Logik, die bei den Sachargumenten erkennbar war. Dadurch, daß Sie sagten, daß wir sozusagen schuld daran seien, daß der US-Senat so abgestimmt hat, wie er abgestimmt hat ({2}) - aber Sie haben es nahegelegt -, ({3}) haben Sie uns - das muß ich unter den wuchtigen Hieben des oppositionellen Angriffs ehrlich zugeben - erschüttert. ({4}) Ich möchte Sie allerdings auf einen sachlichen Widerspruch hinweisen, der Ihnen in der Rage des oppositionellen Angriffs unterlaufen ist. Ich führe ja das eine oder andere Gespräch in Washington. Die Türen wurden also nicht geschlossen, auch von den Republikanern nicht - trotz der Dinge, die Sie vorhin benannt haben. In Washington mache ich eine Erfahrung: Die Frage der europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität und ihrer Stärkung wird dort mitnichten als ein wesentlicher Beitrag zur Stärkung des transatlantischen Bündnisses angesehen, im Gegenteil: Das wird mit äußerster Zurückhaltung gesehen, ({5}) und es werden dort mit äußerstem Nachdruck Fragen gestellt. Ich kann nur sagen: Wir sehen darin keinen Widerspruch zum transatlantischen Verhältnis. ({6}) - Nein. In diesem Punkt ist Ihr Argument ({7}) meines Erachtens schlicht daneben. Es wird großer Anstrengungen bedürfen, um das voranzubringen - das hat diese Bundesregierung gemacht, und sie wird es auch weiterhin tun; das ist eine der großen Herausforderungen der europäischen Sicherheitsarchitektur von morgen -, aber gleichzeitig wird es großer Anstrengungen bedürfen, um unsere transatlantischen Partner - und hier vor allen Dingen Washington - davon zu überzeugen, daß es sich nicht um eine exklusive, eine intransparente und eine letztendlich gegen die transatlantischen Bindungen gerichtete Initiative Europas handelt. Ich lege Christian Schmidt ({8}) großen Wert darauf, dieses mit allem Nachdruck betont zu haben. ({9}) Ansonsten stelle ich ein hohes Maß an Übereinstimmung fest. Es steht gegenwärtig nicht gut um den nuklearen Abrüstungsprozeß. Auch ich bin der Meinung - ich habe bei der Kollegin Zapf nicht herausgehört, daß wir in oberlehrerhafter Manier dem Kongreß gegenübertreten sollten; es würde nichts nutzen; es wäre kontraproduktiv -: Wir müssen unsere tiefe Sorge mit allem Nachdruck zum Ausdruck bringen. Ich hoffe, daß Sie recht haben damit, daß dahinter nicht eine andere strategische Perspektive steht. Wenn ich das auf die Frage des ABM-Vertrages beziehe - auch das möchte ich nur ansprechen -, dann bin ich mir hier nicht ganz so sicher. Wenn das aber zuträfe, würde das bedeuten, daß wir dann allerdings ein sehr ernsthaftes Problem bekommen; denn es würden entscheidende Säulen des nuklearen Abrüstungs-, Kontrollund Verifikationsregimes erschüttert - zum Nachteil der europäischen und auch der deutschen Sicherheitsinteressen. Aber ich nehme an, auch in dieser Frage sind wir in diesem Hause nicht unterschiedlicher Meinung und ich hoffe, daß Sie recht haben, und werde bei meinen Gesprächen nächste Woche in Washington dieses auch auf dem Capitol Hill mit allem Nachdruck der Besorgnis, aber auch, wie es unter Freunden üblich ist, mit dem notwendigen Verständnis klarzumachen versuchen. Ich sehe hier durchaus auch eine Gefahr. Wenn wir jetzt die Ablehnung des CTBT-Vertrages zur Kenntnis nehmen müssen, wenn gleichzeitig der TschetschenienKrieg mehr als einen Schatten auf den Erfolg des OSZEGipfels in Istanbul zu werfen droht und wenn dann noch die KSE-Anpassung - das heißt die Anpassung des konventionellen Rüstungskontrollregimes und der entsprechenden Vereinbarungen - mit einem Schatten behaftet wird oder gar in eine Phase der Stagnation hineinkommt, dann hätten wir sowohl im konventionellen wie im atomaren Bereich zwei extrem kontraproduktive Negativsignale zu verzeichnen. Ich denke, wir sollten hier gemeinsam klarmachen, daß wir sowohl bei der konventionellen Abrüstung und ihrer Verifikation und Kontrolle als auch bei der nuklearen Abrüstung und ihrer Verifikation und Kontrolle ein essentielles Interesse daran haben, daß es wie in der Vergangenheit auf positive Weise weitergeht und daß es keine Stagnation oder gar eine Rückwärtsentwicklung gibt. ({10}) Mit großer Sorge sehen wir, daß einem mit der Entscheidung der Mehrheit des amerikanischen Senats, was die Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung und vor allen Dingen das Zurückführen des nuklearen Wettrüstens angeht, gerade bei den Schwellenstaaten die Argumente aus der Hand genommen werden. Der Atomteststoppvertrag wird nur in Kraft treten, wenn alle 44 darin benannten Staaten - darunter alle Atomwaffenstaaten ratifizieren. Die Entscheidung des amerikanischen Senats ist deswegen dramatisch, weil man sich fragen muß, mit welchem Argument man die anderen Staaten von der Unterzeichnung überzeugen soll. Ich bin froh, daß sich China dennoch bereit erklärt hat, diesen Vertrag zu ratifizieren. Aber wir wissen, wie schwierig es ist, gerade Indien, Pakistan und auch andere Staaten davon zu überzeugen, daß sie diesen Schritt tun. ({11}) Auch Nordkorea - Herr Kollege Pflüger, Sie haben es gerade erwähnt - muß in diesem Zusammenhang angeführt werden. Bei Nordkorea kommt noch hinzu, daß es sich um ein höchst irrationales Regime handelt, das die eigene Bevölkerung barbarisch unterdrückt. Dieses Regime gehört zu den brutalsten Diktaturen der Gegenwart und verfügt gleichzeitig über nukleare Kapazitäten. Es gibt noch andere Schwellenländer in Krisenregionen, die versuchen, diese atomare Schwelle zu überschreiten. Mit welchem Argument soll man diesen Ländern in Zukunft klarmachen, daß sie sich einem Teststopp unterwerfen sollen, wenn gleichzeitig die führende Nuklearmacht dieser Welt eine Unterzeichnung - gegen die eigene Regierung - ablehnt? Das wird sehr schwer. ({12}) Wir sollten gemeinsam in diesem Zusammenhang alle Möglichkeiten nutzen, um unseren amerikanischen Freundinnen und Freunden klarzumachen, daß hier nun wirklich Führung, „leadership“, der letzten Supermacht und der größten Nuklearmacht angesagt ist. Ansonsten wird unter dem Eindruck der Erschütterung dieses nuklearen Kontrollregimes ein weiterer nuklearer Rüstungswettlauf beginnen. Dieser Rüstungswettlauf wird nicht an der obersten Grenze stattfinden. Aber er wird ein sehr gefährliches Problem im Hinblick auf die Schwellenländer und auf die Krisenregionen dieser Erde darstellen. Ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen: Militärputsche in Nuklearländern halte ich hinsichtlich der atomaren Gefahr für weitaus bedenklicher, als dies sonst in den Einwänden gegen diese Putsche zum Ausdruck kommt. Der Militärputsch in Pakistan war ein Militärputsch in einem solchen Nuklearland. Wenn man sich einmal die inneren Instabilitäten der Schwellenländer anschaut und wenn man sich anschaut, welche irrationalen Potentiale dort vorhanden sind, dann kann man verstehen - die Mitglieder des Ausschusses wissen dies -, daß mich die Entscheidung des amerikanischen Senats mit tiefer Sorge erfüllt, weil sie die Weichen in die falsche Richtung stellt. Ich hoffe, daß der amerikanische Senat seine Entscheidung überdenkt und daß hier nicht eine grundsätzliche strategische Erwägung dahintersteht. Dies würde meines Erachtens die Fortschritte, die wir in der VerBundesminister Joseph Fischer gangenheit erreicht haben, in Frage stellen. Die Bundesrepublik Deutschland kann daran kein Interesse haben. ({13})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die F.D.P.-Fraktion hat nun der Kollege Hildebrecht Braun.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Außenminister Fischer, Ihr Engagement für „Abrüstung“ ist unstreitig. Es ist auch gar nicht verwunderlich, daß sich der deutsche Außenminister für weltweite Abrüstung einsetzt. Ihr Engagement unterscheidet sich aber sehr von dem Nicht-Engagement der Grünen-Fraktion im Unterausschuß Abrüstung des Deutschen Bundestages, in dem seit vielen Monaten niemand mehr von den Grünen bei den Beratungen gesehen worden ist. ({0}) Es hatte anscheinend niemand Zeit, an den Reisen nach Wien, Genf oder vor wenigen Wochen in die USA teilzunehmen, bei denen wir die Chance hatten und diese auch genutzt haben, um nochmals auf unsere amerikanischen Partner einzureden und sie davon zu überzeugen, daß sie dieses Teststoppabkommen unterschreiben und ratifizieren sollten. Ich will kein Prophet sein, aber ich glaube, daß in den Geschichtsbüchern der nächsten Jahrzehnte zwei Entwicklungen für das letzte Drittel dieses Jahrhunderts im Vordergrund stehen werden: erstens der Zerfall des sowjetischen Machtblocks und zweitens die erste Epoche der Abrüstung in der Weltgeschichte. Es war der amerikanische republikanische Präsident Eisenhower, der 1958 den Vorschlag für ein Atomteststoppabkommen gemacht hat. Es dauerte 40 Jahre, bis aus seiner Vision ein solches Abkommen mit einer konkreten Aussicht auf mehr Frieden für die Welt erwachsen konnte. In den 60er und 70er Jahren war das Wort „Abrüstung“ in aller Munde. Aber es wurde zu Propagandazwecken, speziell von der einen Seite, genutzt. Ich denke nur an die unselige damalige Entwicklung mit der SS 20, die gleichzeitig an die Grenzen des sowjetischen Machtblocks verlagert wurde, während man weltweit Abrüstung herbeisehnte. 1972 kam der Atomwaffensperrvertrag, und erst seit Gorbatschow gab es wirklich ernsthafte Bemühungen um Abrüstung, so, wie wir sie heute verstehen. Mittelstreckenraketen wurden abgebaut. Der KSE-Vertrag über konventionelle Abrüstung wurde abgeschlossen. Ich erinnere an START I, START II und an den ABMVertrag sowie an die Verträge zu den chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen. Ich möchte auch an den letzten Vertrag von Ottawa zu den Antipersonenminen erinnern. Es ist eine Entwicklung, die vor 40 Jahren niemand für möglich gehalten hätte: Raketen wurden zersägt, Sprengköpfe zerlegt, Arsenale verschrottet. Viel Geld wurde gespart, speziell in armen Staaten, die Geld für Dinge ausgeben konnten, die dem Wohl ihrer Bevölkerung mehr dienten als Aufrüstung. Abrüstung wurde aber nicht in allen Staaten und gleichgewichtig gesehen. Ich muß erinnern an die atomare Aufrüstung in China, in Indien und Pakistan; ich muß erinnern an die Entwicklung von Trägerraketen im Iran und in Nordkorea. Ich möchte aber auch daran erinnern, daß wir seit kurzer Zeit regelmäßige Besuche der Nachbarn bei großen Militärmanövern haben, daß wir vertrauensbildende Maßnahmen mittlerweile quasi als Selbstverständlichkeit beobachten können. Das ist eine Entwicklung, die im Interesse aller Staaten liegt. ({1}) Die Weltöffentlichkeit fordert nach wie vor die Fortsetzung der Abrüstung. Wir sind davon überzeugt, daß Abrüstung mehr Frieden schafft. So waren wir denn auch vor vier Wochen mit unserem Unterausschuß „Abrüstung“ in den USA. Wir haben dort herausragende Vertreter dieses Landes gesprochen, haben zum Beispiel - dies möchte ich gerade heute besonders betonen - Senator Lugar, einen ganz besonders engagierten Abrüster, getroffen, dessen ganz persönliches Engagement sich nicht nur in Amerika auswirkt, sondern dazu führt, daß zum Beispiel in Rußland Massenvernichtungswaffen in großer Zahl vernichtet werden können; denn auch das kostet Geld. Ich will das hier nicht vertiefen, sondern zu dem Beschluß des Senats von vor 14 Tagen kommen. Der schlug natürlich wie eine Bombe ein. Wie konnte ein solcher Beschluß zustande kommen? Ich möchte Sie vielleicht über die Person von Jesse Helms, den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des US-Senats, an die Antwort heranführen. Jesse Helms ist 78 Jahre alt. Er hätte wohl gut daran getan, in Rente zu gehen, zumal er in einem Alter ist, in dem auch andere Leute in Rente gehen. Aber nein, er hat mit seinem Denken, das aus einer ganz anderen Zeit geprägt ist, die Dinge nach wie vor in der Hand; denn er hat die Möglichkeit, dafür zu sorgen, daß ein Thema auf die Tagesordnung kommt oder eben nicht auch auf die Tagesordnung kommt. Er war viele Jahre Baptistenprediger. Er ist im Grunde der gute Mann von nebenan und wird deswegen von der Bevölkerung in North Carolina geschätzt, geehrt und immer wieder in den Senat entsandt. Aber er ist es, der es über Jahre verhindert hat, daß der US-Senat mit dem Thema befaßt wurde. Natürlich haben wir in den USA eine Tendenz zum Isolationismus, der mal stärker, mal weniger stark auftritt. In Wahlkampfzeiten ist er natürlich besonders stark. Ein amerikanischer Botschafter sagte uns - es mag nicht ganz zutreffen; aber in der Tendenz ist es natürlich eine interessante Information -, nach seiner Kenntnis hätten 60 Senatoren gar keinen Reisepaß. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber es zeigt überdeutlich: In Amerika ist die Innenpolitik in noch größerem Maße als bei uns in Deutschland wahlentscheidend, und außenpolitische Fragen stören in Wahlkampfzeiten oft. Und wir befinden uns halt wieder im Wahlkampf. Natürlich haben die Republikaner das Problem, daß sie nach ihrem fulminanten Wahlsieg 1994, als sie die Mehrheit in beiden Häusern errangen, eine Niederlage nach der anderen einstecken mußten.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Braun, auch Sie müssen bitte auf die Redezeit achten.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dann möchte ich diesen Punkt beenden und statt dessen eine Schlußbemerkung machen. Nachdem alle ihre Redezeit überzogen haben, darf ich vielleicht auch noch eine halbe Minute reden, Frau Präsidentin? Diese Abstimmung im Senat war keine Sternstunde. Es steht uns Deutschen im besonderen Maße zu, hier kritisch auf unsere Freunde einzuwirken, denn Deutschland und Japan haben als zwei Mächte, die sehr wohl das Potential gehabt hätten, sich an dem Wettrüsten zu beteiligen, seit Jahrzehnten darauf verzichtet. Auch deshalb dürfen wir den Amerikanern deutlich machen, daß wir von ihnen erwarten, daß sie spätestens nach der Wahl im Jahre 2000 das Thema neuerlich aufgreifen und eine Entscheidung treffen, die nicht die weltweit herbeigesehnte positive Entwicklung für mehr Abrüstung behindert, sondern fördert. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDSFraktion spricht jetzt die Kollegin Heidi Lippmann.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Braun, ich bin ganz verwundert über die antiamerikanischen Töne in diesem Haus von seiten der Liberalen. Jetzt versuchen wir doch einmal, wieder etwas ernsthafter zu werden. Ich bedaure es sehr - da sich eigentlich alle Abgeordneten im Unterausschuß „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“ darüber einig waren, wie bedauerlich die Nichtunterzeichnung des Atomteststoppvertrages durch die USA ist und daß dies ein schwerer Rückschlag für die internationale Entwicklung ist -, daß es nicht gelungen ist, hier zu einem interfraktionellen Antrag zu kommen. Die SPD hatte einen Vorstoß gemacht. Leider ist dieser Antrag noch nicht einmal bis in die PDS vorgedrungen. Ich finde es durchaus bedauerlich, daß noch nicht einmal ein Regierungsantrag zustande gekommen ist. ({0}) Die PDS hat einen eigenen Antrag vorgelegt - denn es wäre schlimm, wenn es gar keinen Antrag gäbe - der konkrete Schritte fordert, nämlich erstens die USA doch noch zu einer Ratifizierung des Teststoppvertrages zu bewegen, zweitens die schwedische Initiative für eine Resolution der UN-Generalversammlung für eine atomwaffenfreie Welt zu unterstützen, drittens die USA aufzufordern, sämtliche amerikanischen Atomwaffen vom Territorium der Bundesrepublik Deutschland und aus Europa unverzüglich zu entfernen und viertens die Zusammenarbeit in der nuklearen Planungsgruppe der NATO von deutscher Seite aus endlich aufzukündigen und auf die nukleare Teilhabe in der Atlantischen Allianz zu verzichten. Die Kollegen haben zum Teil schon darauf hingewiesen, welche Auswirkungen die Nichtunterzeichnung haben kann. Sie kann das Scheitern der Rüstungskontrolle und den Beginn eines neuen nuklearen Rüstungswettlaufs bedeuten. Es steht nicht nur der Atomteststoppvertrag auf dem Spiel, sondern auch der Nichtweiterverbreitungsvertrag und - durch den Aufbau eines USamerikanischen nationalen Raketenabwehrsystems - der ABM-Vertrag - dies wurde schon angesprochen -, der als ein wichtiger Baustein strategischer Stabilität zwischen den beiden größten Atommächten USA und Rußland und als wirksames Mittel gegen ein nukleares Wettrüsten angesehen wird. Es ist bekannt, daß Rußland und China den CTBTVertrag nicht unterzeichnen werden, bevor sich nicht die USA bereit erklären, keine Atomwaffentests mehr durchzuführen. Solange China nicht bereit ist zu unterschreiben, wird Indien dies nicht tun. Wenn Indien es nicht tut, dann tut es auch Pakistan nicht. Der Teufelskreis kann nur durchbrochen werden, wenn die USA als größte nukleare Supermacht mit gutem Beispiel vorangeht. Wir alle wissen, daß durch ein neues nukleares Wettrüsten nicht nur das Bedrohungspotential zunimmt, sondern daß dies auch vermehrt Atomwaffentests mit massiven Auswirkungen für die Umwelt, die Atmosphäre und natürlich für Mensch und Tier nach sich ziehen wird. Wir erinnern uns an die französischen Tests im Südpazifik, an die riesigen Proteste dagegen, die es auch in diesem Haus gab. Warum sollen Länder wie der Iran, Irak oder Nordkorea davor zurückschrecken, neue Atomwaffen zu entwickeln und zu testen, wenn noch nicht einmal die USA bereit sind, auf Neuentwicklungen und deren Tests zu verzichten? Um das atomare Wettrüsten zu begrenzen und die Wiederaufnahme von Atombombentests zu verhindern, müssen wir als Nichtatomwaffenstaat mit allen politischen Mitteln dafür kämpfen, daß die nukleare Bedrohung weltweit geringer wird. Ein Schritt dazu ist ein atomwaffenfreies Deutschland. Das bedeutet den umgehenden Abzug sämtlicher amerikanischer Atomwaffen, die noch irgendwo in der Bundesrepublik gelagert sein sollen. Herr Außenminister, ich denke, daß dies ein Thema ist, das Sie bei Ihrer nächsten Reise in die Staaten ansprechen sollten. Ein weiterer Schritt ist, eine UN-Resolution der Generalversammlung für eine atomwaffenfreie Welt mit deutscher Unterstützung voranzutreiben. ({1}) Hildebrecht Braun ({2}) Ein ganz wichtiger Schritt, der versäumt worden ist, wäre gewesen, auf die Ersteinsatzoption bei der neuen NATO-Doktrin zu verzichten und dieses gegebenenfalls durch die Unterschriftenverweigerung des Bundeskanzlers deutlich zu machen. Wenn wir ernsthaft für eine atomwaffenfreie Welt kämpfen wollen - das spreche ich niemandem in diesem Hause ab -, müssen wir dies mit allen Mitteln tun. Ein kleiner Schritt in die richtige Richtung ist unser Antrag hierzu. Ich möchte Sie bitten, diesen in der Beratung in den Ausschüssen ernsthaft zu berücksichtigen. Danke schön. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angelika Beer.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Es ist deutlich geworden, daß das Nichtweiterverbreitungsregime durch die Ablehnung im US-Senat die Ratifizierung gefährdet wird. ({0}) - Wollten Sie eine Zwischenfrage stellen? ({1}) - Dann seien Sie bitte ruhig, ich habe nämlich nur zwei Minuten. ({2}) - Gut, dann machen wir jetzt doch eine kurze Unterbrechung. Herr Kollege Braun, Ihre Vorwürfe gegen die Grünen, was die Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik betrifft, laufen ins Leere. Wir wissen, daß Ihre Vertreter in der letzten Legislaturperiode und auch jetzt die Reisetätigkeit in vollem Maße ausnutzen. Das sei Ihnen überlassen. Wir entscheiden aber, ob es nicht mitunter sinnvoller ist, das eine oder andere Problem in der Bundesrepublik selber politisch zu lösen. Wir haben nicht vor, Ihre Rolle zu kopieren. ({3}) Uta Zapf hat vorhin weitere Probleme im Bereich der Politik der nuklearen Abrüstung und der Nichtverbreitungspolitik angesprochen. Wir halten die Verstärkung der „counter proliferation“ im militärischen Bereich für äußerst kritisch. Wir glauben, daß die Politik der Vereinigten Staaten, wenn man die Ablehnung der Ratifizierung einerseits und die Verstärkung der nationalen militärischen „counter proliferation“ andererseits sieht, in eine falsche Richtung geht. Der Test für einen Raketenabwehrschirm Anfang dieses Monats bedeutet eine weitere Gefährdung des ABMVertrages und damit die Aushöhlung eines Eckbausteins der binationalen nuklearen Rüstungskontrolle zwischen Rußland und den Vereinigten Staaten. Wir sehen die Gefahr, daß in den Vereinigten Staaten in Zeiten des Wahlkampfes und der innenpolitischen Auseinandersetzung ein international wichtiger rüstungskontrollpolitischer Ansatz in Frage gestellt wird. Ich denke, wir sind uns einig, daß Sicherheit im nuklearen Zeitalter nicht durch den Rückzug auf vermeintliche nationale Interessen, sondern nur in einem multinationalen Kontext zu erreichen ist und daß wir, alle Fraktionen, von daher versuchen werden, weiter daran zu arbeiten. Der internationale Vertrauensverlust als Reaktion auf die Verweigerung der Ratifizierung im US-Senat - Kenner des Prozesses der nuklearen Abrüstung wissen, wie wichtig Vertrauen gerade in diesem Bereich ist - darf nicht unterschätzt und muß repariert werden. Ich möchte hier nur am Rande - obwohl ich meine, daß das Thema von großer Bedeutung ist - die in Europa noch stationierten Nuklearwaffen und die kürzliche Forderung des italienischen Außenministers, diese Waffen aus Europa abzuziehen, ansprechen. Ich möchte auch noch an das Gutachten des Internationalen Gerichtshofes erinnern, in dem es heißt, daß die Anwendung und der Gebrauch von Atomwaffen grundsätzlich dem Völkerrecht widersprechen. Angesichts dieser internationalen Breite der Agenda sollten wir auch dafür sorgen und weiter dafür eintreten, daß die NATO diese Diskussion konstruktiv aufgreift und daß die NATOStaaten ihre Abrüstungsbereitschaft und ihren Abrüstungswillen in diesem sehr sensiblen Bereich der Nuklearwaffen thematisieren. ({4}) Das ist die Aufgabe der aktuellen Politik. Ich apelliere an Sie, Entgleisungen - wie von Ihnen, Herr Braun, oder auch vom Kollegen Schmidt, der versucht, uns die Verantwortung für die Entscheidung des US-Senats in die Schuhe zu schieben - in diesem heiklen Bereich zu unterlassen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die Kollegin hat Ihre Zwischenfrage offensichtlich nicht zugelassen. Außerdem war ihre Redezeit schon überschritten. ({0}) - Die Kurzintervention hat sich offensichtlich auf diesem Wege erledigt. Ich schließe jetzt die Debatte. Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion der PDS. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Entschließungsantrag auf Drucksache 14/1894 zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Verteidigungsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Unabhängigkeit der Richter und Gerichte - Drucksache 14/979 ({1}) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Präsidialverfassung der Gerichte - Drucksache 14/597 ({2}) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Rechtspflege-Anpassungsgesetzes ({3}) - Drucksache 14/1124 ({4}) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({5}) - Drucksache 14/1875 Berichterstattung: Abgeordnete Alfred Hartenbach Norbert Geis Astrid Voßhoff Volker Beck ({6}) Evelyn Kenzler Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Alfred Hartenbach.

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute wollen wir den nächsten Schritt zur Reform einer modernen und bürgernahen Justiz machen. Wenn wir von Reformen in der Justizpolitik reden, dann bedeutet das Fortentwicklung, Fortschritt und Verbesserung. Wir unterscheiden uns da ganz deutlich von denen, die im letzten Jahrzehnt mehr oder weniger für die Fortbildung des Rechts in diesem Land verantwortlich zeichneten. ({0}) Vor nunmehr 27 Jahren hatte unser Justizminister Gerhard Jahn den Anfang für mehr Demokratie und Transparenz in der Organisation der Gerichte und Spruchkörper gemacht. Diese Regelung hatte schon damals den Widerspruch der Konservativen hervorgerufen. ({1}) Die heutige Haltung dieser Kräfte ({2}) zu unserem Entwurf zeigt deutlich, daß sich auch nach einer Generation keine Anzeichen einer Änderung in Richtung auf Vernunft erkennen lassen. ({3}) Die Vorschriften zur Präsidialverfassung haben sich bewährt, und niemand will sie missen. ({4}) Aber wie viele andere Gesetze ist auch dieses einem steten gesellschaftlichen Wandel ausgesetzt und muß auf den Prüfstand. ({5}) Heute, nach der Vereinigung Deutschlands und nach stetiger Entwicklung unserer Gesellschaft, stellen wir fest, daß einige dieser Vorschriften ergänzungsbedürftig sind. Wir tragen mit unserem Gesetz den gestiegenen Anforderungen an eine moderne und effiziente Justiz und an selbstbewußte und leistungsbereite Richterinnen und Richter Rechnung. Wir schaffen eine genauere Differenzierung der Größe der Präsidien entsprechend der Anzahl der dort tätigen Richterinnen und Richter. Wir verbessern die richterliche Mitbestimmung und stärken die Selbstbestimmungsrechte. Wir fördern das Kollegialprinzip und die kollegiale Entscheidung bei der Verteilung der Arbeit in Kammern und Senaten. Wir beseitigen überkommene, formale Privilegien bei der Besetzung der Präsidien und sorgen für die Gleichwertigkeit der Richter. Wir unterstreichen die richterliche Unabhängigkeit. Wir schaffen mehr Transparenz bei den Entscheidungen der Präsidien, indem wir eine gewisse Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Richteröffentlichkeit zulassen. In einigen Fällen gleichen wir damit das Gesetz der Wirklichkeit an, wie uns eine Anhörung von Praktikern bestätigt hat. Das Gesetz war daher eigentlich längst überfällig. Das haben auch die Bundesländer erkannt, die einen eigenen Entwurf vorgelegt haben, der unserem in vielen Punkten nahekommt. Ich bin überzeugt, daß unser Gesetz auch die Zustimmung der Länder finden wird, weil die Praxis auf dieses Mehr an demokratischer Verantwortung und Beteiligung in der Justiz gewartet hat. Wir haben die Gelegenheit genutzt, in diesem Gesetz einem weiteren dringenden Wunsch der Länder - hier besonders unserer mittel- und ostdeutschen Länder endlich zu entsprechen und damit die Funktionsfähigkeit der Senate an den Oberlandesgerichten besonders in den neuen Ländern über den 31. Dezember 1999 hinaus zu gewährleisten. ({6}) In den nächsten fünf Jahren kann auch weiterhin mehr als einer der Richter, die lediglich vorübergehend abgeordnet sind, an der Rechtsprechung der Senate mitwirken. Wir wollten sogar noch einen Schritt weitergehen. ({7}) Wir wollten den Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts umsetzen und die Rechte der Anwaltschaft in alten und neuen Ländern gleichstellen. Das haben nun allerdings die Unionschristen und die Unionssozialisten ({8}) mit einem absolut kleinkarierten, rein ideologisch geprägten Trick verhindert. ({9}) Die Folgen, daß nun dem Verfassungsspruch nicht nachgekommen wird, ({10}) die Folgen, daß wir weiterhin eine Spaltung der Anwaltschaft in Ost und West haben - diese Folgen, Kollege Geis, müssen alleine Sie verantworten. ({11}) Aber kleinkariertes Denken ist Ihnen ja eigen. Es kann nur Kopfschütteln hervorrufen, daß Sie dieses notwendige Gesetz noch im Ausschuß verhindern wollten mit der Begründung, die Beratung könne nicht abgeschlossen werden, weil Ihnen die Druckfahnen der Protokolle der zwei Tage zuvor erfolgten Anhörung nicht vorlagen. ({12}) - Ich lasse keine Zwischenfragen zu. Sie hatten alle die schriftlichen Stellungnahmen der Sachverständigen, und die unterscheiden sich in nichts von den mündlichen Darstellungen. Aber alles, was Sie machen, ist ziemlich einfallslos. Sie haben also wieder einmal bewiesen, daß Ihnen an sachlichen Entscheidungen nichts, aber auch wirklich nichts gelegen ist. ({13}) Sie machen Fundamentalopposition um der Opposition willen. ({14}) Wie soll ich denn den Vorsitzenden des Rechtsausschusses interpretieren, der in der „Welt“ vom 26. Oktober zitiert wird mit den Worten: „Der Justizapparat muß dringend reformiert werden, aber die Regierung kommt einfach nicht voran“. Die Opposition habe mit den Entlastungsgesetzen zum Zivilprozeß und zum Strafprozeß Hilfestellung leisten wollen, „aber die Mehrheit lehnt alles rigoros ab“. Sie hätten hier ja zustimmen können. Wenn Sie aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, Gesetze um der Gesetze willen vorlegen, was nichts anderes als Aktionismus ist, dann dürfen Sie sich über Kritik nicht wundern. Wenn man selbst nicht zu konstruktiver Mitarbeit bereit ist, sollte man nicht andere beschuldigen. Wissen Sie, Herr Geis, Sie kommen mir ohnehin vor wie ein politischer Grabräuber. ({15}) Sie haben in der vergangenen Legislaturperiode mit Ihrer Mehrheit Gesetze beerdigt, die Sie heute mit blanken Händen wieder ausbuddeln. Das ist politisches Grabräubertum. ({16}) Lassen Sie uns nun dieses Gesetz auf den Weg bringen. Im Interesse der baldigen Umsetzung schon für die im Dezember anstehenden Wahlen zu den Präsidien bitte ich Sie, meine Kolleginnen und Kollegen, um Zustimmung. Es ist ein gutes Gesetz. Vielen Dank. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Volker Kauder.

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meinem Vorredner, Herrn Hartenbach, kann ich nur sagen: Mit der BeAlfred Hartenbach urteilung, daß es sich hier um ein gutes Gesetz handelt, stehen Sie ziemlich alleine da. ({0}) In der Fachwelt wird dies ganz anders beurteilt. Ohnehin: Wenn ich mir anschaue, welch große Aufgaben vor uns stehen, dann wundere ich mich, daß wir Zeit für einen solchen Gesetzentwurf aufbringen müssen. Sie haben eben den Vorsitzenden des Rechtsausschusses, Professor Scholz, zitiert, der darauf hingewiesen hat, welch große Aufgaben vor uns stehen. Das ist richtig: Es gibt eine ganze Reihe von Aufgaben auch in der Rechtspolitik. Aber dort, wo Berge bewegt werden müßten, spielen Sie mit Murmeln. Anders kann ich das, was heute im Plenum passiert, nicht bezeichnen. ({1}) Die Rechtsmaterie der Gerichtsverfassung bietet keine Anzeichen für einen Reformbedarf. Was die Gesetzentwürfe von SPD und Grünen aus dem Bundesrat vermuten lassen oder gar unterstellen, daß die bisherigen Strukturen - um die geht es ja angeblich, Herr Hartenbach - zu einer ineffektiven Aufgabenerledigung der Justiz führen, läßt sich nicht nachweisen. Untersuchungen aus Baden-Württemberg haben gezeigt, daß die Reform der Präsidialverfassung nicht zu wesentlichen Verbesserungen in der Arbeit führen würde. Auch wenn SPD und Grüne verzweifelt nach Einzelfällen suchen, in denen es Schwierigkeiten der Praxis gegeben haben soll, so kommen die Fachleute doch nahezu einhellig zu der Auffassung, daß die 1972 reformierte Präsidialverfassung keinen Anlaß gibt, sie jetzt zu verändern. ({2}) Die grundsätzliche Kritik an den Gesetzentwürfen habe ich schon in der ersten Lesung deutlich gemacht. Ich erhalte sie auch nach der parlamentarischen Beratung und der Anhörung der Sachverständigen unvermindert aufrecht. Meine ablehnende Haltung ist sogar noch bestärkt worden. Auch wenn Sie es nicht hören wollen und gleich protestieren werden, sage ich es Ihnen trotzdem: Der wirkliche Zweck dieser Gesetzesinitiative ist ausschließlich in ideologischen Ansätzen begründet, die die Linken vor 20 Jahren begeisterten und die heute in die Gerichtsverfassung hineingeschrieben werden sollen. Es gibt keinen sachlichen Grund, sondern nur ideologische Gründe, die hier umgesetzt werden sollen. ({3}) SPD und Grüne betreiben die Ideologisierung der Gerichtsverfassung im Bundestag. Triebfeder im Bundesrat ist die Landesregierung von Schleswig-Holstein. Früher gehörte auch die inzwischen abgewählte rotgrüne Landesregierung in Hessen dazu. Wenn Sie diese Politik weiterbetreiben, dann werden die Wählerinnen und Wähler Sie auch in Schleswig-Holstein und NRW auf die Oppositionsbank schicken. ({4}) Wer eine solche Politik macht, hat auch keine anderen Wahlergebnisse verdient. Daß es hier alleine um das Durchdrücken von Ideologien geht, beweist auch die in jeder Hinsicht deplazierte Eile, mit der das Machwerk durchgepeitscht wird. ({5}) - Jawohl! - Das ist ein für unsere Demokratie unwürdiges Schauspiel. Ich habe es schon im Rechtsausschuß gesagt und wiederhole es: Gerade die Rechtspolitiker, die Verantwortung dafür tragen, daß auch formale Prozesse eingehalten werden, weil auch solche Prozesse etwas mit Rechtsklarheit und Fairneß zu tun haben, verstoßen jetzt gegen dieses Erfordernis. Es geht nicht nur darum, daß eine Anhörung verbal durchgeführt worden ist und daß wir zugehört haben; vielmehr geht es auch darum, daß wir das in der Anhörung Gesagte nachher auch entsprechend würdigen. Dies haben Sie nicht zugelassen. ({6}) - Herr Kollege Ströbele, Sie können nachher etwas sagen. - Wenn Sie schon nicht wollen, daß wir die Anhörung an Hand der Protokolle auswerten können, dann lassen Sie doch erst gar keine Protokolle anfertigen. ({7}) Dies wäre eine eklatante Verbesserung der Arbeit vor allem für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung. Dies wäre eine bessere Lösung, als an der Präsidialverfassung herumzudoktorn. Das, was Sie hier machen, ist ein unglaublicher Vorgang. ({8}) Ich frage mich, ob es eine moderne Form der Arbeitsbeschaffungmaßnahme ist, wenn Protokolle geschrieben und zu einem Zeitpunkt vorgelegt werden, an dem das Gesetz schon verabschiedet ist. Dies ist nicht in Ordnung. Das muß ich klipp und klar sagen. ({9}) Sie hätten sich korrekt verhalten, wenn Sie uns die Möglichkeit gegeben hätten, die Protokolle einzusehen. ({10}) Herr Kollege Hartenbach, das Tempo, das Sie in diesem Bereich vorlegen und das völlig unnötig ist, würde ich mir in anderen, wirklich wichtigeren Bereichen wünschen. ({11}) Vor einigen Wochen wurde hier über § 12 des Fernmeldeanlagengesetzes diskutiert. Es ging darum, daß ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung des Terrorismus weitergeführt wird. Sie haben damals eiskalt gesagt: Das setzen wir aus. Wir hatten bislang keine Zeit, einen Zwischenbericht vorzulegen und auszuwerten. - Wenn Sie die Zeit, die Sie auf das heute vorliegende unnötige Gesetz verwendet haben, dort hineingesteckt hätten, dann hätten wir wesentlich mehr für die Bekämpfung der Gewaltkriminalität in unserem Land erreicht. Da, wo es unnötig ist, geschieht alles im Schweinsgalopp; da, wo es notwendig wäre, geschieht alles im Schneckentempo. So sieht die Politik dieser Bundesregierung aus. Im Rahmen der Gesetzesinitiative wird überhaupt nicht auf Mißstände und Reibungsverluste bei der Arbeit der Gerichtspräsidenten hingewiesen. Ich habe mehrfach versucht, herauszufinden, was der eigentliche Zweck der Gesetzesinitiative sein soll. ({12}) - Ihnen geht es nicht darum, mehr Demokratie herzustellen, sondern um die Durchsetzung von ideologischen Grundsätzen. ({13}) Eine Veränderung der seit 1972 bestehenden Gerichtsverfassung führt nicht automatisch zu einer Effizienzsteigerung. Die Rechtsprechung in Deutschland ist unabhängig. Die Richter üben ihr Amt eigenverantwortlich aus. Die Gerichtsverfassung von 1972 bietet keinen Anhaltspunkt dafür, daß die Unabhängigkeit der Richter oder die Selbständigkeit der Gerichte gefährdet ist. Das Präsidium eines Gerichts ist kein rechtspolitisches Organ, sondern ein geschäftsleitendes Verwaltungsorgan. Es dient der Geschäftsverteilung unter Richtern und damit inneren personalwirtschaftlichen Führungsaufgaben. Dies, Herr Ströbele, verkennen Sie offensichtlich. Die Präsidialverfassung ist für die technische Aufgabenabwicklung innerhalb der Gerichte sachgerecht und effizient. Ja, sie wird hinsichtlich der Funktionalität sogar als vorbildlich und zukunftstauglich beschrieben. Alles zielt auf nur einen zentralen Punkt ab: Es geht den Verfassern des Gesetzentwurfs darum, den Einfluß der Vorsitzenden Richter in den Präsidien weitestgehend zu verwässern. Was SPD und Grüne als überkommene Privilegierung der Vorsitzenden Richter diffamieren, die es zugunsten einer sogenannten Gleichrangigkeit der Richter zurückzufahren gelte, ist sachlich nichts anderes als der Versuch, die Tätigkeit von besonders befähigten Richtern in speziellen Aufgabenfeldern der Justizverwaltung bei Gericht einzuschränken. Die Arbeitsweise in richterlichen Kollegialorganen verlangt Vorsitzende, die zuständig und verantwortlich sind, die Rechtsfindung im Einzelfall sachgerecht zu organisieren und vorzubereiten. Auch wenn einzelne Stimmen daran wieder herumdeuteln wollen: Vorsitzende Richter werden nach besonderer Eignung, Befähigung und Lebens- und Berufserfahrung ausgewählt und nicht nach ideologischen Vorschriften. Vorsitzende Richter übernehmen bereits jetzt - und nach den Vorstellungen der Landesjustizverwaltungen zunehmend leitende Aufgaben. Persönlichkeiten, die aufgrund ihrer Qualifikation in der Lage sind, Führungsaufgaben bei den Gerichten zu übernehmen, müssen mit ausreichenden Kompetenzen ausgestattet sein, um eine effiziente Justiz zu gewährleisten. Es handelt sich bei den Vorsitzenden Richtern und ihrer hervorgehobenen Position also nicht um unberechtigte Vorrechte aus alter Zeit, wie uns die Gesetzentwürfe und vielleicht auch der eine oder andere Sachverständige glauben machen wollen. ({14}) Es ist bei der Anhörung deutlich geworden, daß zwischen den verschiedenen Aufgabenbereichen eines Vorsitzenden Richters nur selten sauber getrennt wird. Bei der Urteilsfindung im Einzelfall ist der Vorsitzende Richter nicht in einer herausgehobenen Position tätig, sondern gleichrangig mit den Kollegen im Spruchkörper ein Richter unter anderen. Ganz anders ist es hinsichtlich seiner Aufgaben im inneren Bereich der Justizverwaltung. Hier geht es um Fragen der Führung und Verantwortung. Jetzt, Herr Kollege Ströbele, hören Sie einmal ganz genau zu. Ich wiederhole, auch wenn einige das nicht gerne hören: Auch in der Demokratie gibt es Bedarf an Führung. Ein schönes Beispiel ist die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers. Ist sie etwa undemokratisch? ({15}) Dort geht es um Führungsqualität. Was passiert, wenn diese Führungsqualität fehlt, das sieht man, wenn man sich die aktuelle Bundesregierung anschaut. ({16}) Dieses schlechte Bild der Bundesregierung wollen wir nicht auf die Führungsstrukturen in unseren Gerichten übertragen. Gleiches gilt für die Präsidien und Spruchkörper der deutschen Gerichte. Wir wollen nicht, daß in unseren Gerichten das gleiche Chaos herrscht wie bei der rotgrünen Bundesregierung. ({17}) Das Amt eines Vorsitzenden Richters und seine Funktion in der deutschen Gerichtsverfassung dient dazu, sicherzustellen, daß eine besonders qualifizierte Personengruppe bestimmte Führungsaufgaben im inneren Bereich der Gerichte wahrnimmt. Die Beschneidung der Stellung der Vorsitzenden Richter, wie sie hier und heute vorgeschlagen wird, ist sachlich kontraproduktiv und unklug. Meine Damen und Herren, ich sage nur: Lassen Sie klassenkämpferische Töne bei der Reform der Gerichtsverfassung. ({18}) Kehren Sie zu dem zurück, was sachlich geboten und was rechtlich notwendig ist. Orientieren Sie sich an dem Gesetzentwurf, den wir vorgelegt haben, und halten Sie sich vor allem daran, daß wir nicht in einem Schweinsgalopp Gesetze durchbringen und Irritation schaffen. Ich komme zu einem letzten Punkt. Ich war im Rechtsausschuß über das Gesetz und die dazu zu hörenden Interpretationen wirklich baß erstaunt. Da wird ein Gesetz gemacht, mit dem auch die Richterwahlordnung verändert wird. Die Termine sehen aber vor, daß jetzt zum 15. November das Wahlverfahren eingeleitet wird. ({19}) Am 15. Dezember 1999 sind die Wahlen. Da sagt mir ein Beamter des Bundesjustizministeriums, es werde dann natürlich eine Veränderung geben. Man soll nach dem alten Gesetz das Wahlverfahren einleiten, und während des Wahlverfahrens wird durch einen Aushang bekannt gemacht, daß das neue Gesetz, die neue Ordnung gilt. Wenn man daran denkt, welche formalen Fragen wir in Strafprozessen zu beachten haben, wenn man daran denkt, welche formalen Fragen uns im rechtlichen Bereich bewegen, ist das eine abenteuerliche Geschichte. ({20}) Ich habe dann gefragt, ob das nicht rechtlich problematisch sei. Darauf ist mir vom Bundesjustizministerium gesagt worden, nein, es sei alles in Ordnung, alles geprüft. Jetzt liegen mir Stellungnahmen aus verschiedenen Landesjustizministerien vor, die eindeutig darauf hinweisen, daß ein solches Verfahren, nach einer alten Wahlordnung dazu aufzurufen, Wahlen abzuhalten, und dann in diesem Wahlverfahren eine neue Wahlordnung einzuführen, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit rechtswidrig ist. Dies hätte aber nicht nur zur Folge, daß die Wahlen wiederholt werden müßten, ({21}) sondern auch, daß nach dem grundgesetzlichen Grundsatz des bestimmten Richters alle Verfahren, an denen diese Richter mitwirken, neu aufgerollt werden müßten. ({22}) Wir würden Berufungen gegen Strafprozesse bekommen, und dieses Risiko wollen Sie eingehen. ({23}) Herr Hartenbach, Ihre Reaktion -

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Abgeordneter, denken Sie bitte an die Redezeit.

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluß. Herr Hartenbach, Ihre Reaktion auf diesen Vorhalt, den ich jetzt mache, der ja nicht von mir kommt, sondern von Landesjustizministerien, die dafür Fachleute haben, zeigt: Es geht hier nicht um die Sache, sondern darum, daß ideologische Grundsätze durchgepeitscht werden. Man will den Eindruck erwecken, die Bundesregierung handele. Tatsächlich spielt sie mit Murmeln, wo Berge zu bewegen wären. ({0}) Wir lehnen diesen Gesetzentwurf ab. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Volker Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Weitere durchgreifende Argumente gegen den Gesetzentwurf als das, daß Sie das Protokoll nicht haben, habe ich nicht gehört. Wir wollen unserer Diskussion Leitbilder für eine moderne Justizorganisation, wie Gleichwertigkeit der Richterämter, Selbstverwaltung und Demokratie, voranstellen. Dies sind keine ideologischen Kampfbegriffe, wie Sie meinen, sondern Grundlagen unseres Rechtsstaates und unserer Verfassung. Diese Begriffe versucht der Koalitionsentwurf zur Stärkung der Unabhängigkeit der Richter und Gerichte mit Leben zu erfüllen. Wir wollen überkommene Strukturen in der Gerichtsverfassung abschaffen, die richterliche Selbstverwaltung stärken und die Justizstrukturen demokratisieren. Die Gleichwertigkeit aller Richterämter ist eine verfassungsrechtliche Vorgabe. Sie mag Ihnen links erscheinen; sie ist aber auf jeden Fall Grundlage unserer Justiz. Dieser Vorgabe entspricht es nicht, daß nach geltendem Recht allein die Vorsitzenden Richter über die zentral wichtige Frage der Verteilung der Geschäfte innerhalb des Spruchkörpers, also über die konkrete Bewältigung des Arbeitsanfalles, entscheiden. Deshalb sollen in Zukunft alle Berufsrichter gemeinsam die GeVolker Kauder schäftsverteilung innerhalb der Kammer festlegen. Die Neuregelung enthält damit den klaren gesetzlichen Auftrag an alle Richterinnen und Richter, sich in eigener Sache nicht konfrontativ zu verhalten, sondern kooperativ und offen zusammenzuarbeiten. In vielen Spruchkörpern wird sich diese Gesetzesänderung nicht bemerkbar machen, weil man bereits ohne gesetzliche Vorgabe offen und kollegial, einvernehmlich und gerecht zusammengearbeitet hat. Es gibt aber auch Spruchkörper - das hat die Anhörung gezeigt -, in denen in dieser Frage durchaus Nachholbedarf besteht. Hier wird die Neuregelung deutliche Auswirkungen auf das Betriebsklima haben; hier können beträchtliche interne Reibungsverluste vermieden und damit letztendlich auch die Effizienz der Justiz gesteigert werden. Läßt sich auf Grund von Stimmengleichheit keine Entscheidung herbeiführen, soll das Präsidium entscheiden. Wir halten nichts von dem Vorschlag des Bundesrates, daß bei Stimmengleichheit die Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag geben soll. Der Vorsitzende behielte seine überlegene Position, die Gefahr anhaltender Konfrontation bestünde fort. Demgegenüber wird durch das Erfordernis, bei Stimmengleichheit das Präsidium anzurufen, die Bereitschaft zur allseits einvernehmlichen Lösung gesteigert. Darüber hinaus wollen wir demokratische Strukturen und die Selbstverwaltung in den Gerichtspräsidien, also in den eigentlichen Selbstverwaltungsorganen der Gerichte, stärken. Diese sollen nicht mehr wie bisher zwingend zur Hälfte aus Vorsitzenden Richterinnen und Richtern bestehen; vielmehr sollen sie aus allen am Gericht tätigen Richterinnen und Richtern gewählt werden. Es handelt sich übrigens um eine Regelung, wie sie in den neuen Ländern praktiziert wird. Dort würde es niemand verstehen, wenn sie jetzt, da sie befristet ist, wegfallen würde. Für die Entwicklung der Selbstverwaltung ist ebenfalls die Festlegung bedeutend, daß Präsidiumssitzungen in Zukunft im Regelfall für die Richter des Gerichts öffentlich sind. Wer nichts zu verbergen hat, der muß daran keine Kritik üben. Darüber hinaus wollen wir die gesetzlichen Vorgaben für das Wahlverfahren zu den Präsidien ändern. Das derzeit geltende Mehrheitswahlsystem birgt die Gefahr, daß dort, wo Polarisierung besteht, im Extremfall eine Gruppe der Richter eines Gerichts selbst dann nicht im Präsidium vertreten ist, wenn sie knapp 50 Prozent der Richterschaft stellt. Wir ermöglichen den Ländern, durch Landesrecht auch andere Wahlverfahren zu bestimmen, zum Beispiel das Verhältniswahlrecht oder eine Kombination aus beiden. Wenn wir die Justiz reformieren wollen, dann brauchen wir die Motivation und das Engagement der Richterinnen und Richter. Dem Ziel, diese zu stärken, bringt uns der Koalitionsentwurf ein deutliches Stück näher. Justizorganisation muß auch nach den Leitlinien moderner Personalführung und moderner Personalmotivation strukturiert sein. Von dieser modernen, teamorientierten, kooperativen Organisation verstehen Sie offensichtlich herzlich wenig. Sie hängen immer noch autoritären obrigkeitsstaatlichen Mustern des 19. Jahrhunderts an. Wir als Koalition der Moderne und der Demokratie folgen hier anderen Leitbildern. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Funke.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Entwurf zeugt wieder einmal davon, wie unseriös Gesetzesvorhaben von der rotgrünen Koalition behandelt werden. ({0}) Der Bundesratsentwurf stammt vom 23. März 1999, der Entwurf der Regierungskoalition vom 4. Mai 1999. Es hätte also ausreichend Zeit bestanden, die Gesetzesvorhaben in Ruhe und Gelassenheit und vor allem seriös gemeinsam zu beraten. ({1}) Statt dessen wird dieses Gesetz innerhalb einer Woche durchgepeitscht: Am Montag fand die Sachverständigenanhörung statt; wohlgemerkt: am Montag dieser Woche. Am Mittwoch haben wir, ohne daß ein Protokoll über diese Anhörung vorlag, im Rechtsausschuß beraten, und heute soll dieses Gesetz schon in zweiter und dritter Lesung verabschiedet werden. ({2}) Nun fragt man sich natürlich: Warum wird das so gemacht? Da bleibt eigentlich nur eine Vermutung: Diese Koalition ist sich uneins darüber, wie dieses Gesetzesvorhaben beraten werden soll. ({3}) Wenn man mit den Kollegen im Rechtsausschuß offen spricht - das tun wir ja gelegentlich auch mit Ihnen, Herr Ströbele -, so wird man sehr schnell herausfinden, daß beispielsweise einige Abgeordnete der Sozialdemokraten mit diesem Gesetzesvorhaben nicht einverstanden sind. ({4}) - Sie brauchen die Leute hier nicht demagogisch zu befragen, Herr Ströbele. Sie wissen das ganz genau. Sie haben dieses Verfahren so gewählt, um das Gesetz durchzupeitschen. ({5}) Volker Beck ({6}) Dabei besteht überhaupt kein unmittelbarer Handlungsbedarf, es sei denn, daß die Koalition durch diese übereilte Beratung davon ablenken will, daß sie sich uneins ist. Dabei hat in der Anhörung keiner der Sachverständigen Gründe dafür nennen können, daß die bisherige Präsidialverfassung der Gerichte irgendwelche Anstände gezeigt hätte. Dort, wo bislang eine reibungslose Selbstverwaltung funktioniert, sollte nicht aus ideologischen Gründen ohne Not eingegriffen werden. Ich bin sehr wohl dafür, Strukturveränderungen dann vorzunehmen, wenn sie zur Steigerung der Effizienz der Gerichte notwendig sind. Aber keiner der Sachverständigen hat nachweisen können, daß durch dieses Gesetz eine Effizienzsteigerung erfolgt. Auch die Beratung in öffentlichen Sitzungen wird nicht dazu führen, daß die Entscheidungen des Präsidiums transparenter werden. Vielmehr werden künftig - das haben die Sachverständigen ebenfalls deutlich gemacht - sensible Fragen außerhalb der öffentlichen Sitzungen in wenig transparenten Runden entschieden - man könnte auch sagen: ausgekungelt - werden. Wie schlampig dieser Gesetzentwurf der rotgrünen Ideologen im übrigen vorbereitet worden ist, ({7}) zeigt sich daran, daß durch eine mehrseitige Formulierungshilfe des BMJ nachgebessert werden mußte. Meine Damen und Herren, wir sollten diese Form der Beratung wirklich nicht üblich werden lassen. ({8}) Meine Damen und Herren, im Hinblick darauf, daß im Zuge der Beratung dieses Gesetzes auch die Postulationsfähigkeit der Anwälte im Osten und Westen der Bundesrepublik Deutschland zur Debatte stand, hat Ihnen die F.D.P.-Fraktion einen Entschließungsantrag auf Fortfall des 10prozentigen Gebührenabschlages für Rechtsanwälte aus den neuen Bundesländern vorgelegt. ({9}) Wenn in Zukunft ostdeutsche Anwälte in Westdeutschland und westdeutsche Anwälte in Ostdeutschland vor allen Landgerichten uneingeschränkt tätig sein sollen, so ist es nur recht und billig, wenn die ostdeutschen Anwälte für die gleichen Leistungen auch die gleichen Gebühren erhalten. ({10}) Sie haben schließlich weiterhin auf Grund niedrigerer Streitwerte geringere Gebühreneinnahmen. Ich bitte Sie daher, diesem Entschließungsantrag zuzustimmen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Evelyn Kenzler.

Dr. Evelyn Kenzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003159, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Anhörung der Sachverständigen am Montag hat mich in meiner zustimmenden Haltung zur Reform der Präsidialverfassung bestärkt. Sie hat sogar gezeigt, daß die Handhabung in der Praxis, zum Beispiel zur Richteröffentlichkeit in Präsidiumssitzungen, zum Teil schon so ist, wie es der Gesetzentwurf der Regierungskoalition vorschlägt, natürlich mit Ausnahme des Landes Bayern. Schon allein diese zersplitterte Praxis zeigt das vorhandene Reformbedürfnis. Die entscheidende Frage lautet aber: Wollen wir die richterliche Selbstverwaltung, oder wollen wir sie nicht? Das haben auch die Diskussionen im Rechtsausschuß gezeigt. Nichts anderes, auch nicht etwa die von manchen wohl befürchtete Frage: „Soll der Präsident entmachtet werden?“, steht hier zur Debatte. Die Öffentlichkeit des Präsidiums ist ein Gebot einer demokratischen und transparenten Justiz. Sie trägt nicht zuletzt zu einem guten Betriebsklima und damit letztendlich auch zu einem effektiven Arbeiten bei Gericht bei. Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß es bei berechtigten Gründen, wie beispielsweise der Wahrung von Persönlichkeitsrechten, keine Möglichkeiten zum Ausschluß der Öffentlichkeit geben darf. Die Regel aber muß die Öffentlichkeit und die Ausnahme der Ausschluß derselben sein und nicht umgekehrt. Die Aufhebung des Quorums für Vorsitzende Richter bedeutet die Beseitigung eines ständisch geprägten Präsidiums. Hier erübrigt sich jede weitere Argumentation, wenn man sich für eine Selbstverwaltung des Gerichts entschieden hat. Für das in der Anhörung angesprochene Problem des Stimmrechts bei den sogenannten geteilten Richtern gibt es dagegen bislang noch keine vernünftige Lösung. Hier besteht noch Gesprächsbedarf. Mit dem Gesetzentwurf wird leider auch nicht berücksichtigt - das wurde in der Debatte schon genannt -, daß bereits vor Jahresende Wahlen an den Gerichten stattfinden werden. Nach Auskunft des BMJ kann das dazu führen, daß an den Gerichten entweder ein Wechsel des Wahlsystems stattfinden oder unterschiedlich gewählt werden wird. Hier fehlt nach wie vor eine Übergangsregelung. Dennoch sind diese Probleme meines Erachtens kein Grund dafür, die Verabschiedung des Gesetzes bis zu einer umfassenden Justizreform zu verschieben. Wir werden dem Entwurf deshalb zustimmen. Woran aber als nächstes gedacht werden sollte, sind beispielsweise das Verfahren und die Formen der Besetzung von Präsidentenämtern. Die steigenden und zunehmend spezifischer werdenden Anforderungen an eine zeitgemäße Gerichtsverwaltung, die diese zu erfüllen hat, steigern auch das Risiko einer Fehlbesetzung in diesem Bereich. Ein guter Richter ist eben nicht zwangsläufig auch ein guter Leiter in der Verwaltung. Vielleicht kann man in dieser Frage auch vom Ausland lernen, wo es beispielsweise sogenannte DoppelRainer Funke spitzen, einen für den richterlichen Bereich zuständigen Richter und einen Gerichtsmanager, gibt. Letzterer hat klar abgegrenzte Kompetenzen für den nichtrichterlichen Bereich sowie für Haushalt und Budget. Aber ganz gleich, wofür man sich hier entscheidet: Eine Professionalisierung der Gerichtsverwaltung erscheint mir als einer der nächsten Reformschritte unbedingt erforderlich. Danke. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung der Herr Staatssekretär Pick.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Stärkung der Unabhängigkeit der Richter und Gerichte in der Fassung des Rechtsausschusses. Insofern, lieber Herr Kauder, steht Herr Hartenbach auch nicht allein; die Bundesregierung ist an seiner Seite. ({0}) Die Zielrichtung dieses Entwurfs, durch entsprechende Strukturveränderungen die Eigenverantwortlichkeit der Richter zu stärken und zur Steigerung der Effizienz der Justiz beizutragen, ({1}) stimmt mit der Auffassung der Bundesregierung von moderner Rechtspflege überein. ({2}) Durch diesen Entwurf erhält die Präsidialverfassung der Gerichte in wesentlichen Punkten einen zeitgemäßeren Zuschnitt. Er stellt damit einen bedeutenden Teilschritt auf dem Weg zu einer umfassenden Justizreform dar. Sie wissen, daß wir diese Justizreform in behutsamen Schritten angehen. Wir haben mit der Ermöglichung der Streitbeilegung außerhalb des Gerichtes bzw. vorgerichtlich einen Beginn gemacht. Insofern ist der vorliegende Entwurf ein weiterer Schritt im Rahmen einer umfassenden Justizreform. Es ist heute - um ein Beispiel zu nennen - in der Tat nicht mehr einzusehen, warum die Präsidien immer noch zur Hälfte mit Vorsitzenden Richtern besetzt sind, die auf diese Weise zusammen mit dem Präsidenten, der geborenes Präsidiumsmitglied ist, stets die Mehrheit bilden. Dieses Prinzip der funktionalen Parität, das sogenannte Vorsitzendenquorum, führt zu einer Überrepräsentierung der Vorsitzenden im Präsidium, was mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbar ist. Denn die Vorsitzenden machen, wie wir wissen, zahlenmäßig häufig nur ein Drittel bis ein Viertel der an einem Gericht tätigen Richter aus, manchmal sogar noch weniger. Aus den soeben dargestellten Gründen verdient auch die im Entwurf vorgesehene Neuregelung der spruchkörperinternen Geschäftsverteilung vorbehaltlose Zustimmung. Sie soll künftig durch Mehrheitsbeschluß der dem Spruchkörper angehörenden Berufsrichter vorgenommen werden. Auch dies entspricht dem modernen Verständnis von der Gleichwertigkeit der Richterämter wesentlich besser als die derzeitige Rechtslage, wonach allein der Vorsitzende die Geschäftsverteilung bestimmt. ({3}) Bei Stimmengleichheit im Spruchkörper wird künftig die Entscheidung durch das Präsidium getroffen. Der Entwurf sieht weiter vor, daß künftig die Sitzungen der Gerichtspräsidien im Regelfall den Richtern des jeweiligen Gerichts zugänglich sind, das heißt, richteröffentlich sein sollen. Damit wird übrigens - auch das ist in der Anhörung deutlich geworden - einem vielfach geäußerten und, wie ich meine, sehr verständlichen Bedürfnis innerhalb der Richterschaft Rechnung getragen. Für den Fall, daß es der Persönlichkeitsschutz eines Richters erfordert, ordnet das Präsidium den Ausschluß der Öffentlichkeit an. Ich möchte noch eine zweite Bemerkung machen. Der Beschlußvorschlag des Rechtsausschusses greift darüber hinaus den Entwurf eines Gesetzes des Bundesrates zur Änderung des Rechtspflege-Anpassungsgesetzes auf, der das Ziel verfolgt, die am 31. Dezember dieses Jahres auslaufende Regelung im RechtspflegeAnpassungsgesetz für den Bereich der Oberlandesgerichte und Landessozialgerichte in den neuen Ländern um weitere fünf Jahre zu verlängern. Nach dieser Vorschrift sind in den neuen Ländern - abweichend von § 29 Satz 1 des Deutschen Richtergesetzes - auch Spruchkörper zugelassen, in denen mehr als nur ein abgeordneter Richter tätig ist. Es muß lediglich ein auf Lebenszeit ernannter Richter mitwirken. Wir geben damit dem Drängen des Bundesrates nach. Dieses Anliegen ist sachgerecht, weil erkennbar ist, daß die erforderlichen Planstellen an den entsprechenden Gerichten wegen der durch die besondere Struktur der Richterschaft geprägten Altersstruktur der Justiz in den neuen Bundesländern noch nicht in ausreichender Zahl mit qualifizierten Bewerbern besetzt werden können. Die Bundesregierung unterstützt diesen Verlängerungsvorschlag. Sie ist sich dabei allerdings der Tatsache bewußt, daß es aus gerichtsverfassungsrechtlicher Sicht grundsätzlich nicht wünschenswert sein kann, bei den Obergerichten einen Teil der für den Regelfall gesetzlich vorgeschriebenen Planstellen auf längere Sicht unbesetzt zu lassen und sich insoweit mit abgeordneten Richtern der unteren Instanzen zu behelfen. Wir können uns aber dem personalwirtschaftlichen Argument der Länder nicht verschließen. Meine Damen und Herren, ich will noch ganz kurz auf den Vorschlag der F.D.P.-Fraktion eingehen, die zum 1. Januar 2000 eine Korrektur des nach dem Einigungsvertrag bestehenden Abschlags auf die RechtsanDr. Evelyn Kenzler waltsgebühren und die Gerichtsgebühren vorschlägt. Auch hier darf ich feststellen, daß die Bundesregierung alle Bestrebungen unterstützt, die die Herbeiführung gleicher Lebensbedingungen in Ost und West zum Ziel haben. Von daher besteht durchaus Verständnis für das Anliegen der von der bisherigen Regelung Betroffenen. Trotzdem kann die Bundesregierung dem Anliegen der F.D.P. zur Zeit aus Rechtsgründen nicht folgen. Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, daß das Einkommensniveau im Beitrittsgebiet noch immer deutlich unter dem des alten Bundesgebietes liegt. Das wird an den uns zur Verfügung stehenden Zahlen deutlich; es gibt noch immer eine deutliche Differenz. Außerdem wollen wir dem Anliegen der Bundesländer, unter Einschluß Ostberlins, Rechnung tragen. Insofern denke ich, daß wir nicht zu einer Aufhebung der Regelung kommen sollten. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung der Unabhängigkeit der Richter und Gerichte. Das sind die Drucksachen 14/979 und 14/1875 Buchstabe a. Die Fraktion der CDU/CSU hat Einzelabstimmung über Art. 3 Ziffer 1 in der Ausschußfassung verlangt. Ich lasse deshalb zunächst über Art. 3 Ziffer 1 in der Ausschußfassung abstimmen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Art. 3 Ziffer 1 ist damit in der Ausschußfassung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. - es gab keine Enthaltungen angenommen worden. Ich bitte nun diejenigen, die den übrigen Vorschriften in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die übrigen Vorschriften sind mit demselben Stimmenverhältnis, mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P., angenommen. Der Gesetzentwurf ist damit insgesamt in zweiter Beratung angenommen worden. Dritte Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung angenommen worden, und zwar mit dem eben festgestellten Stimmenverhältnis. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/1884 zu dem soeben angenommenen Gesetzentwurf. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der F.D.P. bei Enthaltung der CDU/CSU und der PDS abgelehnt worden. Wir kommen nun zur Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates zur Reform der Präsidialverfassung der Gerichte. Das sind die Drucksachen 14/597 und 14/1875 Buchstabe b. Der Rechtsausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf auf Drucksache 14/597 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen zwei Stimmen aus der F.D.P. bei Enthaltung des übrigen Teils der F.D.P. und der CDU/CSU angenommen worden. Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Rechtspflege-Anpassungsgesetzes, Drucksachen 14/1124 und 14/1875 Buchstabe c. Interfraktionell ist vereinbart worden, heute auch über diesen Teil der Beschlußempfehlung abzustimmen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Der Rechtsausschuß empfiehlt, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 14/1124 für erledigt zu erklären. Wer stimmt dem zu? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen eine Stimme aus der F.D.P. bei Enthaltung des übrigen Teils der F.D.P. und der CDU/CSU angenommen worden. Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 10 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS Haltung der Bundesregierung zu einer möglichen Lieferung von Kampfpanzern an die Türkei Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke für die Fraktion, die die Aktuelle Stunde beantragt hat. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Kommt ja noch. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung demonstriert ja - wir alle sollten das würdigen - Einigkeit durch Anwesenheit. Das ist wohl auch diesem Thema angemessen. (

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Das ist wegen Ihrer Bedeutung, Herr Abgeordneter!) - Das schmeichelt einem direkt, wenn man so etwas hört. Wir haben diese Aktuelle Stunde aus zwei Gründen beantragt: zum einen, weil wir das Panzergeschäft für völlig unakzeptabel halten, und zum zweiten, weil wir verhindern wollen, daß immer mehr Entscheidungen am Parlament vorbei getroffen werden und hier nicht einmal diskutiert werden. Eine Frage, die in der ganzen Öffentlichkeit diskutiert wird, muß auch hier diskutiert werden. ({0}) Es wird Sie nicht verwundern: Die PDS lehnt den Rüstungsexport generell und natürlich auch dieses Panzergeschäft ab. Wir sind gegen Ausfuhrgenehmigungen für jeden einzelnen Panzer, jede einzelne Rakete und jedes einzelne U-Boot oder für sonstige Mordwerkzeuge, die auch immer man an andere liefern kann. Daß sich diese rotgrüne Regierung entgegen ihren Zusagen auch bei den Rüstungsexporten in Kontinuität zu ihrer Vorgängerregierung bewegt, nagt aus unserer Sicht weiter an ihrer Glaubwürdigkeit. Ich muß feststellen, daß die Konfusion, die bei der Vorbereitung und beim Abwickeln der Dinge entsteht, größer ist als die der Vorgängerregierung. Auch die Nebelschwaden sind dichter. Es ist Augenwischerei, die Entscheidung des Bundessicherheitsrates als einen Kompromiß zu bezeichnen. Der Bundessicherheitsrat hat genau das bewilligt, was gewollt war: die Ausfuhrgenehmigung für einen Musterpanzer. Wer sich aber an einer Ausschreibung beteiligt, wird das Geschäft nicht ablehnen. Wer nicht die Lieferung eines Panzers hat verhindern können, der wird sich auch 999 nicht verweigern. ({1}) Die Sache ist mit dieser Entscheidung entschieden. Alles andere ist Unsinn oder Selbsttäuschung. Im Klartext: Aus meiner Sicht bleiben nach Prüfung der Argumente zwei logische, aber von mir abzulehnende Argumente übrig. Ich will sie zumindest nennen: Erstens. Das Ganze ist ein Riesengeschäft. Man spricht von einer Größenordnung von 6 Milliarden DM. Dieses Geschäft will man machen. Diesen Auftrag will die deutsche Rüstungsindustrie, hier Krauss-Maffei, haben - Moral hin, Menschenrechte her. Das zweite Argument, was eine gewisse Logik hat, ist die Feststellung, daß die Türkei unser NATO-Partner ist und dieses weit wichtiger sei als die Frage der Menschenrechte. Wir können ja künftig so verfahren, daß der Nachweis, daß Menschenrechte eingehalten werden, dadurch als erbracht gilt, daß jemand Mitglied der NATO ist. Diese Doppelmoral wollen und können wir nicht akzeptieren. Glaubwürdigkeit entsteht aus Geradlinigkeit und nicht aus der Art und Weise, wie man hier mit doppelter Moral umgeht. ({2}) Um was es eigentlich geht, wird in der Öffentlichkeit natürlich nicht so deutlich gesagt. Wer nämlich für die Menschenrechte im Kosovo Krieg geführt hat, steht jetzt schlecht da, wenn er der Türkei, die fortwährend Menschenrechte verletzt und einen Krieg gegen die Kurden führt, Waffen liefert. Ich will mich noch ein wenig mit den Argumenten, die für dieses Geschäft in der Öffentlichkeit genannt wurden, auseinandersetzen; das ist nämlich sehr interessant, weil diese doch schon ein wenig eigenartig sind. Da heißt es: Wer Waffenlieferungen verneint, blockiert den Weg der Türkei nach Europa. Seit wann führt eigentlich der Weg nach Europa über Waffen? Wenn das für die Türkei gilt, muß auch gelten, daß wir allen anderen beitrittswilligen Ländern Waffen liefern. Das hieße also für den Weg nach Europa: Raketen für Rumänien, Granaten für Albanien, U-Boote für Estland. Oder wie wird hier Politik gemacht? Unabhängig davon, ob man für die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union ist, ist festzuhalten, daß der Weg der Türkei nach Europa ernsthaft nur über Anerkenntnis, Achtung und Einhaltung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Beendigung des Krieges gegen Kurdinnen und Kurden und die Sicherstellung autonomer Rechte für diese führt. ({3}) Ähnlich absurd ist aus meiner Sicht das Argument, man würde die Türkei demütigen - ich glaube, das kam vom Kollegen Struck -, wenn man ihr keine Waffen verkauft. Wenn das ein Argument für Waffenexporte ist, darf man auch keine anderen Länder „demütigen“. Dann kann man gleich Waffen an alle liefern, die es wollen. Also frischauf nach Kolumbien oder dorthin, wo noch Waffen gebraucht werden; liefert sie! So wird man sagen können, wenn das das Argument ist. Besonders überraschend fand ich das Argument, in der Türkei habe sich in puncto Menschenrechte ja einiges getan. Die „FAZ“ hat das zugegebenermaßen etwas zynisch, aber durchaus zutreffend kommentiert. Sie hat gefragt: Was hat sich getan? - Die PKK hat den Krieg eingestellt, die Türkei allerdings nicht. - Nichts anderes hat sich im wesentlichen hinsichtlich der Achtung von Menschenrechten in der Türkei getan. ({4}) Das letzte Argument, daß ich nennen will, kommt aus den Reihen der Union. Es lautet: Wenn wir nicht liefern, liefern andere. Dieses Argument hat eine besondere Qualität. Wenn sich jemand vor Gericht mit den Worten verteidigen würde - wir hatten ja gerade eine juristische Debatte -, „Wenn ich ihn nicht totgeschlagen hätte, hätte ihn jemand anderes totgeschlagen“, dann wäre das ein wenig überzeugendes Argument für einen Freispruch. ({5}) - Ja, ist ja klar. - Auch dieses Argument kann man nicht gelten lassen. Lassen Sie mich zum Schluß etwas zu den inneren Debatten zwischen Regierung und Opposition sagen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Nein, das darf ich Ihnen leider nicht mehr erlauben, weil Sie Ihre Redezeit überschritten haben und wir gerade bei der Aktuellen Stunde sehr genau auf die Einhaltung der Redezeit von fünf Minuten achten. Es tut mir leid.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Schade. Das wäre aber schön geworden. Dann schließe ich meine Rede mit einem Satz an die Kolleginnen und Kollegen der Grünen: Es ist eure Glaubwürdigkeit, die ihr aufs Spiel setzt. ({0}) Ihr verspielt diese Glaubwürdigkeit, und ihr werdet sie nicht wiedererringen, wenn ihr euch nicht diesem Waffengeschäft verweigert. Schönen Dank. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gernot Erler.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ausgangspunkt der heutigen Debatte ist ein falscher Eindruck in der öffentlichen Wahrnehmung. Herr Kollege Gehrcke, Sie haben mit dem ständigen Gerede von „diesem Waffengeschäft“ dieses leider fortgesetzt. Der Bundessicherheitsrat hat am 20. Oktober beschlossen, einen Testpanzer Leopard 2A5 zur Erprobung in der Türkei freizugeben. Tagelang danach wurden wir gefragt, was denn ein Ja zur Lieferung von 1 000 Kampfpanzern für eine politische Wirkung haben werde. Diese Fragen waren dreifach falsch. Erstens handelt es sich um eine Lizenzproduktion, über die erst im Jahre 2001 die Entscheidung gefällt wird; die Produktion würde dann in den Jahren 2004 bis 2014 erfolgen. Zweitens hat die Türkei in dieser Frage überhaupt noch nicht entschieden, und drittens - und das ist das Entscheidende - hat der Bundessicherheitsrat das Ja zu diesem Lizenzgeschäft überhaupt nicht gegeben, im Gegenteil. Es sind drei Beschlüsse gefaßt worden. Verbunden mit der Freigabe dieses einen Testpanzers ist noch am selben Tag eine offizielle Mitteilung an den türkischen Botschafter und die türkische Regierung ergangen, daß es sich dabei eben nicht um eine Entscheidung in der Hauptsache handelt, sondern daß diese erst im Lichte der politischen Entwicklung zum Zeitpunkt der Entscheidung getroffen werden wird. Um das noch deutlicher zu machen, hat der Bundessicherheitsrat, auch zeitgleich damit, ein Nein zur Lieferung von Komponenten für eine Panzerhaubitze ausgesprochen, eben weil diese unter Umständen in innertürkischen Auseinandersetzungen eingesetzt werden kann. Wäre es tatsächlich zum jetzigen Zeitpunkt zu der Entscheidung über dieses Lizenzgeschäft gekommen, hätte es durchaus gute Gründe gegeben, ein Nein zu sagen. Wir sind in der Tat ernstlich besorgt über die Menschenrechtssituation in der Türkei. Der Kollege Rudolf Bindig wird dazu noch nähere Ausführungen machen. Auch die EU ist sehr besorgt. Wir haben ebenfalls den Eindruck, daß die Chancen, die jetzt für eine Beendigung des Kurden-Konfliktes bestehen, von der türkischen Regierung nicht so wahrgenommen werden, wie uns das wünschenswert erscheint. Die europäischen Staaten und ganz besonders die Bundesrepublik sind außerordentlich daran interessiert, daß sich die türkische Politik jetzt ändert. Alle diese Überlegungen müssen dann angestellt werden, wenn über die Hauptsache entschieden wird, wenn die Türkei tatsächlich das deutsche Modell auswählt. Dann wird der Bundessicherheitsrat in der Tat sorgfältig prüfen müssen, ob ein solcher Lizenzvertrag im Einklang mit den politischen Grundsätzen für den Rüstungsexport steht. Er wird ferner prüfen müssen, ob er mit dem Code of Conduct, dem europäischen Verhaltenskodex für Waffenexporte, in Einklang steht und ob er mit unserem ausgeprägten Interesse im Einklang steht, daß sich die Menschenrechtssituation in der Türkei tatsächlich und nachprüfbar verbessert. Diese Unterscheidung zwischen der Frage „Testpanzer heute?“ und erneuter Prüfung im Fall eines Lizenzbegehrens im Jahr 2001 entspricht den Grundsätzen der europäischen Türkeipolitik. ({0}) Herr Gehrcke, Sie haben fast ein Feindbild von der Türkei aufgebaut. Sie wollen der Türkei im Grunde genommen keine Hoffnung machen und keine Perspektive geben. Wir aber halten die Türkei für einen ganz wichtigen Partner. Deswegen glauben wir, daß durch die europäische Politik und auch durch das Bemühen, die Türkei zu einem offiziellen EU-Beitrittskandidaten zu machen, positive Impulse für die türkische Politik ausgehen können. Darin liegt der entscheidende Unterschied. In diesem Sinne ist auch die Entscheidung des Bundessicherheitsrates zu verstehen. ({1}) Wir schließen nicht aus, daß in zwei Jahren eine andere Situation bestehen könnte. Wir sind aber nicht so pessimistisch und halten es für möglich - wir unterstützen entsprechende Anstrengungen -, daß Änderungen erfolgen. ({2}) Mir ist bewußt, daß diese differenzierte Position Hoffnungen und Erwartungen enthält. ({3}) Mir ist auch bewußt, daß man diese Haltung als unrealistisch kritisieren kann. Wie die Diskussion in den letzten Tagen gezeigt hat, ist unsere Position mißverstanden worden. Gerade deswegen möchte ich betonen: Die Bundesregierung und die sie stützenden Koalitionsfraktionen wollen einen Politikwechsel hinsichtlich des Wirkungsdreieckes Waffenlieferung, Friedenspolitik und Menschenrechte. Wir wollen deshalb die politischen Grundsätze für den Rüstungsexport weiterentwickeln. Es kann nicht sein, daß zivilisierte Länder Waffen in Regionen liefern, wo diese Waffen für innere Konflikte oder in Nachbarschaftskriegen eingesetzt werden, und daß am Ende die gleichen Länder aufgefordert werden, durch bewaffnete Interventionen diese Konflikte zu beenden. Dazu ist ein Politikwechsel nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa notwendig. ({4}) Ich sage an die Adresse von allen, die sich in der Friedensbewegung, in der Menschenrechtsbewegung und in Abrüstungsinitativen engagieren: Sie können sich auf diese Bundesregierung und auf die sie tragenden Fraktionen in diesem Punkt verlassen. ({5}) Wir ziehen an einem Strang, und wir werden in diesem Bereich einen Politikwechsel durchführen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ruprecht Polenz.

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am Ende dieser Sitzungswoche ist kaum noch ein Vorwurf übriggeblieben, den sich SPD und Grüne in dieser Angelegenheit sich nicht schon selbst gegenseitig gemacht hätten. Sie haben jetzt den Panzerstreit mit einem Formelkompromiß beendet. Ich sage Ihnen aber voraus: Was Ihnen nach diesen zerstrittenen Koalitionstagen als Rettungsanker erscheint, das könnte sich noch als Mühlstein um den Hals Ihrer Koalition erweisen, wenn Sie nämlich im Jahre 2001, Herr Bundeskanzler, also in Sichtweite der nächsten Bundestagswahl, dazu gezwungen werden, die Widersprüche Ihrer Türkeipolitik aufzulösen. Es ist widersprüchlich, sich für die Anerkennung der Türkei als offizieller EU-Beitrittskandidat einzusetzen der Türkei also eine günstige Entwicklungsprognose zu stellen ({0}) und sich gleichzeitig dagegen zu wehren, daß der NATO-Partner Türkei seine Armee möglicherweise mit dem deutschen Panzer Leopard 2 modernisieren will, weil man kein Vertrauen in die zukünftige Politik der Türkei hat. Es ist widersprüchlich - daran ändern auch Ihre Verrenkungen nichts, Herr Erler -, so zu tun, als habe die Zustimmung zur Lieferung des Testpanzers rein gar nichts damit zu tun, daß es letztlich um die Beschaffung von 1 000 Panzern geht. Denn wer die Zustimmung zur Beteiligung an einem Ausschreibungsverfahren gibt - es geht nicht nur um einen Panzer, der in einem Wettschießen eingesetzt wird und dann wieder zurückgeschickt wird, sondern es geht um ein Ausschreibungsverfahren -, der muß schon neue Gründe anführen, wenn er später dem Gesamtgeschäft seine Zustimmung verweigern will. Ansonsten hätte er jetzt nicht zustimmen dürfen. ({1}) Es ist widersprüchlich, wenn gegen das Panzergeschäft die Lage der Menschenrechte in der Türkei ins Feld geführt wird, aber gleichzeitig der deutschfranzösische Kampfhubschrauber Tiger offenbar anstandslos geliefert werden kann. Der 60 Tonnen schwere Leopard eignet sich nicht zum Einsatz in den Hochgebirgen Ost-Anatoliens, was man vom Tiger nicht sagen kann. Bekanntlich hat die Türkei einen Prototyp des Tigers für Testflüge erhalten. Sie will 145 Tiger kaufen. Es ist widersprüchlich, wenn Sie, Herr Bundeskanzler, gemeinsam mit dem Premierminister Jospin die Fusion von Aerospatiale-Matra und DASA feiern, weil die europäische Rüstungsindustrie damit leistungsfähiger und gegenüber den USA konkurrenzfähiger wird, gleichzeitig aber die deutschen Rüstungsexportrichtlinien deutlich verschärft werden sollen, obwohl sie in ihrer bisherigen Fassung im Vergleich zu Frankreich oder Großbritannien bereits außerordentlich restriktiv gefaßt sind. Ich sage Ihnen voraus: Anstatt aus Ihren gegenwärtigen Schwierigkeiten herauszukommen, manövrieren Sie sich mit diesem Schritt in viel größere Konflikte hinein. Wollen Sie denn gegenüber Frankreich den Verzicht auf die Lieferung der Kampfhubschrauber an die Türkei durchsetzen? Dann würde ich eine Sondermission von Frau Kollegin Wieczorek-Zeul empfehlen. Sie hat Erfahrungen, wie man die Franzosen zu neuen Einsichten bringt, wenn ich an das Mururoa-Abenteuer denke. ({2}) Diese Widersprüche in Ihrer Türkeipolitik, meine Damen und Herren, werden Sie in wenigen Monaten einholen. Im Lagebericht des Außenministers wird zu lesen sein, ob die Türkei Fortschritte bei den Menschenrechten gemacht hat. Wenn drinsteht, daß das nicht der Fall ist, dann müssen Sie zugeben, Herr Außenminister, daß es nichts geholfen hat, der Türkei einen offiziellen EU-Kandidaten-Status zu geben. Wenn drinsteht, daß es Fortschritte gibt, dann werden Sie von den Grünen die ersten sein, die diese Aussage bezweifeln. Die Grünen legen großen Wert darauf - das werden wir gleich noch einmal hören -, mit der Entscheidung des Bundessicherheitsrats nach wie vor nicht einverstanden zu sein. Damit hat das Garzweiler-Syndrom jetzt auch die deutsche Außenpolitik eingeholt. ({3}) An der rotgrünen Koalition in Nordrhein-Westfalen kann man sehen: Handlungsfähig ist man nur dort, wo sich der linke Flügel der SPD mit den Grünen einig ist. Wo beide zusammen nicht in der Lage sind, den Rest der SPD zu überstimmen, wird ausgeklammert, verschoben, vertagt - wie in Garzweiler. ({4}) Das ist schon schädlich genug für die Innenpolitik, Herr Kollege Bindig. In der Außenpolitik können wir uns rotgrünes „Garzweiler“ nicht leisten. ({5}) Viele Kommentatoren, Herr Außenminister, haben den rotgrünen Panzerstreit zum Anlaß genommen, darüber nachzudenken, ob Sie, Herr Außenminister, tatsächlich so gut sind, wie Sie von den Kommentatoren früher eingeschätzt worden sind. ({6}) Es gab wenig schmeichelhafte Urteile. Sie hätten den Überblick verloren, war zu lesen. Was bisher als Zeichen von tiefgründiger Nachdenklichkeit empfunden wurde, wenn Sie - so wie jetzt - im Fernsehen Ihre Stirn in Falten gelegt haben, werden in Zukunft vielleicht immer mehr mit dem Ritter von der traurigen Gestalt assoziieren. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angelika Beer.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Neben sicherheits-, friedens- und entwicklungspolitischen Fragen kommt der Beachtung der Menschenrechte bei der Entscheidung über Rüstungsexporte eine vorrangige Rolle zu. Wenn wir den gegenwärtigen innenpolitischen Zustand in der Türkei in Rechnung stellen, dann ist die Ablehnung von Panzerlieferungen, auch der Lieferung eines einzelnen Panzers, zwangsläufig. Alle Kriterien, die wir zugrunde legen müssen, um vernünftige und verantwortliche Entscheidungen treffen zu können, werden von der Türkei derzeit nicht erfüllt. ({0}) Deswegen sind meine Partei und meine Fraktion in der Tat der Meinung, daß es falsch war, einen Testpanzer an die Türkei zu schicken. Es war ein falsches Signal. ({1}) Für uns geht es jetzt darum, Kriterien zu entwickeln wir wollen uns die Mühe machen, Herr Polenz, die Sie sich 16 Jahre lang erspart haben -, um in der Zukunft einen Maßstab zu haben, der sicherstellt, daß Rüstung nicht dazu benutzt wird, im eigenen Land gegen Minderheiten, gegen Opposition vorzugehen, daß das Militär im eigenen Land nicht völkerrechtswidrig eingesetzt wird, zum Beispiel in der Türkei gegen unterdrückte Kurden. Wir wollen sicherstellen, daß Rüstungsexporte in der Tat so restriktiv gehandhabt werden, daß die Menschen in Krisen- und Spannungsregionen nicht auch noch durch Rüstungslieferungen von außen aufgeheizt werden. Das ist unser Verständnis von präventiver Außen- und Sicherheitspolitik. Dafür wollen wir gern Garant sein. Hier können Sie zwischen Rot und Grün kein Blatt und auch keinen Leo schieben. Das ist die politische Grundaussage. ({2}) Wir haben endlich eine Politik entwickelt, die ganz klar signalisiert: Wir haben ein starkes Interesse an der Integration der Türkei in die Europäische Union. Dies haben Sie mit Ihren Vorurteilen des christlichen Clubs über Jahre verhindert. Sie haben mit dem NATO-Partner Türkei ein unfaires Spiel gespielt. Das ist beendet, und wir wollen der Türkei eine Zukunftsperspektive bieten. ({3}) Es ist absurd, zu sagen, eine Beitrittsperspektive hinsichtlich der Europäischen Union sei gleichbedeutend mit „open door“, und wir müßten jetzt die Armee mit jenen Panzern ausstatten, die bereits in der Vergangenheit - hierbei ist es übrigens egal, ob dies deutsche oder andere Panzer waren - gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt wurden. Dies kann niemand negieren. Es gibt genügend sowohl grüne als auch andere Kollegen hier im Haus, die dies mit eigenen Augen gesehen haben. Wir berufen uns dabei auf die vom Europäischen Rat genannten politischen Voraussetzungen für die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union. Ich will hier ganz klar sagen: Für uns bedeutet das: Kriterium für die Entscheidung über die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union ist vor allem die Einhaltung der Menschenrechte in der Türkei. Das gleiche Kriterium verwenden wir, wenn es darum geht, die NATO-Partner mit Panzern, Gewehren oder anderen Mitteln auszustatten, die bislang gegen die internationalen Vereinbarungen im Inneren eingesetzt wurden. Meine verehrten Damen und Herren, ich will damit deutlich machen, daß es die Türkei ist, die darüber entscheidet, wie wir uns ihr gegenüber verhalten. Die Türkei hat jedes Instrument in der Hand, um den Demokratisierungsprozeß voranzutreiben und dementsprechend in aller Wertigkeit und in allen politischen Bereichen mit uns zusammen zukünftig auch in anderen Regionen für die Einhaltung der Menschenrechte zu kämpfen. Menschenrechte - das will ich hier unterstreichen dürfen nicht gegen Arbeitsplätze ausgespielt werden. Die Bundesregierung bemüht sich über verschiedene Maßnahmen, die Schaffung von Ausbildungs- und ArRuprecht Polenz beitsplätzen nicht nur zu fördern, sondern diese auch sicherzustellen. Erste Erfolge deuten sich an. Jeder weiß, daß gerade die Rüstungsindustrie, die immer mit dem Arbeitsplatzargument arbeitet, mitnichten Rücksicht auf Arbeitsplätze in der eigenen Branche genommen hat, wenn es darum ging, zu fusionieren und zu rationalisieren. Die Menschen sind en gros auf die Straße gesetzt worden. Wir erwarten von der Industrie, daß sie endlich den politischen Anspruch, von einer monotonen Produktion wegzukommen und sich auf die zivile Produktion zu konzentrieren - auch dort gibt es Fortschrittsbereiche -, also Konversionsprozesse, für sich positiv begreift und nicht versucht, mit einem Totschlagargument letztlich die Menschenrechte zu negieren. Vor diesem Hintergrund möchte ich ganz klar sagen: Einen Kotau vor der Rüstungsindustrie wird es mit uns, wenn es um die Einhaltung der Menschenrechte und der Garantien, zum Beispiel auch der Rechte des kurdischen Volkes in der Türkei, unversehrt zu leben, geht, nicht geben. Unsere Kritik wird bleiben, wenn ein NATO-Partner milliardenschwere Aufrüstungsprogramme beschließt und gleichzeitig die Erdbebenopfer der grausamen Katastrophe in diesem Jahr in Zelten, ohne daß ihnen Häuser wiedergegeben werden, in einen Winter geschickt werden. Unsere Kritik wird bleiben, wenn es keinen Wiederaufbau der zerstörten kurdischen Dörfer gibt

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluß kommen.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

ich komme zum Ende -, aber statt dessen die Menschen weiter in Flüchtlingslagern untergebracht werden. Zum Schluß: Bleiben vor allem Sie von der PDS sachlich. ({0}) Wenn es darum geht, ein Land mit Schutz gegen Giftgasangriffe auszustatten,

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, bitte.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- ist das human und international vereinbar und hat nichts mit C-Waffen-Produktion zu tun. Vielen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Außenminister hat sich entschuldigt, weil er ein Gespräch mit dem griechischen Außenminister zu führen hat. Ich respektiere seine Entschuldigung, aber nicht den Grund. Denn ich glaube, wir können erwarten, daß der Außenminister an einer so wichtigen Debatte bis zum Schluß teilnimmt. ({0}) Wir in der F.D.P. haben uns die Entscheidung in dieser Frage natürlich nicht leichtgemacht. Die Frage der Menschenrechtsverletzungen ist schon angesprochen worden. Sie macht uns Sorgen, insbesondere im Südosten der Türkei, wo die Armee daran nicht unbeteiligt ist. Aber wir führen die Debatte natürlich nicht einseitig. Uns machen die Menschenrechtsverletzungen der PKK in der Türkei, in Europa, aber auch in unserem eigenen Land in gleicher Weise Sorge. Wir stimmen - um unsere Position deutlich zu machen - dennoch der Lieferung eines Testpanzers in die Türkei zu. Die Gründe dafür sind klar und einsichtig. Zunächst einmal wollen wir die Türkei in der NATO halten, weil wir so die beste Chance sehen, die Türkei in das Wertesystem der NATO einzubinden. Außerdem wollen wir die Möglichkeiten der Einwirkung auf das Militär, das wie keine andere Kraft in der Türkei für die Trennung von Religion und Staat steht - jeder weiß, welche Sorge wir uns hinsichtlich der Stärkung der islamischen Fundamentalisten machen müssen -, erhalten. Als regelmäßig übender Reservist ist mir im übrigen klar, daß schwere Kampfpanzer das denkbar ungeeignetste Mittel sind, um leichte Guerillatrupps, wie sie die PKK einsetzt, zu bekämpfen. Das zeigt sich auch daran, daß wir über 400 Leopard-1-Panzer in die Türkei geliefert haben, ohne daß ein einziger Fall bekanntgeworden wäre, daß die Panzer bei Menschenrechtsverletzungen eingesetzt worden wären. Aber der Kollege Polenz von der CDU hat schon darauf hingewiesen, daß wir in diesen Tagen einen ganz seltsamen Vorgang erleben. Die für die Guerillabekämpfung viel besser einsetzbaren Hubschrauber werden als Testhubschrauber in die Türkei geliefert. Dabei hat man allerdings einen Umweg gewählt, nämlich über Frankreich, und wir haben nichts davon gehört, daß der Bundesaußenminister dagegen irgend etwas unternommen hätte. ({1}) Damit komme ich zum Bundesaußenminister. Deshalb bedaure ich ganz außerordentlich, daß er hier nicht anwesend ist. ({2}) Ich entnehme der rotgrünen Koalitionsvereinbarung, daß man verabredet hat, nicht gegeneinander abzustimmen, wenn es um eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung geht. Aber der Bundesaußenminister hat sich überstimmen lassen. ({3}) Das ist - um kurz daran zu erinnern - keinem seiner liberalen Vorgänger passiert. ({4}) Das macht zwei Dinge deutlich: erstens, daß den Grünen diese Frage offensichtlich längst nicht so wichtig ist, wie sie es hier im Bundestag behaupten, ({5}) denn sonst hätten sie sofort die Karte der Koalitionsvereinbarung ziehen müssen, ({6}) und zweitens, daß die Grünen, nur um weiterhin in der Regierung bleiben zu können, den letzten Rest ihrer Eigenständigkeit aufgegeben haben. ({7}) Ich habe im übrigen mit Interesse gelesen, daß der Bundesinnenminister, der ein scharf denkender Jurist ist, auf die Strafvorschrift des § 353b StGB, nämlich die Verletzung von Dienstgeheimnissen, hingewiesen hat. Wer in den letzten Tagen in den Zeitungen gelesen hat, welche Einzelheiten dieser - aus gutem Grund - geheimen Sitzungen vom Bundesaußenminister mitgeteilt worden sind, weiß, daß ausschließlich die Tatsache, daß die Bundesregierung nie die erforderliche Strafermöglichung stellen würde, den Bundesaußenminister vor dem Staatsanwalt schützt. Wer in solcher Weise wie der Bundesaußenminister die Interessen unseres Landes verletzt, wer so sehr seine Eigenständigkeit aufgegeben hat, kann unser Land nicht weiter nach außen vertreten. ({8}) Er sollte sein Amt aufgeben. Das ist unsere Position, die ich hier mit Klarheit vortrage. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rudolf Bindig.

Rudolf Bindig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000181, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach der ersten Runde dieser Aktuellen Stunde zeichnet sich ab, daß immerhin vier Fraktionen eine Position haben erkennen lassen, über die man reden kann, während eine Fraktion absolut verborgen hat, wie sie sich zu verhalten gedenkt und welche Entscheidung sie fällen würde. Vielleicht erfahren wir das ja noch. ({0}) Ich möchte mit meinem Beitrag dokumentieren, daß sich die SPD-Fraktion auch bei dieser schwierigen Entscheidung sehr wohl bewußt ist, wie die menschenrechtliche Situation in der Türkei aussieht. Sie ist ohne Zweifel zutiefst besorgniserregend. Die Türkei ist zwar formal ein Staat mit entwickelter Gesetzgebung und Rechtsprechung und nach der Verfassung ein die Menschenrechte achtender Rechtsstaat; sie hat auch wichtige internationale Abkommen zum Schutz der Menschenrechte ratifiziert. Die Menschenrechtspraxis in der Türkei sieht allerdings ganz anders aus. Übereinstimmend sagen uns alle vorliegenden Informationen, daß die Menschenrechte in vielfältiger Form schwerwiegend mißachtet werden. Es kommt zu willkürlichen Verhaftungen, es werden Menschen wegen ihres gewaltfreien politischen Widerstandes festgenommen, es kommt zu Folterungen durch staatliche Sicherheitskräfte, es fallen Menschen dem Verschwindenlassen zum Opfer, Personen werden Opfer extralegaler Hinrichtungen, die Versammlungsfreiheit ist eingeschränkt, die Meinungs- und Pressefreiheit wird in gezielten Einzelfällen eingeschränkt, es gibt Repressionen gegen Schriftsteller und Intellektuelle, Menschenrechtsaktivisten werden schikaniert, verfolgt und unterdrückt. ({1}) Die meisten Menschenrechtsverletzungen gibt es im Zusammenhang mit dem Kurdenkonflikt. Die erschreckenden Zahlen dazu sind bekannt. Allerdings muß darauf hingewiesen werden, daß Menschenrechtsverletzungen auch von Oppositionsgruppen ausgehen. Sowohl die PKK als auch islamistische und linksextremistische Gruppierungen behandeln Menschen in brutalster Weise. Sie töten Menschen, sie nehmen Gefangene. Gerade die PKK - wir haben das Problem der Kindersoldaten oft diskutiert - hat über tausend Kinder unter Waffen und mißbraucht sie in Kampfeinsätzen. Trotz dieser langen Tatsachen- und Problemliste muß gesehen werden, daß sich die Türkei in einer Situation des politischen Wandels und auch in einer Umbruchssituation befindet. Es gibt eine wachsende Zahl von Meinungsträgern in Gesellschaft und Politik, die in der Kurdenfrage nach Wegen suchen, diese aus einem militärischen Konflikt in einen politischen Prozeß überzuleiten. Ebenso gibt es etliche Richter, Parlamentarier und Staatsoffizielle, die im Land für eine stärkere Beachtung der Menschenrechte eintreten. Es gibt Menschenrechtsvereinigungen mit Tausenden von Mitgliedern, die in vielen Städten und unter großem Risiko tätig sind. Immerhin ist es auch möglich, in der Türkei größere Veranstaltungen zum Thema der Menschenrechte durchzuführen. Warum erwähne ich dies alles im Zusammenhang mit den konkreten Entscheidungen des Bundessicherheitsrates, die Anlaß dieser Debatte sind? Die Türkei muß auch aus menschenrechtlicher Sicht differenziert gesehen werden. Es zeigt sich, daß die vielfältigen Kontakte zu den demokratischen Staaten Europas, die intensive Kommunikation auf allen Ebenen und die Kritik an den menschenrechtlichen Zuständen in der Türkei Wirkung zeigen. Es lohnt sich also, die Türkei mit klaren Perspektiven und Bedingungen, nämlich den KSZE-Bedingungen von Kopenhagen, weiter an Europa heranzuführen, die Türkei im Sicherheitsbündnis zu halten und von außen und innen zu beeinflussen. ({2}) Das bedeutet auch, die Türkei nach den Regeln des Bündnisses zu behandeln, selbst wenn dies gelegentlich zu schwierigen Entscheidungen führt und wenn es schwierig ist, diese Entscheidungen öffentlich zu vertreten. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rosmanith.

Kurt J. Rossmanith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001887, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, die Aufgeregtheit der vergangenen Tage bei den Grünen, insbesondere bei dem Herrn Außenminister, Joseph Fischer, ist für kaum einen der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, die bzw. der sich ernsthaft mit Sicherheitspolitik und mit der Frage des Vertrauens gegenüber einem NATO-Partner auseinandersetzt, mehr nachvollziehbar. ({0}) Ich muß hier einfach feststellen, daß dies eher eine Opfergabe ist; Hauptgrund ist wohl der rasante Vertrauensverlust, den die Partei der Grünen in den zurückliegenden Monaten bei den Wahlen erfahren hat. Der Kollege Jörg van Essen hat darauf hingewiesen, daß sie sehr wohl hätten verhindern können, daß dieser Testpanzer an die Türkei geliefert wird. Ich will keinen Zweifel daran lassen - das hat schon der Kollege Polenz gesagt -, daß wir einer verteidigungstechnischen Kooperation mit dem wichtigen NATO-Partner Türkei natürlich zustimmen. Wir haben sie ja auch realisiert: Deutschland hat der Türkei im Rahmen der NATO-Verteidigungshilfe zwischen 1964 und 1995, also über 30 Jahre hinweg, Verteidigungsgüter im Wert von 6,5 Milliarden DM überlassen. Selbstverständlich wurde in dieser Zeit auch darauf geachtet, daß die Verwendungsbeschränkungen, die natürlich damit verbunden waren, eingehalten wurden, das heißt, daß diese Waffentechnik nur für die Sicherung der Außengrenzen und im Rahmen des Bündnisses verwendet wurde. ({1}) - Selbstverständlich, Herr Kollege; ich komme noch darauf. Kurzfristig haben wir diese Zusammenarbeit unterbrochen - 1992, 1994 und 1995 -, weil Ungereimtheiten aufgetreten waren, weil Bedenken geäußert wurden, daß Fahrzeuge, die wir geliefert hatten, auch im Innern, gegen die PKK, eingesetzt wurden. Aber Sie sehen, daß wir - von 1982 bis 1998, genauso wie die Vorgängerregierungen von 1964 bis 1982 - eine verantwortliche Politik geleistet haben, auch in diesem ganz konkreten Fall. Ich kann deshalb in diesem Fall, der sich mit der Lieferung eines Panzers zu Testzwecken an die Türkei befaßt, nur eine künstlich hochgezogene Entrüstungsschau der Grünen erkennen. Ich glaube, wir müssen aufpassen, daß der Belehrungsstil grüner Politik, mit dem schon Bundesumweltminister Trittin im Ausland einen erheblichen Schaden angerichtet hat, nun nicht auch noch das Verhältnis zu unserem wichtigen Partner Türkei belastet. Die Türkei ist ein langjähriger und verläßlicher NATO-Partner gewesen und ist es noch heute. Deshalb muß es möglich sein, daß wir mit der Türkei eine offene Sprache führen und auch über Defizite in der Frage der Menschenrechte diskutieren. Genauso muß es eine Selbstverständlichkeit sein, daß man bereit ist, einem Bündnispartner Vertrauen zu schenken, und zwar auch aus eigenem sicherheitspolitischen Interesse heraus. Man sollte endlich damit aufhören, zu behaupten, wir würden nur rein wirtschaftliche Gründe ins Feld führen. Natürlich geht es auch um wirtschaftliche Aspekte, wenn einmal die Frage nach Lieferung der 1 000 Leo 2, was 6 000 Arbeitsplätze tangieren würde, ansteht. Aber wir in der Bundesrepublik Deutschland benötigen eine eigene Rüstungstechnik. Diese ist nur aufrechtzuerhalten, wenn wir unsere Verteidigungstechnologie auch für unsere Partner öffnen. Die Art und Weise, wie diese Bundesregierung - lassen Sie mich das zum Schluß noch sagen -, insbesondere der grüne Teil dieser Bundesregierung, mit diesem Thema umgegangen ist, trägt meines Erachtens nur zur Polarisierung bei und belastet das Verhältnis zur Türkei. Damit wird in letzter Konsequenz genau die Kooperationsbasis zerstört, die meines Erachtens Voraussetzung dafür ist, daß unserer berechtigten Kritik in der Türkei entsprechendes Gehör geschenkt wird. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Claudia Roth.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Dissens ist klar; er ist bekannt; er ist gar nicht geheim. Die Entscheidung des Bundessicherheitsrats vom 20. Oktober dieses Jahres, einen Leo 2 zu Testzwecken an die Türkei zu liefern, ist aus meiner, aus grüner Sicht ein Fehler. Aber ich bin nicht bereit, auf der parlamentarischen Bühne rotgrüne Kontroversen aufzuführen ({0}) oder uns gar, Herr Polenz, von Ihnen vorführen zu lassen. Ich möchte mich vielmehr mit einer Frage auseinandersetzen, die uns seit vielen Jahren umtreibt, nämlich die Frage: Was können wir dazu beitragen, die Demokratie, die Menschen- und Minderheitenrechte sowie die politische Lösung der kurdischen Frage in der Türkei zu befördern, und welche Rolle können die Europäische Union und die Integration der Türkei in die Europäische Union dabei spielen? Wenn man - das ist richtig und sinnvoll - auf die Politik der alten Bundesregierung zurückblickt, dann muß man das Fazit ziehen, daß weder die Demokratisierung noch die Integration der Türkei in die EU vorangetrieben worden ist. Diese Politik war vor allem geprägt von sehr eigensüchtigen, von geostrategischen, von ökonomischen und - Herr Rossmanith hat darauf hingewiesen - von militärischen Interessen. Sie war tendenziell auch von einer rassistischen Ausgrenzung geprägt. Nehmen wir das Beispiel der Zollunion: Sie nutzt kurz- und mittelfristig vor allem den wirtschaftlichen Interessen der Europäischen Union. Der Hebel Zollunion wurde gerade nicht eingesetzt, um den Abschluß dieser Union an die Verbesserung der Menschenrechtslage und die Demokratisierung der Türkei zu binden. Keine Forderung nach einem Ende der völkerrechtswidrigen Übergriffe der Türkei auf den Irak wurde gestellt. Keine Forderung nach Freilassung der kurdischen Abgeordneten um Leyla Zana wurde gestellt. Keine Forderung nach einer politischen Lösung der kurdischen Frage oder nach Garantie der Meinungsfreiheit wurde gestellt. ({1}) - Dazu komme ich gleich, Herr Polenz. - Statt dessen wurde von Bundeskanzler Kohl in Bonn ausgerechnet Frau Ciller als Garantin für Demokratie und gegen die Islamisierung präsentiert. Dabei war es gerade Frau Ciller, die unmittelbar nach Abschluß der Zollunion eine Koalition mit der islamischen Partei eingegangen ist und die nun zum Symbol für die Verstrickung der Politik in kriminelle Machenschaften wurde. Eigensüchtig war auch die systematische Aufrüstung der Türkei mit deutschen Rüstungsgütern. Dies war gut für das Geschäft der Rüstungsindustrie und ganz im Interesse des Schutzes der Ostflanke der NATO. Über den schmutzigen Krieg in den kurdischen Gebieten, den der verläßliche NATO-Partner, Herr Rossmanith, geführt hat, wurde einfach hinweggesehen. ({2}) Die konkrete Beitrittsperspektive wurde verweigert. Die Zollunion war eben nicht der erste Schritt, sondern das vorläufige Ende der Integration. Dies haben die Ergebnisse des Luxemburger Gipfels gezeigt. ({3}) - Jetzt halten Sie doch die Klappe! ({4}) Dieser Rückblick stellt für Rotgrün eine Herausforderung dar, es besser zu machen und unter Freundschaftsdienst Unterstützung für diejenigen zu verstehen, die für Demokratie, für Menschen- und Minderheitenrechte eintreten. Die Frage der letzten Tage war, was dafür die notwendigen und die besten Mittel und Möglichkeiten sind. Ich meine, daß Panzer der falsche Weg sind. ({5}) Es waren gerade deutsche Panzer und deutsche Waffen, die in den kurdischen Gebieten eingesetzt worden sind und durch die Menschenrechtsverletzungen möglich wurden. Gerade weil man sich bei Besuchen in den kurdischen Gebieten wie auf einem deutschen Truppenübungsplatz vorkommt - dieser Eindruck wurde übrigens auch durch die großzügige Schenkung von NVAGerät verstärkt -, haben wir heute eine ganz besondere Verantwortung. Mancher argumentiert nun, Panzer seien sinnvoll, um Einfluß in Ankara zu gewinnen. Ich halte das für ein ernstzunehmendes Argument, aber ich halte dieses Argument für falsch, weil es das Militär zu Partnern erklärt und dabei die Tatsache unterschlägt oder verharmlost, daß das Militär nicht Lösung, sondern Teil des Problems ist. ({6}) Das Militär ist nicht Garant der Stabilität und Bollwerk gegen den Islam, sondern das Militär ist ein großes Hindernis auf dem Weg der Türkei zur Demokratisierung. ({7}) Kritiker sagen, Herr Polenz: Wer die Türkei zum Kandidaten macht, der muß auch Panzer liefern. Ich glaube, das ist falsch; denn der Kandidatenstatus für die Türkei ist der Versuch, nach jahrzehntelanger unglaubwürdiger und doppelbödiger Politik überhaupt wieder politischen Einfluß zu bekommen. Ein gleichberechtigter Umgang mit den Kandidaten ermöglicht dann eine Beitrittsperspektive. Diese muß an die Kopenhagener Kriterien und an den Acquis communitaire, der zum Beispiel explizit die Todesstrafe verbietet, geknüpft werden. ({8}) Der Kandidatenstatus will eine politische Veränderungsdynamik bewirken. Er darf und er wird aber auf gar keinen Fall ein Blankoscheck sein, um zum Beispiel Rüstungsgeschäfte zwangloser abwickeln zu können. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist leider abgelaufen.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum letzten Satz. Angesichts Claudia Roth ({0}) der Realität in der Türkei bleibt für mich richtig: Die Verletzung der Menschenrechte, die Verweigerung von Minderheitenrechten, die fehlende Gewährleistung rechtsstaatlicher Grundsätze schließen den Export von Panzern in die Türkei aus. ({1}) Ich möchte mich für mein „flegelhaftes Verhalten“ entschuldigen. Ich sage nicht, Sie sollen die Klappe halten, sondern Sie sollten vielleicht besser zuhören. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Heidi Lippmann.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegin Claudia Roth, die Bekenntnisse zu Menschenrechten und Demokratie in der Türkei nehmen auch wir sehr ernst. Sie sind auch sehr glaubwürdig hier herübergekommen, doch leider haben wir in dem vergangenen Jahr rotgrüner Regierungspolitik keinerlei Erfolge gesehen. Wir sehen auch nicht, daß ein ernsthafter Wille vorhanden ist, in verschiedenen Bereichen auf die Türkeipolitik Einfluß zu nehmen. Sie haben hier kein Instrumentarium benannt, mit dem ein Demokratisierungsprozeß vorangetrieben werden soll. Die Debatte der vergangenen Tage hat zwar dankenswerterweise einmal verstärkt auf die Menschenrechtssituation in der Türkei hingewiesen, aber auch bewiesen, daß den Grünen der Erhalt ihrer Macht wichtiger ist als ihre moralische Integrität. ({0}) Doch wie der Außenminister schon gesagt hat: Wer Rüstungsgüter verbraucht, muß sie auch herstellen und verkaufen, sonst rechnet es sich nicht. Wer bietet sich da besser an als der NATO-Partner und neue EU-Kandidat Türkei, die ihren gesamten Rüstungsbestand modernisieren will? 145 Kampfhubschrauber Tiger, 25 Transportflugzeuge, 1 000 bis 2 000 Transportpanzer Fuchs, 500 000 Gewehre, Brückenlegepanzer, Bergepanzer, Flakpanzer, 500 Unimogs, sechs Fregatten, sechs Minenjagdboote, ein paar leichte Fregatten und Küstenpatrouillenboote, vier U-Boote, wobei die neue Regierung für zwei schon die Hermes-Bürgschaft in Höhe von 324 Millionen DM bewilligt haben soll, und, um das Ganze abzurunden, 1 500 Granatwerfer der Firma Heckler & Koch und diverse Munitionsbestellungen. Wohlgemerkt, diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, doch zu all den hier genannten Posten gibt es Voranfragen, Angebote bzw. bereits Anträge auf Bewilligung des Bundessicherheitsrates oder Bewilligungen selbst von Komplettlieferungen, Bestandteilen oder Lizenzen. Kommt es bei dieser Menge an martialischem Kriegsgerät eigentlich noch darauf an, ob man ein paar Kampfpanzer mehr oder weniger liefert? Für die deutsche Rüstungsindustrie ja; denn es ist ein lukratives Milliardengeschäft. Dahinter tritt auch die Debatte über die neuen Rüstungsexportrichtlinien zurück, die gleich zu Beginn des Regierungsantritts hätte geführt werden müssen und nicht erst jetzt, da das Kind in den Brunnen gefallen ist. Die Interpretation aus dem Auswärtigen Amt, Leopard-2-Kampfpanzer könnten nicht zur Bedrohung der kurdischen Zivilbevölkerung eingesetzt werden, ist ebenso falsch wie zynisch. Natürlich kann man Kampfpanzer gegen jedes Ziel und gegen jede Person einsetzen. Allein das Wissen um das Vorhandensein derartiger Geräte ist eine massive Bedrohung. Die Kollegin Beer hat es angesprochen: Wer durch die kurdischen Berge gefahren ist, sieht, wie auf jeder Bergkuppe Panzer aufgefahren sind, unzählige davon aus Deutschland. Das Szenario wird nicht besser, wenn noch weitere Panzer dazukommen. Es ist absolut unglaubwürdig, wenn man, wie die Grünen in den letzten Tagen, bei der Lieferung eines Test-Kampfpanzers ein derartiges Faß aufmacht, wenn einem die Entscheidung über die Probelieferung eines Kampfhubschraubers, die im Sicherheitsrat bereits vorher gefallen ist, kaum der Rede wert ist und wenn die Lieferung von Minensuchbooten vom BMZ mit Nachhaltigkeit erklärt wird. Es ist genauso unglaubwürdig, zu sagen, ein Labor zur Analyse chemischer Kampfstoffe sei eine rein defensive Maßnahme, da doch klar ist, daß man erst einmal chemische Kampfstoffe besitzen muß, um sie testen zu können. Aber vielleicht handelt es sich um defensives oder um humanes Gas, das dort getestet werden soll. ({1}) Entweder man entscheidet sich, daß die Türkei auf Grund der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen, der Demokratiedefizite, der Verfolgung und Vertreibung der kurdischen Bevölkerung, der Unterdrückung, der Folter in den Gefängnissen, der extralegalen Hinrichtungen keinerlei Waffen und Rüstungsgüter erhält, oder man verzichtet auf diese Schamgrenze und auf diese Rumeierei und sagt eindeutig, wie es ist: Wir brauchen aus wirtschaftlichen Gründen die Türkei ebenso wie Griechenland als Hauptabnahmeland für unsere Rüstungsprodukte, das auf Platz zwei liegt - unabhängig vom kalten Krieg dieser beiden Länder; wir sind ein Land, das weltweit im Export von Rüstungsgütern mit den USA, Frankreich und Rußland in der ersten Liga spielt; wir tragen mit dem Export unserer tödlichen Maschinerie dazu bei, den Kreislauf der Bedrohung und der Abschreckung weltweit in Gang zu halten. - Dies so darzustellen wäre wenigstens ehrlich, und die Frage der Menschenrechte würde nicht mehr länger instrumentalisiert. Wenn es Ihnen tatsächlich um die Stärkung der Türkei hin zu einem demokratischen Staat, hin zur Wahrung der Menschenrechte ginge, dann würden Sie die Türkei dabei unterstützen, ihr Bildungssystem und ihr Gesundheitswesen auszubauen, und dann würden Sie sie davon Claudia Roth ({2}) abhalten, Gelder aus dem Staatshaushalt für eine wahnsinnige Aufrüstung auszugeben, die gegen das eigene Volk eingesetzt wird. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, die fünf Minuten Redezeit sind überschritten.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich komme zum Schluß, Frau Präsidentin. Wir fordern Sie auf: Holen Sie die Entscheidung über Rüstungsexporte heraus aus dem Bundessicherheitsrat hinein in die Öffentlichkeit! Herr Bundeskanzler, es darf nicht länger Ihnen überlassen bleiben, darüber zu entscheiden. Stellen Sie jegliche militärische und Rüstungszusammenarbeit mit der Türkei ein! Sagen Sie deutlich: Keine Panzer, keine Kampfhubschrauber, keine U-Boote und keine chemischen Labors für die Türkei! ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ursula Mogg.

Ursula Mogg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002739, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Türkei ist NATO-Partner. Wir wollen, daß sie den Status eines Kandidaten für die EU-Mitgliedschaft erhält. Keine Frage, wir wissen: Sie ist auch ein schwieriger Partner. Ihre Vorstellungen über die Einhaltung der Menschenrechte und ihr Umgang mit Minderheiten stehen noch immer nicht im Einklang mit unserem demokratischen Selbstverständnis. ({0}) Deshalb zielt unsere Politik darauf, die Türkei näher an uns heranzuführen und enger an Europa zu binden. Dies ist auch im Hinblick auf die wichtige geostrategische Lage der Türkei an der Südostflanke unseres Bündnisses in originärem deutschen Interesse. Darum ist die Entscheidung des Bundessicherheitsrates zur Lieferung eines Testpanzers nicht zu beanstanden. ({1}) Diese Entscheidung über die Lieferung eines Testpanzers trennt eindeutig zwischen der Freigabe eines Panzers zu Testzwecken und der Lieferung bis zu 1 000 Panzern. Die Entscheidung darüber ist nicht vor Ende des Jahres 2000 zu erwarten. Es ist also ganz deutlich so, daß die Freigabe des einen Panzers weder die Entscheidung über eine zukünftige Lieferung präjudiziert, noch wird sie vorweggenommen. Es gibt keine Entscheidung in der Hauptsache. ({2}) Weil ich weiß, daß das von Ihnen sehr kritisch beleuchtet wird, will ich sagen, daß die Beteiligung an einer Ausschreibung nicht zwingend bedeutet, daß man auch einen Auftrag erhält. ({3}) - Ich freue mich, daß Sie ein so ausgeprägtes Selbstbewußtsein haben. Aber das muß man in der heutigen Diskussion, nach dieser Entscheidung des Bundessicherheitsrates, so festhalten dürfen. Gleichzeitig bedeutet dies, daß die spätere Entscheidung über Panzerlieferungen - so ist es in der Koalition festgehalten - nach deutschen und nach europäischen Standards für Waffenexporte durchgeführt werden kann und wird. ({4}) - Und europäischen. Richtig! Ich habe auch gesagt: nach deutschen und europäischen Standards über Waffenexporte. - Darüber erhält die Regierung in Ankara eine unmißverständliche Auskunft. Nicht zuletzt signalisiert der Beschluß des Bundessicherheitsrates auch, daß wir Vertrauen in eine positive innenpolitische Entwicklung in der Türkei, aber auch diesbezügliche Erwartungen haben. Hierzu haben einige Kollegen bereits Wesentliches ausgeführt. Allen Kritikern möchte ich zu bedenken geben: Wenn wir das Interesse der Türkei am Leopard 2 einfach und trocken abgewiesen hätten, dann hätten wir uns nicht nur wenig partnerschaftlich im Rahmen der NATO verhalten, wir hätten vielmehr darüber hinaus signalisiert, daß wir ihr eine positive Entwicklung nicht zutrauen, und damit den politischen Kräften in der Türkei Argumente geliefert, die fundamentalistisch einzuordnen sind und die Menschenrechte wenig oder gar nicht achten. ({5}) Ich glaube nicht, daß ein solches Signal außen- und verteidigungspolitisch sehr hilfreich gewesen wäre. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist die Politik der Bundesregierung und meiner Fraktion, auf eine stärkere demokratische Entwicklung in der Türkei hinzuwirken, wissend, daß dies eine schwierige Gratwanderung ist. Mit dem Beschluß des Bundessicherheitsrates und den damit verbunden Notifizierungen wollen wir jenseits aller berechtigten Zweifel Impulse für den Demokratisierungsprozeß setzen. Eine Politik der Verweigerung hätte uns von diesem Ziel eher entfernt, als daß sie uns vorangebracht hätte. Diese Chance sollten und dürfen wir unserem NATO-Partner auch in unserem eigenen Interesse nicht verwehren, auch wenn ich die Einwände angesichts der aktuellen Lage in der Türkei für sehr verständlich halte. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Erich Fritz.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren! Rotgrün streitet, und die grüne Glaubwürdigkeit bleibt wieder einmal auf der Strecke. Das haben wir in der letzten Woche bei vielen Themen erlebt. Es verwundert uns also nicht mehr so sehr. Frau Kollegin Roth, ({0}) - da ist sie! - Sie haben gesagt, über das Thema, das auf der Tagesordnung stehe, wollten Sie hier im Parlament nicht reden. ({1}) Wo wollen Sie denn darüber reden? Ihr Parteigeschäftsführer sagt: Das machen wir auf der Straße. Sie haben hier wichtige Themen angesprochen. Das Kurdenthema ist wichtig, die Frage der Menschenrechte in der Türkei ist wichtig. Aber heute sprechen wir auf Vorschlag der PDS, eine Partei mit langer pazifistischer Tradition, ({2}) nicht über diese für alle wichtigen Themen, sondern über die Entscheidung des Bundessicherheitsrates und darüber, daß sich die Grünen wieder einmal in einer Art und Weise verhalten, die kaum noch nachvollziehbar ist. Der Außenminister läßt sich im Sicherheitsrat überstimmen, obwohl er das laut Koalitionsvertrag nicht müßte, und die Partei tut so, als habe sich überhaupt nichts geändert. Das ist für die Öffentlichkeit überhaupt nicht nachvollziehbar: Die Partei bleibt bei ihrer Linie, der Außenminister macht etwas anders. Ich finde noch etwas unglaublich für das Parlament, nämlich daß wir den Vorschlag zu geänderten Rüstungsexportrichtlinien, also zur Änderung der 82er Richtlinien, aus der „Frankfurter Rundschau“ erfahren, anstatt die Gelegenheit zu haben, zuvor als Parlament oder zumindest als zuständige Ausschüsse informiert zu werden und uns eine Meinung hierüber bilden zu können. ({3}) Diese Grundsätze von 1982 haben sich ja bewährt, und sie haben im übrigen dazu beigetragen, daß es eine große Übereinstimmung im Bundestag über eine sehr restriktive Exportpolitik gab. Wenn das jetzt geändert wird, hat das noch eine Facette, die man beleuchten muß: Es gab eine große Übereinstimmung darüber, daß wir versuchen wollen, eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Außenpolitik und eine gemeinsame Rüstungs- und Rüstungsexportpolitik in Europa zu entwikkeln. Das war für uns immer der Punkt, an dem wir versuchen konnten, die Entwicklung für ganz Europa mitzusteuern; denn Sie wissen selbst, daß der Exportdruck auf europäische Rüstungsunternehmen nicht in erster Linie in Deutschland entsteht, sondern in der überdimensionierten Rüstungsindustrie anderer Partner. Wenn wir nicht nur über einzelne Maßnahmen der deutschen Exportpolitik reden, sondern eine gemeinsame Politik entwickeln, können wir viel mehr erreichen. ({4}) Es wäre am Ende immer der bessere Weg, zu europäischen Lösungen zu kommen, weil man das Niveau an die NATO-Bedürfnisse anpassen und damit verhindern kann, daß diese Produkte in der Dritten Welt oder auf irgendwelchen anderen Märkten verkauft werden. Ich fände es schade, wenn dieser gemeinsame Weg jetzt durch einen deutschen Sonderweg, wie er auch immer am Schluß aussähe, in Frage gestellt würde. Es ist viel wichtiger, dafür zu sorgen, daß die Prinzipien, die Sie ernst nehmen, in der europäischen Debatte zur Geltung kommen, als sie nur hier zu betonen, wo sie nichts bewirken. Frau Beer hat diese seltsame Situation noch einmal dargestellt. Sie haben bei mir den Eindruck erweckt, daß Sie eigentlich den Sonderweg wollen, und das kann nicht im Sinne der Sache sein. Meine Damen und Herren, die Türkei ist ein wichtiger NATO-Partner. Sie soll auch nach dem Willen des Außenministers und der Bundesregierung möglichst rasch an die Europäische Union herangeführt werden. Beide sind wichtige Teile unserer Außenpolitik. Ich glaube, daß Sie bei dieser außenpolitischen Entscheidung und der Art, wie diese in der Öffentlichkeit diskutiert wird, nicht verantwortlich mit unserer Außenpolitik umgegangen sind. Den Grünen nimmt man Pazifismus nicht mehr ab. Der Außenminister ist seit Kosovo im Ansehen der Grünen-Anhänger und vieler Bürger eher olivgrün als grün. ({5}) Ich glaube, daß das Image jetzt wieder aufpoliert werden soll, obwohl man natürlich weiß, daß man sich aus der Verantwortung der Regierung, tatsächlich Entscheidungen treffen zu müssen, nicht verabschieden kann. Das Problem bleibt: Sie müssen mit dem NATO-Partner Türkei zu Rande kommen. Meine Damen und Herren, Sie wollen regieren, und Sie wollen bleiben, was Sie waren. Jetzt stellen Sie fest: Das geht nicht. Beim Außenminister kann man das am Äußeren und bei der grünen Partei an den Wählerstimmen sehen. Sie müssen sich ernsthafte Gedenken darüber machen, ob Sie jetzt nicht den Sprung in die Wirklichkeit wagen wollen, damit Sie mit den Geisterdebatten, die Sie jetzt in der Öffentlichkeit führen, aufhören können. Danke schön. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Parlamentarische Staatssekretär Mosdorf.

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Entscheidung des Bundessicherheitsrats, der zeitweisen Überlassung eines Leopard-2-Panzers zur Erprobung an die Türkei zuzustimmen, war keine einfache Entscheidung. Dabei war eine Reihe von verschiedenen wichtigen Aspekten abzuwägen. ({0}) Auf der einen Seite standen wichtige bündnis- und sicherheitspolitische Aspekte und Überlegungen mit erheblichen wirtschafts- und industriepolitischen Konsequenzen, auf der anderen Seite waren Fragen der problematischen Menschenrechtslage in der Türkei zu bewerten und abzuwägen. Der EU-Verhaltenskodex für Waffenausfuhren von Juni 1998 schreibt in seinem die Achtung der Menschenrechte im Bestimmungsland betreffenden Kriterium II vor, keine Ausfuhrgenehmigungen zu erteilen, wenn eindeutig das Risiko besteht, daß das zur Ausfuhr bestimmte Gerät zur internen Repression benutzt werden könnte. Dies kann man im vorliegenden Fall sicher ausschließen, da es sich lediglich um die Genehmigung eines Erprobungsfahrzeugs handelt, dessen Test nur für einen limitierten Zeitraum genehmigt worden ist. ({1}) Die Entscheidung der Bundesregierung betraf ausschließlich die temporäre Überlassung eines Kampfpanzers an die Türkei. Dies ist der Türkei noch am gleichen Tag so mitgeteilt worden, damit die Entscheidung richtig eingeordnet werden konnte. Eine Entscheidung über einen Auftrag steht erst dann zur Debatte, wenn sich die Türkei für den Leopard 2 entscheidet. Das ist frühestens im Jahre 2001 der Fall. Die Lage der Menschenrechte in der Türkei wird auch dann eine wesentliche Rolle spielen. Mit ihrer jetzigen Entscheidung hat sich die Bundesregierung die Möglichkeit offengehalten, später über diesen Auftrag zu befinden. Die Achtung der Menschenrechte in der Türkei bleibt weiter für die Bundesregierung ein zentrales Anliegen. ({2}) Sie wird dieses Anliegen auch bei weiteren Entscheidungen des Bundessicherheitsrates berücksichtigen. Es bleibt ein Kernbestandteil unserer Regierungspolitik. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Karl-Heinz Hornhues.

Prof. Dr. Karl Heinz Hornhues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000960, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Staatssekretär, Sie haben eine sehr überzeugende Begründung geliefert. Sie hat mich zutiefst überzeugt. Ich hoffe, daß noch bessere Argumente für das, was die Bundesregierung tut, vorhanden sind und daß sie noch überzeugender vorgetragen werden. Der Verlauf der Debatte war hier und da ein wenig symbolisch. Da ging die Kollegin Beer an das Rednerpult, und der Außenminister verließ den Saal. ({0}) Der Außenminister hat einen Vertreter. Er heißt Staatsminister Volmer. - Auch er will gerade den Saal verlassen. - Dieser hat sich heute morgen als Abgeordneter gefühlt. Herr Volmer, wenn man den Respekt vor Ihnen und Ihren ehemaligen Auffassungen zurückgewinnen soll, dann würde ich mich nicht nur nicht in die hinteren Reihen Ihrer Kolleginnen und Kollegen setzen, sondern auch nie wieder die Regierungsbank betreten. Das wäre überzeugend. ({1}) Sie sollten irgendwann einmal Ihre alten Reden nachlesen und anschließend in den Spiegel schauen. Frau Kollegin Mogg, ich habe noch ein Problem mit Ihnen. Denn Sie haben die große Hoffnung zum Ausdruck gebracht, daß die Türkei den deutschen Panzer vielleicht gar nicht will, und meinten, daß man ja dann aus dem Schlamassel heraus wäre. ({2}) - So klang es aber. Diese Hoffnung hat sie relativ überzeugend zum Ausdruck gebracht. Ich muß Sie, Frau Kollegin Mogg und Herr Kollege Erler, Sie, Herr Staatssekretär, und alle anderen Kollegen auf eine Kleinigkeit aufmerksam machen: Das Problem ist ein wenig breiter angelegt. Denn selbst wenn die Türken den deutschen Panzer nicht wollen, werden sie nach allem, was wir wissen, einen anderen kaufen. Das wäre ein amerikanischer, nämlich der Abrams M1A2. Dieser besitzt eine Kanone von Rheinmetall sowie ein Getriebe aus Deutschland, und auch der gesamte innere Rest soll hier gebaut werden. ({3}) Legen Sie bitte Ihre Kampagne beizeiten hinreichend breit an, damit Sie glaubwürdig bleiben. ({4}) Was ist das eigentliche Problem in dieser Debatte? Man könnte sich stundenlang amüsieren, wie ich es gerade versucht habe, zu provozieren. ({5}) - Warum sollen wir uns ärgern, wenn Sie sich so zerreißen, wenn Sie Ihre Glaubwürdigkeit verlieren? Wir ärgern uns, weil wir sehen, daß das, was Sie tun, Schaden für Deutschland bedeutet. Das ist der Kernpunkt, so daß wir sagen müssen: Liebe Leute, so geht das nicht. ({6}) Wenn der Außenminister noch anwesend wäre vermutlich erklärt er jetzt Herrn Papandreou, wie er die Türken beeinflussen will -, müßte er uns deutlicher erklären, wie dieser Fortschritt nach vorne im Hinblick auf die Türkei aussehen soll. Einerseits erklärt er die Türken zu Beitrittskandidaten der EU, andererseits macht er bei diesem Kauf von Panzern solch ein Theater. Womit beschäftigt man sich denn im Hinblick auf die Türkei im einzelnen? ({7}) Ich muß gestehen, der Schaden, den Sie letztendlich mit dieser Debatte für unser Land angerichtet haben, ist das, was uns am meisten bedrückt. ({8}) Über die anderen Qualifizierungen haben die Journalisten schon hinreichend geschrieben. Dies will ich nicht ansprechen. Ich will nur noch folgendes feststellen: Natürlich ist der Export von Panzern nicht irgendeine Geschichte. Da müssen wir schon genau nachdenken. Nur, wenn wir auf die Entwicklung eines Landes Einfluß nehmen wollen, mit dem wir - wie wir es doch alle wollen - auf besonders enge Art und Weise zusammenarbeiten wollen, müssen oder können - welche Vokabel auch immer Sie wählen wollen -, dann müssen auch Sie sich überlegen, ob Sie sich nur helfen wollen, wenn Sie hier so sprechen, wie Sie es jetzt tun, oder ob Ihr Kernanliegen wirklich das ist, was Sie hier so lautstark bereden, nämlich die Achtung der Menschenrechte und der damit verbundenen Fragen, die uns seit langem bewegen. Diesbezügliche Zweifel meinerseits bestehen und werden durch nichts gemildert. Sie ziehen hier eine Show ab. Sie werden sich in dem von Ihnen ausgebreiteten Netz verfangen. Sie werden um eine Entscheidung, so fürchte ich, nicht herumkommen. Ich weiß bereits jetzt, wie Sie sich entscheiden werden. Denn wenn Sie dies nicht so täten, müßten Sie irgendwann eine Konsequenz ziehen, die dann anders aussehen würde, als hier auf der Regierungsbank Platz zu nehmen. Alles Gute. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ditmar Staffelt.

Dr. Ditmar Staffelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003239, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir als jemand, der diese Frage eher aus Verantwortung für den wirtschaftspolitischen Bereich angeht, eine Bemerkung: Wir sollten bei der Diskussion über dieses schwierige Thema in diesem Hause festhalten, daß die Bundesrepublik Deutschland nun einmal außerordentlich hochentwickelte und hochwertige Produkte der zivilen und militärischen Technologie herstellt. ({0}) Das ist ein Tatbestand, den wir nicht wegdiskutieren können. Ich füge hinzu: Verglichen mit anderen EU-Ländern und sehr engen Partnern unseres Landes gehen wir, was Rüstungsexporte angeht, nun wirklich sehr zurückhaltend und sondierend vor. Das trifft übrigens für jede Regierung, die in unserer Bundesrepublik die Verantwortung getragen hat, zu. ({1}) Das muß man in diesem Zusammenhang einmal deutlich sagen, damit nicht der Eindruck entsteht, als würden jetzt wilde Exporte in die Welt vorgenommen. Hier wird nach wie vor bei jedem Einzelfall sorgfältig abgewogen, und zwar auf der Grundlage unserer Gesetze und des Verhaltenskodexes der Europäischen Union, letztendlich auch auf der Grundlage der Art des Produktes, um dessen Export es geht. Wie die Diskussion - erfreulicherweise - gezeigt hat, ist hier eine Differenzierung angebracht; ({2}) denn ein Produkt ist als Produkt noch lange nicht exportunfähig. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, ich habe es als wohltuend empfunden, daß sich ein honoriger Abgeordneter wie der Kollege Pflüger in dieser Frage sehr differenziert geäußert hat. Er hat zwar nicht hier gesprochen, aber er hat öffentlich dazu Stellung genommen. Wir sollten nicht nur nach parteipolitischen Gesichtspunkten vorgehen, sondern uns in dieser Frage der internationalen Verantwortung stellen. Dazu gehören nicht nur die parteipolitisch geprägten lauten Töne, sondern auch die leisen. ({3}) Lassen Sie mich sagen, was mir die Debatte gezeigt hat. Ich bin kein Verteidigungsexperte, auch kein Außenpolitiker. Ich habe aber sehr aufmerksam zugehört und dabei festgestellt, daß es doch offensichtlich einen nachhaltigen Abwägungsprozeß gegeben hat: Menschenrechte auf der einen Seite, außen- und verteidigungspolitische Gesichtspunkte sowie bündnispolitische Verpflichtungen, aber sicherlich auch wirtschafts- und technologiepolitische Aspekte auf der anderen Seite. Unter Abwägung all dieser Gesichtspunkte ist eine Entscheidung getroffen worden. ({4}) - Das kann jeder für sich entscheiden. Ich werde gleich sagen, wie ich darüber denke. Ich vermute, Sie werden sehr erstaunt sein. Es gibt natürlich Widersprüche; das bezweifelt niemand. Wir haben dies in unserer Fraktion erörtert. Einerseits gibt es entwicklungspolitische Programme für die Türkei, andererseits gibt es ein Rüstungsprogramm, das auch nicht ohne ist. Gleichwohl glauben wir, daß unter Abwägung der verschiedenen Interessen die Entscheidung des Bundessicherheitsrates vertretbar ist. Dieser Prozeß muß daher mit der gleichen Differenziertheit fortgesetzt werden, wie wir ihn begonnen haben. Das ist das Entscheidende, und dem sollten wir uns in unserer politischen Verantwortung stellen. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. Sie waren der letzte Redner; damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Wir sind am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 3. November 1999, 13 Uhr ein. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen ein schönes Wochenende. Die Sitzung ist geschlossen.