Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/19/2001

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion.

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erwartungsgemäß haben Sie, Herr Bundeskanzler, das Ergebnis des Europäischen Rates von Nizza positiv bewertet. ({0}) Bundeskanzler Gerhard Schröder Wir schließen uns demgegenüber dem Urteil an, das fast alle europapolitisch erfahrenen und sachkundigen Beobachter abgegeben haben und das auch in den Medien - nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa - ganz überwiegend abgegeben worden ist. Die Vorbereitungen dieses Treffens der europäischen Staats- und Regierungschefs waren so schlecht wie selten zuvor. Die Verhandlungen waren geprägt von egoistischen, nationalen Interessen, und das Ergebnis ist ernüchternd; fast könnte man sagen: Es ist geradezu deprimierend. ({1}) Noch nie hat ein Gipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs so lange gedauert und noch nie ist so wenig dabei herausgekommen. ({2}) Herr Bundeskanzler, Sie haben gerade von dieser Stelle aus mit treuherzigem Gesicht all die Aufgaben beschrieben, die Sie in Nizza eigentlich erledigen wollten. ({3}) Sie haben uns zu dem, was alles gemacht werden muss, heute Morgen genau dasselbe gesagt, was Sie uns vor Nizza gesagt haben. Im Abstand von einigen Wochen könnte man es so zusammenfassen: Der kleinste gemeinsame Nenner der Einzelinteressen bestimmt Inhalt, Umfang und Grenzen dessen, was in Europa zurzeit möglich ist. Europa ist gegenwärtig erkennbar ohne politische Führung. ({4}) Nun sind die Ursachen dafür sicherlich sehr vielfältig. Fortschritt in Europa zu erreichen, Erweiterung und Vertiefung gleichzeitig zu begründen fällt offenkundig schwer; vielleicht fällt es sogar schwerer als in früheren Zeiten. Aber wäre es angesichts dieses Befundes nicht notwendig gewesen, die Gründe für die Probleme, die wir in der Europäischen Union gegenwärtig haben, etwas sorgfältiger zu untersuchen, als dies heute Morgen in Ihrer Regierungserklärung geschehen ist? Wäre es nicht gerade nach den Erfahrungen von Nizza angezeigt gewesen, auch über die Methode des Fortschritts für Europa nachzudenken und konkrete Vorschläge für die Zukunft zu machen? Herr Bundeskanzler, Sie sind, so meine ich jedenfalls, über mindestens zwei Ursachen der Probleme, die die Europäische Union gegenwärtig hat, einfach hinweggegangen. Fortschritt in Europa - das wissen wir aus jahrzehntelanger Erfahrung - ist immer nur dann möglich, wenn Deutschland und Frankreich gemeinsame Schritte gehen und dabei auch Initiativen ergreifen. Jedenfalls müssen sich diese beiden Gründungsländer der Europäischen Union einig sein. Aber seit Ihrem Regierungsantritt vor zwei Jahren ist das deutsch-französische Verhältnis so schlecht, wie es seit Abschluss des Elysée-Vertrages vor 38 Jahren nicht gewesen ist. ({5}) Zu allem Überfluss haben Sie, Herr Bundeskanzler, zehn Tage vor Nizza hier im Deutschen Bundestag in einer Regierungserklärung ein größeres Stimmengewicht im Rat gegenüber Frankreich zur entscheidenden Frage - nicht zu einer von vielen, sondern zur entscheidenden Frage - des institutionellen Gleichgewichts und der institutionellen Reformen gemacht. Sie mussten damit scheitern und Sie sind damit gescheitert und haben damit den Gipfel in Nizza ohne Not belastet und überfrachtet. Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, sind doch klar: Es gibt überall enttäuschte Erwartungen, der Verdruss über Europa weicht nicht etwa einer neuen Zuversicht, sondern europäisches Handeln findet offenkundig immer mehr gegen den erklärten Willen eines größeren Teils der Bevölkerung statt. Müssen wir uns nicht darüber im Klaren sein, dass gerade in offenen und demokratischen Gesellschaften solche fundamentalen Veränderungen nicht gegen die, sondern nur mit den Menschen zu erzielen sind? Nun sprechen Sie in Ihrer Regierungserklärung - sicherlich mit guten Gründen - von der Notwendigkeit, eine europäische Öffentlichkeit herzustellen. Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, dass dies notwendig ist. Aber, Herr Bundeskanzler, wie wollen Sie denn Öffentlichkeit herstellen, die doch ein Mindestmaß an Verstehen wenigstens der interessierten Öffentlichkeit voraussetzt, wenn die handelnden Akteure in Nizza zum Schluss selbst gar nicht mehr wussten und auch nicht mehr verstanden, was sie da eigentlich beschlossen haben? ({6}) Bis zum heutigen Tage, fast sechs Wochen nach Abschluss des Vertrages, streiten die Beteiligten um Einzelheiten, die sie doch in Nizza so einvernehmlich beschlossen haben wollen. Unser Fazit lautet daher: Die Fragen bezüglich der institutionellen Reform, die in Nizza auf der Tagesordnung standen und deren Beantwortung von der Bundesregierung als Voraussetzung für das Funktionieren einer Union mit 25 oder 27 Mitgliedern bezeichnet worden ist, sind nicht wirklich beantwortet worden. Wir haben es auch nach Nizza leider mit so genannten „leftovers“, mit nicht gelösten großen Problemen, zu tun. Lassen Sie mich konkrete Beispiele nennen, Herr Außenminister. Das Abstimmungsverfahren im Rat ist komplizierter denn je zuvor, ({7}) sodass es der interessierten europäischen Öffentlichkeit nicht einleuchtend erklärt werden kann. Rund 70 Gegenstände müssen im Rat nach wie vor einstimmig entschieden werden. Dabei waren wir uns doch einig, dass gerade bei der Abkehr vom Erfordernis der Einstimmigkeit ein Durchbruch notwendig gewesen wäre. 20, möglicherweise bis zu 27 Kommissare werden in Zukunft in der Europäischen Kommission Verantwortung tragen. ({8}) Was aber aus meiner Sicht noch schwerwiegender ist: Das Europäische Parlament wird möglicherweise bis zu 900 Mitglieder haben. Es wird der Fall auftreten, dass größere Staaten, die neu hinzukommen, weniger Mandate erhalten als kleinere Staaten, die heute schon Mitglied der Europäischen Union sind. Sie können doch nicht im Ernst behaupten, dass dies nun der große Erfolg war, den wir uns alle von Nizza erhofft hatten und der auch nötig gewesen wäre. ({9}) Bei aller notwendigen und berechtigten Kritik will ich die wenigen positiven Ergebnisse des Europäischen Rates von Nizza nicht verschweigen. ({10}) Wenn es diese Ergebnisse nicht gäbe und wenn wir die Tragweite von Nizza für die Erweiterung der Europäischen Union nicht zu bedenken hätten, dann wäre die Entscheidung über Zustimmung oder Ablehnung der Ratifikation des Vertrages längst gefallen. Es ist in diesem Zusammenhang natürlich positiv festzustellen, dass die Proklamation einer Europäischen GrundrechteCharta gelungen ist. Wir bewerten es auch durchaus positiv, dass die verstärkte Zusammenarbeit vereinfacht worden ist. Ich bin auch mit Ihnen, Herr Bundeskanzler, der Auffassung, dass es richtig war, den Zeitplan und den Inhalt eines Post-Nizza-Prozesses festzulegen. Ich will Ihnen zu dem Zeitplan aber ausdrücklich sagen: Wir halten es für einen großen politischen Fehler, dass die Staats- und Regierungschefs in Nizza beschlossen haben, diesen Prozess erst im Jahre 2004 zu beginnen. ({11}) Die weitere Diskussion in der Europäischen Union und die Vorbereitungen für einen nächsten Schritt lassen uns aber keine Zeit bis zum Jahre 2004. Diese Arbeiten müssen heute, im Jahre 2001, beginnen. ({12}) Das Minimalergebnis von Nizza bedeutet zunächst, dass die Europäische Union ihr Versprechen, bis zum 1. Januar 2003 die notwendigen institutionellen Reformen für die Aufnahme neuer Mitglieder anzupacken, nicht vollständig eingelöst hat. Wir dürfen aber die Versäumnisse von Nizza nicht auf dem Rücken der neuen Beitrittsländer austragen. Wenn also der Erweiterungsfahrplan eingehalten werden soll - wir von der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion wollen ihn einhalten, weil wir nicht nur um die ökonomische, sondern auch um die politische Dimension der Osterweiterung der Europäischen Union wissen -, dann sind Nachbesserungen unverzichtbar. ({13}) Es geht dabei nicht nur um die ungelösten institutionellen Fragen. Es geht eben auch um die seit dem Berliner EUGipfel vom März 1999 bis heute nicht wirklich umgesetzten Reformentscheidungen in der gemeinsamen Agrarpolitik. Es geht auch um die finanzielle Absicherung der Osterweiterung. Lassen Sie mich aber noch einmal auf den so genannten Post-Nizza-Prozess zurückkommen, also auf das, was nach dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs von Nizza nun zu geschehen hat. Nach der Reform ist vor der Reform. Dies ist eine der wenigen positiven Botschaften von Nizza. Wir begrüßen daher die Erklärung zur Zukunft der Union. Wir begrüßen insbesondere den Beschluss, eine weitere Konferenz durchzuführen, um die Zuständigkeitsverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten, die Neugestaltung der Verträge, die Rolle auch der nationalen Parlamente in der Architektur Europas und den Status der Charta der Grundrechte festzulegen. Europa braucht, wie wir es seit langem fordern, einen Verfassungsvertrag. Aber welche Inhalte soll denn ein solcher Verfassungsvertrag haben? Die Antwort auf die Frage nach den Inhalten eines solchen europäischen Verfassungsvertrages sind die Staats- und Regierungschefs in Nizza ebenfalls schuldig geblieben. Die wichtigste Frage lautet: Wozu brauchen wir Europa und wie viel Europa wollen wir? Es geht um das genetische Programm der Europäischen Union. Welches Selbstverständnis, welches Ziel soll die Europäische Union haben und wie sollen ihre Grenzen definiert werden? Ist eine Union mit möglicherweise 27 oder gar mehr Mitgliedern als ein homogener Staatenverbund mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten für alle überhaupt noch zusammenzuhalten? ({14}) Der Hinweis auf Kerneuropa, den Wolfgang Schäuble und Karl Lamers schon 1994 gegeben haben, ist damals bei vielen auf große Vorbehalte gestoßen. ({15}) Heute ist uns allen klar, dass das Europa der sechs Gründungsmitglieder nicht nur institutionell und politisch, sondern auch in seiner Werteorientierung ein anderes Europa war als das heutige oder das künftige. Unsere Frage lautet: Muss der Kerneuropagedanke nicht zwingend zum unverzichtbaren Strukturmerkmal einer Europäischen Union der Zukunft werden? Ein weiterer Baustein wird die Kompetenzabgrenzung sein. Europa ist dort stark, wo es sich auf die Aufgaben konzentriert, die im gemeinsamen Handeln der Europäer besser gelöst werden können als im nationalen Alleingang. Maßstab für uns bleibt dabei das Subsidiaritätsprinzip. Zu den wesentlichen Aufgaben der Europäischen Union gehören zum Beispiel die Sicherung des Binnenmarktes, aber ganz gewiss auch die Außenpolitik, die Sicherheitspolitik und die Verteidigungspolitik, außerdem, Herr Bundeskanzler, die Asyl- und Flüchtlingspolitik und grenzüberschreitender Umweltschutz. Demgegenüber gehören - das müsste uns doch eigentlich klar sein - Bereiche wie zum Beispiel Beschäftigung, Bildung, Gesundheit, Sport, Fremdenverkehr, Raumordnung - alles Bereiche, um die sich die Europäische Kommission zum Teil sehr intensiv kümmert - eindeutig in die nationale Verantwortung. ({16}) Nach den Erfahrungen mit Regierungskonferenzen - Nizza steht da nicht allein - mehren sich die Stimmen, die fordern, das Projekt des europäischen Verfassungsvertrages nicht erneut den Regierungen zu übertragen. ({17}) Aus dem Europäischen Parlament hören wir sogar die Forderung, den Regierungen die Verantwortung für alle künftigen europäischen Reformprojekte zu entziehen. Herr Bundeskanzler, auch das ist ein Hinweis auf das Ergebnis von Nizza und darauf, welchen Eindruck Sie dort bei den Parlamentariern hinterlassen haben. ({18}) Ich sage jedenfalls: Für die Ausarbeitung eines europäischen Verfassungsvertrages macht es Sinn, darüber nachzudenken, ob denn nicht etwa nach dem Vorbild des Grundrechtekonvents erneut ein Projekt auf die Tagesordnung gesetzt wird, das für eine umfassende Beteiligung der Parlamente, natürlich der Regierungen, aber auch der Nichtregierungsorganisationen und vor allem der Bürger der Europäischen Union genügend Raum schafft. ({19}) Wenn wir uns einem solchen Verfassungsvertrag nähern, dann will ich doch daran erinnern, wie die ersten Worte der amerikanischen Verfassung lauten. Dort steht: „We, the people“ - wir, das Volk - und nicht: „We, the government“, wir, die Regierung. ({20}) Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal darauf hinweisen: Diese Aufgaben der Europäischen Union dulden keinen Aufschub bis in das Jahr 2004. Wir wollen ein starkes, ein handlungsfähiges Europa dort, wo die europäische Handlungsfähigkeit unseren gemeinsamen europäischen Interessen entspricht. Je besser und je früher dies gelingt, umso mehr wird Europa die Zustimmung der Menschen gewinnen, sie auch dort zurückgewinnen, wo sie verloren gegangen ist, und umso besser wird es in Zukunft um Demokratie, Freiheit, Frieden, Wohlstand und Gerechtigkeit in Europa bestellt sein. Herzlichen Dank. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Joachim Poß, SPD-Fraktion.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute Morgen sollte es eigentlich um die Zukunft Europas gehen, nicht um eine Polemik gegen die Bundesregierung, Herr Merz. ({0}) Ich weiß nicht, wie man nach der Regierungserklärung des Bundeskanzlers so grundlegend das Thema verfehlen kann. ({1}) Aber Sie haben schon im letzten Satz Ihrer Rede im Dezember angekündigt, woran Sie die Bundesregierung, insbesondere den Bundeskanzler, messen würden. Das haben Sie hier einzulösen versucht. Sie haben damals zu verstehen gegeben, dass Sie möglicherweise unzureichende Fortschritte ausschließlich der Bundesregierung zur Last legen würden. Herr Merz, Sie übertünchen damit die Orientierungslosigkeit Ihrer Partei. Wir werden ja sehen, ob auf Ihrem Landesparteitag in Nordrhein-Westfalen der Antrag gegen die Ratifizierung der Beschlüsse von Nizza eine Mehrheit erhalten wird. Das wird eine ganz spannende Frage sein, Herr Merz. Wir werden genau beobachten, wie Sie dort agieren werden, ob Sie zum Beispiel ein solches Risiko in Kauf nehmen werden. Sie brauchen, was die Haltung der CDU/CSU angeht, nur die Tickermeldungen vom 11. Dezember zu nehmen: „Nach Nizza geht es voran“, das war die Reaktion der CSU, und zwar von Herrn Goppel. Bei Reuters war zu lesen: „Gipfelergebnis löst in der Union gegensätzliches Echo aus. Während CSU-Chef Edmund Stoiber von einem entscheidenden Schritt nach vorn sprach, übte die CDU-Vorsitzende Angela Merkel scharfe Kritik. Der große Wurf für Europa ist nicht gelungen, sagte Frau Merkel.“ ({2}) Herr Merz hat sich damals in dem Sinne geäußert, wie es heute Morgen hier wieder zu hören war. Nein, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, bei den unbestreitbaren Verdiensten, die Sie und insbesondere der ehemalige Bundeskanzler in der Europapolitik haben, machen Sie es sich mit einer solchen Rede, wie sie Herr Merz heute Morgen hier gehalten hat, viel zu einfach. Das ist eigentlich unter Ihrem Niveau. ({3}) Sie kritisieren den Zeitpunkt 2004, Herr Merz. Wir sind mitten im Post-Nizza-Prozess. Jeder Schritt, der dazu stattfindet - der Bundeskanzler hat von einigen gesprochen -, ist Bestandteil dieses Prozesses. So viel hätten Sie in der Tat im Europaparlament lernen können, Herr Merz. ({4}) Sie wiederholen die strategischen Fehler, die Sie schon im letzten Jahr gemacht haben. Zunächst einmal ist doch festzuhalten: Die Bundesregierung hat in Nizza gut verhandelt, und zwar im europäischen wie im deutschen Interesse. ({5}) - Herr Hausmann, Sie und andere wissen es doch: Sie hat das erreicht, was in dieser konkreten Verhandlungssituation möglich war. Leider konnte auch die Bundesregierung nicht verhindern, dass das Ergebnis von Nizza hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben ist. Aber ohne das große Engagement von Bundeskanzler Gerhard Schröder wären die Fortschritte noch geringer gewesen. Das wird allmählich überall in Europa anerkannt, meine Damen und Herren. ({6}) - Ich komme darauf noch zurück. Man muss so ehrlich und realistisch sein anzuerkennen, dass nur durch die Einigung in letzter Minute ein Scheitern des Gipfel von Nizza verhindert werden konnte. Die Strategie der Bundesregierung und der anderen Regierungen, ein Scheitern des Gipfel auf jeden Fall zu verhindern, war richtig. Ein Scheitern hätte niemandem genutzt und der europäischen Integration mit Sicherheit geschadet. In der Tat haben die Ergebnisse, wenn man sie sich konkret anschaut, nicht die nötige umfassende institutionelle Reform der EU gebracht, und der Bundeskanzler hat das in seiner Regierungserklärung überhaupt nicht verschwiegen. Insoweit haben die Kritiker des Ergebnisses von Nizza sicherlich Recht. Aber die Ergebnisse von Nizza werden ausreichen, um die Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union voranzutreiben. Wenn diese Änderungen ratifiziert werden, gibt es keine formellen Hindernisse auf dem Weg zur Erweiterung der EU mehr. Also: Das drängendste Ziel des Gipfels von Nizza, die Voraussetzungen für die Erweiterung zu schaffen, wurde damit erreicht. Das wird in den Beitrittsländern so gesehen und auch entsprechend beurteilt. Deswegen wird der Gipfel insgesamt positiv bewertet. Insbesondere in Osteuropa wird die Verhandlungsführung der Bundesregierung und des Bundeskanzlers sehr gewürdigt, nicht zuletzt in Polen. Darauf können wir stolz sein. ({7}) Die im Einzelnen erzielten Ergebnisse sind differenziert zu betrachten. Die Fortschritte beim Übergang zu Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit im Rat werden die Arbeit der EU befördern und uns ohne Frage weiterbringen, ({8}) sind aber insgesamt zu gering, Herr Haussmann. Insbesondere in den Bereichen Steuern, Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik, ({9}) Sozialpolitik, bei den Strukturfonds und der gemeinsamen Handelspolitik sind die erzielten Ergebnisse nicht ausreichend. ({10}) Dass die Anwendung der verstärkten Zusammenarbeit, das heißt die Möglichkeit, dass Mitgliedstaaten im Rahmen der EU Integrationsfortschritte machen können, ohne dass alle Mitgliedstaaten daran mitwirken, verbessert worden ist, ist zu begrüßen. Hier sind wir einen Schritt weitergekommen. Das werden Sie sicherlich akzeptieren. Beschlüsse im Ministerrat werden durch die neuen Entscheidungsverfahren nicht einfacher. Aber hierzu sage ich - Herr Merz hat sich schon darauf eingelassen -: Eine fundierte Bewertung dieser Frage ist erst dann möglich, wenn erste Erfahrungen mit den modifizierten Entscheidungsprozeduren gesammelt worden sind. Die Tage von Nizza haben uns allen im Parlament, unseren Kollegen im Europäischen Parlament wie auch den Bürgerinnen und Bürgern in Europa mit fast schmerzhafter Deutlichkeit gezeigt, wie schwierig es ist, in der Europäischen Union derzeit substanzielle Fortschritte zu erzielen. Dabei ist es nur bedingt eine Entschuldigung, dass es in Nizza um nichts Geringeres als die Teilung bzw. Neuaufteilung von Macht und Einfluss zwischen den Mitgliedstaaten und den unterschiedlichen Institutionen ging. Leider - das hat Nizza gezeigt, das will niemand wegdiskutieren - spielen nationale Egoismen immer noch eine zu bestimmende Rolle, während eigentlich die Einsicht in die Notwendigkeit einer schnellen grundlegenden Reform der Europäischen Union und ihrer Institutionen vorherrschen müsste. ({11}) Deshalb werden wir zunächst einmal mit den erzielten Ergebnissen leben müssen. Vor diesem Hintergrund ist es mit Sicherheit nicht hilfreich, aus Unzufriedenheit das Ergebnis von Nizza als unzureichend abzulehnen. Ich glaube nicht, dass sich der Europäische Rat durch eine Nichtratifizierung der Nizza-Ergebnisse zu größeren Fortschritten beim Umbau der Europäischen Union und ihrer Institutionen bewegen ließe. ({12}) Im Gegenteil: Divergierende Tendenzen in der EU würden, Herr Haussmann, vermutlich weiter gestärkt. ({13}) Noch schlimmer ist, dass eine Nichtratifizierung ein historisch verheerendes Signal an die Beitrittsländer wäre. Auch Sie von der F.D.P. können das nicht wollen, Herr Haussmann, ({14}) weil dies mit Sicherheit einen Aufschub des Erweiterungsprozesses nach sich ziehen würde. Angesichts von Nizza in Larmoyanz zu verfallen oder Europaskepsis zu kultivieren ist keine Haltung, die den Herausforderungen der Zukunft gerecht würde. Die Beitrittskandidaten haben ein Recht darauf, dass die Europäische Union den Beitrittsprozess mit Vernunft, Augenmaß, aber auch mit ganzer Kraft weiterführt. Die Ergebnisse von Nizza sind nicht das letzte Wort. Der Prozess der inneren Reform der Europäischen Union muss weitergehen. Dies war nicht nur der ausdrückliche und einvernehmliche Wille der Staats- und Regierungschefs in Nizza, sondern manifestiert sich in der Vereinbarung einer weiteren Regierungskonferenz im Jahre 2004 über die notwendige Weiterentwicklung der europäischen Verträge. Darüber sind wir uns im Parlament doch fast alle einig. Auch diesen Teil der Beschlüsse müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen und würdigen. Die Forderungen, die hier aufgenommen wurden, sind doch auch aus Ihren Reihen gekommen. Sie untergraben mit dem, was Herr Merz hier heute Morgen gesagt hat, in der Substanz Ihre eigenen Forderungen. ({15}) Die Vereinbarung dieser Regierungskonferenz, bei der die Grundfragen der europäischen Integration im Vordergrund stehen sollen, war unser Ziel und ist damit ausdrücklich als Erfolg zu werten. Dem bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber ist zuzustimmen, wenn er die große Relevanz des Post-Nizza-Prozesses und der Regierungskonferenz von 2004 für die deutschen Länder und den deutschen Föderalismus betont. ({16}) - Herr Waigel, dass Ihnen das nicht passt, kann ich nachvollziehen angesichts der inneren Gemengelage und Gefühlslage, die bei Ihnen bzw. in der CSU sehr wahrscheinlich nach wie vor anzutreffen ist. Ohne die umfassende Klärung der Frage, welche Aufgaben die Europäische Union in Relation zu ihren Mitgliedstaaten überhaupt haben soll, könnte sich die EU überfordern. Denn die Erweiterung macht eine Überprüfung des Aufgabenzuschnitts dringend erforderlich. Die Europäische Union - auch da sind wir uns fast einig; das wird im Konkreten aber noch zu diskutieren sein - muss sich auf die Aufgaben konzentrieren, die einen europäischen Mehrwert mit sich bringen, also auf die Aufgaben, die die Nationalstaaten in einer globalisierten Welt allein nicht mehr zufriedenstellend bewältigen können. Die derzeitige Gewaltenteilung zwischen Europäischer Kommission, Europäischem Rat, Europäischem Parlament und den nationalen Parlamenten ist keine Basis für ein bürgernahes und umfassend demokratisches Europa. Auch hier müssen wir 2004 den Durchbruch schaffen, um die augenfälligen Defizite in Bezug auf die demokratische Legitimierung und die Bürgernähe der EU endlich abzubauen. ({17}) Es wäre ein großer Fehler, davon auszugehen, dass die grundlegende Frage, wie die Europäische Union in Zukunft aussehen soll, nur die Flure in Brüssel und Straßburg sowie die europapolitischen Zirkel und nicht auch die Köpfe und Herzen der Bürgerinnen und Bürger in Europa immer stärker beschäftigt. ({18}) Die Menschen beschäftigen sich damit. Sie haben aber eine Wahrnehmung von Europa, die nicht in unserem gemeinsamen Interesse liegen sollte. Ich jedenfalls hielte es - darauf weise ich nach der heutigen Rede von Herrn Merz hin; ich dachte eigentlich, das Problem sei ausgestanden - für verfehlt und unverantwortlich, wenn die hier im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien die vor uns liegenden europapolitischen Aufgaben nicht als gemeinsame Verantwortung auffassen würden und wenn die in der Bevölkerung existierenden Unsicherheiten und Ängste über den weiteren Weg Europas zu Wahlkampfzwecken instrumentalisiert würden. Das wäre unverantwortlich. ({19}) Was wir brauchen - dem stellen wir uns; das tun der Bundeskanzler, der Bundesaußenminister und hoffentlich alle Parteien -, ist ein breiter europapolitischer Diskurs, der die Regierungskonferenz von 2004 und die notwendigen grundlegenden Richtungsentscheidungen konstruktiv vorbereitet. Wir sind aufgerufen, für Europa mit Worten, aber auch und vor allem mit Taten nachhaltige Überzeugungsarbeit zu leisten. Denn ohne Bürgerinnen und Bürger, die von Europa wirklich überzeugt sind, wird ein vereintes, demokratisches und solidarisches Europa nicht entstehen können. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal an den Ausruf von Jean Monnet erinnern: „Wir einigen keine Staaten; wir führen Menschen zusammen.“ Ich bitte Sie: Lassen Sie uns das gemeinsam in den nächsten Jahren hier vom deutschen Parlament aus umsetzen. Vielen Dank. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Helmut Haussmann, F.D.P.-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Helmut Haussmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000836, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Damit es überhaupt keinen Zweifel an der Haltung der Freien Demokraten gibt: Ich spreche hier für die Fraktion, die seit Jahrzehnten unbeirrt für die Wiedervereinigung Europas eingetreten ist. Wir haben in der Ära Brandt/ Scheel gegen den Widerstand vieler Konservativer in Deutschland die neue Ostpolitik mit durchgesetzt. Wir haben in der Ära Kohl/Genscher ohne wirkliche Unterstützung von Sozialdemokraten und Grünen die einheitliche europäische Währung durchgesetzt. ({0}) Unser liberaler Außenminister Klaus Kinkel hat in der letzten Beitrittsrunde gezeigt, dass sich die Erweiterung und die Vertiefung Europas nie ausschließen dürfen. Ich kann mit Stolz feststellen: Keine Fraktion im Deutschen Bundestag hat sich in den letzten zehn Jahren so konsequent, aber auch so aktiv für die Osterweiterung der Union, also für die Wiedervereinigung Europas, eingesetzt. ({1}) An dieser unserer Überzeugung, dass wir die Osterweiterung der Europäischen Union pünktlich brauchen und dass wir mit den vagen Zeitplänen der Bundesregierung unzufrieden sind, hat sich kein Jota geändert und wird sich kein Jota ändern. Gerade weil wir so aktiv für die Osterweiterung der Europäischen Union eintreten, ist das Ergebnis von Nizza für uns so enttäuschend. Richtig ist: Wer für die Erweiterung ist, kann dem Vertragsentwurf von Nizza in der bisher bekannten Form nicht einfach zustimmen. ({2}) Wenn Sie heute in der „FAZ“ lesen, dass der frühere Präsident des Europäischen Parlaments, der von mir hoch geschätzte SPD-Kollege Hänsch, wörtlich sagt: „Seit vielen Jahrzehnten gab es in Europa keinen so miserablen Vertragsentwurf“, sollten Sie mit Ihrem Jubel der Zustimmung vorsichtig sein. ({3}) Es ist eine schwache Leistung, die bereits in Berlin schwach begann. Die wirklichen Anhänger der europäischen Integration - bei Ihnen, letztlich auch bei den Grünen und der Union - wissen das auch ganz genau. Herr Fischer, Sie haben das völlig zu Recht im Sonderausschuss gesagt. Wenn Sie heute noch in der Opposition wären, wären Sie doch der Erste gewesen, der diesen Vertrag in der vorliegenden Form scharf angegriffen hätte, und zwar aus europäischer Überzeugung zu Recht. ({4}) Der Gipfel von Nizza war zunächst eine große Chance für Vertiefung und Erweiterung. Sie wurde vertan und man muss heute fragen - das hat sich schon in Berlin abgezeichnet -: Was ist aus dem wirklich positiven deutschen Markenzeichen „europäische Integration“ der früheren Regierung Kohl/Kinkel inzwischen geworden? Das ist nicht nur eine nationale Betrachtung, sondern auch eine internationale. Das gemeinsame Ziel im Europaausschuss des Parlaments war: Nizza muss gleichzeitig Handlungsfähigkeit und Effizienz verbessern sowie die demokratische Legitimation stärken. Diese Ziele wurden definitiv nicht erreicht. Entscheidend war, dass manche Staats- und Regierungschefs - zuletzt auch Bundeskanzler Schröder im Deutschen Bundestag - leider die Bevölkerungszahlen der Mitgliedsländer in den Vordergrund gestellt haben. Wer die Situation in Frankreich ein bisschen beurteilen kann, weiß, was dies in Frankreich bedeutet. Herr Merz, Sie sind zu Recht darauf eingegangen. Jeder Regierungschef ließ sich für kleinliche nationale Erfolge feiern. Es gab in Nizza niemanden, der für wirkliche Integrationsfortschritte nationale Egoismen aufgegeben hätte. ({5}) In der Bundesrepublik Deutschland, dem größten Land Europas, richtet sich ein solcher Vorwurf naturgemäß gegen die Bundesregierung. Sie ist der besonderen Verantwortung der Deutschen für die Wiedervereinigung der Europäer nicht gerecht geworden. Herr Fischer, Sie erhalten hier die Quittung dafür, dass Sie sich in europäische Visionen verstiegen und um das harte Brot der täglichen Arbeit in Europa zu wenig gekümmert haben, sodass das deutsch-französische Verhältnis gestört ist. ({6}) Mehr als ein Schulterzucken von Außenminister Fischer oder Bundeskanzler Schröder darüber, dass sich nicht alle Hoffnungen erfüllt hätten, war nicht drin. Das zeigt, dass man zu wenig Hoffnungen hatte. Zu der Bemerkung von Bundeskanzler Schröder, nicht alle Hoffnungen hätten sich erfüllt, muss man sagen: Es waren von Anfang an schwache Hoffnungen und nicht einmal die haben sich erfüllt. Bezüglich der Osterweiterung sage ich Ihnen Folgendes voraus: Die Gegner der Osterweiterung werden den mangelnden Einstieg in Mehrheitsentscheidungen zu weiteren Verzögerungen missbrauchen. Darin liegt die große Gefahr für die Osterweiterung. ({7}) Antieuropäische Kräfte sowohl in den derzeitigen als auch in den künftigen Mitgliedstaaten werden ermuntert, über das Vetorecht ihrer Regierungen europäische Entscheidungen zu blockieren. Die Erweiterung Europas braucht gleichzeitig den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen. Sie können Europa mit 25 Mitgliedstaaten nicht voranbringen, wenn im Prinzip das Vetorecht gilt. ({8}) Die Lösung kann nur darin liegen, dass man die Ergebnisse von Nizza verbessert. Im Europäischen Parlament gibt es nur ein Thema: Was kann man tun, um den Vertrag von Nizza zu verbessern und ihn so zustimmungsfähig zu machen? Mit dieser kritischen Haltung, Herr Fischer - Sie werden ja gleich reden -, sind wir nicht alleine. Wir befinden uns in allerbester Gesellschaft führender europäischer Integrationsforscher, aller wesentlichen Vertreter im Europaparlament, aber auch der Kommissare, die wie Verheugen mutig sind und sagen: Das Ergebnis von Nizza reicht nicht aus. Der Versuch, uns in die Ecke derjenigen zu stellen, die die Erweiterung angeblich verzögern oder gar verhindern wollen, ist daher absolut grotesk. ({9}) Das Gegenteil ist der Fall: Gerade weil wir eine schnelle Erweiterung wollen, können wir den Ergebnissen von Nizza nicht zustimmen. Wir werden uns zusammen mit dem Europäischen Parlament an dem Post-Nizza-Prozess beteiligen, um den Vertrag von Nizza durch Nachbesserungen zustimmungsfähig zu machen. Nun ist politische Führung in der Europapolitik mehr denn je gefragt. Herr Bundeskanzler, Herr Außenminister, Sie als Vertreter des wichtigsten und größten Staates in Europa müssen dieser Verantwortung gerecht werden. Deutschland muss auch in Zukunft der Anwalt der europäischen Wiedervereinigung bleiben. Stellen Sie sich bitte in die Tradition ehemaliger Bundeskanzler, aber auch ehemaliger Außenminister, denen wir so viele Fortschritte in Europa verdanken. Bringen Sie zunächst das Verhältnis zu Frankreich wieder in Ordnung. ({10}) Wir alle sollten hier ein kritisches Zeichen setzen, dass wir mit dem Ergebnis von Nizza im Interesse Europas nicht zufrieden sind. Beteiligen wir uns an der Verbesserung des Vertrages von Nizza, damit er zustimmungsfähig wird! Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Außenminister Joseph Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es entspricht der Tradition des Hauses, dass in einer Europadebatte - bei anderen Debatten lässt sich anhand des klaren Pro und Kontras genau verfolgen, wo die Fraktionsgrenzen verlaufen - ein Stück weit quer zu den politischen Lagern diskutiert wird, weil das Europathema kein parteipolitisches Thema ist. Herr Merz, ich finde es schade, dass Sie hier im Grunde genommen versuchen, Innenpolitik zu machen. Deshalb lassen Sie mich bei der Bewertung der Ergebnisse von Nizza eine klare Gegenposition zu Ihnen beziehen: „Der Gipfel von Nizza war ein wichtiger und entscheidender Schritt auf dem Weg zur europäischen Einigung. Insofern war er durchaus ein Erfolg.“ ({0}) - Ja, das sagte Edmund Stoiber in der 758. Sitzung des Bundesrates am 21. Dezember 2000. Sie können nicht kritisieren, dass es in Europa an politischer Führung mangele. Fragen Sie sich lieber einmal selbst, wie es um die Führung in Ihrer Fraktion bestellt ist, wenn Sie sich anschauen, welche Haltung die CDU/CSU einnimmt. ({1}) Herr Kollege Haussmann, ich komme auf die Frage zurück, weshalb man eigentlich das Ergebnis von Nizza kritisiert. Kritisiert man das Ergebnis, weil es einem in dem einen oder anderen Punkt nicht zusagt oder weil man meint, dass es nicht ausreichend sei? Kritisiert man es und lehnt man es unter dem Gesichtspunkt ab: Wir wollen es nicht? Wäre es nicht angemessener - das Parlament kann in seiner Kritik weiter gehen als die Bundesregierung, die in die europäische Kompromissstruktur eingebunden ist -, konstruktiv zu kritisieren? Ich möchte Sie nur darauf hinweisen, dass der Bundesrat und die Ministerpräsidenten offensichtlich die klügere Variante gewählt haben und dies auch zu entsprechenden Erträgen im Vorfeld von Nizza geführt hat. Das ist der entscheidende Unterschied. Gestatten Sie mir, an diesem Punkt klipp und klar zu sagen: Der europäische Einigungsprozess entscheidet über die Zukunft aller Mitgliedstaaten im 21. Jahrhundert. Deswegen wird es ganz entscheidend darauf ankommen, dass wir diesen Einigungsprozess unter dem Gesichtspunkt der großen historischen Herausforderung der Erweiterung voranbringen. Das hatte der Gipfel von Nizza zu leisten und er hat es auch geleistet. ({2}) - Das werde ich Ihnen gleich noch erklären. - Nizza hat entscheidende Fortschritte gebracht - der Bundeskanzler hat diese dargestellt -, nämlich in der Frage einer wesentlich handhabbarerer verstärkten Zusammenarbeit und in der Definition des Post-Nizza-Prozesses inklusive der Abschlussperspektive für das Jahr 2004. Wenn man dann noch den ersten Schritt hinzunimmt, nämlich die Annahme der Grundrechte-Charta auf der politischen Ebene, die Erwartung, dass der Beschluss, der gefasst wurde, 2004 faktisch auf einen Verfassungsprozess zur Kompetenzfrage hinausläuft - in Verbindung mit der Grundrechte-Charta -, und wenn man dann noch die Komponente der verstärkten Zusammenarbeit hinzunimmt und sieht, dass wir am 1. Januar des kommenden Jahres die Euro-Einführung haben, dass wir die beginnende Erweiterung haben und dass wir im Vorfeld von 2006 auch die Notwendigkeit eines neuen Finanzkompromisses haben werden, dann kann ich Ihnen nur sagen: Wenn Sie diese Parameter anlegen und betrachten, was Nizza geleistet hat, gleichzeitig aber fordern, dass wir das deutsch-französische Verhältnis wieder in Ordnung bringen und Nizza ablehnen sollen, dann müssen Sie mir einmal erklären, wie Sie das jenseits des Zustands der Schizophrenie zusammenbringen wollen. ({3}) Sie zitieren Herrn Hänsch - ich habe den Artikel heute Morgen auch gelesen -, Sie zitieren aber nicht den französischen Außenminister. Wenn wir sagen würden, Nizza ist gescheitert, und wenn wir die Position der F.D.P. übernehmen würden, wir wollten einen neuen Gipfel, weil Nizza gescheitert sei, wäre das für das deutsch-französische Verhältnis so ziemlich das Schlimmste, was eine Bundesregierung machen könnte. ({4}) Herr Haussmann, Sie sind viel zu klug, um so etwas zu fordern. Das gilt auch für Ihre Fraktion; es gibt bei Ihnen genügend erfahrene Außenpolitiker. Herr Kollege Kinkel weiß nur zu gut, worauf so etwas hinauslaufen würde und dass es jenseits oppositioneller Rhetorik und Forderungen schlichtweg eine Katastrophe wäre, wenn wir so vorgehen würden. Insofern ist diese Forderung nicht nur nicht klug, sondern sie ist gegen die Interessen Deutschlands, sie ist gegen das Interesse, ein gutes deutsch-französisches Verhältnis zu haben, und sie ist gegen die europäischen Interessen gerichtet. Daher lehnen wir sie ab. ({5}) Meine Damen und Herren, was hatte Nizza tatsächlich zu leisten? Herr Kollege Merz, es tut mir Leid: Nizza hatte all das, was Sie dem Bundeskanzler vorgeworfen haben - was die Vertiefungsperspektive betrifft -, nicht zu leisten. Was Nizza zu leisten hatte, war die Abarbeitung der „leftovers“, die Sie genannt haben. Sie sind aber nicht auf ein einziges „leftover“ eingegangen. Gehen wir einmal die einzelnen Punkte durch; ich möchte mich nicht in Polemik erschöpfen, sondern wirklich diskutieren. Sie haben den Punkt der Mehrheitsentscheidung genannt. Der Bundeskanzler hat in der Abschlusspressekonferenz gesagt - er hat es wiederholt und ich habe es in der Sondersitzung des Europaausschusses auch gesagt -, wir hätten uns in diesem Punkt durchaus ein ambitionierteres Ergebnis gewünscht. ({6}) - Nein, ich bestätige Sie nicht, sondern ich möchte, dass wir jetzt ernsthaft über das Problem diskutieren. Zwei große Problembereiche standen dem entgegen. Das können Sie nicht bei der Bundesregierung abladen; denn wir waren willens, hier weiter zu gehen, haben aber keine Einstimmigkeit dafür bekommen. Der erste große Problembereich ist das, was man mit Finanz- und Steuerpolitik beschreiben kann. Großbritannien hat von Anfang an und auch schon im Vorfeld klargemacht, dass seine Bewegungsspielräume auf diesem Gebiet minimal sind. Das ist ein Faktum, das Sie nicht bei der Bundesregierung abladen können. Ein zweites Ziel von uns war, Mehrheitsentscheidungen in der Außenhandelspolitik zu bekommen. Das wiederum wurde von anderen Partnern an die Bewegung in der Steuerfrage geknüpft. Das war die Situation. Die Bundesregierung war im europäischen Interesse bereit, bei beiden Punkten weiter zu gehen und Bewegung hineinzubekommen und auch in anderen Bereichen noch draufzulegen. Der Bundeskanzler hat dies in verschiedenen Gesprächen angeboten. Dass wir das nicht durchsetzen konnten, können Sie jetzt als Versagen der Bundesregierung kritisieren. Aber das ist doch irreal. Man kann sich die Dinge doch nicht sozusagen schöner träumen, als sie tatsächlich sind. ({7}) - Herr Haussmann, kommen Sie mir jetzt nicht mit „früher“. ({8}) Sie können natürlich sagen: Wenn eine christlich-liberale Koalition in Nizza gewesen wäre, dann hätte Gott der Herr ein Einsehen gehabt und ein Wunder gewirkt, sodass sich die steuerpolitischen Positionen anderer Mitgliedstaaten plötzlich verändert hätten. ({9}) - Herr Kollege Hintze, ich sehe, dass uns die christliche Herkunft verbindet. Uns Katholiken ist der Wunderglaube in der Theologie durchaus zu Eigen, aber nicht in der Politik. Glauben Sie mir! Das wissen Sie doch auch. ({10}) Der zweite Punkt, den Sie, Herr Kollege Merz, angesprochen haben, war die Größe der Kommission. Die Bundesregierung hat gemeinsam mit der französischen Regierung von Anfang an gesagt, wir wünschen uns eine kleinere Kommission. Aber das ist kein „leftover“. Die kleinen Länder haben sich mit ihrer Forderung durchgesetzt. Sonst hätte es in Nizza kein Ergebnis gegeben. Die F.D.P. bezieht ja diese Position: Kein Ergebnis ist besser als dieses Ergebnis. Das ist die Konsequenz der Position der F.D.P. in Bezug auf die Ablehnung. Das muss man wissen. ({11}) Die Europäische Volkspartei wird dies ja als größte Fraktion im Europaparlament mit entscheiden. ({12}) Insofern: Herr Kollege Merz, man begegnet sich, auch hier im Deutschen Bundestag, immer zweimal. Eine entsprechende Rede werden Sie nach der Ratifizierung noch einmal halten müssen. ({13}) Ich gehe davon aus, dass die EVP und auch Sie, die CDU/CSU, der Ratifizierung als gute Europäer und getragen von der europäischen Orientierung trotz aller Kritik, die Sie äußern und die wir teilweise auch nachvollziehen können, zustimmen werden. Davon gehe ich fest aus. ({14}) Insofern möchte ich hier den konstruktiven Ansatz fortsetzen. Wir hätten uns eine kleinere Kommission gewünscht. Aber das war mit den kleinen Mitgliedstaaten nicht machbar. Nun wird der Bundesregierung vorgehalten: Ihr müsst die kleinen Mitgliedstaaten pflegen. Das ist richtig. Der Bundeskanzler hat wirklich sehr viele Reisen gemacht. ({15}) - Mit Österreich besteht eine schöne Initiative in Bezug auf die Grenzregionen. Herr Haussmann, wären Sie dabei gewesen, hätten Sie richtig gestört, als wir da zusammengesessen haben. ({16}) Wenn Sie da immer wieder gesagt hätten, ihr mögt euch nicht, hätten sie bei diesem Gipfel richtig gestört. ({17}) Denn die Kooperation zwischen der österreichischen und der deutschen Delegation war hervorragend, durch keine Sprachbarriere getrübt und von vielen gemeinsamen Interessen getragen und geprägt. ({18}) Dies ist in einer gemeinsamen Initiative zum Ausdruck gekommen, an deren Verwirklichung wir gemeinsames Interesse haben. ({19}) - Herr Waigel, vergessen wir es. ({20}) - Nein. ({21}) - Ich mache doch keine Show, sondern ich versuche, auf Ihre Argumente einzugehen. ({22}) - Herr Merz, immer, wenn Ihnen nichts mehr einfällt und wenn Ihnen in einer lebendigen parlamentarischen Kontroverse die Sachargumente ausgehen, dann sprechen Sie von Show. ({23})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, gestatten Sie eine kleine Zwischenbemerkung. Zwischenrufe sind erlaubt. Aber, Herr Waigel, zu rufen: „Herr Präsident, der lügt!“, ist jenseits der zwischen uns vereinbarten Regeln. ({0})

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident, ich habe diesen Zwischenruf in diesem Fall nicht als aggressiv und ernst gemeint empfunden. Insofern halte ich selbst ihn für nicht rügenswert. Aber das ist meine ganz persönliche Meinung. ({0}) Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Herr Merz, in den europäischen Fragen geht es mir - das wissen Sie - wirklich nicht um Show. Sie mögen das, was wir erreicht haben, kritisieren. Aber werfen Sie mir in diesen Punkten nicht Show vor, nur weil ich nicht dieselbe langweilige Rhetorik wie andere habe, die hier vorgetragen haben. Hören Sie doch auf! ({1}) - Nein, ich meine Ihren Oppositionsführer. Ich habe viele Jahre Regierungserklärungen von dem in europäischen Fragen von mir sehr geschätzten Dr. Helmut Kohl als Bundeskanzler morgens um 9 Uhr miterlebt. Daher weiß ich, wie lebendig diese Regierungserklärung heute Morgen war. Mein Gedächtnis funktioniert sehr gut. ({2}) Zur Sache: Der entscheidende Punkt ist doch, dass die kleinen Mitgliedstaaten je einen Sitz wollten. Daher war eine kleinere Kommission nicht durchsetzbar. Auch hier handelt es sich also nicht um ein „leftover“. ({3}) - Aber Sie haben gesagt, dies sei ein „leftover“. ({4}) - Nein, das Problem ist nicht ungelöst. Wir werden eine Kommission in der Größenordnung der Mitgliedstaaten haben, das heißt mit maximal 27 Mitgliedern. Dies läuft zwar auf eine größere innere Differenzierung hinaus, aber es ist - im Gegensatz zu Amsterdam - kein „leftover“, wie Sie es behauptet haben. Das ist für mich der entscheidende Punkt. ({5}) Der dritte Punkt betrifft das Abstimmungsverfahren. Ich kann Ihnen sagen: Die Bundesregierung hätte sich das Verfahren der doppelten Mehrheit gewünscht. Das war unsere Position, ({6}) und zwar deswegen, weil die Prinzipien der Staatenmehrheit - das Prinzip des Staatenverbundes - und der Bevölkerungsmehrheit - das demokratische Prinzip des Bürgereuropas in der Europäischen Union - die Mehrheitsregeln eines sich integrierenden bzw. eines, wie ich hoffe, eines Tages die politische Einheit erreichenden Europas bestimmen. Die Position der Bundesregierung war, die beiden Grundprinzipien - Staatengleichheit und Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger - zur Geltung zu bringen. ({7}) Das setzt angesichts der Größendifferenzen eine gewisse Gewichtung voraus. Das konnten wir nicht durchsetzen. ({8}) Auf der anderen Seite wird gesagt - wir teilen diese Auffassung -, dass das deutsch-französische Verhältnis für die Bundesregierung und für die Koalition - dasselbe gilt für die Vorgängerregierungen - unverzichtbar ist. ({9}) Es ist das Schwungrad der europäischen Einigung. ({10}) Insofern müssen wir für Positionen unseres Partners Verständnis haben, selbst wenn sie nicht die unsrigen sind, und wir müssen einen gemeinsamen Weg finden. ({11}) Wir hielten den Vorschlag der französischen Präsidentschaft für das Abstimmungsverfahren - es beinhaltet ein entsprechendes Sicherheitsnetz - für einen Kompromiss, der unter dem Gesichtspunkt der Funktionalität, aber auch des Staatenprinzips und des Demokratieprinzips nicht nur vertretbar ist, sondern auch unsere Billigung gefunden hat. Dieses Abstimmungsverfahren ist kein „leftover“. Die Voraussetzungen, um die Erweiterung jetzt beginnen zu können, sind damit geschaffen worden. Allein die Reaktion in den Kandidatenstaaten macht doch klar, wie viel Hoffnung damit verbunden wird. Deswegen werbe ich emphatisch für die Ratifizierung. Als überzeugter Integrationist, als überzeugter Europäer weiß ich selbst, dass viele Hoffnungen in Nizza nicht in Erfüllung gegangen sind. Gleichzeitig hat Nizza aber eine entscheidende Voraussetzung für den Erweiterungsprozess geschaffen, den wir jetzt zügig vorantreiben müssen. Es ist zu lange gewartet worden. Gerade die F.D.P. hat immer wieder zu Recht darauf hingewiesen, dass endlich Nägel mit Köpfen gemacht werden müssen, das heißt, dass Erweiterung stattfindet. ({12}) - Herr Haussmann, wir werden keine Erweiterung bekommen, wenn dieser Vertrag abgelehnt wird. Das ist doch die Konsequenz. Ich komme auf die Chancen des Post-Nizza-Prozesses zu sprechen, was die Vertiefung betrifft. Herr Merz, Sie haben dem Bundeskanzler offensichtlich nicht zugehört. In der Rede des Bundeskanzlers steckte eine programmatische Orientierung im Hinblick auf die nächsten Schritte. ({13}) - Nicht „sehr verborgen“! - Ich sage Ihnen: Gerade perspektivisch gesehen sind die weiteren Schritte hin zur politischen Integration von entscheidender Bedeutung. Das gilt zum Beispiel für die Frage der Kompetenzabgrenzung. Darüber Einigkeit zu erzielen wird im Post-NizzaProzess ein verdammt schweres Unterfangen werden. Kompetenzabgrenzung lässt sich leicht fordern, aber die Umsetzung ist - man denke an die unterschiedlichen nationalen Traditionen und Interessen - alles andere als einfach. Gerade die großen Fraktionen im Europaparlament werden merken, wie schwierig es in der Praxis sein wird, dieses Thema durchzudeklinieren. Als letzten Punkt möchte ich das deutsch-französische Verhältnis ansprechen. Ich habe vorhin schon gesagt - der Bundeskanzler hat es nachdrücklich unterstrichen -: Ich finde es unfair, was alles in den Medien und von Teilen unserer Öffentlichkeit bei der französischen Präsidentschaft abgeladen wurde. Es gab einen Widerstreit der nationalen Interessen. Manches in Nizza erinnerte gerade uns Deutsche an den Versuch der alten Westbundesländer, sich im Prozess der Erweiterung - es ging damals um den Länderfinanzausgleich - zu arrondieren. Mir kam das alles, was in Nizza geschah, sehr bekannt vor, weil ich damals selbst Mitglied einer Landesregierung war. Die alte Union hat versucht, sich gewissermaßen ihrer selbst vor der großen historischen Aufgabe der Erweiterung zu vergewissern. Als die alten Westbundesländer versuchten, ihre Interessen zu arrondieren, hat das den Einigungsprozess nicht aufgehalten. Es war ein Schritt, der vollzogen wurde. Diesem Schritt folgten weitere. Wie wir gesehen haben, war dieser Prozess - bei allem, was es zu kritisieren gibt - sehr erfolgreich. Das alles bei der französischen Präsidentschaft abzuladen finde ich unfair. Die französische Präsidentschaft hatte eine extrem schwierige Aufgabe in einem extrem schwierigen Umfeld zu erfüllen. Das muss man wissen. Wenn uns an einem guten deutsch-französischen Verhältnis liegt, müssen wir auch und gerade in einer solchen schwierigen Situation zu unseren französischen Freunden und Partnern stehen. Die Bundesregierung tut dies. Für uns ist das deutsch-französische Verhältnis ein unverBundesminister Joseph Fischer zichtbares Fundament des europäischen Einigungsprozesses, an dem wir weiterarbeiten. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erinnern wir uns an die letzte Regierungserklärung des Bundeskanzlers vor dem Gipfel in Nizza: Er hat hier vor dem Deutschen Bundestag sehr behutsam und bedächtig seine Erwartungen formuliert. Das brachte ihm dann den Vorwurf ein, er agiere leidenschaftslos, und zwar ausgerechnet vom Erfinder der deutschen Leidenschaftskultur, Friedrich Merz. Aber ich glaube, dem Kanzler war schon damals klar, dass man die Erwartungen nicht zu hoch stecken darf. Er hat wohl geahnt, dass es nicht so toll wird. Auch wir meinen, dass die Osterweiterung der Europäischen Union, zu der wir ausdrücklich stehen, kein Thema für kurzschlüssige Antworten auf schwierige Fragen ist. ({0}) Mit dem Gipfel war wohl nur Edmund Stoiber so richtig zufrieden. Ich frage mich jetzt, wie das mit der von der Union vorgetragenen Kritik zusammenpasst. Ich sehe natürlich auch schon den langen Anlauf des Kollegen Friedrich Merz zu der Rolle rückwärts, die er dann antreten wird, wenn es um die Ratifizierung geht. Wir wollen eine andere Frage stellen, meine Damen und Herren. Versetzen Sie sich einmal in die Lage eines europafreundlichen Fernsehzuschauers, der versucht hat, den Nizza-Prozess in den Medien zu verfolgen. Für ihn war dieser Vorgang quälend: nicht so sehr, weil es sich hier um schwierige und andauernde Prozesse handelt, sondern weil er seine Probleme in dem nicht wiederfand, was seine Regierung dort verhandelte. ({1}) Dass dies das Problem von Nizza war, haben auch viele Kommentatoren gesagt. Nun wird dem geneigten Fernsehzuschauer, der vielleicht auch heute die Rede des Kanzlers gehört hat, gesagt, es werde eigentlich alles gut, wenn er die Regierung nur weiter gewähren lasse. Dass dieser Mensch in Konflikte kommt, werden Sie doch wohl eingestehen; ich finde, Sie haben es auch schon eingestanden. Das Problem ist also, dass sowohl die großen Erwartungen als auch die Sorgen von Bürgerinnen und Bürgern im Zusammenhang mit einer erweiterten Union hier zu wenig vorkamen. Auf die Ängste wird zu wenig eingegangen und die Hoffnungen werden zu wenig aufgegriffen. ({2}) Nizza war insofern für sehr viele Bürgerinnen und Bürger ein Technokratenakt. Die Lust auf Europa hat das nicht gestärkt. Die PDS tritt nachdrücklich für die Osterweiterung der Europäischen Union ein. Wir sagen allerdings: Wer die Osterweiterung will, muss den Nizza-Vertrag ablehnen und ihn nachbessern. Das Ja der PDS zur GrundrechteCharta ist ein Beleg dafür, dass wir keine europafeindlichen Gesellen sind. Wie Sie wissen, ist für die Linken jedes Ja über die eigenen Positionen hinaus ein großer Schritt, und wir bekennen uns zu diesem Ja. Ich räume auch ein, dass wir es gegenüber unseren osteuropäischen Freunden mit der Ablehnung des Nizza-Vertrages schwer haben. Aber wir meinen, es ist besser, eine schwierige Situation einzugestehen und anzunehmen, als falsche Hoffnungen zu wecken. ({3}) Es gibt bekanntlich auch bei der deutschen Vereinigung nicht nur Schokoladenseiten. Für die PDS ist die verabschiedete Sozialagenda nicht akzeptabel. Faktisch ist in Verbindung mit den ungelösten Problemen der Stimmengewichtung ein ständiges Vetorecht im Sinne von Sozialdumping festgeschrieben. Ebenso sind wir gegen den Einstieg in eine Militärmacht mit europäischen Eingreiftruppen. Bei den Problemen der Stimmengewichtung im Ministerrat wurde in Nizza mit der Entscheidung für die dreifache Mehrheit die Flucht ins Undurchschaubare angetreten. Wenn Ihnen bei der Stimmenauszählung einmal ein Computer abstürzt, dann gute Nacht! Ich möchte noch auf einen besonders bemerkenswerten Aspekt der Regierungserklärung eingehen. Die Beziehungen zu Polen und Frankreich bildeten den Rahmen der Rede des Bundeskanzlers. Wenn damit die Selbstkritik verbunden ist, für das deutsch-französische Verhältnis mehr zu tun, um es auf den erforderlichen Kooperationsstand zu bringen, geht das in Ordnung. Ich habe aber in diesem Zusammenhang auch eine Hoffnung: Die historische Aussöhnung mit Frankreich war für die Aussöhnung mit dem Westen entscheidend. Ebenso historisch entscheidend sollte und könnte die Aussöhnung mit Polen sein; sie könnte das Signal für eine neue Dimension der Verbindung mit dem Osten werden. ({4}) Sie knüpfen dabei zu Recht an Willy Brandt an. Polen kann dann eine Brücke zwischen dem Westen und dem Osten im vereinten Europa werden. Diese Vision kann Wirklichkeit werden, wenn Polen nicht ein Katzentisch in der Festung Westeuropa eingeräumt wird, sondern ihm Chancen, zur Brücke in einem neuen Europa zu werden, eröffnet werden. ({5}) Im Übrigen: Die Tschechen, die Slowaken, die Ungarn und die Ukrainer werden das nicht übel nehmen, sondern sehr wohl verstehen. Herr Bundeskanzler, Sie haben Ihre Hoffnungen für ein geeintes Europa vorgestellt und die Schwierigkeiten nicht ausgeblendet. Sie sagen Ja zum Vertrag von Nizza, wir nicht. Die Osterweiterung der EU wird die sozialistische Opposition im Bundestag jedoch weiterhin konstruktiv unterstützen. Kritik kann bekanntlich auch sehr hilfreich sein. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger das Wort.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich doch noch einmal zu dem äußern, Herr Außenminister, was Sie zur Bewertung der bisherigen Position der F.D.P. gesagt haben. Die F.D.P.-Fraktion hat aufgrund ihrer historischen Verdienste und ihrer inneren Überzeugung ein großes Interesse daran, dass der Osterweiterungsprozess gelingt, ohne dass sich die Europäische Union in ihrer inneren Verfasstheit in eine Rückwärtsbewegung begibt. Wir wollen, dass sich die europäische Integration an dem Ziel orientiert, dass wir auch einmal eine europäische Verfassung bekommen, wie auch immer sie dann intern ausgebildet sein mag. Davon war unser Einsatz für die GrundrechteCharta gekennzeichnet, die im Moment in der Schublade liegt, aber 2004 vielleicht Gegenstand des Vertrages werden soll. Uns treibt im Moment die Sorge um, Herr Außenminister, ob wir mit dem, was jetzt als Ergebnis von Nizza vorliegt, eine einigermaßen sichere Grundlage für den Erweiterungsprozess schaffen können. Dass es in einigen Punkten Ergebnisse gegeben hat, ist klar; sonst hätte man sich nicht so lange auf diesen Prozess vorbereitet und auch nicht mehrere Tage lang nach einer Lösung suchen müssen. Es ist wohl auch unstreitig, dass es nach wie vor erhebliche Defizite gibt. Wir als Parlament, auch als F.D.P.Fraktion, müssen uns fragen, was wir in der Phase nach Nizza tun können, um nachzubessern und die Risiken eines möglichen Rückschlages gering zu halten bzw. auszuschließen. Das ist unser Anliegen. Das ist unsere Position. Ich wollte das noch einmal deutlich machen, weil wir nicht in die Ecke derjenigen gehören, die sagen: Gott sei Dank haben wir jetzt einen Vorwand dafür, uns aus dem europäischen Integrationsprozess auszuklinken. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, Sie haben die Gelegenheit zur Reaktion.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, ich möchte mich für Ihre Erläuterung, was die Haltung der F.D.P.Fraktion betrifft, ausdrücklich bedanken. Was die Sache, das Ziel, das Sie erläutert haben, angeht, so sehe ich null Unterschied zu dem, was die Bundesregierung und - so nehme ich an - große Teile aller Fraktionen hier vertreten, nämlich dass der Erweiterungsprozess nicht zu einem Rückschritt bei der Integration führen darf. Da stimme ich Ihnen ohne jede Einschränkung zu. Dies wäre eine fatale, rückwärts laufende und meines Erachtens den Erweiterungsprozess beschädigende Konsequenz. Insofern war die Herstellung des Zusammenhangs von Vertiefung und Erweiterung, wie ihn auch Mitglieder der früheren Bundesregierungen immer wieder formuliert haben, kein rhetorischer Trick, um sich scheinbar ausschließende Ziele unter einen Hut zu bringen, sondern in der Sache gerechtfertigt. Davon bin ich überzeugt. Es gibt in der Europäischen Union der 15 unterschiedliche Sichtweisen zu den Ergebnissen von Nizza. Ich habe neulich mit einem französischen Kollegen in Paris eine sehr vertiefende und sehr gute Diskussion geführt. Und ich sage Ihnen - die Bundesregierung sieht es als ihre ihre Aufgabe an, dem Parlament diese Botschaft zu vermitteln -: Wir müssen Acht geben, nicht nur unsere Sicht zu sehen. Die französische Regierung, aber auch die französische Öffentlichkeit nehmen teilweise eine unterschiedliche Bewertung vor. Wir dürfen jetzt durch die Bewertung von Nizza nicht ein zusätzliches deutsch-französisches Problem heraufbeschwören, denn sonst erhalten wir mit Sicherheit das negative Ergebnis, vor dem wir uns gemeinsam fürchten. Das ist es, worum es mir geht. Wenn ich hier als Abgeordneter säße - Kollege Haussmann hat es ja gesagt -, würde ich doch nicht erwarten, dass die Ergebnisse nicht kritisiert werden. Im Gegenteil: Es ist die Pflicht der Abgeordneten zu kritisieren; das hilft uns auch. Aber unsere gemeinsame Perspektive muss die Ratifikation sein. Wenn wir jetzt in Paris sagen müssten: „Unser Parlament hat gesagt, es ist mit den Ergebnissen unzufrieden“, würde das zu einem schweren Konflikt mit Frankreich führen. Wir können 2002 nicht sagen: Wir wollen eine neue Regierungskonferenz. Ich hielte das auch in der Sache nicht für richtig. Allein dieses Argument müsste Sie doch sehr nachdenklich machen, gerade auch vor dem Hintergrund der großartigen europapolitischen Tradition Ihrer Partei und der Außenminister, die Sie gestellt haben, und die Sie zu Recht unterstreichen. Insofern appeliere ich nochmals an die Freien Demokraten zuzustimmen. Ich weiß, bei Amsterdam hatten wir die gleiche Situation. Hätte das Ergebnis von unserer Stimme abgehangen, hätte ich selbstverständlich trotz meiner Bedenken zugestimmt, weil ich ein Scheitern eines Europavertrages im Deutschen Bundestag mit meiner Stimme niemals zugelassen hätte, auch nicht in der Opposition. Ich weiß also um die Verführung, abzulehnen. Aber Sie sollten gerade aufgrund der ganz anderen, längeren Tradition Ihrer Partei und Fraktion, aufgrund der großartigen europapolitischen Tradition der Außenminister, die Sie, angefangen von Walter Scheel, gestellt haben, ernsthaft darüber nachdenken, ob Sie nicht gerade aus diesem Grund besondere Verpflichtung haben. Deswegen werbe ich für die Zustimmung zur Ratifizierung auch und gerade der liberalen Partei.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Peter Hintze, CDU/CSU-Fraktion.

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben eben alle mitverfolgt, wie positiv der Herr Bundesaußenminister die Ergebnisse des Gipfels von Nizza bewertet hat. Jeder im Saal kann sich bestimmt ganz gut ausmalen, wie ein Oppositionsredner Joseph Fischer an diesem Tag und an dieser Stelle über die Ergebnisse von Nizza gesprochen hätte, wenn eine CDU/CSU-geführte Regierung mit einem derart dürftigen Ergebnis vor das Plenum dieses Hauses getreten wäre, liebe Freunde. ({0}) Die Frage ist: Hat unsere Regierung bei dieser Regierungskonferenz versagt? ({1}) - Kollege Erler ruft markig in den Raum: Nein! ({2}) Das historische Versäumnis von Nizza ist, dass hinter den Beschlüssen keine Vision erkennbar ist. Wenn Monnet, Schuman, Adenauer, de Gasperi und andere so gehandelt hätten, dann hätte es nie europäische Gemeinschaften gegeben und dann hätten wir immer noch keine Europäische Union. - Dieses vernichtende Urteil über die handelnden sozialdemokratischen Regierungschefs in Europa hat Ihnen Ihr Parteifreund und Abgeordneter, der frühere Präsident des Europäischen Parlaments, Hänsch, bei seiner Rede im Europäischen Parlament ins Stammbuch geschrieben. Die Aussage lautet: Die Regierungschefs heute haben vor der historischen Aufgabe versagt. ({3}) - Das will ich gerne tun. Nizza hatte vier kardinale Konstruktionsfehler, die rasch überwunden werden müssen, damit die Osterweiterung gelingt. Erster Konstruktionsfehler: Die Unübersichtlichkeit der Verträge nimmt zu. Um einen wichtigen Beitrag zur Handlungsfähigkeit leisten zu können, sollten die Verträge einfacher und transparenter werden. Herausgekommen ist aber wachsende Undurchsichtigkeit. Man schaue sich nur die Vorschriften über die verstärkte Zusammenarbeit oder den Außenhandel an. Wo Vereinfachung Not getan hätte, ist es komplizierter geworden. Das ist so, als wollten die europäischen Rechtsetzer die hawkingsche Theorie von der fortschreitenden Unordnung durch ihre Texte belegen. ({4}) Europa wird erst dann wieder Zustimmung finden, wenn das politische Geschehen in Brüssel und Straßburg transparenter wird. Um dieses zu erreichen, fehlte in Nizza die Kraft. Ich möchte noch einen anderen Gedanken anführen: Es haben nicht nur die Regierungschefs in Nizza versagt, sondern schon im Vorfeld hat man versagt. Diese Regierungskonferenz wurde miserabel vorbereitet und konnte in der Tat in Nizza selbst nicht mehr repariert werden. Wenn man dieses erreicht hätte, wäre das Wunder eingetreten, das der Bundesaußenminister erwähnt hat. Das war nicht zu erwarten. Die Methode der Regierungskonferenz hat sich erschöpft. Wir müssen sie durch eine kreativere Methode ersetzen. Die nationalen Regierungschefs - heute hier Bundeskanzler Schröder - feiern ihre kleinen Pyrrhussiege, während Europa durch das geschwächt wird, was sie meinen erstritten zu haben. ({5}) Diesen Zusammenhang haben auch die Kollegen von der F.D.P. angesprochen. Die Osterweiterung ist eine große historische und moralische Aufgabe. Sie muss aber auch praktisch geschultert und mit kreativem Geist gefüllt werden. Diese Aufgabe müssen wir jetzt dringend, und zwar schneller als geplant, angehen. Wir brauchen den Verfassungsvertrag, wir brauchen eine Erarbeitungsform wie bei der Grundrechte-Charta und wir brauchen klare, visionäre und kräftige Entscheidungen. ({6}) Ein zweiter Konstruktionsfehler von Nizza ist: Die parlamentarische Demokratie und die Gewaltenteilung sind nur auf niedrigem Niveau verwirklicht. Warum sind denn die Bürger über das frustriert, was in Europa passiert? Sie sind frustriert, weil sie keine Einflussmöglichkeiten sehen. Wenn ihnen die Regierung in einem Land nicht passt, können sie sie abwählen. Wir haben das schmerzlich erlebt. Auch Sie werden es vielleicht schmerzlich erleben. Das finden die Bürger aber gut. In Europa können sie wählen, was sie wollen, es scheint nichts zu passieren. Das müssen wir ändern. Wir müssen dem Europäischen Parlament das Recht geben, den Präsidenten der Kommission zu wählen, und die Bürger müssen das Recht haben, die Kommission auf diesem Wege wieder abzuwählen, wenn ihnen das Geschehen in Brüssel nicht passt. Deswegen muss die Konstruktion verändert werden. Zu Zeiten der 68er hieß es: „Alle Macht den Räten!“, heute heißt es: „Alle Macht dem Rat!“ Der Rat ist ein Geheimparlament, das hinter verschlossenen Türen tagt. Das muss geändert werden. Er muss zu einer zweiten Kammer werden und öffentlich tagen. Die Leute müssen verfolgen können, was geschieht. Seit dem Orakel von Delphi gab es in Europa keine so undurchsichtige Entscheidungsinstanz wie den Ministerrat der Europäischen Union. Das wollen wir ändern. ({7}) Dritter Konstruktionsfehler: Die Entscheidungsverfahren werden immer komplizierter. Die Staats- und Regierungschefs haben etwas Tolles geschafft. Sie haben gesagt: Wenn mehr dazukommen, müssen wir es noch komplizierter machen. Das Quorum für Mehrheitsentscheidungen steigt von 71 auf über 74 Prozent. Damit werden im Grunde die minimalen Fortschritte, die man bei dem Übergang von dem Prinzip der Einstimmigkeit zum Prinzip der qualifizierten Mehrheit erreicht hat, ad absurdum geführt. Die Echternacher Springprozession ist gegenüber Europa eine fortschrittliche Veranstaltung. Da hieß es: zwei Schritte vor, ein Schritt zurück. In Nizza lautete das Motto: ein Schritt vor, zwei Schritte zurück. - Das ist der Grund, warum wir das Ergebnis von Nizza kritisieren. ({8}) Es gehört übrigens zu den Rätseln der schröderschen Regierungskunst, warum der Kanzler die Frage der Stimmgewichtung Deutschlands vor der Konferenz in Nizza im Deutschen Bundestag zu der entscheidenden Frage erklärt hat, um dann am Ende in Nizza kläglich einzuknicken. Jetzt muss er den Bürgern erklären, wieso die Stimmgewichtung zwischen anderen Ländern fein austariert wird, während die Größe Deutschlands gegenüber kleineren aber keine Rolle spielt, und wie der Sand aus dem deutsch-französischen Getriebe wieder herauszubekommen ist. Es ist schon interessant, dass um die Stimmgewichtung im Ministerrat mit Zähnen und Klauen gekämpft wurde, während die Sitze im Europäischen Parlament mit leichter Hand verteilt wurden, mit so leichter Hand übrigens, dass Belgien und Portugal im Europäischen Parlament mehr Sitze als Tschechien und Ungarn bekommen, obwohl beide größer sind als Belgien und Portugal. Das ist kein fairer Umgang mit Kandidatenstaaten aus Mittelund Osteuropa. Diese haben sich nicht für die Demokratie entschieden, um von Westeuropa dann schlecht behandelt zu werden, liebe Freunde. Das ist Politik nach Gutsherrenart! ({9}) Der vierte Konstruktionsfehler: Es fehlt die große Linie. Es ist vieles im Einzelnen vereinbart worden, es ist auch manches Ordentliche vereinbart worden. Ich nenne den Post-Nizza-Prozess und die verstärkte Zusammenarbeit. Leider bleibt das alles Stückwerk, weil ein leitendes Prinzip, eine leitende Idee oder eine leitende Vision fehlt. Was kann der Deutsche Bundestag tun? Was kann die deutsche Regierung tun? Wir können darauf drängen, dass die schlechten Entscheidungen von Nizza schnell nachgebessert werden. Die Ungerechtigkeit gegenüber Ungarn und Tschechien muss noch vor der Unterschrift korrigiert werden. Ich führe sie darauf zurück, dass dies zu später Stunde, mitten in der Nacht, festgelegt worden ist. Herr Bundeskanzler, ich möchte Sie dennoch fragen, wie es dazu kommen konnte. Der Bundesaußenminister zeigte sich im Ausschuss überrascht, so, als habe er noch gar nicht gesehen, dass Belgien und Portugal Tschechien und Ungarn vorgezogen werden, dass sie mehr Sitze im Europäischen Parlament bekommen, obwohl sie weniger Einwohner haben. Wir sollten als Deutscher Bundestag mit der Ratifizierung warten, bis im Europäische Parlament abschließend darüber gesprochen worden ist. Wir sind es den Parlamentskollegen in Europa schuldig, dass wir auch auf ihr Votum hören. Die Staats- und Regierungschefs haben sie schlecht genug behandelt. Wir sollten unsere Kollegen besser behandeln. Ich danke Ihnen. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Günter Gloser, SPD-Fraktion

Günter Gloser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Bundestagsfraktion ist für die Erweiterung der Europäischen Union. Sie ist für die endgültige Überwindung der Spaltung Europas. Deshalb wird sie dem Vertrag von Nizza zustimmen. ({0}) Herr Kollege Hintze, natürlich sind auch wir für vereinfachte Verträge. Aber wir sind gegen Vereinfachungen in der Politik, so wie sie Ihr Fraktionsvorsitzender in seinen heutigen Ausführungen vorgetragen hat und so wie Sie und der Kollege Haussmann sie heute ebenfalls vorgetragen haben. Man sollte dies vermeiden, vor allem, wenn man diesen Prozess über Monate hinweg in dem entsprechenden Fachausschuss begleitet hat. Deshalb möchte ich noch auf ein paar Punkte eingehen. Der Bundeskanzler hat zu Recht gesagt, diese Bundesregierung sei mit einem sehr ehrgeizigen Programm in die Verhandlungen gegangen. Damit es - auch für die Öffentlichkeit - deutlich wird: Wir in diesem Parlament haben bis auf wenige Ausnahmen diesem ambitionierten Programm zugestimmt. Eine gemeinsame Initiative dieses Parlamentes hat es nicht gegeben, aber in den entsprechenden Debatten im Deutschen Bundestag und in den Ausschüssen gab es große Übereinstimmung. Das, was jetzt - auch in der heutigen Debatte - gesagt wird, spiegelt den Prozess nicht wider. Genau so, wie heute der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister den NizzaGipfel bewertet haben, nämlich ehrlich und kritisch, ist auch die Diskussion abgelaufen. Wir haben - das muss man einmal festhalten - die Signale, die von Nizza gerade im Hinblick auf die osteuropäischen Länder ausgegangen sind, erkannt. Ich war zum Zeitpunkt dieses Gipfels in Warschau. Mir ist dort noch einmal ganz deutlich geworden, welchen Stellenwert die Bundesregierung in den Verhandlungen gehabt hat und dass sich die Bundesregierung für die Interessen aller Beitrittskandidaten eingesetzt und sich nicht - wie kürzlich die CSU auf ihrer Tagung - zu bestimmten Äußerungen verstiegen hat. Sie hat beispielsweise nicht über einen isolierten Beitritt Ungarns spekuliert. Nein, die Bundesregierung war Fürsprecher aller osteuropäischen Beitrittskandidaten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich müssen wir auch über bestimmte Defizite diskutieren, die aus der Regierungskonferenz von Nizza resultieren. Dies ist ebenfalls ein wichtiger Punkt, der eine breitere Öffentlichkeit finden müsste. Ich glaube allerdings, dass wir alle in diesem Parlament in den nächsten Wochen und Monaten auch die Möglichkeit haben werden, im Hinblick auf die Regierungskonferenz 2004 über diese Bereiche zu debattieren. In diesem Zusammenhang möchte ich nur zwei Punkte deutlich herausstellen und ich freue mich, dass der Bundeskanzler diese in seiner heutigen Regierungserklärung ebenfalls deutlich gemacht hat. So hat er gesagt, dass er die Kandidatenländer an der Diskussion über die Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union beteiligen will, obwohl noch kein Beitritt stattgefunden hat. Ich finde, dies ist ein gutes, dies ist ein deutliches Zeichen an die Beitrittsländer. ({1}) Ich nenne einen weiteren Punkt, der in allen Fraktionen diskutiert worden ist, und schließe mich denjenigen an, die den Ablauf solcher Regierungskonferenzen kritisieren. Ich mache es mir aber nicht so einfach, wie Sie, Herr Haussmann, es sich teilweise gemacht haben, nach dem Motto: Die Konferenz war nicht gut vorbereitet; da ist nicht richtig verhandelt worden. ({2}) Was Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger vorhin in Bezug auf die Grundrechte-Charta gesagt hat, sollte uns veranlassen, ernsthaft darüber nachzudenken, wie der Konvent ein Modell sein könnte, eine größere Beteiligung der Parlamente an einem solchen Prozess sicherzustellen. Ich sage aber auch ganz bewusst: Man sollte sich nicht der Illusion hingeben, zu glauben, die Möglichkeiten, die dieser Konvent bei der Erarbeitung der GrundrechteCharta gut genutzt hat, seien eins zu eins auf die Erarbeitung eines Verfassungsvertrages zu übertragen. In diesem Bereich wird es ganz bewusst verengte Diskussionen in vielen nationalen Parlamenten geben. Trotzdem sollten wir Mut zum Risiko haben und versuchen, bei der Vorbereitung der Regierungskonferenz die Arbeit dieses Konvents zum Vorbild zu nehmen. Aufgrund der Diskussionen muss ich noch folgenden Punkt erwähnen: Es wird immer davon gesprochen, dass die Bürgerinnen und Bürger wenig Akzeptanz für dieses Europa und für die Europäische Union zeigen. Wir müssen uns in der Tat überlegen, wer in dieser Europäischen Union was machen soll. Wir müssen die Frage beantworten: Welche Aufgaben sind auf der nationalen Ebene und welche Aufgaben sind von den Ländern, von den Regionen und den Kommunen zu leisten? Andererseits ist es sicherlich wichtig, auch zu klären, welche Aufgaben die Institutionen untereinander haben. Wir sollten nicht immer wieder davon sprechen, dass wir die Bürgerinnen und Bürger bei diesem Prozess mitnehmen müssen. Wir sollten einfach einmal organisieren, dass sie an diesem Prozess beteiligt werden können. Dazu gibt es verschiedene Möglichkeiten. Lassen Sie mich noch folgenden sehr wichtigen Punkt anführen - der Bundeskanzler hat ihn schon ausgeführt die EU-Erweiterung. Ich möchte diesen Punkt aber mehr unter dem Aspekt der Innenpolitik behandeln. Es war ein deutliches Signal, das auf der Konferenz in Brighton gegeben wurde, was die Freizügigkeit für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betrifft. Aber es gibt noch viele andere Bereiche. Wir müssen den Erweiterungsprozess auch innenpolitisch flankieren. Wir wissen um die Chancen und wir wissen bereits heute um die Erfolge dieses Prozesses. Wir wissen auch, inwieweit Deutschland Vorteile aus diesem Prozess ziehen kann. Wir wissen allerdings auch um die Risiken. Ich appelliere hier insbesondere an einen Teil der Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion: Nutzen Sie die Risiken und die Ängste, die mit bestimmten Prozessen verbunden sind, nicht für Wahlkampfzwecke aus! Ergreifen Sie vielmehr gemeinsam mit uns Initiativen, um diese Risiken politisch beherrschbar sind zu machen! ({3}) Wenn wir diesen Prozess gestalten und eine Öffentlichkeit herstellen wollen, dann genügt es nicht, wenn wir im Deutschen Bundestag oder in den entsprechenden Länderparlamenten diskutieren und Hearings durchführen. Gerade Nizza hat gezeigt, dass wir manchmal nicht genau Bescheid darüber wissen, welche Prozesse in den anderen Ländern stattfinden. Es gibt beispielsweise in Großbritannien und in den skandinavischen Ländern andere Vorstellungen über eine europäische Verfassung. ({4}) Es gibt in einzelnen Ländern andere Vorstellungen darüber, wie zum Beispiel die Sozialsysteme finanziert werden sollen und wie die Ausländerpolitik formuliert werden soll. Es ist wichtig, einen über die Grenzen hinausgehenden Diskurs zu organisieren, um einander besser zu verstehen. Ich glaube, hier besteht noch ein größerer Nachholbedarf. Herr Haussmann, Sie haben vorgetragen, warum die Freien Demokraten ({5}) diesem Vertrag nicht zustimmen werden. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an eine Diskussion, die wir vor einigen Jahren in diesem Parlament zum Amsterdamer Vertrag geführt haben. ({6}) Eine Kollegin aus Ihrer Fraktion hat in dieser Debatte ausgeführt: Ich kann für die F.D.P.-Bundestagsfraktion nur erklären: Wir werden nach sorgfältiger Analyse und Prüfung dem Vertrag von Amsterdam zustimmen, ({7}) auch wenn wir nicht verkennen, dass es wünschenswert gewesen wäre, ein Mehr an institutionellen Reformen schon in diesem Vertragswerk zu vereinbaren. Die Rednerin fährt an anderer Stelle fort: Eine Ablehnung des Vertrages von Amsterdam würde wirklich einen Stillstand bedeuten, würde ein Zurückschreiten bedeuten, würde bedeuten, dass die Verbesserungen, die im Vertrag vereinbart worden sind ... nicht kommen werden. Das wäre nicht nur ein Rückschritt für den Integrationsprozess Europas. Vielmehr würde das ja erst recht die Erweiterungsprozesse behindern. Es war Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die das in einer Debatte des Deutschen Bundestages 1997 gesagt hat. Was damals gegolten hat, gilt auch heute. Vor dem Hintergrund dieser Beitrittsperspektive empfehle ich Ihnen, Herr Kollege Haussmann, aber auch Ihrer Fraktion, diesen Antrag zurückzuziehen und die Beitrittsperspektive im Bundestag in großem Konsens zu eröffnen. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Woche hat gezeigt: Die Bundesregierung ist angeschlagen, ({0}) nicht nur innen-, sondern auch europa- und außenpolitisch. ({1}) Es stellt sich die Frage: Können wir uns in dieser für Europa entscheidenden Phase einen angeschlagenen Außenminister leisten? ({2}) Wird Joseph Fischer vor dem Hintergrund der Ereignisse dieser Woche im Ausland noch als deutscher Verhandlungspartner akzeptiert? ({3}) Ich meine: nein. Er kann die deutsche Führungsrolle nicht mehr wahrnehmen. Außerdem ist er im vergangenen Jahr - es ist traurig, aber wahr - auf der europäischen Ebene im Ministerrat abgetaucht. ({4}) Das kann sich Deutschland nicht leisten. ({5}) Herr Gloser, ich stimme Ihnen zu: Wir müssen einen neuen Ansatz finden, auch die Bürger und Bürgerinnen an der europäischen Diskussion teilhaben zu lassen. Leider hat Nizza die Dinge weiter verkompliziert. Die Bürger blicken nicht mehr durch: Wer entscheidet wann, wo, was? Stichwort BSE: Sind die Schuldigen in der Europäischen Kommission, im Ministerrat oder in der Bundesregierung? ({6}) Wir brauchen einen anderen Ansatz. Die Themen müssen wieder in den Deutschen Bundestag. Wir müssen in der Europäischen Union mehr Demokratie wagen. Dazu muss das nationale Parlament einen wesentlichen Beitrag leisten. Die CSU wird in den nächsten Wochen ein Gutachten zur Frage der zukünftigen Mitwirkung des Deutschen Bundestages bei der europäischen Rechtsetzung vorlegen. Wir brauchen ein maßgebliches Mitwirkungsrecht bei der europäischen Rechtsetzung. Herr Gloser, ich nehme das Stichwort COSAC auf. Natürlich brauchen wir auch eine andere Form der Zusammenarbeit der nationalen Parlamente in Europa. Die COSAC muss weiterentwickelt werden. Dieses Thema kann man allerdings in vier oder fünf Minuten inhaltlich nicht ausreichend diskutieren. Zu Nizza. Das Ergebnis von Nizza ist nicht befriedigend. Die Frage der Kompetenzabgrenzung - was macht Brüssel, was verantwortet Deutschland, was wird von den Ländern und was von den Kommunen verantwortet? - soll jetzt angegangen werden, nicht 2004. Dies ist ein Kernpunkt des Ergebnisses von Nizza. Wir stellen mit Freude fest: Diese Forderung der CSU, über Jahre hinweg erhoben, soll nun endlich umgesetzt werden. Wenn ich die heutige Debatte und den Vertrag - natürlich im Lichte der Auseinandersetzung in der Entstehungsphase - abwäge, denke ich, dass wir am Ende zu einer Ratifizierung kommen müssen. Wir werden zu einer Ratifizierung kommen, denn wir können uns nicht weitere zwei Jahre Ratifizierungsdebatten leisten. Wir müssen nach vorne gehen und offensiv die Voraussetzungen für die Erweiterung schaffen. Auf die entscheidenden Fragen in diesem Zusammenhang hat die Bundesregierung noch keine Antworten. Es gibt neue „leftovers“; sie hat neue „leftovers“ geschaffen. Die Bürgerinnen und Bürger - nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Beitrittsstaaten - wollen wissen, wie das neue Finanzsystem in der Europäischen Union ausschaut. Wie wird die Osterweiterung finanziert? Im Augenblick ist der Finanzansatz vollkommen unzureichend. Die Osterweiterung ist bisher nicht finanziert. Es gibt kein Konzept der Bundesregierung, welchen Weg sie beschreiten will. Zur Agenda 2000. Wir brauchen eine grundlegende Reform der Agrar- und Strukturpolitik in der Europäischen Union. Die CDU/CSU hat bereits vor zwei Jahren Vorschläge für die Agenda-2000-Verhandlungen vorgelegt. Ich nehme als Stichworte die nationale Kofinanzierung und die Deckelung der Finanzförderung der Großbetriebe. Sie sind bei der Agenda 2000 in die Richtung marschiert, die Großbetriebe in Europa zu präferieren. Heute, im Angesicht der nationalen BSE-Debatte rudern Sie zurück und nehmen unseren Begriff der flächendeckenden, der bäuerlichen Landwirtschaft auf, die Sie in den letzten zwei Jahren mit aller Massivität getroffen und zu zerstören versucht haben. ({7}) Wo ist Ihr Konzept einer zukunftsweisenden Agenda für die Agrar- und Strukturpolitik? Die Bürgerinnen und Bürger wollen ein gerechtes System der Verteilung der Asyl- und Flüchtlingsströme in der Europäischen Union. Hier handelt es sich um ein „leftover“ der Schröder-Regierung. Die entscheidende Frage ist: Ist die Europäische Union nach Nizza erweiterungsfähig? Ich meine: unter bestimmten Voraussetzungen - ja. Wir müssen - ich kann das nur noch kurz ansprechen - aber zu einer Differenzierung bei den Beitrittsstaaten kommen. Die Kriterien sind die Grundlage. Der Erweiterungsprozess darf nicht überdehnt werden. Der Beschluss, die EU um zwölf Staaten auszuweiten, war ein grundlegender Fehler, auch, dass sogar der Türkei ein Angebot unterbreitet wurde. ({8}) Hier brauchen wir einen neuen Denkansatz. Nicht jedes Land, das eine europäische Perspektive sucht, kann Vollmitglied der Europäischen Union werden. Diesen Ländern müssen Möglichkeiten einer abgestuften Integration geboten werden. ({9}) Ich denke dabei zum Beispiel an die Ukraine und an den Balkan. Wir können Europa nicht bis zum Ural ausdehnen, ohne zu sagen, wie das funktionieren soll. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Problem der Bundesregierung ist: Die Lösung dieser zentralen Probleme wird nicht angegangen. Der Kanzler hat kein europäisches Gewicht. Der Außenminister ist angeschlagen. Deutschland fehlt eine handlungsfähige, erfolgreiche Regierung zur Durchsetzung deutscher Interessen in Europa. Danke schön. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Markus Meckel, SPD-Fraktion.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Herr Müller, mein Eindruck ist, dass Sie unter einem großen Wirklichkeitsverlust leiden. ({0}) Wenn Sie berücksichtigen, bei welchen wichtigen Punkten, von denen wir alle gesagt haben, dass sie für uns zentral sind, wir vorangekommen sind, können Sie Ihr Urteil in keiner Weise belegen. Obwohl wir gemeinsam gern mehr durchbekommen hätten - das ist gar keine Frage, das ist auch deutlich dargestellt worden -, müssen wir eindeutig feststellen: Dies war ein historischer und entscheidender Schritt, weil von nun an das Tor für die Erweiterung offen ist. Das ist die Perspektive, aus der dies betrachtet werden muss. Dies ist zehn Jahre nach den Umbrüchen in Europa wahrhaftig eine historische Perspektive. Sie haben eben davon gesprochen, dass Joschka Fischer die deutsche Führungsrolle nicht mehr wahrnehmen könne. Ich kann Ihnen nur sagen: Er will sie auch gar nicht wahrnehmen. Wir wollen keine deutsche Führungsrolle, sondern unseren Platz in diesem integrierten Europa. ({1}). Mit Führungsrolle hat das aber nichts zu tun. Wir haben uns schon einmal die Hörner daran gestoßen und ganz Europa ins Verderben geführt. Ein anderer Begriff, der in diesem Zusammenhang immer wieder falsch benutzt wird , ist der Begriff der europäischen Wiedervereinigung. Wir alle wollen eine europäische Vereinigung, aber ein „Wieder“ gibt es in dieser Frage nicht. Es gibt keinen historischen Zustand, zu dem wir in irgendeiner Weise zurückkönnten oder -wollten. Wir wollen etwas Neues schaffen: ein Europa der Integration, der Freiheit und der Demokratie. Leider haben wir dies in der Vergangenheit so nicht gehabt. ({2}) Was jetzt getan werden muss - ich denke, das ist ein wesentlicher Erfolg -, ist, die Zeit bis zur Erweiterung, das heißt bis zur Teilnahme der ersten Staaten an der Europawahl im Jahr 2004, zu nutzen. Das ist ein ungeheuer ehrgeiziger und wichtiger Schritt, der gemeinsam von den Mitgliedstaaten als Zielvorstellung geäußert worden ist. Dies macht zugleich deutlich: In den Köpfen der Menschen in den Beitrittsstaaten wird die Identifikation mit Europa in dem halben Jahr zuvor verstärkt, weil es in diesen Ländern einen Europawahlkampf geben wird. Dies ist für das gemeinsame Bewusstsein in Europa ungeheuer wichtig. ({3}) Natürlich ist dies ehrgeizig in Bezug auf die Verhandlungen. Es bewirkt einen ungeheuren Druck bei den Beitrittsstaaten. Dieser Druck darf nicht nachlassen. Die Aufgaben sind nach wie vor groß. Wir alle kennen die schwierigen Bereiche. Aber ich sage gleichzeitig: Auch uns selbst trifft dieser Druck; denn bei jedem einzelnen Kapitel und Punkt, über die verhandelt wird, müssen wir uns als Mitgliedstaaten auf eine gemeinsame Position einigen. Wir wissen alle, dass dies vor den Wahlen in der Europäischen Union nicht einfach wird. Aber dies ist ein zentrales Anliegen. Wir werden uns bemühen müssen, möglichst schnell eigene klare Positionen herauszuarbeiten. ({4}) Ein anderer Punkt ist mir ebenfalls wichtig, den wir gegenüber den Kandidatenstaaten zur Sprache bringen wollen. In den letzten Jahren haben immer wieder die Frage des Beitritts, der Zeitpunkt des Beitritts eine zentrale Rolle gespielt. Ich hoffe, dass wir jetzt nicht mehr immer nur über die Einzelheiten des Beitritts reden, sondern auch über die Perspektive Europas und über die Gestaltung des künftigen Europas verhandeln. Das ist ein Perspektivenwechsel, der durch Nizza ermöglicht worden ist und den wir wahrnehmen müssen. Auch ist es gut, wenn wir in bilateralen Gesprächen versuchen, ein solches Ziel zu erreichen. Wir haben zum Beispiel im Rahmen der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe geplant, im ersten Halbjahr dieses Jahres ein gemeinsames Europapapier zu verfassen, das zwar kein von den Parlamenten verabschiedetes Papier ist, aber den Versuch darstellt, Positionen abzustimmen und gemeinsam Fragen zu formulieren. Dabei wird man erkennen können, wie unsere gemeinsame Vorstellung von Europa aussieht. Ich möchte noch einmal auf die innenpolitische Perspektive zurückkommen, die Herr Gloser schon angesprochen hat. Es ist wichtig, die Ängste und Befürchtungen, die es in unserer Bevölkerung gibt, ernst zu nehmen. Dies müssen wir auf zweierlei Weise tun, wobei wir deutlich zwischen irrationalen Ängsten, die auf Unkenntnis beruhen und durch übertriebene Thesen hervorgerufen sind, und realen Ängsten differenzieren sollten. Wir brauchen Informationen. Ich danke der Bundesregierung ({5}) und den vielen Initiativen, die durch Informationen deutlich machen, dass viele dieser Befürchtungen irreal sind und dass die Gefahren nicht so sind, wie sie oft dargestellt werden. ({6}) Es lässt sich natürlich nicht leugnen, dass es insbesondere in den Grenzregionen zu Belastungen kommt. Hier ist es zu begrüßen, dass es - dieser Punkt ist schon angesprochen worden - durch eine gemeinsame Initiative mit Österreich gelungen ist, deutlich zu machen - das hat Herr Verheugen als zuständiger Kommissar schon angekündigt -, dass diese Grenzregionen eine besondere Unterstützung brauchen. Dazu gehört natürlich zum einen Geld. Dies darf den Rahmen der Agenda 2000 nicht sprengen, aber es gibt noch Mittel, auf die man zurückgreifen kann. Zum anderen ist es wichtig, dass es durch eine Flexibilisierung des Beihilferechtes ermöglicht wird, dass Nationalstaaten - bei uns sind auch die Länder angesprochen - in diesen Regionen tätig werden. ({7}) Die Bundesregierung plant entsprechende Schritte. Sie werden am 6. Februar dieses Jahres die Gelegenheit haben, eine Rede des Bundeskanzlers zu hören, in der er erste Überlegungen der Bundesregierung zur Förderung der Grenzregionen vorgetragen wird. Wir brauchen gerade in diesem Bereich eine regionale Wirtschaftspolitik. Dazu laufen die Vorbereitungen. Ich möchte nun einen Punkt ansprechen, der im Rahmen der Integration noch nicht erwähnt wurde, und zwar die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und insbesondere die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Dabei geht es nicht, wie manche in Zeitungen immer wieder schreiben, um eine europäische Armee - darauf möchte ich noch einmal deutlich hinweisen -, also nicht darum, dass Europa jetzt aufrüsten will. Es geht vielmehr um ein gemeinsames europäisches Handeln in den Fragen der Krisenprävention und des Krisenmanagements. Wir sollten ernst nehmen, dass auch der UN-Generalsekretär die Bedeutung der Europäischen Union in diesen Fragen anerkannt hat und ständige und engere Kooperationen zwischen den UN und der Europäischen Union anstrebt. Bis Ende dieses Jahres sollen sowohl im zivilen als auch im militärischen Bereich erste operative Einsatzfähigkeiten in Bezug auf das EU-Krisenmanagement geschaffen werden. Da ist wahrhaftig eine ganze Menge zu tun. Der Vorteil der Europäischen Union in diesen Fragen ist, dass wir anders als bei der NATO, der OSZE oder den UN verschiedene Kapazitäten zusammenführen können, und zwar politische, wirtschaftliche und die in Zukunft aufgebauten militärischen Kapazitäten, um die Krisenprävention bzw. - wenn nicht anders möglich - das Management der Bewältigung von Krisen möglichst konzeptionell und im abgestimmten Handeln umzusetzen. Dies ist eine ganz zentrale europäische Aufgabe. Hier sind wir wesentliche Schritte vorangekommen. Neben dem Aufbau der dafür nötigen Institutionen ist das Wichtigste der politische Wille. Hier sind alle Beteiligten gefordert. Hier kann man gerade angesichts des Gipfels in Nizza und angesichts der Vergangenheit die Befürchtungen haben, ob es uns Europäern gelingt, gemeinsam handlungsfähig zu werden. Es gibt in Europa, in Deutschland und auch unter uns einige, die dem amerikanischen Handeln gegenüber, das manchmal durchaus unilateral ist, skeptisch eingestellt sind und sagen: Dies sollte nicht sein. - Gleichzeitig müssen wir uns aber fragen, ob wir als Europäer in diesen Fragen zu gemeinsamem Handeln fähig sind. Denn nur dann, wenn dies der Fall ist, werden wir gegenüber Amerika ein entsprechendes Gewicht einbringen können. So werden wir die transatlantische Zusammenarbeit auch in Sicherheitsfragen stärken. Dies ist nicht, wie manche in Amerika denken, ein Widerspruch. Es ist unsere zentrale Aufgabe, bei deren Bewältigung wir auch auf dem Gipfel in Nizza ein Stück weit vorangekommen sind und wofür wir in Zukunft noch einiges zu tun haben. Ich danke Ihnen. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Herr Kollege Hirche, Sie fragten vorhin, wo der Bundesaußenminister sei. Der Bundesaußenminister hat sich beim Bundestagspräsidenten entschuldigt: Er nimmt am Neujahrsempfang des Diplomatischen Korps beim Bundespräsidenten teil. ({0}) - Hier wurde nach dem Bundesaußenminister gefragt. Ich habe Ihnen hiermit erläutert, dass er sich ausdrücklich entschuldigt hat. Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zum Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/5084. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag der F.D.P.? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? Der Antrag ist abgelehnt. Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu der Entschließung des Europäischen Parlaments mit seinen Vorschlägen für die Regierungskonferenz, Drucksache 14/4980. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Bei Gegenstimmen der CDU/CSU-Fraktion und Enthaltung der F.D.P. ist die Beschlussempfehlung angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch - ({1}) Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - Drucksache 14/5074 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Ich erlaube mir an die Bundesregierung folgende Anregung: Da wir alle nicht wissen müssen, in welchem Kapitel des Sozialgesetzbuches was enthalten ist, ist es schön, dass in Klammern hinzugefügt worden ist, um welches Thema es sich handelt, nämlich um den Bereich der Rehabilitation. Es wäre gut, wenn man in Zukunft ebenso verfahren würde. Ich weiß natürlich, worum es sich handelt; denn ich bin Sozialpolitikerin. Da uns alle dies interessiert, wage ich, diese Anregung zu geben. ({3}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. - Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister für Arbeit, Walter Riester, das Wort.

Walter Riester (Minister:in)

Politiker ID: 11003616

Frau Präsidentin! Zunächst einmal herzlichen Dank für die Anregung, ich werde sie aufgreifen. Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Neunten Buch Sozialgesetzbuch zur Rehabilitation macht die Bundesregierung in der Politik für behinderte und mit behinderten Menschen ihren zweiten Schritt. Den ersten Schritt haben wir im letzten Jahr gemacht, indem wir das Schwerbehindertengesetz verändert haben, und zwar zusammen mit den Verbänden der Behinderten, der Wirtschaft, den Gewerkschaften und behinderten Menschen. Ich darf Ihnen kurz bilanzieren: Unser Ziel war und ist es, in zwei Jahren 50 000 zusätzliche Arbeitsmöglichkeiten für behinderte Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt zu schaffen. Eine erste Zwischenbilanz: Die Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen ist im Vergleich mit dem Dezember des zurückliegenden Jahres um 13 000 zurückgegangen. Was mich fast noch mehr freut: Die Vermittlungsquote ist um 30 Prozent gestiegen. ({0}) Mit der Vorlage des Neunten Buches Sozialgesetzbuch gehen wir nun konsequent weiter, indem wir uns dafür einsetzen, dass zur Fürsorge für behinderte Menschen überall dort, wo es möglich ist, eine Politik entwickelt wird, die behinderte Menschen in die Lage versetzt, selbstverantwortlich ihr Leben zu bewältigen. ({1}) Dabei geht es in einem ersten Schritt darum, die Vielfalt der Angebote der Leistungsträger zu bündeln und die zum Teil mühsamen Behördengänge, die gemacht werden müssen, um Leistungen zu erhalten, zu vereinfachen und so die Dienstleistungen zum Menschen zu bringen. Dies werden wir dadurch erreichen, dass wir auf Kreisebene Servicestellen einrichten - die ersten Signale der Leistungsträger zeigen, dass sie mitmachen -, in denen Leistung koordiniert angeboten wird und in denen behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen Informationen bekommen können. Damit hören die Wege von Pontius zu Pilatus auf, damit hört auf, dass man sich vor Gerichten darüber streitet, wie weit Zuständigkeit der Leistungsträger geht. Wir möchten, dass die Dienstleistung zum Menschen kommt. ({2}) Im Sinne einer eigenverantwortlichen Unterstützung möchten wir, dass diese Leistungen als Wunsch- und Wahlrecht ausgestaltet werden und Leistungen dort, wo es sinnvoll ist, als Geldleistungen gewährt werden können. Wir werden darüber hinaus Modellprojekte entwickeln, mit denen geprüft werden soll, ob diese Leistungen auch in eigenen Budgets ausgewiesen werden können. Wir möchten damit den unterschiedlichen Interessen und den unterschiedlichen Voraussetzungen, die Menschen mit Behinderungen einbringen, auch bei den Leistungen Rechnung tragen. Dies ist ein weiterer wichtiger Schritt, der durch einen dritten Punkt ergänzt wird: Wir wollen eine die Träger übergreifende Qualitätssicherung der Leistung herbeiführen. Insgesamt wollen wir: Dienstleistung zum Menschen bringen, ein Wahlrecht der Leistung und eine die Träger übergreifende Qualitätssicherung. ({3}) Konsequent muss die Leistung der medizinischen Rehabilitation und der Eingliederung in den Arbeitsprozess durch die Leistungen der Träger der Sozialhilfe und der öffentlichen Jugendhilfe ergänzt werden. Wir werden sie einbeziehen, um die Gesamtheit der Rehabilitation im Neunten Buch Sozialgesetzbuch zusammenzufassen. Dabei werden wir die Leistungen der Sozialhilfe weiterhin als nachrangige Leistungen vorsehen, wollen sie aber integrieren, um den Leistungsanspruch in seiner Gesamtheit zu fasssen und Übersichtlichkeit herbeizuführen. Bei den Leistungen der Sozialhilfe für die medizinische Rehabilitation und die Eingliederung wollen wir auf die Bedürftigkeitsprüfung verzichten und damit sicherstellen, dass von Geburt an Behinderte nicht anders behandelt werden als Menschen, die nach einem Unfall, zum Beispiel im Kindergarten, behindert werden. Auch hier muss für Gleichheit gesorgt werden. Nächster Punkt. In dem von mir angesprochenen Schwerbehindertengesetz haben wir erstmals festgelegt, dass schwerbehinderte Menschen bei der Eingliederung in den Arbeitsprozess Unterstützung durch eine Arbeitsassistenz bekommen, und zwar dort, wo es dringend notwendig und erforderlich ist. Diese Regelung wollen wir im Neunten Buch Sozialgesetzbuch konsequent auch auf andere Leistungsträger ausdehnen; denn ohne Arbeitsassistenz ist es für viele schwerbehinderte Menschen nicht möglich, den entsprechenden Weg zu gehen. ({4}) Ein nächster wichtiger Punkt, den wir im Gesetz regeln wollen, betrifft die Menschen, die gehörlos sind. Gehörlose Menschen werden zukünftig einen Rechtsanspruch auf Unterstützung haben, damit sie sich auf den Ämtern und bei Inanspruchnahme von Leistungen in der Lautund Gebärdensprache verständlich machen können; denn ohne Unterstützung bleibt ein Leistungsangebot für gehörlose Menschen sinnlos. Sie werden dadurch in der Lage sein, sich in der Laut- und Gebärdensprache verständlich zu machen. ({5}) Damit gehen wir in der Politik für und - ich betone mit behinderten Menschen einen neuen und entscheidenden Schritt, und zwar nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Mir ist dies sehr wichtig. Wir werden - ich kündige das schon an - als weiteren Schritt das Gleichstellungsgesetz angehen, indem wir den dritten Teil des betroffenen Bereichs für und mit behinderten Menschen regeln. Ich bin mir sehr sicher, dass wir unsere Gesellschaft durch diese rechtlichen Schritte und vor allem durch eine veränderte Praxis menschlicher gestalten. Eine Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, wie insgesamt miteinander umgegangen wird und wie mit Behinderungen und Nichtbehinderungen umgegangen wird. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die CDU/CSUFraktion erteile ich das Wort der Kollegin Claudia Nolte.

Claudia Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001621, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute in der Tat um ein sehr entscheidendes Gesetz in der Behindertenpolitik, ein Gesetz, um das lange gerungen wurde und das die Chance bietet, dass sich der Paradigmenwechsel, den wir in den letzten Jahren in der Behindertenpolitik verfolgen konnten, in einem Gesetz niederschlägt. ({0}) Das ist ein weiterer Schritt in der Rehabilitation und der Eingliederung von Menschen mit schweren Behinderungen. Ich bedaure es sehr, dass es in unserer Regierungszeit nicht gelungen ist, ein SGB IX auf den Weg zu bringen. ({1}) Liebe Kollegen von der SPD und von den Grünen, bei näherer Betrachtung des Gesetzgebungsverfahrens und dessen, was wir jetzt vor uns haben, ahne ich langsam, warum uns das nicht gelungen ist. Wir hatten einfach zu hohe Ansprüche. ({2}) Auch die Ansprüche und Erwartungen der Behindertenverbände waren damals deutlich höher als heute. ({3}) Um was geht es uns beim SGB IX? Derzeit gibt es ein leistungsfähiges Eingliederungs- und Rehabilitationsrecht mit hohen Leistungsansprüchen. Wir haben eingespielte Verfahren der Selbstverwaltung und kompetente Interessensvertretungen im Bereich der Behindertenorganisationen und -verbände. Eigentlich ist das heutige System gut. Das vorhandene gegliederte System sichert Kompetenz, Leistungsfähigkeit und Wettbewerb. Aber das Problem ist, dass das verzweigte System für den Betroffenen intransparent ist, dass er gar nicht so recht weiß, welche Leistungsansprüche er hat, dass dieses System sehr stark vom Fürsorgegedanken und weniger von der Einsicht geprägt ist, dem Betroffenen vor allem ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Außerdem gibt es oft ein Nebeneinander und weniger ein Miteinander der Reha-Träger. Dort, wo die Kompetenzen unklar sind, gibt es sehr lange Verfahrenswege. Deshalb muss es doch in einer neuen Kodifizierung des Rehabilitations- und Eingliederungsrechtes darum gehen, größere Transparenz sicherzustellen, den Betroffenen mehr Wahlfreiheit zu ermöglichen, eine bessere Zusammenarbeit von Leistungsträgern, Einrichtungen und Betroffenen zu bewerkstelligen sowie eine höhere Effizienz zu erreichen. Das erfordert ein Stück weit auch eine bessere Abstimmung der einzelnen Leistungsgesetze aufeinander. Zudem gab es zu unserer Zeit auch noch die Erwartung, dass mit einem SGB IX auch Leistungsverbesserungen verbunden sind. Diesen Zahn hat uns die jetzige Koalition schon bei der Festlegung der Eckpunkte gezogen. Diesen Erwartungen ist sie durch den Finanzierungsvorbehalt konsequent entgegengetreten. ({4}) Das also ist gar nicht erst angedacht worden. ({5}) Aber auch bezüglich der anderen Ziele, über die es in diesem Haus eigentlich eine große Übereinstimmung gibt, hat dieses Gesetz die Erwartungen überhaupt nicht erfüllt. ({6}) Die Regelungen werden komplizierter, sie werden nicht transparenter, sondern undurchsichtiger, ({7}) und sie sind mit einer größeren Bürokratie verbunden. Durch die Einführung neuer unbestimmter Rechtsbegriffe gibt es auch neue Unsicherheiten. Es wird also erst einen langen Weg durch die Instanzen geben, bis klar ist, welches Recht neu kodifiziert wurde. ({8}) Zudem sind Ansätze vorhanden, die deutlich machen, dass hier eine andere Philosophie zum Tragen kommt: weniger Selbstverwaltung und mehr staatlicher Dirigismus. Auch vom Gesetzestechnischen her finde ich den Entwurf höchst unbefriedigend. Viele Inhalte werden in Verordnungen abgeschoben. Man muss sich das einmal vorstellen: Allein in das erste Kapitel haben Sie 16 Verordnungsermächtigungen hineingeschrieben. Ein Parlament, das das mit sich machen lässt, macht sich bald selbst überflüssig. ({9}) Letztlich fehlt diesem Entwurf die Vision eines modernen Rehabilitationsrechtes. Eigentlich schreiben Sie den Status quo fest; Sie machen lediglich aus zwei Gesetzen eines. So wird zum Beispiel nicht deutlich, wie die Selbstbestimmung des Betroffenen sichergestellt werden soll. Wie wollen Sie dem Prinzip „ambulant vor stationär“ zur Durchsetzung verhelfen? Sie schreiben das zwar hinein, aber machen nicht deutlich, wie das praktische Verfahren aussehen soll. ({10}) - Ja, die Regelung zum Wunsch- und Wahlrecht ist gekennzeichnet von dem Bemühen, es allen recht machen zu wollen: den Leistungsträgern, die bezahlen müssen, den Einrichtungen, deren Existenz gesichert sein soll, aber auch den Betroffenen. ({11}) So kommt eine Wischiwaschi-Lösung heraus, bei der überhaupt nicht klar wird, wo Sie stehen. Letztendlich scheuen Sie den Streit mit den etablierten Einrichtungen. Diese fehlende Vision wird am deutlichsten, wenn man sich das Gesetzgebungsverfahren anschaut. Es gab keinen Entwurf, von dem Sie sagen konnten: Das ist unser Konzept, damit ist uns ein großer Wurf gelungen. Stattdessen haben Sie eine Flut von Gesetzentwürfen produziert, mit einer Halbwertzeit, die am Ende drei Wochen betrug. ({12}) Man ist überhaupt nicht mehr mitgekommen. Anhand der Änderungen, die gegenüber dem Vorgängerentwurf vorgenommen wurden, konnte man ziemlich genau sehen, wer der letzte Gesprächspartner des Ministeriums war. ({13}) Sie müssten doch selber eine Konzeption haben, anstatt zu versuchen, alles glatt zu ziehen und es jedem recht machen zu wollen. Wie wir wissen, kommt dabei am Ende nichts Gescheites heraus. ({14}) - Im Gegensatz zu Ihnen habe ich sogar jeden Änderungsentwurf gelesen, lieber Herr Kollege. Ich sage für die CDU/CSU-Fraktion noch einmal ganz deutlich: Wir halten ein Sozialgesetzbuch IX für richtig und notwendig. Dazu gehört meines Erachtens, dass die verschiedenen Leistungsgesetze aufeinander abgestimmt werden - ein Ansatz, der in diesem Gesetzentwurf fehlt. Ebenso ist es unumgänglich, eine befriedigende Lösung für die Eingliederungshilfe zu finden, insbesondere für die Frage des Nachranggrundsatzes. Es gab einmal eine Opposition aus SPD und Grünen, die vehement ein Leistungsgesetz für Menschen mit Behinderung forderte. Tun Sie es doch jetzt, wo Sie es können, verdammt noch mal! ({15}) Die Sozialhilfeträger zu Rehaträgern zu erklären, sie aber ausdrücklich im Bundessozialhilfegesetz zu belassen - sodass man dann natürlich auch den Prinzipien des Bundessozialhilfegesetzes unterworfen ist -, ist einer der eklatantesten Konstruktionsfehler in diesem Gesetzentwurf. Dadurch kann es am Ende keine befriedigende Lösung geben. Das wird auch nicht dadurch besser, dass Sie auf die ursprünglich geplanten Verschlechterungen im Sozialhilferecht schlussendlich verzichten. Ein weiterer problematischer Punkt - es kam dazu schon ein Zwischenruf - sind die Servicestellen. Ich unterstelle einmal, sie sind gut gemeint. Aber bekanntlich ist das Gegenteil von gut nicht böse oder schlecht, sondern gut gemeint. Was bedeutet das in der Konsequenz? Die Servicestellen sollen beraten und unterstützen, sie sollen entscheidungsreife Vorlagen für die Rehaträger erarbeiten. Sie müssen also professionell arbeiten, haben aber keine Entscheidungskompetenz. Diese können sie auch nicht haben, weil letztendlich die Rehaträger entscheiden müssen, denn sie sind diejenigen, die das Geld geben. Sie können nicht Finanz- und Entscheidungsverantwortung trennen. Dies bedeutet aber letztendlich, dass die Servicestellen zur Barriere werden. Es kommt zu einem höheren Zeitaufwand, zu mehr Bürokratie, weil eine Stelle erst einmal alles vorab regelt, was am Ende der Rehaträger noch einmal regelt. Dies führt zu mehr Frust bei den Betroffenen, aber auch bei denjenigen, die in den Servicestellen und bei den Rehaträgern arbeiten. Reibungsverluste sind vorprogrammiert. Die Akten werden von einem zum anderen geschoben werden und jeder wird sagen: Wir sehen gar nicht ein, wie die anderen das entschieden haben. - So kann es nicht funktionieren.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.

Claudia Nolte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001621, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. Die Kollegen geben mir eine Minute ihrer Redezeit ab. Ich möchte meinen Gedanken noch zu Ende führen. Wenn Sie das nicht wollen, müssten die Servicestellen Entscheidungskompetenz bekommen. Aber dann müssten Sie sich vom gegliederten System verabschieden, hätten ein Einheitssystem und müssten dafür sorgen, dass Entscheidungs- und Finanzkompetenz zusammenfallen. Es ist nicht zu verhehlen, dass das ganze Gesetz von solchen Tendenzen gekennzeichnet ist: mehr Kompetenz der BAR, mehr Kompetenz und mehr Mitspracherechte der Länder und der Bundesregierung bei der Versorgungsplanung. Diese Tendenzen heißen wir nicht gut. Ich bedaure sehr, dass unser Angebot zur Zusammenarbeit von Ihnen zu keinem Moment ernsthaft geprüft oder gar angenommen worden ist. Ich weiß nicht, wie wir im Laufe der Beratung unsere grundsätzlichen Bedenken ausräumen wollen. Wir haben ein wenig den Eindruck, dass Sie dieses Gesetz gern im Windschatten der Debatte über die Rente und die Mitbestimmung still durchziehen wollen. ({0}) Ich hoffe, dass es uns trotzdem im Zuge der Beratungen gelingt, die groben Schnitzer aus diesem Gesetz zu entfernen. Vielen Dank. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich der Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich glaube nicht, dass ausgerechnet dieses Gesetz sich dazu eignet, es im Windschatten über die Bühne zu bringen. Wir haben darüber auch sehr offen und viel diskutiert. Behindert ist man nicht, behindert wird man - die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, diesem ein Ende zu bereiten. Ich freue mich, dass wir nach der bereits vollzogenen und längst überfälligen Novelle des Schwerbehindertengesetzes heute das nächste große Reformprojekt auf den Weg bringen, das wir Menschen mit Handicap in unserer Koalitionsvereinbarung versprochen haben. ({0}) Das SGB IX steht für die Zusammenführung und Vereinfachung des Rehabilitationsrechts. ({1}) Sie haben selbst gerade zugegeben, dass es diesen Anspruch auch tatsächlich erfüllt. Seit vielen Jahren, ja fast schon Jahrzehnten, wurden immer wieder Bemühungen gestartet, die Rehabilitationsleistungen in einem neuen Sozialgesetzbuch zusammenzuführen und so zu vereinheitlichen. Ich bin sehr froh, dass uns dies nach nur eineinhalb Jahren Vorbereitungszeit und Diskussion - wir sind die erste Bundesregierung überhaupt; auch darauf haben Sie gerade verwiesen - gelungen ist. Es ist den beiden Regierungsfraktionen nicht allein gelungen. Sie haben es vielmehr durch intensive Zusammenarbeit mit den Behindertenverbänden, den Selbsthilfeinitiativen und mit vielen einzelnen Menschen mit Handicap geschafft, denen wir zu danken haben, dass sie unsere Arbeit stets kritisch und konstruktiv begleitet haben. ({2}) Vielfach wurden die Hürden beschrieben, die behinderte Menschen aufgrund der unterschiedlichen Regelungen und Zuständigkeiten zu überwinden haben, um Hilfen zu bekommen, natürlich ganz zu schweigen von den Hürden, die ihnen das Leben sowieso schon bereitet. Mit diesem Gesetz vereinfachen wir nicht nur das Rehabilitationsrecht durch die Zusammenführung in einem zentralen Gesetzbuch, sondern garantieren vor allem schnelle und verlässliche Bearbeitungszeiten. ({3}) Genau dazu schaffen wir die Service- und Beratungsstellen. Ich denke, dass das Ziel erreicht wird. Ich glaube auch, dass viele darauf sehr lange gewartet haben und jetzt zu Recht froh sind. ({4}) Meines Erachtens wurden gerade die viel zu langen Wartezeiten völlig zu Recht kritisiert. Es wurde kritisiert, dass sich Zuständigkeiten überschneiden und dass einzelne Rehabilitationsschritte nicht nahtlos ineinander übergehen. Rehabilitation ist nun einmal ein dynamischer Prozess und die zum Teil lebensnotwendigen Bedarfe von Menschen lassen sich nicht durch Gesetzbücher begrenzen und sie enden nicht an den Türen einzelner Institutionen. Ich möchte den Befürchtungen einiger Rehaträger entgegentreten, dass es mit der Einrichtung gemeinsamer Servicestellen darum gehe, Zuständigkeiten zu entziehen oder einen neuen Verwaltungsapparat zu schaffen. Es geht vielmehr darum, vorhandene Ressourcen zu bündeln. Dazu zählt für uns neben den bereits verankerten Rehaträgern vor allem die Behindertenselbsthilfe, die in die Koordinations- und Beratungstätigkeit zukünftig verstärkt einbezogen wird. Auch das ist ein wirklich neuer Schritt. Wir begrüßen - der Minister hat darauf hingewiesen -, dass nach dem Bundessozialhilfegesetz in Zukunft bei der beruflichen und medizinischen Rehabilitation die Bedürftigkeitsprüfung entfällt. Für viele in den Werkstätten beschäftigte behinderte Menschen bedeutet das, dass sie ihren Arbeitsplatz in der Werkstatt mit ihrem Einkommen endlich nicht mehr mitfinanzieren müssen. Entfallen wird damit ebenso die von vielen als entwürdigend empfundene Antragstellung und Überprüfung persönlicher Lebensverhältnisse. Damit beenden wir endlich die bislang bestehende Ungerechtigkeit im Leistungsrecht, das immer zwischen Menschen, die von Geburt an behindert sind, und Menschen, die erst im späteren Leben, zum Beispiel durch einen Unfall oder eine Erkrankung, zu Behinderten wurden, unterschieden hat. Auch hier wird deutlich: Die Situation der Menschen mit Handicap steht im Mittelpunkt unserer Politik. ({5}) Darüber hinaus haben wir im SGB IX endlich eine Lösung der Umwidmungsproblematik der Behinderteneinrichtungen gefunden. Kein Mensch mit Behinderung darf aus Kostengründen aus einer Einrichtung der Behindertenhilfe in eine Pflegeeinrichtung verlegt werden. Das haben wir seit vielen Jahren fraktionsübergreifend gefordert. Wenn, so sagt dieser Gesetzentwurf, die notwendige Pflege in der Einrichtung nicht geleistet werden kann und eine Verlegung aus medizinischen Gründen in eine andere Einrichtung notwendig ist, dann wird das nicht über den Kopf des oder der Betroffenen hinweg entschieden. Bei den Verhandlungen der Einrichtungsträger muss auch der Wunsch des Menschen mit Behinderung berücksichtigt werden. Das ist ein großer Erfolg in Richtung Selbstbestimmung. ({6}) Bündnis 90/Die Grünen haben sich besonders dafür stark gemacht, dass neben der Kompetenz der verschiedenen Rehabilitationsfachgebiete nun auch die bisher weitgehend ungenutzte und nicht selten an den Rand gedrängte Ressource der Selbsthilfe und des Expertentums der Betroffenen in den Rehabilitationsprozess eingebracht und gleichberechtigt behandelt wird. Viele Berichte von Betroffenen zeigen, dass es gerade das Zusammentreffen und die vielen kleinen Tipps anderer Betroffener waren, die sie motiviert haben, mit ihrer Behinderung besser umzugehen, neue Herausforderungen anzunehmen und sich der persönlichen Situation oder der Bürokratie nicht ausgeliefert zu fühlen. Ein anderer für uns vom Bündnis 90/Die Grünen zentraler Aspekt dieses Gesetzentwurfs ist die Stärkung der Wahlfreiheit von Menschen mit einem Handicap. Wenn wir es mit der Förderung eines selbstbestimmten Lebens von behinderten Menschen ernst meinen, dann müssen wir uns von überkommenen paternalistischen Herangehensweisen in der Behindertenpolitik und in der Behindertenarbeit Schritt für Schritt verabschieden. ({7}) Behinderte Menschen und deren Angehörige müssen wir stattdessen als kompetente und auch kritische Kundinnen und Kunden von Dienstleistungen begreifen. ({8}) Die Eröffnung der Inanspruchnahme eines persönlichen Budgets sowie die damit verbundene Möglichkeit der Selbstorganisation und der selbstbestimmten Wahl der Hilfen ist ein echter Quantensprung in der deutschen Behindertenpolitik in Richtung Selbstbestimmung. ({9}) „Persönliches Budget“ darf aber kein anderer Ausdruck für „Einsparungen“ sein. Es ist wie die Sachleistung ein Leistungsangebot, das die Rehabilitation und die Förderung eines selbstbestimmten Lebens von Menschen mit Behinderung zum Ziel hat. Vor allem geht es uns darum, ein weiteres Instrument für die Stärkung der Wahlfreiheit der Betroffenen zu schaffen, sodass auch weiterhin die Wahl zwischen verschiedenen Formen der Inanspruchnahme von Leistungen besteht. Hierbei wird das persönliche Budget in Zukunft ein wichtiges Instrument sein. Wir begrüßen es außerordentlich, dass das SGB IX für den Bereich des Sozialrechtes die deutsche Gebärdensprache bzw. die lautsprachbegleitenden Gebärden als Sprache der gehörlosen und ertaubten Menschen anerkennt. Das bedeutet, dass sie zukünftig bei allen Beratungen, zum Beispiel beim Arztbesuch, einen Gebärdensprachedolmetscher oder eine -dolmetscherin hinzuziehen können. Das ist ein bedeutsamer Schritt für gehörlose und ertaubte Menschen und ein längst überfälliger Schritt in eine moderne Gesellschaft ohne Barrieren. ({10}) Das SGB IX ist der erste Schritt, Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ umzusetzen. Wo das Sozialrecht betroffen ist, haben wir einen Antidiskriminierungsgrundsatz mit der nötigen Beweislastumkehr eingeführt. Wenn also zum Beispiel ein Arbeitgeber in Zukunft einen Beschäftigten nicht einstellt, dann muss er gegebenenfalls begründen, dass diese Absage nichts mit der Behinderung des Arbeitsuchenden zu tun hatte. Auch hier handelt es sich um einen großen Fortschritt. Das gilt ebenso für die Verbesserung der Situation von Frauen mit Behinderungen oder von allein erziehenden Müttern oder Vätern mit behinderten Kindern. Auch wenn die finanziellen Rahmenbedingungen - darauf ist hingewiesen worden - es nicht erlaubt haben, alle Wünsche aufzugreifen, so haben wir es hier dennoch mit einem ganz klaren Abbau von Barrieren im Sozialrecht zu tun. Wir befinden uns auf einem gutem Weg, was die Schaffung von 50 000 neuen Arbeitsplätzen für behinderte Menschen angeht, und Sie können sicher sein, dass sich meine Fraktion auch mit allem Nachdruck dafür einsetzen wird, dass ein Antidiskriminierungsgesetz für Menschen mit Behinderungen geschaffen wird. ({11}) Das Vertrauen, das wir bei Menschen mit Behinderungen geschaffen haben, sollten wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Es kann nicht sein, dass wir auf der einen Seite hier und heute gemeinsam unser Engagement für behinderte Menschen kundtun und auf der anderen Seite den Menschen, für die wir nun Antidiskriminierungsregelungen durchsetzen, das Lebensrecht absprechen. ({12}) Wir müssen uns zu unseren ethischen Grundwerten bekennen und zur Kenntnis nehmen, dass wir Familien mit den abstrakten Versprechungen der Gentechnik zunehmend verunsichern. ({13}) Natürlich wünschen sich Eltern ein gesundes Kind. Doch wer bestimmt überhaupt noch, wie viele vorgeburtliche Untersuchungen eine Frau über sich ergehen lassen muss, um herauszufinden, wie gesund das Kind in ihr ist? Möglicherweise wird festgestellt, dass das Kind behindert sein wird. Müssen dann nicht wir Politiker, aber auch unsere Gesellschaft alles daran setzen, dass die Beantwortung der Frage, ob das Kind auch wirklich ausgetragen wird, nicht davon abhängt, ob die Gesellschaft alle notwendige Unterstützung und Begleitung anbieten kann? ({14}) Ich wünsche mir, dass gesellschaftliches Miteinander von Menschen mit Behinderung und Menschen ohne Behinderung eine Bereicherung für beide Seiten bleibt, und bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({15})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb für die F.D.P.-Fraktion das Wort.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte ist der zumindest vorläufige Abschluss eines Verfahrens, das ich in zehn Jahren in diesem Hohen Haus noch nicht erlebt habe und das mir rückblickend wie ein Selbstfindungsprozess der rot-grünen Koalition vorkommt. ({0}) Von der Koalitionsvereinbarung bis heute haben Sie sich zwei Jahre lang über Eckpunkte, mehrere Diskussionsentwürfe, einen Vor-Referentenentwurf und den jetzigen Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen in einem sehr zähen Verfahren von Ihren überaus ehrgeizigen Zielen verabschiedet. Sie legen heute - ich muss es leider so sagen - ein Sammelsurium von Vorschriften vor, das viele behinderte Menschen und Verbände mit Recht als enttäuschend empfinden. Der große Wurf ist es in jedem Falle nicht. ({1}) Dass die Bundesregierung, obwohl Bundesminister Walter Riester den Entwurf gestern der Presse vorgestellt hat, sich das Vorhaben nicht per Kabinettsbeschluss zu Eigen gemacht hat, unterstreicht in besonderer Weise die Qualität der Vorlage. Herr Minister Riester, auch die geringe Begeisterung, mit der Sie den Gesetzentwurf heute hier eingeführt haben, ist darauf ein Hinweis. ({2}) Meine Damen und Herren, die behinderten Menschen in unserem Lande haben lange auf dieses Gesetz gewartet. Sie haben sehr viele Vorschläge ein- und sehr viel Geduld aufgebracht. Belohnt werden sie dafür leider nicht. ({3}) Ich will einige Punkte nennen. Das Wahl- und Wunschrecht der behinderten Menschen zwischen Geld- und Sachleistungen - ein begehrter Wunsch der Betroffenen wurde gewährt, aber nur eingeschränkt. Voraussetzung ist gleiche Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit. Der Nachweis ist vom Behinderten zu erbringen, was im Einzelfall nur schwer gelingen wird. Was das persönliche Budget angeht, so wird es nur die Erprobung im Modellvorhaben geben. Das Ob und Wie entscheidet allein der Rehabilitationsträger. Das ist - das muss ich sagen - nach den vielen vollmundigen Ankündigungen und Erklärungen aus den Reihen der Koalition eine große Enttäuschung für die Betroffenen. Schon diese beiden Punkte zeigen: Das rot-grüne Glaubensbekenntnis zieht sich bedauerlicherweise auch durch das SGB IX. Den Menschen wird nicht zugetraut, dass sie selbst am besten wissen, was gut für sie ist. Für rot-grüne Politiker kann und muss das - so sieht es aus - nur der Staat entscheiden. Sie wollen normierte Einheitsleistungen. In dem Bemühen um die Einheitlichkeit der Leistungserbringung weisen sie die Planung und Steuerung des gesamten Leistungsgeschehens den Rehabilitationsträgern zu. Die freien Träger von Diensten und Einrichtungen werden in ihrem Entwurf zu rein ausführenden Stellen degradiert. Für uns aber ist die Ausrichtung auch des SGB IX an den schon im Bundessozialhilfegesetz und SGB XI bewährten Grundsätzen der Subsidiarität und des Wettbewerbs unverzichtbar. ({4}) Die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung erfordert Wahlfreiheit, das heißt die Möglichkeit, aus einer möglichst großen Vielfalt von Angeboten freier, im Wettbewerb stehender Leistungserbringer auszuwählen. Wir haben die große Sorge, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass mit Ihrer Konzeption gerade für die Menschen mit schweren geistigen und mit mehrfachen Behinderungen und auch für deren Eltern keine Verbesserungen erreicht werden. Ich sage das wegen des auch weiterhin geltenden, ja zementierten Grundsatzes der Nachrangigkeit der Sozialhilfe. Ich sage das auch wegen der Festschreibung der lebenslangen Unterhaltspflicht für Eltern stationär betreuter Menschen mit schwerster geistiger bzw. mehrfacher Behinderung. Diese Eltern, die oft jahrzehntelang ihr schwerst behindertes Kind zu Hause betreut und versorgt haben, müssen - wie andere Eltern nicht behinderter Kindern auch - irgendwann einmal das Gefühl haben dürfen, aus der Pflicht zum Unterhalt entlassen zu werden, Vermögen ansparen und eine Altersversorgung aufbauen zu können, die in etwa dem Niveau vergleichbarer Eltern nicht behinderter Kinder entsprechen. Wir unterstützen jedenfalls die Forderung, die Heranziehung unterhaltspflichtiger Eltern für die Kosten der Betreuung, Förderung und Pflege ihrer behinderten Söhne und Töchter auf den Zeitraum bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres zu begrenzen. ({5}) Lassen Sie mich auf einen anderen Punkt zu sprechen kommen. Die zwangsweise Schaffung der örtlichen Servicestellen der Rehaträger nach § 23 SGB IX bis Ende 2002 ist unglücklich. Sie wird wohl - das steht zu befürchten - nur Kosten verursachen und in Wirklichkeit nichts bringen. Ich frage: Was soll der Zwang, wo sich doch die Kostenträger der Reha bereits auf eine weitgehende freiwillige Zusammenarbeit verständigt haben und wenn am Ende und zuletzt doch wieder der einzelne Rehaträger entscheidet? Ich stimme Frau Nolte zu: Hier wird nur unnötige Bürokratie geschaffen. ({6}) Ihr Gesetzentwurf beinhaltet erhebliche rechtliche und finanzielle Risiken. Die Sozialhilfeträger werden auf einen Schlag Rehaträger. Abgrenzungsschwierigkeiten sind vorprogrammiert. Das gesamte soziale Leistungssystem wird von heute auf morgen geändert, ohne dass vorher in ausreichendem Umfang verfassungsrechtliche oder finanzielle Überprüfungen vorgenommen worden wären. Das Rehasystem, meine Damen und Herren von RotGrün, ist auf die Sozialhilfe, die sich als lebenslange Eingliederungshilfe für Behinderte von kurzfristigen Rehamaßnahmen unterscheidet, nicht zu übertragen. Leistungsverschlechterungen können daher nicht ausgeschlossen werden; eine vollständige Bauchlandung der Koalition mit ihrem Vorschlag übrigens ebenfalls nicht. Leider gilt - ich sagte das bereits - auch weiterhin der Nachranggrundsatz des Bundessozialhilfegesetzes. Das ist deswegen bedauerlich, weil damit auch in Zukunft nicht ausgeschlossen werden kann, dass behinderte Menschen in Pflegeeinrichtungen abgeschoben werden, um Leistungen aus der Pflegeversicherung zu beziehen. Dazu tragen auch die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Bundessozialhilfegesetz und Pflegeversicherung bei. Auf die Klärung dieses Punktes werden wir in den kommenden Beratungen besonders achten. Immerhin wird für die erwerbsfähigen Menschen mit Behinderung das wichtige Thema Arbeitsassistenzen endlich geregelt. Aber die schwerstbehinderten Menschen in den Werkstätten haben wieder das Nachsehen, wie schon zuvor beim Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter. Sie gehen leer aus. Im Übrigen ist festzustellen, dass sich durch den gesamten Gesetzentwurf ein roter Faden von Ungereimtheiten und programmierten Fehlentwicklungen zieht. So ist zum Beispiel nach § 29 SGB IX die Förderung von Selbsthilfegruppen, -organisationen, oder Kontaktstellen vorgesehen. Die gleiche Bestimmung findet sich in § 20 Abs. 4 SGB V. Wer soll denn nun was fördern? Oder erhalten diese Gruppen etwa Geld aus beiden Töpfen? In § 18 SGB IX ist vorgesehen, dass Sachleistungen der Rehabilitation auch im Ausland erbracht werden können, wenn dort gleiche Qualität und Wirksamkeit billiger geleistet werden können. Aber ich frage Sie: Warum nur im Ausland? Warum wird der Vorrang der Belegung der Eigeneinrichtungen durch die Rentenversicherungsträger nicht beseitigt? ({7}) Wenn im Ausland Sachleistungen der Rehabilitation bei nachgewiesener Wirtschaftlichkeit erbracht werden können, warum verwehren Sie das dann privaten Kliniken im Inland? ({8}) Es bleibt festzuhalten: Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf für ein SGB IX bleibt hinter den Erwartungen der behinderten Menschen zurück. Er beseitigt nicht den Nachranggrundsatz der Sozialhilfe. Er bringt zu wenig für die Behinderten in den Werkstätten und für ihre Familien. Er schafft eine Fülle von Unsicherheiten für die Rehabilitations- und Sozialhilfeträger. Ich schlage Ihnen vor, mit dem gesamten Entwurf noch einmal in die interne Beratung zu gehen. Es hat mehrere Diskussionsentwürfe gegeben. Da erwartet man fast schon einen zweiten Referentenentwurf. Wenn Sie das allerdings nicht tun, dann erwartet uns eine Menge Arbeit im Ausschuss, um den Entwurf der Realität und den Bedürfnissen der Menschen anzupassen. Um der Sache und um der Menschen willen sind wir aber auch dazu bereit. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Ilja Seifert, PDS-Fraktion.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die große Umwälzung der bevormundenden Behindertenpolitik findet heute wirklich nicht statt. Aber, à la bonne heure: Erstmalig liegt ein diskutabler Entwurf auf dem Tisch des Hauses. Alle Achtung! Sie wollen das Finalitätsprinzip einführen und durchsetzen. Sie wollen dem Wunsch- und Wahlrecht Geltung verschaffen. Sie wollen die Zuständigkeiten klären. Sie wollen sogar einen Anspruch der Selbsthilfe auf Förderung durchsetzen. Nur, wenn Sie schon Finalitätsprinzip sagen, warum sagen Sie dann nicht klipp und klar: gleiche Leistung bei gleichartiger Beeinträchtigung, unabhängig von Art und Ursache der Beeinträchtigung? Wenn Sie Wunsch- und Wahlrecht sagen, warum schaffen Sie den § 3 a des BSHG, den Heimeinweisungsparagraphen, nicht ab? Da können wir über das Wunsch- und Wahlrecht reden. ({0}) Was zu den Zuständigkeiten zu sagen ist, haben die Kolleginnen und Kollegen der anderen Opposition bereits gesagt. Was die Förderung der Selbsthilfe angeht: Wann gibt es denn endlich eine institutionelle Grundausstattung, wenigstens für das Telefon und die Miete eines Raumes? Wo bleiben denn die umfassenden Klagerechte nicht nur für dieses Gesetz? Zum Titel. Also, ich bin sehr für Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben der Gemeinschaft. Wenn Sie diesen Begriff aber inflationär gebrauchen, entwertet er. Das ist so bei Inflation. Es reicht nicht aus, den Begriff „Rehabilitation“ einfach durch „Teilhabe“ zu ersetzen, wenn man den Inhalt nicht mitverändert. Machen Sie doch wenigstens den kleinen Schritt und sagen Sie: In Zukunft muss es zwei Berichte geben, einen Bericht zur Entwicklung der Teilhabechancen von Menschen mit Behinderungen am Leben der Gemeinschaft und einen anderen Bericht, der die Entwicklung der Rehabilitation darstellt. Beides zusammen zu sehen ist aber falsch. Es ist hier bereits mehrfach gesagt worden: Um ein Leistungsgesetz handelt es sich leider nicht. Das, was wir wirklich bräuchten, kommt nicht. Aber Sie hätten wenigstens in bestimmten, relativ kleinen Bereichen etwas tun können. Zum Beispiel gibt es keine Verbesserung für erwachsene behinderte Menschen in der Familie; Herr Kolb wies darauf hin. Es gibt keine Verbesserungen für Menschen im Förderbereich der Werkstätten für Behinderte. An eine Herausnahme der Eingliederungshilfe aus dem BSHG ist nicht gedacht. Das wäre wirklich etwas Gutes. Vielleicht - ich biete das an - können wir in der weiteren Diskussion dieses SGB IX wenigstens in ganz kleinen Schritten hin zu einem Leistungsgesetz entwickeln. Damit wäre nämlich die materielle Ausgestaltung des von Ihnen angekündigten Gleichstellungsgesetzes, das bürgerrechtorientiert sein muss, gegeben. In dieser Hinsicht biete ich Ihnen ausdrücklich konstruktive Zusammenarbeit an. Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen auf der Regierungsbank und von den Koalitionsparteien, eine schleichende Aushöhlung des gerade vor einem halben Jahr beschlossenen Schwerbehindertengesetzes durch dieses SGB IX gibt es mit uns nicht. Versucht das bitte nicht! ({1}) - Lesen Sie es doch einmal! - Wenn dort ganz unter der Hand die Prüfpflicht der Arbeitgeber, ob ein Platz mit einem schwerbehinderten Menschen besetzt werden kann, abgeschafft wird - das können Sie nachlesen -, dann ist das, gelinde gesagt, ein wenig unfair. Es reicht ebenfalls nicht aus, wenn Arbeitsassistenz nur ein einziges Mal erwähnt wird und eben nicht präzisiert, sondern unter den Kostenvorbehalt der Mittel für die Ausgleichsabgabe gestellt wird. Damit wird sozusagen der Schwarze Peter den Hauptfürsorgestellen zugeschoben. Der Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz ist ein hohes Gut, das im Schwerbehindertengesetz verankert wurde. Sie müssen aber irgendwann einmal sagen, wie Sie sich die Ausgestaltung dieser Arbeitsassistenz vorstellen. Der Kollegin Nolte stimme ich ausdrücklich zu, dass es nicht ausreicht, alles mit Verordnungsermächtigungen zu machen. Entweder beharren wir auf unserem Recht als Gesetzgeber oder wir sagen: Die Regierung kann machen, was sie will. ({2}) Das ist aber nicht mein Verständnis von parlamentarischer Demokratie. Es gibt akzeptable und diskutable Ansätze, aber wenn Sie nicht ein wenig zulegen, indem Sie die Mitwirkung der Betroffenen institutionell stärken und Leistungen anbieten, die wir in der Gesellschaft wirklich brauchen, dann kann nicht mehr von Teilhabe die Rede sein, sondern nur noch von geteilter Aufmerksamkeit. Das brauchen wir nicht. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe, dass wir zu einer vernünftigen, guten und erfolgreichen Diskussion kommen. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort der Kollegin Silvia Schmidt, SPD-Fraktion.

Silvia Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003217, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zwanzig Jahre warten unsere Mitbürger und Mitbürgerinnen mit Behinderungen und zwanzig Jahre warten Verbände und Interessenvertretungen schon auf ein Sozialgesetzbuch IX. Wir setzen das lang geforderte und längst überfällige Gesetz endlich um. Wir nehmen den Gleichstellungsauftrag in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes und Art. XIII des Vertrages von Amsterdam nicht nur ernst, sondern sozialdemokratische Politik übernimmt hier eindeutig Verantwortung. ({0}) Behinderte Menschen sind Experten in eigener Sache mit Fähigkeiten und Kompetenzen. Es gilt, Möglichkeiten zu schaffen, damit diese endlich wahrgenommen werden können. Unser Entwurf eines SGB IX stellt einen massiven Wendepunkt in der Behindertenpolitik dar. Politik für behinderte Menschen wird durch Politik von und mit ihnen abgelöst. Das ist ein entscheidendes Ereignis und damit ereignet sich tatsächlich der geforderte Paradigmenwechsel. Dieser Entwurf, Herr Kolb, findet hohe Anerkennung bei allen betroffenen Verbänden. ({1}) - Lesen Sie bitte einmal in der Fachliteratur nach, welche Haltung die jeweiligen Verbände und Vereine einnehmen. Endlich finden wir in der Behindertenpolitik internationalen Anschluss. Wir reagieren auf die Grundrechte-Charta der EU und auf Diskussionen innerhalb der Weltgesundheitsorganisation um einen neuen Begriff der Behinderung. ({2}) Meine Damen und Herren, liebe Mitbürger und Mitbürgerinnen, im Mittelpunkt unseres Neuanfangs steht ein innovatives Rehabilitationsmanagement. Die einzurichtenden Servicestellen sollen ein optimales Management im Sinne der behinderten Menschen garantieren. Unsere Behindertenpolitik ist eine Politik der Bewegung und der Weiterentwicklung. ({3}) Die Politik des Stillstandes, Herr Meckelburg, hat ein Ende. ({4}) - Warten Sie noch eine Weile! - Man denke nur an den letzten Entwurf unserer Vorgängerregierung zum SGB IX, der ohne Diskussion am grünen Tisch entstanden ist und 1993 von den Verbänden und Betroffenen zum größten Teil abgelehnt und verworfen wurde. Das sind wahrscheinlich die hohe Verantwortung und die hohen Ansprüche, die Sie, Frau Nolte, vorhin erwähnt haben. Die Betroffenen wollten Ihren Gesetzentwurf nicht. Die Ansprüche waren wahrscheinlich zu hoch. ({5}) Seither sind von Ihnen nur Ankündigungen zu hören gewesen. ({6}) Wir haben das Gespräch mit den Verbänden und allen Beteiligten wieder aufgenommen. Unser Wahlversprechen und die Koalitionsvereinbarungen mündeten in Diskussionen mit den Betroffenen, Verbänden und Trägern, sie führten zu einer gemeinsamen Entwicklung der Eckpunkte und zu insgesamt sechs Arbeitsentwürfen zum SGB IX. In größtmöglicher partizipativer Demokratie haben wir einen breiten Konsens erreicht. In diesem Sinne appelliere ich an Sie, meine Damen und Herren, die bei der Realisierung und Umsetzung des SGB IX mit in der Verantwortung stehen, mitzuarbeiten. Damit meine ich ausdrücklich auch die verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. Die Teilhabe von behinderten Menschen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und darf nicht durch interfraktionelle Grabenkämpfe blockiert werden. Gemeinsam und im Sinne eines breiten gesellschaftlichen Konsenses müssen wir innovative Wege beschreiten. Es ist fatal, kontraproduktive Ängste zu schüren, wo Lösungen gefragt sind. So gehen wir davon aus, dass die Umsetzung des SGB IX die Kommunen langfristig nicht zusätzlich belasten wird. Mittelfristig wird sie die Kommunen sogar entlasten. Die Entbürokratisierung, das heißt verkürzte Bearbeitungszeiten, werden dazu führen, dass Kosten eingespart werden. Natürlich bedaure ich, dass das Problem des Rückgriffs auf das Privatvermögen im Sozialhilferecht noch nicht umfassend gelöst ist. Das werden wir aber erst mit einer generellen Reform der Sozialhilfe ändern können. ({7}) Aber der erste Schritt ist bereits getan: Die Bedürftigkeitsprüfung bei Leistungen der Sozialhilfeträger zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben einschließlich der Leistungen im Arbeitsbereich anerkannter Werkstätten entfällt. Meine Damen und Herren, ich möchte noch kurz zwei Beispiele aus unserem Gesetzentwurf hervorheben, die zeigen, dass sich eine bürgernahe Modernisierung des Sozialstaates an den Bedürfnissen und Nachfragen behinderter Menschen orientiert und nicht an den Anbietern sozialstaatlicher Leistungen. Das Anliegen der Betroffenen wird zukünftig im Mittelpunkt stehen. In Diskussionsrunden und in einem regen Meinungsaustausch und nicht zuletzt in unseren Werkstattgesprächen haben wir die Berücksichtigung besonderer Probleme und Bedürfnisse von behinderten Frauen im Gesetzentwurf festgeschrieben. ({8}) Die Zeiten, in denen Frauen Bittstellerinnen und Almosenempfängerinnen waren, angewiesen auf soziale Brotkrumen einer Wohlstandsgesellschaft, sind mit dem von uns eingeleiteten Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik endlich vorbei. ({9}) Unsere sozialdemokratische Reformpolitik setzt auf das Prinzip des Empowerments. Betroffene Frauen werden zu Expertinnen in eigener Sache und damit zu Beteiligten. ({10}) Die Interessenvertretungen behinderter Frauen werden in allen beratenden Gremien mitbestimmen, Herr Meckelburg. Behinderte Frauen mit Erziehungspflichten erhalten einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit und einen Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz. Behinderte Frauen werden in Zukunft durch geeignete wohnortnahe Angebote gleiche Chancen im Erwerbsleben erhalten. Betroffene Frauen sehen sich im täglichen Leben immer noch ständig mit Diskriminierungen konfrontiert. Rollstuhlfahrerinnen schilderten mir sexuelle Belästigungen. Um es ganz deutlich zu sagen: Diese Frauen können ihre unerträgliche Hilflosigkeit und ihre Ängste kaum verarbeiten. Die Erweiterung des Rehabilitationssportes ist nur eine der zahlreichen Möglichkeiten, diese Frauengruppe zu unterstützen und ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Es wurde vorhin das Stichwort „Leistungsgesetz“ in die Debatte eingebracht. Am Rande bemerkt - die eben angesprochenen Leistungen sind ebenfalls zusätzliche Leistungen -: Es wird auch Mittel für Haushaltshilfen und für Reise- und Verpflegungskosten geben. Abschließend möchte ich noch auf ein Kernstück unseres Reformwerkes, nämlich auf die Früherkennung und Frühförderung als Komplexleistung, eingehen. Erstmals sind nicht ärztliche psychologische, heilpädagogische, sozialpädiatrische und psychosoziale Leistungen, verbunden mit der Beratung von Eltern, in der medizinischen Rehabilitation möglich. Die Resonanz auf § 30, der einen deutlichen Richtungswechsel aufzeigt, ist nicht nur bei allen Verbänden und in der Fachwissenschaft, sondern gerade auch bei den betroffenen Eltern äußerst positiv. Bitte nehmen Sie das zur Kenntnis. Herr Kolb, in diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, dass der neue § 40 a BSHG eindeutig klarstellt, dass die Eingliederungshilfe in einer Behinderteneinrichtung die Pflege mit umfasst. Damit hat das Abschieben von Schwerstbehinderten in Pflegeheime endlich ein Ende. Verschiebebahnhöfe wird es nicht mehr geben. ({11}) - Prüfen Sie das! Unsere behinderten Mitbürger und Mitbürgerinnen, auch Menschen mit temporärer Behinderung und ältere Menschen, werden nicht mehr in die Rolle der Hilfesuchenden gedrängt; denn das Leitmotiv sozialdemokratischer Behindertenpolitik ist: Teilhabe und Selbstbestimmung sowie Bürgerrechte für alle. Lassen Sie uns den eingeschlagenen Weg gemeinsam gehen, damit Integration und Selbstbestimmung behinderter Menschen nicht nur ein Versprechen ist, sondern zur Selbstverständlichkeit in unserer Zivilgesellschaft wird. Ich danke Ihnen. ({12})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Matthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion.

Matthäus Strebl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002940, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei der Gestaltung eines Sozialgesetzbuches IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - darf es, so möchte ich feststellen, für uns alle, unabhängig von der Fraktionsangehörigkeit, nur ein Leitmotiv geben: Wie können die Beteiligungschancen der rund 7 Millionen behinderten Menschen deutlich verbessert werden? Was können wir für die Mitwirkungsmöglichkeiten ihrer Angehörigen tun? Weit mehr als die Hälfte der Betroffenen ist aus Krankheitsgründen schwerbehindert. Die deutlich verlängerte Lebenszeit führt dazu, dass das Risiko der Behinderung und der Pflegebedürftigkeit weiter zunimmt. Auch der Rehabilitationsbedarf wird sich erhöhen. Die von CDU/ CSU und F.D.P. geführte Bundesregierung hatte bereits erste Antworten darauf gegeben: das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot von 1994 und die Pflegeversicherung von 1995. Ich hatte gehofft, dass wir auf dieser Basis das SGB IX gemeinsam aufbauen würden. Doch Ihre Signale waren gänzlich andere - dazu will ich eine kurze Rückschau halten -, wie ich auch der bisherigen Debatte entnehmen konnte: Sie verschieben Kosten der Krankenversicherung auf die Pflegeversicherung, senken massiv die Beiträge von Arbeitslosen zur Pflegeversicherung und verursachen dadurch jährliche Verluste von etwa 400 Millionen DM bei der Pflegeversicherung. ({0}) Silvia Schmidt ({1}) Die unter Norbert Blüm - daran möchte ich erinnern komfortabel aufgebauten Rücklagen drohen nun von Walter Riester verscherbelt zu werden. Doch Sie spielen beim SGB IX weiter auf Zeit: Noch im Wahlkampf 1998 haben Sie den Menschen ein Leistungsgesetz des Bundes versprochen, das - ich zähle jetzt die einzelnen Punkte auf - die Rechtslage wesentlich vereinfachen, mehr Überschaubarkeit und Effizienz sicherstellen und die Lage der betroffenen Menschen verbessern sollte. ({2}) Falls Sie es nicht wissen sollten: Heute sind wir im dritten Amtsjahr Ihrer Regierung. Was vorliegt, ist viel Papier. Aber von den hehren Absichten ist wenig übrig geblieben. Es ist ebenfalls festzustellen: Von der rot-grünen Koalition wird bisher eine Behindertenpolitik mit beschränkter Hoffnung betrieben. ({3}) Ich wiederhole: Im Bundestagswahlkampf von 1998 haben Sie den Menschen ein Bundesleistungsgesetz versprochen. ({4}) Mit Ihrer Vorlage zementieren Sie aber weitgehend die bestehenden Verhältnisse, die von allen Seiten unstrittig als dringend reformbedürftig angesehen werden, verehrte Frau Kollegin Schmidt. Sie nehmen zumeist nur kleine Veränderungen im Eingliederungsrecht vor, eine Prosa - so möchte ich feststellen - mit vielen Worten und kleinen Taten. Im Bundestagswahlkampf 1998 versprachen Sie weniger Bürokratie und mehr Effizienz. In Ihrer Vorlage fordern Sie den Aufbau neuer Behördenstrukturen, die neben den bestehenden Organisationen arbeiten sollen. Völlig unklar sind der Status und die Kompetenzen, die dieser Quasibehörde zugestanden werden sollen. Arbeiten Sie neben vorhandenen Einrichtungen oder mit diesen zusammen? Das ist hier die Frage. Unter dem Strich stelle ich daher fest: Nicht weniger, sondern mehr Bürokratie ist das Ergebnis Ihrer so genannten Reform. Der VDR rechnet allein mit rund 300 Millionen DM an zusätzlichen Verwaltungskosten. Ich fordere Sie auf: Geben Sie dieses Geld den Betroffenen und den Verbänden, statt es in eine neue Bürokratie fließen zu lassen. ({5}) Dies wäre eine wirkliche Verbesserung der Beteiligungschancen behinderter Menschen. Wir haben in Bayern sehr frühzeitig mit den Betroffenen und ihren Verbänden über das heutige Projekt gesprochen. Im Frühjahr des Jahres 2000 haben wir in München eine Anhörung dazu durchgeführt, verehrte Frau Kollegin Schmidt. Alle eingeladenen Verbände - Caritas, Blindenbund, die Lebenshilfe, die Diakonie, das Rote Kreuz, um nur einige zu nennen - haben uns klare Vorstellungen mitgegeben. Sie wünschen ein einheitliches Bundesleistungsgesetz, das die behindert geborenen und die später von Behinderung betroffenen Menschen ohne Bedürftigkeitsprüfung und Rückgriff auf Vermögenswerte gleichstellt. Viele Menschen mit Behinderung oder auch chronisch erkrankte Menschen empfinden die Einkommens- und Vermögensprüfung nach dem Sozialhilferecht zu Recht als diskriminierend. Ich sage es noch einmal ausdrücklich: Wir unterstützen Sie bei der Gestaltung eines einheitlichen Leistungsgesetzes, wie Sie es vor der Wahl versprochen haben. Handeln Sie jetzt, sonst fühlen sich die Verbände und der betroffene Personenkreis von Ihnen getäuscht und enttäuscht. Die Betroffenenverbände wünschen eine größere Überschaubarkeit und eine Vereinfachung des Behindertenrechts. Weiter sollten die Anspruchsvoraussetzungen bei den verschiedenen Trägern vereinfacht und harmonisiert werden. Dies kann ich bei den über 300 Seiten, die uns von Ihnen geliefert wurden, nicht feststellen. Schaffen Sie keine neuen Hürden, sondern verfahren Sie nach dem Modell, dass die vorhandenen Einrichtungen vernetzt werden und stärker kooperieren. Danach sollte die erste angelaufene Station gemeinsam mit dem Betroffenen ein Konzept erarbeiten und dieses dann mit dem Rehabilitationsträger abstimmen. Das funktioniert aber nur mit einem einheitlichen Bundesleistungsgesetz, weil sonst wieder Abgrenzungsprobleme und Rechtsirritationen auftreten werden. Alle Verbände, die wir angehört haben, waren sich darin einig, dass es bei der zu erwartenden demographischen Entwicklung keine Deckelung der bisherigen Ausgaben geben darf, wenn nicht notwendige Leistungen gestrichen und das heutige Hilfeniveau für die behinderten Menschen unterlaufen werden sollen. Verehrte Frau Kollegin Schmidt, schon bei der Budgetierung im Gesundheitswesen haben Sie den Kern einer Zweiklassenmedizin gelegt. Ich bin gespannt, wie die neue Bundesgesundheitsministerin in Zukunft hier verfahren wird. Das gleiche Schicksal droht nun auch bei den Beteiligungschancen behinderter Menschen. Die Union und auch die CDU/CSU-Fraktion wollen ein neues SGB IX. Wir sind bereit, im Deutschen Bundestag, aber auch mit den Bundesländern dafür zu streiten und unseren Teil dazu beizutragen, dass zwischen Bund und Ländern eine faire Finanzierung vereinbart wird. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Achten Sie bitte auf die Redezeit.

Matthäus Strebl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002940, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Betrachten Sie unsere Kritik als konstruktiven Beitrag und als Mitwirkung an dem ehrgeizigen Ziel, eine gerechte Teilhabe behinderter Menschen zu erreichen. Deshalb appelliere ich an die Koalition: Zeigen Sie mehr Mut und ziehen Sie das vorgelegte Konzept der Mittelmäßigkeit zurück. Hören Sie auf die Betroffenen und ihre Verbände. Dann wird es in diesem Plenum eine große Mehrheit für das dringend erforderliche Sozialgesetzbuch geben. Wir alle sind das den betroffenen Menschen schuldig. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Behinderten, Karl-Hermann Haack. Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte mich auf einige Argumente konzentrieren, die hier von der Opposition vorgebracht worden sind. Als Erstes möchte ich feststellen: Herr Kolb, Sie sind ein politischer Schnarchhahn. ({0}) Am Mittwoch ist im Kabinett das SGB IX beschlossen worden und Sie stellen sich zwei Tage später hier hin und behaupten, dieses SGB IX sei gar nicht beschlossen. Es ist beschlossen. Sie haben am Mittwoch geschlafen. ({1}) Als Zweites, Frau Nolte, möchte ich Ihnen sagen, auch Ihnen allen von der schwarz-gelben Zunft: Die Behindertenverbände, die Wohlfahrtsverbände, die Kirchen stimmen diesem Gesetzentwurf zu. ({2}) Wir hatten vor einigen Tagen in Potsdam eine abschließende Sitzung mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege und den Behindertenorganisationen. Sie haben diesem Gesetz zugestimmt. ({3}) Die Bundesvorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Frau Stolterfoht, hat dabei gesagt, dieses SGB IX sei der innovative, qualitative Sprung im Umbau des Sozialstaates. ({4}) Das heißt mit anderen Worten, Sie haben während der Erstellung dieses Gesetzentwurfs gar nicht den Prozess mitbekommen, dem wir uns gestellt haben. ({5}) In der alten Koalition haben Sie dreimal versucht, ein SGB IX zu schaffen. Sie sind daran in Ihrer alten Koalition gescheitert, weil Sie das mit den sieben sozialen Sicherungssystemen hinter verschlossenen Türen ohne die Betroffenen auskungeln wollten. Da haben Ihnen die Betroffenenverbände erklärt: So nicht! Wir haben den Paradigmenwechsel begonnen, indem wir die Betroffenen und ihre Verbände Schritt für Schritt einbezogen haben. Kein Punkt - ob das persönliche Budget als Modellversuch, ob die Wahlfreiheit, ob die Servicestellen, ob die Arbeitsassistenzen -, der die Qualität dieser neuen Politik deutlich macht, ist ohne die Betroffenen erarbeitet worden. Dazu hat es Workshops gegeben, dazu haben wir Vorschläge erarbeitet. ({6}) Das erklärt Ihre Uneinsichtigkeit in die neue Qualität, das Nichtverständnis der neuen Qualität von Gesetzgebung dieser Koalition, dass wir Schritt für Schritt Entwürfe vorgelegt haben. ({7}) Wir haben die jeweiligen Ergebnisse von Wochenberatungen und Tagesberatungen veröffentlicht. Ich bin der Abteilung V im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung dankbar dafür, dass sie das immer wieder neu formuliert und zur Diskussion gestellt hat, mit der Maßgabe, von allen, die davon betroffen sind, die daran interessiert sind, Rückmeldungen zu erbitten. Diese Rückmeldungen sind gekommen. Also sage ich: Sie sind dabei. Jetzt komme ich zu drei Punkten. Der erste Punkt: Frau Nolte beklagt „dunkle Begriffe“. In sieben sozialen Sicherungssystemen, die sich mit den Belangen von behinderten Menschen, von Rehabilitanden beschäftigen, gibt es sieben unterschiedliche Begrifflichkeiten, sieben unterschiedliche Verfahren für Leistungsgewährung, sieben unterschiedliche Zugangswege. Dies wird nun vereinheitlicht. Dass die Versicherungssysteme an dieser Frage kein Gefallen haben, dass sie gern weiter in ihrem Garten gärteln, ist doch logisch. ({8}) Aber wir haben ihnen gesagt: Die Regelung geschieht auf der Grundlage eines Begriffs, der auf der Ebene der WHO geprägt worden ist, des Begriffs der gesellschaftlichen Teilhabe. Damit lösen wir uns aus über 100-jähriger Tradition, Behinderung als Krankheit zu begreifen. ({9}) Nein, meine Damen und Herren, behindert sind wir alle oder wir werden es. Behinderung ist zu beschreiben mit „fehlender Kompetenz“, mit „Defiziten“. Wir gleichen das jetzt aus, indem wir Kompetenzen stärken und Eingliederung ermöglichen. Das ist das Neue. ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schwaetzer? Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten: Bitte, Frau Kollegin, nur zu.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, bei dem großen Behindertenkongress, den Sie veranstaltet haben, kam in der Diskussion ganz klar heraus, dass diese Servicestellen nur dann sinnvoll sind, ({0}) wenn sie tatsächlich die Entscheidung der Rehabilitationsträger vorwegnehmen könnten. Sehen Sie in irgendeiner Weise eine Möglichkeit, dies durchzusetzen? Ist es nicht richtig, was von Behindertenverbänden formuliert worden ist, dass diese Servicestellen eine reine Augenwischerei sind und eine Doppelarbeit bedeuten, weil sich die Rehaträger natürlich nicht die letzte Entscheidung vorwegnehmen lassen? Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten: Ich fange gleich mit diesem Punkt an. Als Erstes hatte ich gesagt, dass wir eine neue Begrifflichkeit haben. Als Zweites komme ich jetzt zu den Servicestellen. Bisher - das hat der Minister schon gesagt - läuft ein Mensch mit rehabilitativen Ansprüchen von Pontius zu Pilatus. Ich gebe Ihnen hierzu einige Zahlen an die Hand: 52 Prozent der Menschen wohnen auf dem Land. Das heißt, die Menschen, die auf dem Land wohnen, gehen von der Stadt A zur Gemeinde B und zum Kreishaus C, um dort ihre Leistungen zu erbitten. ({1}) Jetzt fassen wir dies in den Servicestellen zusammen. Der Grundsatz heißt nun: Die Dienstleistung folgt dem Menschen und nicht der Mensch der Dienstleistung. ({2}) Dies hat zur Konsequenz, dass die Servicestellen auf Landkreisebene eingerichtet werden. Die Leistungen werden somit ortsnah und zeitnah erbracht. Innerhalb einer zeitlichen Begrenzung muss entschieden werden, sonst hat der Rehabilitand das Recht, selbstständig Leistungen in Anspruch zu nehmen und die Rechnung bezahlen zu lassen. Als Drittes: Einmal entschieden ist immer entschieden. Ein anderer Systemträger darf die Biografie eines Behinderten nicht neu interpretieren. Auch damit ist Feierabend. ({3}) Nun komme ich zu Ihrer Frage. An diesem Verfahren haben die Versicherungssysteme kein Gefallen gefunden. Ich nenne in diesem Zusammenhang Frau Nolte, die von den Rechtsverordnungen spricht. Genau das ist der Punkt: Wir möchten ein System haben, das auf der Ebene der Selbstverwaltung funktioniert und ortsnah, zeitnah und kompetent ist - das kann jeweils vernetzt sein. Man ist dabei, ein solches System zu etablieren. Ich habe mich gestern mit den Vorständen der BfA, der Unfall- und der Krankenversicherung getroffen. Sie haben mir versprochen: Zum 1. Juli dieses Jahres wird dieses System stehen. Also bewegen wir uns in die richtige Richtung. Es ist entschieden: Wenn die Servicestelle die Entscheidung des Rehaträgers vorbereitet hat, dann wird sie auf dieser Grundlage erfolgen. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, ich darf Sie einen Augenblick unterbrechen. Ich möchte ungern die Debatte zu sehr verlängern. Herr Koppelin, Sie haben eine Zusatzfrage? ({0}) - Nein, diese gestatte ich Ihnen nicht mehr, weil Freitagnachmittag ist. ({1}) - Das kann ich entscheiden. - Wollen Sie jetzt eine Zwischenfrage stellen oder nicht? ({2}) Dann formulieren Sie jetzt eine Frage. - Das kann ich entscheiden, Herr Kollege. Da bin ich mir sicher. Ich glaube, es ist im Sinne des Ablaufs der heutigen Debatte. Ich bin für Lebendigkeit und Zwischenrufe. Aber wir sollten uns bemühen, die Debatte nicht allzu sehr zu verlängern. Deswegen habe ich auch die Redezeit von Herrn Haack wieder laufen lassen, um einigermaßen im Zeitplan zu bleiben. Dafür bitte ich um Verständnis. ({3}) Jetzt hat der Kollege Koppelin das Wort zu einer Zwischenfrage. ({4}) - Auch Herr Haack darf nicht überziehen. Er hat Ihre Frage beantwortet, auch wenn Sie mit der Antwort nicht zufrieden sind. Während er auf Ihre Frage geantwortet hat, habe ich seine Redezeit gestoppt. Das sind die Spielregeln dieser Geschäftsordnung. Jetzt hat der Kollege Koppelin das Wort. Bitte sehr.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Da ich nicht die Gelegenheit zu einer Kurzintervention bekomme - ich bitte um Verständnis dafür, dass ich das bedaure - und gern etwas zu dem Stil der Rede gesagt hätte - darüber werden wir an anderer Stelle reden müssen -, darf ich folgende Frage an Sie richten. ({0}) - Es geht schon wieder los. Sie sind nicht in der Lage, einmal zuzuhören. Ich möchte gerne folgende Frage stellen, weil ich mich zum Thema der Behinderten sehr engagiere. ({1}) - Ich denke, Sie sollten sich Ihre Kommentare sparen und zuhören. ({2}) Das können Sie anscheinend nicht. ({3}) Ich frage Sie: Finden Sie als Behindertenbeauftragter der Bundesregierung den Stil, in dem Sie heute Ihre Rede halten, in Ordnung? Ist es nicht so, dass es bei aller politischen Auseinandersetzung - diese muss natürlich von der Bundesregierung und allen Fraktionen geführt werden - Aufgabe des Behindertenbeauftragten der Bundesregierung sein muss, die Interessen der Fraktionen zum Wohle der Behinderten zusammenzuführen und nicht das Sprachrohr einer Partei und der grobe Klotz zu sein, der auf die Oppositionsfraktionen einschlägt? Ich sehe - sehen Sie das nicht auch so? - Ihre Aufgabe darin, diejenigen, die sich in allen Fraktionen zum Wohle der Behinderten engagieren, zusammenzuführen. Finden Sie nicht auch, dass Ihre Rede heute völlig daneben ist? ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat Kollege Haack das Wort zur Beantwortung dieser Frage. Bitte sehr. Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten: Herr Koppelin, es liegt vom 19. Mai 2000 eine Entschließung vor, in der exakt das steht, was wir heute realisieren. Das haben Sie einmütig mitbeschlossen. Jetzt sagen Sie - wir müssen uns das anhören -, dass es nicht richtig ist, dass das SGB IX die Zustimmung der beteiligten Verbände und Organisationen findet. ({0}) Herr Kolb behauptet zudem, es liege kein entsprechender Kabinettsbeschluss vor. Ich erkläre Ihnen jetzt den Weg, den wir hier vorsehen: Nach der geplanten Anhörung werde ich den Vorschlag zu einer gemeinsamen Sitzung aller Beauftragtem und Berichterstatter der hier im Hause vertretenen politischen Parteien über diesen Gesetzentwurf machen, mit der Maßgabe, zu einer einheitlichen Beschlussfassung zu kommen. Nur, angesichts dessen, dass Sie hier sagen, es liege kein Kabinettsbeschluss vor, das seien nur Rechtsverordnungen und die Verbände stimmten dem Vorhaben nicht zu, muss die Musik auch einmal von einer anderen Seite gespielt werden. ({1}) Das bin ich den Kolleginnen und Kollegen der Koalition, die an diesem Thema Woche für Woche gearbeitet haben, und den Damen und Herren aus den betroffenen Verbänden und Organisationen schuldig, die nach Berlin gekommen sind und gesagt haben: Wir arbeiten mit Ihnen zusammen. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, falls Sie mir mit diesem Zuruf Parteilichkeit vorwerfen, weise ich diesen Vorwurf zurück. Das ist nicht in Ordnung. Ich bemühe mich um einen vernünftigen Ablauf. Ich überlege, was ein „Schnarchhahn“ eigentlich sein soll. Dazu werde ich nichts Weiteres sagen. Aber ich verwahre mich dagegen, dass Sie mir unterstellen, ich sei in der Amtsführung parteilich. Das Präsidium hat auch darauf zu achten, dass der Ablauf der parlamentarischen Beratung vernünftig vonstatten geht. Darum bemühe ich mich. ({0}) Herr Kollege, jetzt haben Sie das Wort. Ihre Redezeit läuft wieder. Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten: Ich möchte nun auf den dritten qualitativen Sprung, auf das Thema Wahlfreiheit, zu sprechen kommen. Das bisherige System war dadurch geprägt, dass gesagt wurde: Der Mensch mit Behinderungen ist ein Objekt der Fürsorge. - Nun soll ihm ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht werden. An dieser Stelle möchte ich zunächst einmal den Organisationen und Gruppen einen ausdrücklichen Dank aussprechen, die sich in der Vergangenheit, in den letzten 50 bis 100 Jahren, Menschen mit Behinderungen zugewandt haben und ihnen im Rahmen des Fürsorgegedankens ein angemessenes Leben ermöglicht haben und die nach den vielen Gesprächen der letzten Zeit bereit sind, mit uns gemeinsam voranzugehen. ({1}) Ich sage Ihnen hier vor dem Deutschen Bundestag: Dieser Paradigmenwechsel wird nicht nach dem Prinzip „Entweder-oder“, sondern nach dem Prinzip „Sowohlals-auch“ organisiert werden. Dies bedeutet im Klartext: Alle diejenigen, die als Betroffene oder als Nichtbetroffene in der Sache engagiert sind, werden gemeinsam die nächsten Schritte organisieren. Ein weiterer Punkt: Wahlfreiheit bedeutet konsequenterweise auch, Arbeitsassistenzen zur Verfügung zu stellen. Hier ist festgestellt worden, dass die Einrichtung von Arbeitsassistenzen auch für Werkstätten und für den vorgelagerten Werkstattbereich gelten müsste. ({2}) In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass nach der Eingliederungsverordnung an Werkstätten und geschützte Einrichtungen Pauschalen gezahlt werden, die die Arbeitsassistenz ersetzen. Insofern erübrigt es sich, für diesen Bereich zusätzlich Geld im Zusammenhang mit der Arbeitsassistenz zur Verfügung zu stellen. Was heißt Arbeitsassistenz? Ein Gehörloser hat nun die Möglichkeit, im Rahmen seines betrieblichen Ablaufes einen Gebärdendolmetscher zur Seite gestellt zu bekommen. Ein Blinder bzw. ein Sehbehinderter hat nun die Möglichkeit, eine Vorlesekraft zur Verfügung gestellt zu bekommen. Ein Rollstuhlfahrer bzw. ein Querschnittsgelähmter hat die Möglichkeit, an Werktagen eine Arbeitsassistenz zur Verfügung gestellt zu bekommen. Bisher war es so, dass dies per Antrag bei der Hauptfürsorgestelle genehmigt werden musste. Jetzt besteht hier ein Rechtsanspruch. Ich denke, dass das ein Beispiel dafür ist, dass wir versuchen, in den Lebensentwürfen von Menschen mit Behinderungen den emanzipativen Gedanken einzuführen bzw. auf eine sichere Grundlage zu stellen. ({3}) Abschließend zum Thema Bedürftigkeitsprüfung - es handelt sich bei der Eingliederungshilfe um einen Betrag von 16 Milliarden DM -: In den diesbezüglichen Verhandlungen mit dem Finanzministerium hatten wir folgendes Modell entwickelt: 15 Milliarden DM fließen in die Neuformulierung des Bund-Länder-Finanzausgleiches ein, werden aber als Nulllinie definiert. Das heißt, die Länder müssen akzeptieren, dass der Anteil, den sie bisher im Rahmen des Bundessozialhilfegesetzes haben tragen müssen, verrechnet wird. Der Bund bezahlt dann den Aufwuchs für die späteren Jahre. Das ist vom Bundesfinanzminister und den finanzpolitischen Sprechern der Länder nicht akzeptiert worden. Deswegen haben wir den Weg gewählt, im Hinblick auf die Diskussionen in den kommenden Jahren einen Türöffner zu suchen, indem wir die medizinische und berufliche Rehabilitation, die aus der Eingliederungshilfe bezahlt wird und bisher dem Bedürftigkeitsprinzip unterworfen war, von der Heranziehung von Einkommen und Vermögen freistellen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen. Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten: Schlusssatz: Die in dem Gesetz enthaltenen Übergangsfristen haben den Sinn, den Gesetzgeber und die Beteiligten zu zwingen, Rechenschaft über das abzulegen, was wir an neuen Instrumenten in das Gesetz hineingenommen haben, um dann eine weitere Diskussion zu ermöglichen. Herzlichen Dank. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu einigem von dem, was über eine angeblich neue Zeit in der Behindertenpolitik gesagt worden ist, möchte ich eingangs feststellen: Politik und Gesellschaft setzen sich nicht erst seit dieser Legislaturperiode für unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Behinderungen ein. Was bei uns in Deutschland an ambulanten Diensten, Werkstätten und Wohnheimen für Behinderte in den letzten 20 Jahren geschaffen worden ist, kann sich sehen lassen und zeugt davon, wie sich Politik und Gesellschaft für die behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger einsetzen. ({0}) Richtig ist, Frau Kollegin, dass ebenfalls seit Jahrzehnten zu Recht der dringende Wunsch besteht, das Recht der Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen in ein neues, umfassendes Sozialgesetzbuch zu überführen. Herr Haack, es ist richtig, dass die Betroffenen und die Verbände die Neufassung des Sozialgesetzbuches begrüßen. Sie müssen aber auch zugeben - das haben Sie verschwiegen -, dass alle sachlichen Kritikpunkte, die in der heutigen Debatte vorgetragen wurden, von den Verbänden und Betroffenen nach wie vor geäußert und nicht durch ihre allgemeine Zustimmung zum SGB IX ersetzt werden. Das haben Sie leider verschwiegen. ({1}) Eine weitere Anmerkung. Ich empfinde es als gut, wenn in einer Debatte über ein Sozialgesetzbuch mit unendlich vielen organisatorischen Regelungen zur Selbstvergewisserung auch etwas über die ethischen Grundlagen, die uns in der Behindertenpolitik leiten, gesagt wird. Deswegen begrüße ich, was Frau Kollegin GöringEckardt zum Schluss ihrer Rede vorgetragen hat. Nur, Frau Göring-Eckardt, mittlerweile kommen mir Zweifel an der Haltung der Bundesregierung insgesamt, nachdem der neue Kulturstaatsminister Nida-Rümelin mit seinen Karl-Hermann Haack Äußerungen zur Neudefinition der Menschenwürde genau das Gegenteil zum Ausdruck gebracht hat. Wenn die Menschenwürde, die in unserem Grundgesetz garantiert ist - uns Politikern ist die Verpflichtung auferlegt, sie in unserem Handeln und in unserer Politik zu achten -, so umdefiniert wird, dass Menschenwürde nur noch dem zustehen soll, der über die bewusste Fähigkeit verfügt, Selbstachtung zu empfinden, ({2}) dann ist das nicht mehr die Menschenwürde, die die Väter unseres Grundgesetzes gemeint haben. ({3}) Nun beklagen sich die Koalition sowie der Herr Bundesbeauftragte und der Herr Bundesminister über die Kritik am SGB IX. Nur die Messlatte hat Rot-Grün hoch gehängt. ({4}) - So ist es, sie sind unten durch gelaufen. Vor der Bundestagswahl haben Sie erklärt - ich darf zitieren -: Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich für die Schaffung eines eigenen Leistungsgesetzes ausgesprochen. … Bündnis 90/Die Grünen treten dafür ein, den ganzheitlichen Charakter der Behindertenhilfe zu erhalten. Wir fordern ein eigenes Leistungsgesetz für Behinderte … So war es in der „Lebenshilfe Zeitung“ vor der Bundestagswahl zu lesen. Das ist Ihre Messlatte. Vor dieser großen und - wie ich zugeben muss - schwierigen Aufgabenstellung hat die Koalition bei der Vorlage ihres Gesetzentwurfes versagt. ({5}) Den Elementen, die Sie mit diesem Gesetzentwurf ändern, fehlt schlichtweg die Logik. Im Rahmen der Rentenreform wollen Sie ein so genanntes Grundsicherungsgesetz durch das Parlament bringen. Behinderte Menschen sollen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts Sozialhilfe - die neue Bezeichnung heißt: bedarfsorientierte Grundsicherung - bekommen. Die Eltern des erwachsenen Behinderten werden beim Unterhalt nicht mehr herangezogen. Aber für die Leistungen, die aufgrund der Behinderung im Rahmen der Eingliederungshilfe notwendig werden, soll weiterhin die Sozialhilfe zuständig sein. Wenn es Ihnen mit der Forderung nach einem Leistungsgesetz ernst gewesen wäre, dann hätten Sie doch zuallererst diejenigen Leistungen, die Menschen aufgrund ihrer Behinderung dringend benötigen, aus der Sozialhilfe herausnehmen und in ein Leistungsgesetz überführen müssen. ({6}) Die gebotene Gleichstellung von Behinderten mit Nichtbehinderten verpflichtet den Gesetzgeber doch, zuallererst die Nachteile, die der Behinderte aufgrund seiner Behinderung hat, auszugleichen. ({7}) Besonders widersinnig ist, dass gerade erwachsene Menschen mit Behinderungen bzw. deren Eltern zur Deckung der Kosten der für sie notwendigen Hilfen herangezogen werden sollen, wenn sie so schwer behindert sind, dass sie nicht in einer Werkstätte für Behinderte arbeiten können. Dass Sie innerhalb der Gruppe der Menschen mit Behinderungen eine neue Klassengesellschaft errichten, dass Sie ausgerechnet diejenigen, die besonders auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind, nämlich die Schwerst- und Mehrfachbehinderten, benachteiligen, ist völlig unverständlich. ({8}) Des Weiteren hat man erwartet, dass die bestehenden Probleme der Abgrenzung zwischen der Pflegeversicherung und der Sozialhilfe durch das neue Gesetz gelöst werden. Hier wird mit dem Gesetzentwurf in der Tat für Klarstellungen gesorgt. Aber eine generelle Klärung wird wiederum vermieden. Die Klärung dieser Frage wird in der Zukunft immer dringender werden, weil auch die Zahl alt gewordener Menschen mit Behinderungen in den nächsten Jahren zunehmen wird. Dies werden Mitbürgerinnen und Mitbürger sein, die in Werkstätten für Behinderte gearbeitet und durch Beitragszahlungen in die Pflegekasse einen eigenen Anspruch an die Pflegeversicherung erworben haben. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt und unterstützt grundsätzlich das Vorhaben, ein Sozialgesetzbuch IX zu schaffen. Doch mit dem jetzt von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf wird dieses Ziel leider nur ungenügend erreicht. ({9}) Letztlich ist das neue Gesetz nur ein zusätzliches Dach für die weiterhin nebeneinander bestehenden Gesetze. Für diejenigen, die mit diesem Gesetz umgehen müssen, machen Sie die Anwendung nicht einfacher, wie Sie es versprochen haben, sondern eher komplizierter. ({10}) Sie bringen sich vor allem in Schwierigkeiten, weil Sie den zentralen Punkt bei der Reform des Behindertenrechts, nämlich die Überführung der Eingliederungshilfe aus dem Bundessozialhilfegesetz in ein eigenes Leistungsgesetz für Behinderte, entgegen Ihren Wahlversprechungen und Ankündigungen nicht anpacken. ({11}) Deswegen ist zu diesem Gesetzentwurf festzustellen: Probleme nicht gelöst, mehr Bürokratie! Mit diesem Gesetzentwurf machen Sie eigentlich niemanden so recht glücklich, wahrscheinlich sich selber auch nicht. Sie machen weder die Menschen mit Behinderungen noch deren Eltern, noch die vielen engagierten Pädagogen und Pflegekräfte glücklich, die in den Einrichtungen und Diensten großartige Leistungen für unsere behinderten Mitbürger Peter Weiß ({12}) und damit auch für die Gesellschaft erbringen. Für ein solch wichtiges Gesetzgebungsvorhaben sollte gelten: Wenn man etwas richtig machen will, dann muss man ganze Sachen machen. Halbe Sachen sollte man lieber gleich bleiben lassen. Vielen Dank. ({13})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Bevor ich abstimmen lasse, möchte ich jeden bitten, darüber nachzudenken, was er von dem Wort „Schnarchhahn“ hält. Ich halte diesen Ausdruck zwar nicht für parlamentarisch; aber ich weiß nicht genau, was ich mir darunter vorstellen soll. ({0}) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 14/5074 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Innenausschuss, den Rechtsausschuss, den Finanzausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, den Verteidigungsausschuss, den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuss für Gesundheit, den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung und den Haushaltsausschuss zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 17 sowie Zusatzpunkt 10 auf: 17. Beratung der Beschlussempfehlungen und der Berichte des Verteidigungsausschusses ({1}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Breuer, Ulrich Adam, Georg Janovsky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Zukunft der Bundeswehr - zu dem Antrag der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Hildebrecht Braun ({2}), Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr sichern Wehrpflicht aussetzen - zu dem Antrag der Abgeordneten Heidi Lippmann, Wolfgang Gehrcke, Uwe Hiksch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Zukunft durch Abrüstung - Für eine grundlegende Reform der Bundeswehr - Drucksachen 14/3775, 14/4256, 14/4174, 14/5087, 14/5088, 14/5089 Berichterstattung: Abgeordente Peter Zumkley ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Dirk Niebel, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Wehrpflicht aussetzen - Drucksache 14/5078 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({3}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Als erstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Reinhold Robbe für die SPD-Fraktion.

Reinhold Robbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002762, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte über die Zukunft der Bundeswehr wird im Augenblick ein wenig überschattet von anderen Themen der Verteidigungs- und der Sicherheitspolitik, wozu ganz sicher auch die Diskussion über die Verwendung von uranhaltiger Munition im Zusammenhang mit NATO-Kampfeinsätzen gehört, die wir gestern hier im Hause geführt haben. Trotzdem ist es nach meiner Auffassung gut, dass wir heute noch einmal Gelegenheit haben, jenes Thema zu behandeln, das aus den verschiedensten Gründen zu den herausragendsten in der deutschen Öffentlichkeit zählt. Die Strukturreform der Bundeswehr gehört zu den größten Reformprojekten in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Noch nie zuvor wurde eine so umfassende Erneuerung von Grund auf für einen Bereich des öffentlichen Lebens in Angriff genommen. Auch wenn es in der Vergangenheit bei der Bundeswehr viele Anpassungen, Umschichtungen, Verkleinerungen und Veränderungen gegeben hat, so stehen wir jetzt vor der Aufgabe, das Heer, die Luftwaffe, die Marine sowie den Sanitätsdienst vollkommen neu auszurichten und fit zu machen für die Zukunft. ({0}) Von dieser Reform werden mehr Menschen betroffen sein als von irgendeiner anderen grundlegenden Veränderung sowohl im privatwirtschaftlichen wie im öffentlichen Bereich. Man muss sich immer wieder vor Augen führen, dass es sich bei der Bundeswehr um den größten öffentlichen Arbeitgeber handelt, der Hunderttausende von Menschen zwischen Flensburg und Garmisch-Partenkirchen sowie zwischen Aachen und Görlitz in Brot und Arbeit hält. Nicht zuletzt deshalb ist die Reform der Bundeswehr nicht nur in aller Munde, sondern beschäftigt intensiv alle Ebenen des privaten, aber auch des öffentlichen Lebens. Die Notwendigkeit für diese große Reform liegt auf der Hand. Altbundespräsident Richard von Weizsäcker hat in seinem uns vorliegenden Bericht aus meiner Sicht sehr zutreffend darauf hingewiesen und analysiert, dass die Bundeswehr des Jahres 2000 vor dem Hintergrund der veränderten Sicherheitslage in Europa und in der Welt zu groß, falsch zusammengesetzt und zunehmend unmodern sei. In ihrer heutigen Struktur habe die Bundeswehr, so heißt es bei von Weizsäcker, keine Zukunft. Veraltetes Material schmälere die Einsatzfähigkeit und treibe die Betriebskosten in die Höhe. Peter Weiß ({1}) Dies sind nur die wichtigsten Feststellungen der Weizsäcker-Kommission zum Status quo der deutschen Armee. Aus dieser Lagebeurteilung ergeben sich jetzt Reformnotwendigkeiten, die der Bundesverteidigungsminister zwischenzeitlich konkretisiert hat. Hierbei bilden drei große Themenbereiche das Fundament für die in Angriff genommene Reform: Erstens geht es um die Investition in die Fähigkeiten der Menschen, es geht um die bestmögliche Aus- und Fortbildung des Personals, um umfassende Verbesserungen zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes sowie um die Reform von Besoldungs- und Laufbahnstrukturen. Zweitens geht es um den Erwerb neuer Fähigkeiten durch leistungsfähigere Strukturen sowie um die Modernisierung von Material und Ausrüstung. Drittens schließlich geht es auch um eine grundlegende Reform der Wehrverwaltung und eine weit gehende Umgestaltung der Beschaffungs-, Verwaltungs- und Betriebsprozesse einschließlich einer völlig veränderten Aufgabenverteilung und einer Zusammenarbeit mit der deutschen Wirtschaft. Dieser letzte Punkt ist gerade deshalb so interessant, weil hier im Grunde wirkliches Neuland betreten wird: Der Bundesverteidigungsminister will durch modernes Management eine Konzentration der Streitkräfte auf ihre militärischen Kernaufgaben erreichen und dadurch Spielräume für die dringend notwendigen Investitionen schaffen. Bei allen unterschiedlichen Bewertungen dessen, was die Weizsäcker-Kommission erarbeitet und die Bundesregierung an Konsequenzen daraus entwickelt hat, gibt es zu den grundsätzlichen Fragen der Strukturreform eigentlich eine breite Übereinstimmung im Parlament, wenn man einmal davon absieht, was die PDS dazu sagt. Aber das interessiert mich an dieser Stelle eigentlich weniger. Nun will ich selbstverständlich die Probleme nicht klein reden, die die CDU/CSU beim Personalumfang, bei der Finanzausstattung und auch beim vorgelegten Tempo, mit dem die Bundeswehrreform in Angriff genommen wurde, erkennt. Ebenso wenig will ich unter den Tisch kehren, dass die F.D.P.-Fraktion die Strukturreform zum Anlass nehmen möchte, die Wehrpflicht abzuschaffen, respektive auszusetzen. ({2}) Opposition wie Koalition bekennen sich aber eindeutig zur Notwendigkeit der Reform und betrachten es auch als eine nationale Aufgabe, in dieser wichtigen Frage ein wenig mehr über den parteipolitischen Tellerrand zu blicken, als dies bei anderen Fragen der Fall ist. Wir haben in der Debatte über die Strukturreform nunmehr eine Phase erreicht, in der es nach Vorlage der so genannten Grobplanung jetzt um die Feinplanung und damit auch um Standortentscheidungen geht. Hier ist natürlich fast jede Kollegin und jeder Kollege im Deutschen Bundestag tangiert, sofern es in ihrem oder seinem Wahlkreis eine Bundeswehreinrichtung bzw. einen Bundeswehrstandort gibt. Gewisse Presseveröffentlichungen über mögliche Standortschließungen haben uns einen Vorgeschmack auf das gegeben, was uns in den kommenden Wochen voraussichtlich noch ins Haus stehen wird. Es liegt in der Natur der Sache, dass dann, wenn über Standortschließungen öffentlich spekuliert wird, sofort alle Bürgermeister, Landräte, Industrie- und Handelskammern und öffentlichen Institutionen lautstark Protest einlegen. Derartige Aufgeregtheiten lassen sich nicht vermeiden, auch wenn der Bundesverteidigungsminister hier zum hundertsten Mal erklärt hat, dass alle bisherigen Veröffentlichungen über angebliche Schließungen allein auf Spekulationen beruhen. ({3}) Das ist zunächst einmal ein Stochern im Nebel und hat nicht unbedingt etwas mit dem zu tun, was wir vielleicht noch Ende dieses Monats vom Minister konkret hören werden. Für die Bundeswehrangehörigen, für die Repräsentanten der betroffenen Standorte und nicht zuletzt auch für uns als Parlamentarier ist es wichtig zu wissen, dass der Entscheidungsprozess im Hinblick auf den Umfang der künftigen Standorte völlig transparent und für jedermann nachvollziehbar gestaltet wird. ({4}) Ebenso wichtig ist die Tatsache, dass für den Bundesverteidigungsminister die Fürsorgepflicht gegenüber den Angehörigen der Bundeswehr an erster Stelle steht. Die Standortentscheidungen werden also nicht nach Gutsherrenart getroffen oder gar von irgendwelchen politischen Konstellationen vor Ort oder auf Landesebene abhängig gemacht. Die Kriterien des Verteidigungsministers sind seit langer Zeit bekannt. ({5}) Deshalb will ich als Vertreter eines großen ländlichen Flächenwahlkreises mit vielen Bundeswehrstandorten unterstreichen, wie wichtig es ist, lieber Peter Ramsauer, dass neben militärischen Notwendigkeiten auch betriebswirtschaftliche Erfordernisse, die Verantwortung gegenüber der Fläche und die Auswirkungen von Standortentscheidungen auf die wirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Situation in einer Region berücksichtigt werden. Ich denke, das muss ganz oben anstehen. ({6}) Unabhängig davon hat Bundesminister Scharping gestern noch einmal alle Mitglieder dieses Hauses ausdrücklich schriftlich gebeten, ihm gegebenenfalls zusätzliche Kriterien für die Standortentscheidungen zu nennen, damit er diese noch berücksichtigen kann. ({7}) Eine gleiche Aufforderung ist auch an die Ministerpräsidenten der Länder ergangen. Mit der Bekanntgabe der Standortentscheidungen werden alle offenen Fragen beseitigt werden, die sich in nachvollziehbarer Weise die Soldaten, die Zivilbeschäftigten und alle direkt oder indirekt Betroffenen und Verantwortlichen im Laufe der zurückliegenden Wochen gestellt haben. Auch wenn die Umsetzung der Standortentscheidungen nicht von heute auf morgen stattfinden kann, bringt die Gewissheit über die Zukunft der Standorte den Betroffenen jene Planungssicherheit, die sie mit Recht erwarten. Unsere Aufgabe, liebe Kolleginnen und Kollegen, als Mitglieder dieses Hauses wird darin bestehen, die weitere Entwicklung in den Standorten persönlich intensiv und im Rahmen unserer parlamentarischen Möglichkeiten zu begleiten. Dies dient zum einen einer vernünftigen Umsetzung der Reform und bietet zum anderen die Möglichkeit, gegenüber den Soldatinnen und Soldaten sowie den Zivilbeschäftigten unsere besondere Verbundenheit mit der Bundeswehr und mit den dort tätigen Menschen zu dokumentieren. Ich danke sehr für die Aufmerksamkeit. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Kurt Rossmanith für die CDU/CSU-Fraktion.

Kurt J. Rossmanith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001887, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Robbe, wir alle in diesem Hohen Hause sind uns darüber im Klaren, dass die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen und auch unsere internationalen Verpflichtungen, die wir gegenüber der NATO, der Europäischen Union und den Vereinten Nationen haben, eine moderne, einsatzfähige und durchhaltefähige Bundeswehr notwendig machen. Wir werfen Ihnen vor, dass die Veränderungen der internationalen Sicherheit und der technologischen Möglichkeiten für Sie nicht der entscheidende Maßstab für die Umstrukturierung unserer Streitkräfte sind; entscheidend sind vielmehr einzig und allein die Finanzen, die die Bundesregierung einzusparen gedenkt. Unser Bundesminister der Verteidigung ist für diese Einsparungen mitverantwortlich; denn die Bundesregierung hat den Haushalt gemeinsam beschlossen. Verehrter Herr Minister Scharping, Sie haben das sicherheitspolitische Feld schlicht und einfach dem Bundesminister der Finanzen, Eichel, überlassen. Diese Tatsache kann man nicht hinnehmen. ({0}) Sie und nicht der Bundesminister der Finanzen, der Ihnen für diese Aufgabe die entsprechenden Mittel zur Verfügung stellen muss, tragen Verantwortung für die Sicherheits- und für die Verteidigungspolitik in unserem Lande. Würde sich die Bundeswehrreform nicht nur verbal, sondern auch inhaltlich und methodisch auf Scharnhorst beziehen, dann könnte und dürfte sie gar nicht von der Kassenlage ausgehen. Sie müsste sich zuallererst nach der Definition der außen- und sicherheitspolitischen Interessenlage unseres Landes richten. Diese Leistung ist bisher weder von Ihnen, Herr Bundesminister Scharping, noch vom Bundesaußenminister erbracht worden. Nur auf dieser Grundlage finden unsere Streitkräfte ihr Selbstverständnis und ihre Rolle als wichtigstes Instrument unserer Sicherheitspolitik. ({1}) Stattdessen diktiert in der SPD-geführten Bundesregierung der Finanzminister einem in der Zwischenzeit auch politisch angeschlagenen Verteidigungsminister Umfang und Struktur der Streitkräfte. Dieser wiederum verordnet eine Reform und lässt gleichzeitig viele Fragen hinsichtlich Ausrüstung, Umfang, Auftrag und Selbstverständnis unserer Bundeswehr offen. Das Ganze wird ohne eine vertiefte Diskussion in Parlament und Öffentlichkeit durchgezogen, so schlicht und einfach nach dem Motto: Warum soll man über die Zukunft der Bundeswehr debattieren, wenn das einzige Argument sowieso nur die Kassenlage ist? Ich stelle deshalb fest, dass diese Bundesregierung bisher in keiner Weise ihrer Pflicht nachgekommen ist, eine sicherheitspolitische Begründung für die laufende Reduzierung der Bundeswehr zu liefern. ({2}) An die Stelle einer echten Reform ist wegen unzureichender Finanzmittel eine bloße Sparaktion durch Rationalisierung, Privatisierung, Truppenreduzierung und Standortschließungen getreten. Die Bundeswehr wird weiter verkleinert und eine Vielzahl von Standorten wird geschlossen. Der Verteidigungshaushalt sinkt permanent und der Verteidigungsminister versucht vergeblich, über den Ausverkauf von Liegenschaften Geld hereinzubekommen. Allerdings ist jedem schon jetzt klar, dass die Erwartungen, die an die laufenden Privatisierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen des Verteidigungsministers gestellt werden, in keiner Weise auch nur annähernd erfüllt werden. Gleichzeitig soll aber die Bundeswehr - zumindest verbal - modernisiert werden und es werden militärische Eingreifkräfte für die Vereinten Nationen und auch das größte Kontingent für die zu schaffende EU-Eingreiftruppe gemeldet. Dass dem Bundesminister der Verteidigung das Geld dafür nicht gegeben wird und wir bereits heute an Grenzen stoßen, was die Auftragserfüllung in Bosnien und im Kosovo anbelangt, spielt dabei offensichtlich keine allzu große Rolle. Die haushaltspolitischen Realitäten, Herr Bundesminister Scharping, stimmen in keiner Weise mit den verteidigungspolitischen Verpflichtungen überein, die Sie und diese Bundesregierung eingegangen sind. Hier beginnt für mich außen- und sicherheitspolitisches Abenteurertum; denn die Bundesregierung ist internationale Verpflichtungen bei der NATO, bei der Europäischen Union und bei den Vereinten Nationen eingegangen, die weder personell noch strukturell, materiell und finanziell abgesichert sind. ({3}) Wir haben von Wildbad Kreuth aus bewusst die Standortfrage angestoßen, weil wir von der miserablen Informationspolitik des Bundesministeriums der Verteidigung genug haben und es an der Zeit ist, dass auch einmal die betroffenen Gemeinden Gehör finden. ({4}) Noch im letzten Sommer haben Sie, Herr Bundesminister Scharping, öffentlich und, wie man jetzt weiß, wider besseres Wissen nicht nur einmal, sondern in allen möglichen Diskussionsrunden versichert, wenn überhaupt würden nur Kleinstandorte bis zu einer Dienstpostenzahl von 50 Personen von der Bundeswehrreform betroffen sein, größere Standorte würden nicht geschlossen und die Bundeswehr bleibe in der Fläche erhalten. Genau das Gegenteil tun Sie nun: ({5}) Ohne die betroffenen Kommunen zu beteiligen und ohne Rücksprache mit den Ländern - es werden einfach Treffen vereinbart, auf denen man das Konzept darstellt und den Ländern sagt, entweder sie akzeptierten es oder sie akzeptierten es nicht - wird in einem geheimen Küchenkabinett ein Plan entwickelt, ({6}) der eine Vielzahl von Standorten massiven Reduzierungen aussetzt. Ich nenne bei uns im Allgäu nur das Jagdbombergeschwader 34, das auch noch den schönen Namen „Allgäu“ trägt; es soll schlicht und einfach geschlossen werden. Davon wären 1 500 Personen betroffen. Von Sonthofen soll das ABC-Abwehrbataillon abgezogen werden; auch soll die dortige Feldjägerschule - das müssen Sie mir einmal erklären - nach Hannover verlegt werden. ({7}) Wenn Herr Kollege Robbe sagt, Herr Scharping gehe nicht nach Gutsherrenart vor, dann frage ich, wonach denn dann. Soll die Feldjägerschule dem Gutsherren Schröder näher gebracht werden, wenn Sie sie nach Hannover verlegen? ({8}) Glauben Sie mir: Wir werden uns diesem Kahlschlag massiv widersetzen. ({9}) Wir, die CDU und CSU, haben uns immer als die beiden Parteien verstanden - wir tun dies auch in Zukunft -, für die Außen- und Sicherheitspolitik ein ganz wesentliches Element des Handelns ist. ({10}) Deshalb werden wir einen Kahlschlag nicht hinnehmen, ({11}) was die Standorte anbelangt, und auch keinen Kahlschlag in unserer Sicherheits- und Außenpolitik. Herzlichen Dank. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Angelika Beer. ({0})

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute - durchaus nicht zum ersten Mal, Herr Kollege Rossmanith - in einer wichtigen Zeit der Entscheidungen über die Zukunft der Bundeswehr. Eine wesentliche Entscheidung bewegt die Öffentlichkeit und wird von der Opposition, wie eben vorgeführt wurde, in populistischer Manier aufgebauscht. ({0}) - Es ist gut, dass wir hier auch noch lachen können. So, wie Sie versuchen, mit der Standortfrage Wahlkampf zu machen und Punkte in Ihren Wahlkreisen zu sammeln, tun Sie weder der Bundeswehr noch den Standorten, noch den Kommunen einen Gefallen; ({1}) Sie schaffen vielmehr ein Klima der Panik und der Reformverweigerung. Unter dem Strich kann man eigentlich nur sagen, dass Sie sich der Zukunft der Bundeswehr generell in den Weg stellen. ({2}) Es kommt jetzt darauf an, Planungssicherheit für die kommenden Jahre zu schaffen. Ich habe neulich mit einem ehemaligen General gesprochen. ({3}) Er sagte: Frau Beer, jeder Politiker, der das Wort in den Mund nimmt, wird vom Militär belächelt; denn wir haben diverse Reformen geplant und durchzusetzen versucht und nie ist eine Planung mit Sicherheit durchgesetzt worden. Unser politisches Ziel als Koalition ist es - deswegen sind wir auch Kompromisse eingegangen -, endlich diese Planungssicherheit zu schaffen. Dazu gehört eine offene, aber sehr differenzierte, verantwortliche Diskussion über die Standorte; denn die Standortentscheidung wird Planungssicherheit geben, weil für die Standorte, die erhalten bleiben, signalisiert wird, dass dort nicht gleich wieder nachgebessert werden muss. ({4}) Die Kriterien für die Entscheidungen sind bekannt. Nachdem die Grobplanung bereits vorgelegt worden ist und in Kürze die Feinplanung vorliegen wird, können wir meiner Ansicht nach davon ausgehen, dass diese Entscheidung nach wirtschaftlichen, sozialverträglichen, aber auch militärtechnischen Kriterien getroffen wird. Am 29. Januar werden wir über die Entscheidung des Ministeriums unterrichtet und weiter diskutieren. Die Bundeswehr ist weder Selbstzweck noch darf sie als strukturpolitische Maßnahme benutzt werden, wo sich dies nicht mit sicherheitspolitischen Entscheidungen und Kriterien vereinbaren lässt. Dass dies in den vergangenen Jahren in verschiedenen Bundesländern anders gehandhabt wurde, macht die Situation schwierig, ändert aber nichts an der grundsätzlichen Lage heute. Die Neuausrichtung der Bundeswehr ist sicherheitspolitisch begründet. Sie ist begründet in der günstigen sicherheitspolitischen Ausgangssituation. ({5}) Sie muss die Aufgabenstellungen der Bundeswehr im Rahmen der internationalen Organisationen, wie der UNO, der NATO und der Europäischen Union, berücksichtigen und ist damit auch Bestandteil der Entnationalisierung der Sicherheitspolitik.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Beer, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Braun?

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, danke. ({0}) Diese Aufgaben sind eingebettet in eine Konzeption der Gewaltprävention. Dies soll helfen, Gewalt zu verhindern. Prävention kann - das sehen wir gerade im Kosovo und in Bosnien - auch Konfliktnachsorge sein. Die Grundsatzentscheidung für diese Reform wurde vom Kabinett am 14. Juni gefällt. Jetzt kommen die Konkretisierungen. ({1}) Logische Konsequenz der Neuausrichtung und der Reduzierung der Bundeswehr ist die Überprüfung der Standorte und die Schließung von Liegenschaften und Standorten dort, wo sie nicht mehr benötigt werden. ({2}) Wir Grüne werden - das war insbesondere unser Anliegen - diese Standortreduzierung auch als Chance begreifen. Unsere Koalition hat sich dazu bekannt, dass Konversion auch Bundesaufgabe ist. Was die Reduzierung in den letzten Jahren angeht, so bestätigen heute nicht wenige Kommunen, dass durch die Förderung von Konversionsprojekten ein Gewinn für die Region erzielt werden konnte. Gleiches wollen wir in den nächsten Monaten und Jahren ebenfalls umsetzen. ({3}) Es ist bekannt, verehrte Damen und Herren, dass wir als Grüne weiter gehen wollten, sogar weiter als die Weizsäcker-Kommission. Wir haben gesagt, dass wir keine Aufwuchsfähigkeit von 500 000 Soldaten mehr brauchen, weil wir in einer entspannten sicherheitspolitischen Situation leben, und dass in Zukunft andere Aufgaben wahrgenommen werden sollten. Wir sind für eine Freiwilligenarmee. Aber wir sehen, dass eine Reform ein offener Prozess ist. ({4}) - Ich sage natürlich etwas zur Wehrpflicht. - Wir werden Ihrem populistischen Antrag heute nicht zustimmen, weil wir uns darauf geeinigt haben, einen anderen Weg zu gehen. ({5}) Wir werden aber natürlich in Zukunft weiter über die Frage der Wehrpflicht diskutieren; denn wir haben - das ist ein Wesentliches, von Ihnen verschwiegenes Element, Herr Rossmanith - einen Riesenreformschritt getan: Seit dem 1. Januar 2001 können Frauen freiwillig in allen Bereichen der Bundeswehr ihren Dienst leisten.Wir werden die Diskussion führen, ob der Zwang für Männer angesichts der Freiwilligkeit für Frauen weiter aufrechtzuerhalten ist. ({6}) Unsere Position ist bekannt, aber das ist doch nicht der aktuelle Streit. Wir werden vielmehr einen Schritt nach dem anderen gehen, und zwar gemeinsam. ({7}) Die Freiwilligkeit ist unumstritten. Freiwilligkeit ist das Ziel unserer Gesellschaft. ({8}) Die freiwillige Übernahme von gesellschaftlichen Aufgaben ist das Hauptaugenmerk für die Jugendlichen heute. Dort werden wir weiter unseren Weg gehen. ({9}) Ich will noch etwas dazu sagen, warum ich auch den zweiten Antrag von Ihnen ablehne. ({10}) Sie haben sich zwar inzwischen an die WeizsäckerKommission angenähert - das finde ich gut, weil die Weizsäcker-Kommission nicht ihren Stellenwert im Entscheidungsprozess des Kabinetts gefunden hat -, aber Sie wollen mehr Geld. Ich sage Ihnen: Wir haben eine Anschubfinanzierung für die Reform bereitgestellt. ({11}) Wir haben eine Anschubfinanzierung sichergestellt. Mehr Geld wird es nicht geben. Vielmehr werden wir alle Bemühungen des Bundesministers unterstützen, mit denen er versucht, Geld effizienter auszugeben, als es die Bundesregierung bislang unter Herrn Kohl getan hat. ({12}) Ich komme zum Schluss. ({13}) Die Bundeswehr, ihre Angehörigen, die betroffenen Gemeinden und Regionen stehen vor schwierigen Zeiten. Das wollen wir hier überhaupt nicht verniedlichen. Gerade vor dem Hintergrund der internen Umwälzungen und der zukünftigen Aufgaben bitte ich Sie ausdrücklich um Unterstützung - statt plattem Populismus, wie eben vorgetragen ({14}) und darum, diese Reformen im Interesse aller, auch im Interesse des Parlaments, ernst zu nehmen und die Differenzen, die Sie ja zugestanden bekommen, hier politisch auszutragen, aber nicht auf dem Rücken der Kommunen und erst recht nicht auf dem Rücken der Soldaten. Diese Demagogie sollten Sie beenden; denn sie ist ein Schritt nach hinten und nicht ein Schritt nach vorne. Vielen Dank. ({15})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat Kollege Günther Nolting für die F.D.P.-Fraktion.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das forsche Plädoyer aus der bürgerlichen Mitte ist ein wichtiger Impuls für den gärenden Erkenntnisprozess der Gesellschaft, den der mutlose Verteidigungsminister gern unterbinden würde, der sich aber nicht stoppen lässt: ({0}) Die Wehrpflicht hat ausgedient. Diese Aussage stammt nicht aus den Reihen der F.D.P., sondern aus der „Braunschweiger Zeitung“ vom September letzten Jahres, nach dem Beschluss des F.D.P.-Bundesparteitages zur Aussetzung der Wehrpflicht. Ich glaube, besser kann man es nicht sagen. ({1}) Denn hier hat sich die F.D.P. bei einem zentralen Themengebiet erneut an die Spitze eines Prozesses grundlegender, gesellschaftlicher Neuordnung gestellt. ({2}) Wenn ich heute die Kollegin Beer höre, die sich wieder einmal vollmundig für die Abschaffung der Wehrpflicht ausspricht, in der Koalition mit der SPD aber ausdrücklich für die Beibehaltung der Wehrpflicht stimmt, so kann ich das nur als doppelzüngig, als Wählerbetrug, als infam bezeichnen. ({3}) Es offenbart in aller Deutlichkeit, Frau Kollegin Beer, wie die Grünen ihre früheren Überzeugungen nur der puren Macht wegen wieder einmal über Bord werfen. ({4}) Es ist den Grünen vollkommen gleich, wohin die SPD das Schiff steuert - Hauptsache, sie sind dabei, und sei es als blinder Passagier. ({5}) Altbundespräsident Herzog stellte bereits vor mehr als fünf Jahren fest, dass der demokratische Rechtsstaat dem jungen Mann die Wehrpflicht nur dann auferlegen darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich erfordert. Ob dies in der heutigen Zeit noch zutreffend ist, stellte sein Nachfolger, Bundespräsident Rau, vor wenigen Wochen ebenfalls in Frage. ({6}) Der Herr Wehrbeauftragte hat vor diesem Hohen Haus nach reiflicher Überlegung die Empfehlung gegeben, die von Bundesverteidigungsminister Scharping getroffene Entscheidung zur Beibehaltung der Wehrpflicht einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. ({7}) - Doch, so hat er es gesagt. - Die objektive Analyse zeigt, dass es für die Bundesrepublik keinen objektiven sicherheitspolitischen Grund mehr gibt, der den gravierenden Eingriff in die Freiheitsrechte junger Männer in Form der Wehrpflicht rechtfertigen würde. ({8}) Meine Damen und Herren, wir dürfen nicht die Armee erhalten, die wir gewöhnt sind, sondern müssen die Armee aufstellen, die wir benötigen - so formulierte einst General de Gaulle. Ich denke, dies ist auch heute noch aktuell. ({9}) Wer die Veränderungen in der sicherheitspolitischen Lage in Europa nicht erkennt, wird Schwierigkeiten haben, die Bundeswehr für die Erfüllung künftiger Aufgaben fit zu machen. Wir hinken bereits heute in diesem Bereich hinter den meisten unserer Verbündeten her; und der Abstand nimmt zu. Ein grundsätzliches Umsteuern angesichts dieAngelika Beer ses Prozesses schafft aber Rot-Grün gerade auch in der Wehrpflichtfrage nicht. Was macht der Herr Verteidigungsminister? ({10}) Herr Scharping betätigte sich lange Zeit als Ankündigungsminister; eine Ankündigung jagte die nächste. Dann mutierte er zum Bremser der überfälligen Bundeswehrreform und jetzt spielt er die Rolle eines Abwiegelungs- und Verschleierungsministers. Das wird beim Thema Uranmunition und in der Stationierungsfrage offensichtlich. ({11}) 20 000 Wehrpflichtige weniger gibt es allein in diesem Jahr in der Bundeswehr. Herr Minister Scharping, das ist die totale Bankrotterklärung Ihrer Bundeswehrreform. ({12}) Das Leerlaufen ganzer Bataillone und Standorte hat nur einen einzigen Grund. Der Grund ist Ihr Chaoshaushalt, der schon seit seiner Einbringung in das Parlament nur zwei Parameter kennt: eine überzogene Ausgabenseite und eine unseriöse Einnahmenseite. ({13}) Herr Minister, Sie werden bald Ihren finanzpolitischen Offenbarungseid leisten müssen. ({14}) Nein, meine Damen und Herren, in Deutschland darf die Frage der Wehrform nicht von der Kassenlage abhängig gemacht werden. Daher fordern wir Sie auf: Statten Sie die Bundeswehr mit den finanziellen Mitteln aus, die für eine wirkliche Reform notwendig sind. Dann kann zum Beispiel für eine solide Anschubfinanzierung, für eine wirkliche Attraktivitätssteigerung und für eine auftragsgerechte Ausstattung gesorgt werden. ({15}) Die F.D.P. stellt sich den Herausforderungen der Zukunft an die Streitkräfte. Wir geben ein klares Bekenntnis zur Aussetzung der Wehrpflicht ab, aber eben nicht zu deren Abschaffung. Gleichzeitig stellen wir uns aber auch der Verantwortung in punkto Gewinnung geeigneten Nachwuchses für die Bundeswehr und wollen andere Vorteile der Wehrpflichtarmee beibehalten, die es ja zweifelsohne gibt. Wir sind für eine intelligente Reform der Bundeswehr, ganz im Sinne der Empfehlungen der Weizsäcker-Kommission. ({16}) Folgerichtig, Herr Kollege Robbe, plädieren wir für die Schaffung von 30 000 Haushaltsstellen für Kurzzeitsoldaten mit einer Dienstzeit von 12 bis 24 Monaten, eine angemessene Besoldung und die Option - bei Vorliegen entsprechender Eignung und Leistung -, den Dienst in der Bundeswehr verlängern zu können. Eigentlich müsste Ihnen, Herr Kollege Scharping, schon heute der Angstschweiß auf der Stirn stehen. ({17}) Sie werden nämlich in kurzer Zeit wieder von den Realitäten eingeholt werden, die Sie heute noch beharrlich leugnen, gerade so wie bereits bei dem Thema „Frauen in den Streitkräften“. ({18}) Denn auch in der Frage der Wehrgerechtigkeit wird der politische Kurs der rot-grünen Bundesregierung wieder einmal durch eine Gerichtsentscheidung bestimmt werden, nicht durch eine auf sachgerechter Analyse der Fakten beruhende politische Entscheidung, wie sie auch der Herr Bundespräsident angemahnt hat. Das stellt Ihrer rotgrünen Politik ein Armutszeugnis aus. ({19}) Die Wehrpflicht ist nicht nur sicherheitspolitisch nicht mehr geboten, sie ist auch in höchstem Maße ungerecht. ({20}) Nach dem Modell der rot-grünen Bundesregierung werden in Zukunft nur wenig mehr als 20 Prozent der jungen Männer zum Wehrdienst und gut 30 Prozent zum Zivildienst, also dem Ersatzdienst, herangezogen werden. Über 40 Prozent hingegen werden überhaupt keinen Pflichtdienst für den Staat leisten müssen. Dass in Zukunft der Ersatzdienst die Wehrpflicht legitimiert, kann nicht richtig sein. Dies geht an der Verfassungsrealität vorbei. ({21}) Meine Damen und Herren, die Bundeswehr eignet sich wahrlich nicht als Experimentierfeld. ({22}) Herr Minister, ich fordere Sie auf: Schaffen Sie hier Klarheit und stürzen Sie die Bundeswehr nicht in kurzer Zeit erneut in eine Struktur- und Organisationsdiskussion. Auf den Punkt gebracht: Die Bundeswehr muss dringend reformiert werden. Dazu bedarf es einer ausreichenden Anschubfinanzierung, einer dauerhaften Erhöhung des Wehretats um 2 Milliarden DM, eines Programmgesetzes und ganz zweifelsfrei der Aussetzung der Wehrpflicht. Wir haben heute entsprechende Anträge gestellt. Ich bitte Sie um Zustimmung. ({23}) Herr Minister, Sie haben uns am gestrigen Tage angeschrieben. Ich habe dieses Schreiben zur zukünftigen Stationierung zur Kenntnis genommen. Sie sprechen darin von einer Auflistung der Kriterien. Diese sind zwar im Ausschuss vorgetragen worden, schriftlich haben wir sie jedoch noch nicht erhalten. Wir wissen auch nicht, welche Vorstellungen Sie haben. Insofern habe ich Ihr Schreiben mit Verwunderung aufgenommen. Offensichtlich wollen Sie jetzt in allerkürzester Zeit das Parlament doch noch beteiligen. Sie setzen uns eine Frist von wenigen Tagen, nämlich bis zum 24. Januar. Ich habe Sie schon vor der Einsetzung der Weizsäcker-Kommission aufgefordert, das Parlament zu beteiligen. Das haben Sie abgelehnt. ({24}) Sie haben das Parlament auch an der Grobplanung nicht beteiligt und an der gegenwärtigen Feinplanung beteiligen Sie das Parlament ebenfalls nicht. ({25}) Sie haben Ihre Entscheidungen zum Teil zuerst den Medienvertretern vorgestellt und nicht dem Parlament. Insofern können Sie von uns nicht erwarten, dass wir uns in dieser kritischen Stationierungsfrage, die Sie als Regierung allein zu entscheiden haben, sozusagen einkaufen lassen. Dieses Spiel werden wir nicht mitmachen. ({26})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Nolting, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Nicht das Parlament regiert, sondern es kontrolliert die Regierung. Dieser Kontrolle werden wir auch in Zukunft nachkommen. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDS-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Heidi Lippmann

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Nolting hat gerade auf das undemokratische Verfahren hingewiesen. Ich kann sagen: Die drei Anträge aus den Oppositionsparteien, die hier vorliegen, haben eine Gemeinsamkeit. ({0}) Sie sind nämlich alle drei Ausdruck dieses undemokratischen und unparlamentarischen Verfahrens vonseiten der Regierung im Umgang mit der Bundeswehrreform. Zwischen den Anträgen von F.D.P. und PDS gibt es sogar noch eine inhaltliche Übereinstimmung, denn beide fordern die Abschaffung bzw. Aussetzung der Wehrpflicht. Doch das war es dann auch schon an Gemeinsamkeiten. Denn im Gegensatz zu der großen Militärkoalition hier im Haus lehnen wir den Umbau der Bundeswehr zur schnellen Eingreiftruppe entschieden ab, und zwar nicht nur deshalb, weil die neuen Einsatzoptionen unseres Erachtens verfassungswidrig sind, sondern weil wir Friedenssicherung und Friedenserzwingung mit militärischen Mitteln ablehnen. Wirksame Sicherheitsvorsorge kann Deutschland nur mit präventiver Politik betreiben. „Präventiv“ meinen wir nicht im militärischen Sinne. Vielmehr sollen ressortübergreifende Lösungsansätze zur Beseitigung von Konfliktursachen gesucht werden. Die Ursachen für Konflikte, wie zum Beispiel Armut, Hunger, unerträgliche soziale Gegensätze, Ressourcenknappheit, Umweltdegradation und eine Weltwirtschaftsordnung, die einseitig auf die Industriestaaten ausgerichtet ist, sind mit militärischen Mitteln nicht zu beseitigen. Diesen Ursachen kann man nur begegnen, indem sich Europa und auch die Bundesrepublik Deutschland für Gewaltverzicht, für gemeinsame Sicherheit ohne militärische Mittel, für einen friedlichen Interessenausgleich und für eine Weltordnung einsetzen, in der alle Seiten auf Hegemonieansprüche verzichten. Das erreicht man weder durch den Aufbau einer europäischen Eingreiftruppe noch durch die Stärkung der Rolle der NATO zur Durchsetzung wirtschaftlicher und geostrategischer Interessen. Man erreicht es auch nicht durch Rüstungsexporte. Diese tragen ganz im Gegenteil zu einer Verschärfung der Situation bei. Wir haben Ihnen deshalb einen Antrag vorgelegt, in dem wir Sie auffordern, die Umwandlung der Bundeswehr zu einer hochmobilen, über weite Entfernungen einsetzbaren Interventionsarmee zu stoppen und die künftige Ausrichtung strikt auf die im Grundgesetz festgelegten originären Aufgaben zu beschränken. Angesichts der sicherheitspolitischen Lage der Bundesrepublik, die noch nie so günstig war, ist der Verzicht auf jegliche militärischen Mittel eine langfristige Option, für die wir uns einsetzen. Dass das nicht von heute auf morgen zu bewerkstelligen ist, ist uns allen klar. Deshalb sprechen wir uns für einen schrittweisen und sozialverträglichen Abbau des Personalbestandes der Bundeswehr auf vorerst 100 000 Soldaten aus, die - das ist ganz besonders wichtig - strukturell nicht angriffsfähig sind. Bisher von der Bundeswehr übernommene Aufgaben müssen auf zivile Strukturen übertragen werden, so zum Beispiel im Bereich der humanitären Hilfe und des Katastrophenschutzes durch die Einrichtung eines „Green Corps“ und durch die Stärkung ziviler Friedensmissionen. Um dies sozialverträglich zu gestalten, ist die Einrichtung eines Amtes für Konversion und für Abrüstung dringend erforderlich; denn jede Standortschließung macht deutlich - das kann man auch der aktuellen Debatte entnehmen -, dass mangelnde Konversionsplanung den Regionen großen Schaden zufügt. Natürlich setzen wir uns auch - ebenso wie neuerdings die F.D.P. ({1}) für die Abschaffung der Wehrpflicht ein. Die Wehrpflicht oder der ersatzweise Zivildienst sind nicht nur aus sicherheitspolitischen Gründen Relikte aus Zeiten des Kalten Krieges, sondern auch ohne jeglichen demokratischen Wert. Spätestens bei der Grundgesetzänderung, durch die den Frauen der Dienst an der Waffe ermöglicht wurde, hätte man die Wehrpflicht abschaffen oder zumindest aussetzen müssen. Dieses Versäumnis muss dringend beseitigt werden. Wenn nämlich junge Männer nach wie vor gezwungen werden, einen Zwangsdienst zu verrichten, entspricht dies nicht dem Gleichheitsgrundsatz. Es ist vielmehr undemokratisch und diskriminierend. Halten Sie nicht länger - Herr Nolting hat es schon gesagt - aus sozialpolitischen Gründen an der Wehrpflicht fest, weil Sie die Zivildienstleistenden brauchen, sondern schaffen Sie endlich die dringend erforderlichen dauerhaften Arbeitsplätze, damit die bisherige Arbeit der Zivildienstleistenden erledigt werden kann! ({2}) Lassen Sie mich noch einmal auf die Debatte zurückkommen, die wir gestern hier geführt haben. Diese zeigt, wie dringend erforderlich eine fundierte Auswertung des grundgesetz- und völkerrechtswidrigen NATO-Angriffskrieges gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ist, nicht nur, was den Einsatz von Munition und Waffensystemen betrifft, sondern insbesondere auch hinsichtlich der Ursachen. Das Fazit, das Sie alle hier im Hause aus diesem Krieg gezogen haben, entspricht ausschließlich militärischem Denken und zieht sich wie ein roter Faden auch durch die Debatte über den Bundeswehrumbau. Es geht Ihnen nicht darum, eine umfassende Ursachen- und Fehleranalyse zu betreiben, sondern lediglich darum, die militärischen Defizite für künftige Einsätze auszugleichen. Das ist nicht nur ein falscher, sondern auch - abgesehen von den unzähligen Milliarden DM, die dieser Weg kosten wird - ein gefährlicher und ein tödlicher Weg. Lassen Sie uns endlich über die Ursachen und Fehler reden, zum Beispiel über die Interpretation der Ereignisse von Racak, die von Ihnen allen ohne fundiertes Hintergrundwissen innerhalb von wenigen Stunden zum Massaker erklärt wurden und so letztendlich neben anderen Faktoren zum Auslöser des NATO-Angriffes wurden! Legen Sie dem Parlament und der Öffentlichkeit umgehend eine Analyse und Bilanz vor, die vielleicht einen kleinen Hauch von Selbstkritik und etwas weniger Selbstherrlichkeit enthält, Herr Minister Scharping! Machen Sie endlich Schluss damit, mit den Wählern und den Medien wie mit kleinen Kindern umzugehen, wie die „FAZ“ gestern schrieb. Die deutsche Beteiligung an dem NATO-Angriffskrieg war damals nicht humanitär und sie ist auch heute nicht humanitär.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Lippmann, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Mein letzter Satz. - Kommen Sie endlich zur Vernunft! Statt militärischer Optionen und qualitativer Aufrüstung brauchen wir den Ausbau ziviler Instrumente zur Konfliktlösung und -vermeidung. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der nächste Redner ist der Kollege Manfred Opel für die SPD-Fraktion.

Dipl. - Ing. Manfred Opel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Zukunft der Bundeswehr ist zugleich die Zukunft unserer Sicherheit. Weil dies so ist, hätte ich - nicht nur ich, sondern sicherlich auch die Bundeswehr, die Bürgerinnen und Bürger, die Gemeinden, die Sie angesprochen haben - erwartet, dass hier ein großer visionärer Wurf vor uns ausgebreitet wird, wie denn die Opposition alles anders, alles besser machen würde als die Bundesregierung. Was ich gehört habe, waren nur Verunsicherung, Kritikasterei, Kleinkrämerei, aber überhaupt nichts von einem eigenen Konzept. ({0}) - Herr Nolting, ich bin sehr gerne bereit, auf Sie persönlich einzugehen, weil Sie hier Ihre Fraktion vertreten haben. ({1}) Sie haben den Antrag der CDU/CSU mit keinem Wort erwähnt. ({2}) Sie haben nicht erwähnt, dass Sie diesen Antrag im Verteidigungsausschuss abgelehnt haben. Stattdessen machen Sie uns glauben, Sie würden mit der CDU/CSU übereinstimmen. Das tun Sie aber gar nicht. ({3}) Dann haben Sie die „Braunschweiger Zeitung“ zitiert und so getan, als sei das ein Zitat, auf dem Sie sich ausruhen können. Ich möchte in aller Bescheidenheit daran erinnern, dass Sie, verehrter Herr Nolting, auf jenem Parteitag, den Sie zitiert haben, gegen den Antrag, den Sie hier verteidigen, gestimmt haben. ({4}) Sie waren immer für die Wehrpflicht und nicht dagegen. Heute tun Sie so, als seien Sie der Vormann der Gegner der Wehrpflicht gewesen. Aber das ist nicht der Fall. ({5}) Das weiß die Bundeswehr und das wissen wir. Das ist keine Politik; so sollten wir alle uns in diesem Parlament nicht bewegen. Sie sollten sich zu dem bekennen, was Sie immer gesagt haben, und nicht so tun, als seien Sie schon immer der Vorreiter einer ganz anderen Politik gewesen; denn diese haben Sie selbst jahrelang nicht mitgetragen. ({6}) Hier wird so getan, als sei diese Bundesregierung der Innovation in der Bundeswehr nicht zugeneigt. Genau das Gegenteil ist der Fall. Ich erinnere daran, dass jahrelang versucht wurde, so etwas wie eine Streitkräftebasis herauszuarbeiten. Es wurde versucht, das zusammenzufassen, was den Friedensauftrag der Bundeswehr ausmacht. Diese Bundesregierung hat es in kurzer Zeit geschafft, einen eigenen Inspekteur der Streitkräftebasis zu schaffen und dadurch die Streitkräfte zu entlasten. Jahrelang haben der Bundeswehr-Verband und wir gefordert, man solle einen eigenen Schüleretat einführen, um die Truppe zu entlasten. Genau dies hat der Minister in seinem berühmten Eckpfeilerpapier gemacht und das ist richtig so. Er hat auch ein Controlling eingeführt, das wir jahrelang gefordert haben; Sie haben das nicht getan. Außerdem hat er einen so genannten IT-Direktor, einen Direktor für Informationstechnologie, eingesetzt, damit die vielen Hunderte Insellösungen, die in Ihre Verantwortung fallen, endlich überwunden werden können. Das zeigt, dass diese Bundesregierung gehandelt hat. Sie ist weitergegangen und hat sich nicht darum geschert, was es um sie herum an Verunsicherung gab. Da der Kollege Rossmanith hier so getan hat, als sei diese Bundesregierung nicht in der Lage, den Bundeswehretat zu finanzieren, ({7}) möchte ich daran erinnern, dass ein Finanzminister aus Ihrer Partei im Verteidigungsetat einfach gestrichen hat. ({8}) Er hat Haushaltssicherungsgesetze gemacht. Ich weiß, wie Herr Breuer damals Sturm dagegen gelaufen ist. Sie sind auch dagegen Sturm gelaufen, den Umfang der Bundeswehr von 370 000 auf 340 000 zu reduzieren. Und was ist passiert? Kein Mensch hat auf Sie gehört. Rühe und Waigel haben gemacht, was sie wollten, und haben auf die Sicherheitspolitiker der Union überhaupt nicht gehört. ({9}) Sie haben einige Befürchtungen geäußert, die schlicht und einfach nicht wahr sind.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rossmanith?

Dipl. - Ing. Manfred Opel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit größtem Vergnügen, Frau Präsidentin!

Kurt J. Rossmanith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001887, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Opel, sind Sie bereit, die Zahlen, die ich Ihnen jetzt nennen werde, auch entsprechend zu bestätigen, weil es halt die Fakten sind und sie bereits die Ist-Ergebnisse darstellen? Der Verteidigungshaushalt lag im Jahre 1996 bei 47,2 Milliarden DM, der Haushalt 2000 bei 45,3 Milliarden DM, und der Haushalt für das Jahr 2001 liegt derzeit bei 46,8 Milliarden DM. Hier sind aber bereits die 2 Milliarden DM für den Bosnien- und den Kosovo-Einsatz aus dem Einzelplan 60 eingeflossen.

Dipl. - Ing. Manfred Opel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Rossmanith, ich bin bereit, Ihnen zu bestätigen, dass Sie einen Schuldenberg von 1 504 Milliarden DM hinterlassen haben, der im Haushalt 2000 82 Milliarden DM Zinsen, also einen Schuldendienst bedeutet, der fast doppelt so hoch ist wie der Verteidigungshaushalt, sodass wir für Zinsen bezahlen müssen und nicht für das bezahlen können, was wir eigentlich wollen, für unsere Bundeswehr. Das kann ich Ihnen gern bestätigen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Opel, es gibt eine zweite Frage des Kollegen Rossmanith.

Dipl. - Ing. Manfred Opel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gern, wenn sie von der gleichen Qualität ist.

Kurt J. Rossmanith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001887, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Opel, ist Ihnen bekannt, dass im Jahre 1990 unser Land mit großer Dankbarkeit die Wiedervereinigung erlangt hat und dass daher enorme Kosten, jährlich bis zu 150 Milliarden DM Nettotransfers in die neuen Bundesländer, übernommen werden mussten, ({0}) um die Hinterlassenschaften des real existierenden Sozialismus nach und nach zu beseitigen?

Dipl. - Ing. Manfred Opel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, Sie wissen ganz genau, dass mir das sehr nahe ist und dass mir das bewusst ist. ({0}) Nur, Herr Kollege, Sie wissen, dass wir einen Solidaritätszuschlag erhoben haben und dass dies nicht die Bundesregierung, sondern die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes bezahlen. Ihre Darstellung ist schlicht und einfach falsch. Schon vor 1990 sind Sie in den Schuldenstaat gegangen und danach taten Sie es auch. Dazu sollten Sie sich bekennen, das wäre wenigstens ehrlich. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben die Gleichgewichtigkeit von Streitkräften und Verwaltung in der Bundeswehr zu beachten. Wenn wir von BundesManfred Opel wehr sprechen, sprechen wir von beidem. Wir sprechen von der Gesamtbundeswehr und auch von der Peripherie, von den Gemeinden. Der Minister ist kritisiert worden, weil er gestern genau das machte, was Sie immer gefordert haben. Er hat Ihnen die Chance gegeben, Herr Nolting, zu einem Kriterienkatalog beizutragen. Diesen Kriterienkatalog müssen Sie doch kennen. Sie brauchen nur die Protokolle des Verteidigungsausschusses zu lesen, dann wissen Sie das. Auf der einen Seite tun Sie so, als würde der Minister Sie nicht teilhaben lassen. Aber auf der anderen Seite lehnen Sie es ab mitzuwirken, wenn er Sie teilhaben lässt. ({2}) Sie können doch nicht so tun, als hätte die Bundeswehrreform Sie überfallen. Sie haben das WeizsäckerGutachten, das Eckwertepapier, das Eckpfeilerpapier, Sie haben alle Daten. Tragen Sie endlich dazu bei, seien Sie konstruktiv! Ich bemerke, dass Sie destruktiv sind. Dies bedauere ich sehr. Das hat die Bundeswehr nicht verdient, Herr Nolting. ({3})) Ich möchte Sie daran erinnern, dass diese Bundeswehr einen völlig neuen Auftrag hat. Frau Lippmann - Sie ist leider jetzt nicht da -, diese Bundeswehr ist keine Interventionsarmee. Die Bundeswehr hat den neuen Schwerpunkt Bündnisverteidigung. Wir waren über Jahre Sicherheitsempfänger. Jetzt haben wir die Möglichkeit, Sicherheitsgeber zu sein. Dies bedeutet, dass wir die gesamte Bundeswehr umstrukturieren müssen. Von einer Interventionsarmee zu reden ist daher gänzlich falsch. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, es gibt eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting.

Dipl. - Ing. Manfred Opel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit dem größten Vergnügen, Frau Präsidentin.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Opel, ist Ihnen bekannt, dass es eine Weizsäcker-Kommission gegeben hat, in der aktive Politiker nicht mitgearbeitet haben und - aus der Sicht des Ministers - gar nicht mitarbeiten sollten? ({0}) Ist Ihnen bekannt, dass das Parlament, als es um die Grobplanung ging, nicht in die Planung einbezogen wurde? Ist Ihnen bekannt, dass bei der Feinausplanung, die stattfand, das Parlament wieder nicht beteiligt wurde, ({1}) dass bei den Standortentscheidungen des Ministers das Parlament im Vorfeld nicht beteiligt wurde und dass uns jetzt eine Frist von wenigen Tagen gesetzt wurde, in der wir uns beteiligen sollen? Wir werden damit unter erheblichen Druck gesetzt und sollen offenbar eingekauft werden. Ist Ihnen das alles bekannt?

Dipl. - Ing. Manfred Opel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Nolting, es gibt verantwortliches Regierungshandeln. Dafür haben wir eine Regierung. Ich bin dankbar, dass diese Regierung ihre Verantwortung wahrgenommen hat. Jetzt aber zu dem Punkt „Beteiligung des Parlamentes“. Wir haben in der Opposition jahrelang eine parlamentarische Wehrstrukturkommission gefordert. Sie haben diese immer abgelehnt. Das ist die ganze Wahrheit. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Opel, es gibt eine Frage der Kollegin Lippmann. Ich verweise darauf, dass dies die letzte Frage ist, die ich bei diesem Redner zulasse. Es ist bereits 13.30 Uhr und wir haben noch zwei weitere Tagesordnungspunkte. Frau Kollegin Lippmann, bitte.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Opel, Sie haben mich gerade direkt angesprochen und darauf hingewiesen, dass wir nicht länger Sicherheitsnehmer, sondern Sicherheitsgeber seien. Ich frage Sie in Anbetracht der gestrigen Debatte, die wir geführt haben, ganz konkret: Wem geben wir welche Sicherheit und vor allem in welcher Form? Haben wir den Menschen, die Sie damals in Jugoslawien bombardiert haben, Sicherheit gegeben? ({0}) Halten Sie nach wie vor an der Interpretation des „humanitären Krieges“ fest? Ist das Sicherheit, die wir geben? Geben wir durch die derzeitigen Planungen den Soldaten und vor allem ihren Familien Sicherheit? In welcher Form garantieren wir diese Sicherheit? Sind Sie nicht vielmehr der Auffassung, dass wir durch Krisenprävention und mit nicht militärischen Mitteln Sicherheit geben müssten, ({1}) wozu der Umbau der Bundeswehr und ihr Engagement in der WEU und der NATO sicherlich nicht gehören?

Dipl. - Ing. Manfred Opel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Lippmann, eines ist richtig: Die Krisenprävention - einschließlich nicht militärischer Mittel - ist vordringlich. Wir wollen den Frieden ohne den Einsatz von Militär. Aber ich muss Ihnen auch sagen: Wir leben in Sicherheit. Wir erkennen den Wert der Sicherheit nicht, so lange sie vorhanden ist. Wir spüren diesen ihren Wert erst, wenn sie gefährdet oder nicht mehr vorhanden ist. Diese Sicherheit haben wir durch unsere Bundeswehr und vor allem aufgrund unserer Alliierten lange Zeit bewahrt. Sowohl Art. 5 des NATO-Vertrages wie auch des WEU-Vertrages legt fest, dass wir uns gegenseitig beistehen. Lange genug haben uns die Alliierten beigestanden. Wir wollen in Zukunft den Alliierten beistehen, vor allem in der vergrößerten NATO. Das ist unsere Aufgabe. Das heißt, dass wir in Zukunft Sicherheitsgeber sein werden. Das bedeutet, dass wir die Bundeswehr umstrukturieren müssen. ({0}) Wir haben weiter eine völlig neue Operationsführung. Wir haben sie deswegen, weil das Gefecht schneller geworden ist. Bei jedem Wetter und zu jeder Tageszeit muss man einsatzbereit sein. Dies bedeutet eine völlig neue Führung in den Streitkräften. Mit unseren Streitkräften müssen wir uns weiterentwickeln. Das hat auch Auswirkungen auf die Struktur und die Stationierung. Wir haben auch eine neue Technologie, die mehr Präzision, mehr Datenverarbeitung und eine verbesserte Einsatzfähigkeit nach sich zieht. Dies bedingt eine neue Struktur. Eine neue Struktur hat zwangsläufig eine neue Stationierung zur Folge. Es ist völlig egal, wie groß die Geldmittel für die Bundeswehr sind. Jeder in der politischen Verantwortung hätte eine Umstrukturierung vornehmen müssen. Es gehört eben auch zur Wahrheit, dass man sich dazu bekennt. Und es gehört zur Zukunft der Bundeswehr, dass man dies tut. Wir alle gemeinsam - die Gemeinden, die Soldaten, die Bundeswehrangehörigen in Zivil und vor allen Dingen wir in diesem Hohen Hause - müssen diese Umstrukturierung mittragen. Wir müssen zur Sicherheit der Bundeswehrangehörigen und ihrer Familien und nicht zu ihrer Verunsicherung beitragen. Das ist unsere Aufgabe, die im Zentrum dessen steht, was von der Politik erwartet wird. ({1}) - Verehrter Herr Breuer, mit Ihrem Zwischenruf machen Sie genau das Gegenteil. Wir versuchen dadurch, dass wir eine klare Zeitvorgabe für unsere Entscheidung haben, klarzumachen ({2}) - lassen Sie mich doch einfach ausreden -, dass wir eine mit den Gemeinden und Ländern abgestimmte Politik wollen. Der Minister hat mit dem Ministerpräsidenten gesprochen. Er hat Ihnen alles das dargestellt, was auf der Tagesordnung steht. ({3}) - Sie mögen es nicht wahrgenommen haben. Aber das ist Ihr Problem. Alle anderen, zum Beispiel die Soldaten, haben es wahrgenommen. ({4}) Wenn man mit Kommandeuren und Soldaten spricht, dann sagen diese, dass sie Ihre Verunsicherungskampagne überhaupt nicht verstehen. Sie haben zur Bundesregierung und zum Verteidigungsminister Vertrauen. Unbeschadet dessen, welche Klänge man heute aus dem Bundeswehr-Verband hört - dies bedauere ich ausdrücklich; ich bin seit 1958 Mitglied dieses Verbandes und habe solche Klänge noch nie gehört -, ({5}) wird die Bundeswehr die Zukunft gewinnen. Wir werden die Zukunft der Bundeswehr garantieren und damit die Sicherheit unseres Landes. Vielen Dank. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der nächste Redner für die CDU/CSU ist der Kollege Thomas Kossendey.

Thomas Kossendey (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001188, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mit meinem Beitrag auf zwei Aspekte eingehen, die heute noch gar nicht erwähnt worden sind: die Situation der Zivilbediensteten und die Kooperation der Bundeswehr mit der Wirtschaft. Lassen Sie mich zu Anfang feststellen, Herr Minister: Was das Ziel angeht, stimmen wir mit Ihnen überein. Wir wollen mehr als früher - das haben wir seit Beginn der 90er-Jahre deutlich gemacht - den Sachverstand der Wirtschaft in die Bundeswehr hineintragen und wir wollen die Auftragserfüllung der Bundeswehr durch die öffentliche Hand auf das sachlich und rechtlich notwendige Maß beschränken. Sosehr wir uns aber in diesen Zielen einig sein mögen, so sehr haben wir Zweifel angesichts des Weges, den Sie in diesem Zusammenhang eingeschlagen haben. Lassen Sie mich das an drei Problemkreisen verdeutlichen. Zunächst zum Stichwort Zivilbedienstete. Unseres Erachtens haben Sie sich - unklugerweise - unter einen Zeitdruck gesetzt, der Sie geradezu zwingt, Fehler zu machen, Enttäuschungen zu provozieren und Verunsicherung zu schaffen. Wer in den nächsten Jahren über 40 000 Zivilbedienstete einsparen will, der gerät schnell in die Situation, dass er einsparen muss, koste es, was es wolle. Dies trifft umso mehr zu, als die einzusparende Zahl der Zivilbediensteten nicht das Ergebnis einer Planung ist, sondern letztendlich eher einer Vorgabe des Finanzministers folgt. Sie sagen im Hinblick auf die Zivilbediensteten zum Beispiel: Eine so weit gehende Arbeitsplatzgarantie, wie ich sie ihnen gebe, haben sie noch nie gehabt. Was die Vertreter der Gewerkschaften bei den jetzt stattfindenden Tarifverhandlungen allerdings erleben, ist, dass das politische Versprechen, das Sie gegeben haben, von Ihren Vertretern in den Tarifkommissionen nicht akzeptiert wird. Sie haben im Gegenteil in den ersten Besprechungen mit den Tarifpartnern deutlich gemacht, dass das Innenministerium einer Arbeitsplatzgarantie, wie sie die Bediensteten erwarten, nie zustimmen wird. Das muss die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Bundeswehr verunsichern. Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass es sich bei diesen Mitarbeitern nicht um Kostenstellen mit zwei Ohren handelt, sondern um Menschen, die zusammen mit ihren Familien in Sorge sind um ihren Arbeitsplatz. ({0}) Wenn diese spüren, dass über sie nur verfügt wird, statt dass mit ihnen gesprochen wird, dann lähmt das die Motivation. ({1}) Wenn Sie darüber hinaus keine Gelegenheit ungenutzt lassen, die Leistung dieser Mitarbeiter in ein falsches Licht zu rücken bzw. sie manchmal sogar der Lächerlichkeit auszusetzen, muss das demotivierend wirken. Ich will Ihnen dafür ein Beispiel nennen. Auf der Kommandeurtagung haben Sie, Herr Minister Scharping, gesagt - ich zitiere wörtlich -: Kürzlich erzählten mir Menschen, - natürlich anonym ich solle mir mal die WBV in München etwas genauer angucken. Das habe ich dann getan. Da arbeiten etwas über 900 Menschen auf deutlich über 80 000 qm Büroflächen. Das ist unwirtschaftlich. Und auch das ist nur ein Beispiel für manches andere, das ich erwähnen könnte. Tatsache ist: Das Bundeswehrverwaltungszentrum in München hat eine Gebäudenutzfläche von circa 88 000 Quadratmetern. Sämtliche überbauten Flächen, also Büros, Flure, Keller, Toiletten und Wirtschaftsräume, sind darin enthalten. In diesem Bundeswehrverwaltungszentrum arbeiten außer der Wehrbereichsverwaltung noch zehn weitere Dienststellen: die Standortverwaltung, das Kreiswehrersatzamt, das Rechenzentrum, die MAD-Stelle, das Truppendienstgericht usw. Die Wehrbereichsverwaltung VI hat für sich allein eine Hauptnutzfläche von 15 000 Quadratmetern, was bei 900 Bediensteten genau den Vorgaben entspricht, die Ihr Ministerkollege in dem dafür zuständigen Ressort vorgegeben hat. ({2}) Ich finde, wer auf diese Art und Weise über die Zivilbediensteten spricht, macht sich nicht unbedingt verdient um sie. Lassen Sie doch diese rhetorischen Taschenspielertricks. Sie helfen Ihnen und uns nicht und sie verunsichern die Menschen. ({3}) Besser wäre es, Herr Minister, Sie würden die Beispiele ernst nehmen, die gezeigt haben, dass man Geld und Personal sparen kann, wenn man intern optimiert und investiert, und zwar entsprechend dem Grundsatz, den Richard von Weizsäcker in seinem viel zitierten Bericht angeführt hat: Sparen kostet. So ist zum Beispiel in der Standortverwaltung in Schwanewede 1994 unter Volker Rühe ein Optimierungsmodell ins Werk gesetzt worden, das den Bediensteten die Möglichkeit gegeben hat, nach einer Investition von 2,3 Millionen DM selber zu sparen. Nachdem diese Investition getätigt worden ist, wird in dieser Standortverwaltung jedes Jahr ein Betrag von ungefähr 2,4 Millionen DM eingespart. Das zeigt sehr deutlich, wie wichtig es ist, zunächst eine Anschubfinanzierung zu geben, wenn man sparen will. Für eine solche Anschubfinanzierung ist in Ihrem Haushalt aber weniger Geld vorgesehen, als notwendig wäre. Letztendlich spüren die Menschen, dass Anspruch und Wirklichkeit auseinander klaffen. Und das verunsichert. Genauso verhält es sich bei der Kooperation mit der Wirtschaft. Es haben zwei große Festveranstaltungen stattgefunden. Der Kanzler und Sie haben sich im Rampenlicht zusammen mit der deutschen Industrie gesonnt das ist für Sozialdemokraten zugegebenermaßen ein fantastisches Erlebnis. Solche Veranstaltungen helfen allerdings der deutschen Wirtschaft nicht in dem Maße, wie sie es erhofft hat. Es sind Kooperationsverträge unterschrieben worden; Sie sagen, es hätten über 600 Firmen unterschrieben. Wenn man aber fragt, was diese Firmen konkret von diesen Verträgen haben, wird uns mitgeteilt, vielleicht zwei Dutzend dieser Firmen hätten Verträge mit der Bundeswehr geschlossen. ({4}) In den Bereichen, in denen Sie Möglichkeiten einer alternativen Finanzierung hätten - Sie persönlich haben vielleicht keine Berührungsängste -, ist Ihr Ministerium noch zu sehr im alten Denken verhaftet, um die Chancen, die es dort gibt, wirklich zu nutzen. Ich will als Beispiele nur das Wehrforschungsschiff und den Aufklärungssatelliten nennen. ({5}) - Verehrter Herr Kollege Zumkley, Ihr Zwischenruf ist nicht von der Qualität, wie ich es von Ihren sonstigen Beiträgen kenne. Streichen Sie ihn einfach wieder! ({6}) Es wird häufig eingewandt, das Grundgesetz stünde einer Privatisierung entgegen. Herr Minister, Sie wollten eine Gesellschaft gründen, die dazu in der Lage ist, die Bundeswehr nach privatwirtschaftlichen Gesichtspunkten aufzumöbeln. Ich glaube, diese Gesellschaft wäre besser erst gegründet worden, nachdem Sie mit dem Sachverstand Ihres Hauses den rechtlichen Rahmen abgesteckt hätten. Im Augenblick ist Frau FugmannHeesing, die ich als kompetente Geschäftsführerin dieser Gesellschaft schätze, dabei, den rechtlichen Rahmen, in dem sie arbeiten kann, selbst auszuloten. Das kann nicht in Ordnung sein. Sie sollten den Sachverstand Ihres Hauses und der nachgeordneten Behörden viel intensiver nutzen, als das in der Vergangenheit geschehen ist. Im Zusammenhang mit dem Beispiel GEBB bitte ich Sie zu überlegen: Sie wollen, dass Ihnen die GEBB durch Grundstücksverkäufe in diesem Jahr einen Betrag von nahezu 1 Milliarde DM für den Haushalt erwirtschaftet. Ohne dieses Geld wäre der Spielraum für Investitionen sehr klein. Sind denn die Grundstücke, die verkauft werden sollen, schon identifiziert? Sind sie schon einmal bewertet worden? Wer aus den Kreisen der deutschen Industrie oder der deutschen Makler solche Grundstücke kaufen will, wird klugerweise bis zum Jahresende warten, weil dann Ihre finanzielle Situation immer prekärer wird und möglicherweise eine Situation eintritt, in der über den Preis noch verhandelt werden kann. Manches von dem, was Sie angefangen haben, ist schön und richtig gedacht, in manchen Fällen haben Sie nur Ansätze weitergedacht, die schon vorhanden waren. Die Wege sind mir allerdings noch viel zu verschlungen, um wirklich erfolgreich zum Ziel zu führen. Herr Minister, ich sage Ihnen sehr deutlich: Wir bieten Ihnen ausdrücklich an, an diesem Thema gemeinsam weiterzuarbeiten. Es ist ein viel zu wichtiges Thema, mit dem Weichen für die Zukunft der Bundeswehr gestellt werden, als dass wir es nur einer Partei dieses Hauses überlassen sollten. Sie müssen sich aber ernsthaft bemühen, die Pläne ins Werk zu setzen. Ich nenne Ihnen als Beispiel nur das Marinearsenal in Wilhelmshaven. Hier könnten wir den Dreiklang von Industrie, militärischen und zivilen Mitarbeitern ganz prima durchexerzieren. Im Arsenal ist eine Menge an Vorleistungen erbracht worden; die Strukturen sind flacher geworden, es sind nahezu die Hälfte der ursprünglichen Dienstposten eingespart worden. Es bietet sich für eine intensive und verbesserte Kooperation mit der Wirtschaft an. Wir sollten einmal gemeinsam im Ausschuss erörtern, wie wir vor dem Hintergrund dieses Beispiels die Kooperation zwischen Bundeswehr und Wirtschaft erfolgreich praktizieren können. Zum Schluss eine persönliche Bemerkung: Diese schwierige Arbeit für die Bundeswehr, für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im zivilen und militärischen Bereich, erfordert in den kommenden Jahren die ungeteilte Aufmerksamkeit des Ministers. Die Menschen in der Bundeswehr werden große Belastungen auf sich nehmen müssen; manche Karriereplanung wird jäh unterbrochen und mancher Lebenslauf wird sich nicht so realisieren lassen, wie er geplant war. Ich glaube, es ist nicht gerade sehr motivierend, wenn die betroffenen Menschen, die in schwierigen Situationen stecken, im Fernsehen hören, dass Sie in den letzten Monaten gelernt haben, eine Akte auch einmal etwas früher aus der Hand zu legen. Nein, diese Menschen müssen das Gefühl haben, dass Sie das Heft fest in der Hand haben und dass Ihre politische Aufmerksamkeit ungeteilt den Sorgen und Problemen der Menschen gilt, die in der Bundeswehr für unsere Sicherheit sorgen. Schönen Dank. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kompliment, Herr Kollege, genau auf die Minute. Nächster Redner für die Fraktion der Bündnisgrünen ist der Kollege Winfried Nachtwei.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur Diskussion und Abstimmung stehen heute mehrere Anträge der versammelten, aber sehr uneinigen Opposition. ({0}) Beiträge zur Debatte über die anstehende Bundeswehrreform, die selbstverständlich der öffentlichen und kritischen Begleitung bedarf, sind grundsätzlich zu begrüßen. Die militärpolitische Debatte wird und wurde auch in diesem Haus immer wieder durch viel parteipolitisches Getöse geprägt. Herr Breuer, Sie gehörten zu denjenigen, die dazu sehr viel beigetragen haben. Aber die heutigen Anträge belegen erstaunlicherweise, dass es in relativ vielen Punkten Konsens gibt. Wahrscheinlich war der Konsens in diesem Hause - wenn man es historisch betrachtet - noch nie so groß. Wegen der Kürze der Zeit kann ich allerdings nur auf die Differenzen eingehen. ({1}) Die CDU/CSU votiert für eine geringfügige Reduzierung des Bundeswehrumfanges und für einen Anstieg der Militärausgaben. Wie Sie das mit ihrem Anspruch, den Bundeshaushalt zu konsolidieren, vereinbaren wollen, lassen Sie wohlweislich unausgesprochen. ({2}) Die F.D.P. orientiert sich in ihrem Antrag stark am - zu Recht gelobten - Bericht der Weizsäcker-Kommission. Das macht ihn um einiges diskussionswürdiger. Wenn die F.D.P. sagt, die Wehrpflicht sei „sicherheitspolitisch nicht mehr zwingend erforderlich“, dann hat sie nach bündnisgrüner, aber bekanntlich nicht nach regierungsamtlicher Auffassung Recht. ({3}) - Herr Nolting, Sie blasen sich hier immer so fantastisch auf, als hätten Sie völlig vergessen, dass es einen kleinen Unterschied zwischen Parteipositionen, Fraktionspositionen und Kompromisspositionen gibt, die man in Koalitionen vereinbaren muss. Das hat nichts mit Unglaubwürdigkeit zu tun. Das ist normaler Parlamentarismus, sonst gar nichts. ({4}) Wenn Sie gestatten, gehe ich weiter auf Sie ein, Herr Nolting. Immerhin sind Sie derjenige in Ihrer Fraktion gewesen, der zumindest bis zum Sommer letzten Jahres besonders eifrig durch die Lande gezogen ist und immer wieder verkündet hat: Die Wehrpflicht ist sicherheitspolitisch unverzichtbar. Ich frage Sie: Was hat sich seit dem letzten Sommer sicherheitspolitisch so grundlegend für die Bundesrepublik geändert, ({5}) dass Sie jetzt zu der entgegengesetzten Schlussfolgerung kommen? Sie verstehen, dass hier der Eindruck sehr nahe liegt, dass nicht Sachargumente und gewandelte Überzeugungen eine Rolle gespielt haben, sondern das bekannte Fähnlein im parteipolitischen Winde. In diesem Zusammenhang ist mir die Auffassung Ihres Kollegen van Essen, der überzeugter Reserveoffizier ist, aufgefallen. Ich teile sie zwar nicht, aber er hat Respekt verdient, weil er an seiner Überzeugung festgehalten hat.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Nachtwei, der Kollege Nolting möchte eine Zwischenfrage stellen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, wir brauchen keine weiteren Aufblasveranstaltungen. ({0}) Der PDS-Antrag sollte genauer zur Kenntnis genommen werden. Die PDS erkennt nämlich erstmalig den Verteidigungsauftrag der Bundeswehr auch im Bündniszusammenhang an. Ich vermute, dass die meisten PDS-Anhänger davon noch gar nichts wissen; denn wenn sie es wüssten, wären viele von ihnen sicherlich sehr irritiert. Allerdings werden im PDS-Antrag die Konsequenzen verschwiegen. Bündnisverteidigung ist heute und in Zukunft nicht ohne hochmobile und flexible Kräfte möglich, also nicht ohne die Fähigkeiten, die fast mit denjenigen deckungsgleich sind, die man für so genannte Kriseneinsätze benötigt. Es ist allerdings auffällig, dass sich die drei Oppositionsfraktionen in ihren Anträgen genau in diesem Punkt ausschweigen, nämlich über den Auftrag der Krisenbewältigung, der ja eigentlich im Mittelpunkt der laufenden Bundeswehrreform steht. Die PDS erteilt ihm ganz kategorisch eine Absage und setzt militärische Krisenbewältigung im Grunde mit imperialistischem Interventionismus gleich. Sie negieren dabei allerdings Kleinigkeiten, nämlich zum Beispiel die zurzeit unverzichtbare Rolle von SFOR und KFOR auf dem Balkan, ohne die es keine Gewalteindämmung gäbe. Eine kategorische Absage Ihrerseits liefe darauf hinaus, Blauhelmtruppen überall - vom Golan bis Zypern - abzuziehen. Das allerdings wären Gewaltförderungsmaßnahmen nach PDS-Art. CDU/CSU und F.D.P. dagegen kommen im Grunde nicht über die übliche Terminologie zur militärischen Krisenbewältigung hinaus und verpassen damit die Chance, die zu Recht viel geforderte große Debatte zur Bundeswehrreform etwas voranzubringen. Dabei drängen sich doch die großen und bisher nicht geklärten Fragen auf - Sie entschuldigen, wenn ich mich in diesen Punkten im Plenum ab und zu wiederhole; aber da dies auf so wenig Widerhall stößt, muss man das ab und zu wiederholen. Wir schaffen keine Interventionsarmee, wohl aber eine interventionsfähige Armee. ({1}) Gleichzeitig wollen wir nicht von einer militärpolitischen Zurückhaltung, die Tradition der Bundeswehr ist, abrücken. Darin besteht hier Einigkeit. ({2}) Ehrlicherweise müssen wir allerdings sagen: Die Absicht alleine reicht nicht. Vielmehr brauchen wir eine genauere Klärung und Verständigung über die Voraussetzungen, Ziele und Grenzen von Kriseneinsätzen. Angesichts der Nachgeschichte des Kosovo-Krieges stellt sich vermehrt die Frage, wie künftig bei multilateralen Kriseneinsätzen der Primat der Politik und die parlamentarische Kontrolle wirksam gestärkt werden können. Dies ist auch im Zusammenhang mit der Diskussion um uranhaltige Munition und der Frage, ob möglicherweise gar ein Anteil Plutonium enthalten ist, ein sehr wichtiger Punkt. Und schließlich: Die Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft ist eine demokratische und rechtstaatliche Errungenschaft der Bundesrepublik. Daher geht es auch um die Frage: Wie kann diese Errungenschaft bewahrt und stabilisiert werden angesichts einer ganz anderen Realität, was die Einsätze der Bundeswehr angeht, angesichts einer real schrumpfenden Wehrpflicht und angesichts weiterer Standortschließungen? Wir als Sicherheitspolitikerinnen und -politiker können uns nicht damit begnügen, dass Fragen der Bundeswehr nur dann breites öffentliches Interesse finden, wenn sozusagen bestimmte Nerven der Gesellschaft betroffen sind

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Nachtwei, Sie müssen zum Schluss kommen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- ja, ich komme zum Schluss -, also zum Beispiel die regionale Betroffenheit durch Standortschließungen, die schwer einzuschätzenden Gesundheitsrisiken durch Strahlen, Munitionsreste usw. In einigen Wochen wird die Bundesregierung ihr Weißbuch zur Sicherheitspolitik vorlegen. Das ist eine vorzügliche Gelegenheit, über sicherheitspolitische Zukunftsfragen breit zu diskutieren, zu mehr Klärung und Verständigung zu kommen. Dazu sollten alle Fraktionen ihren Beitrag leisten. Danke schön. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Günther Nolting, F.D.P.-Fraktion. ({0})

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Nachtwei, wir haben ja in den vergangenen Jahren verschiedene Veranstaltungen gemeinsam besucht und haben dort gemeinsam diskutiert. Wir beide mögen die sicherheitspolitische Lage unterschiedlich einschätzen. Die Mehrheit meiner Partei ist der Auffassung - Sie haben das ja zitiert -, dass die Wehrpflicht aufgrund der sicherheitspolitischen Lage, die sich ja nun wirklich verbessert hat, nicht mehr zwingend notwendig ist. Herr Kollege Nachtwei, Sie werden sich allerdings daran erinnern können, dass ich immer gesagt habe: Die Wehrpflicht ist dann infrage gestellt, wenn Wehrgerechtigkeit nicht mehr gegeben ist. Mit dem Modell, das jetzt von Rot-Grün präsentiert wird, bewegen wir uns auf eine absolute Wehrungerechtigkeit zu. ({0}) Sie werden sich daran erinnern können, dass ich auch immer gesagt habe: Der Grundwehrdienst muss die Wehrpflicht legitimieren und nicht der Ersatzdienst. Nach dem rot-grünen Modell aber wird es pro Jahr bedeutend mehr Zivildienstleistende als Grundwehrdienstleistende geben. Das heißt, in Zukunft legitimiert sich die Wehrpflicht aus dem Ersatzdienst. Das kann nicht richtig sein. Auch früher habe ich immer erklärt, dass dann die Wehrpflicht nicht mehr zu halten ist. Ein letzter Punkt: Ich möchte nicht, dass das Bundesverfassungsgericht in dieser Frage eine Entscheidung trifft, die wir als Parlament nachvollziehen müssen. Ich möchte, dass politische Entscheidungen hier im Parlament getroffen werden, so wie das der Herr Bundespräsident auf der Kommandeurtagung angemahnt hat. In diesem Sinne habe ich meine Ausführungen hier für die F.D.P.-Fraktion gemacht. Sie können mir nicht irgendwelche Dinge unterstellen. Ich habe diese Meinung in den vergangenen Jahren immer vertreten. Es ist leider so gekommen, wie ich es früher befürchtet habe. Deswegen plädiere auch ich mittlerweile für ein Aussetzen der Wehrpflicht; nichts anderes.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Nachtwei, möchten Sie erwidern? ({0}) - Der Kollege verzichtet auf eine Erwiderung. Ich erteile jetzt dem Kollegen Paul Breuer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden hier über die Bundeswehr, ein absolut sensibles und wichtiges Instrument der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, dem wir Deutschen sehr viel verdanken. Deswegen sollte man diese Debatte nicht an einem frühen Freitagnachmittag führen. Diese Debatte gehört eigentlich ins Zentrum einer Sitzungswoche. Herr Kollege Opel, ich nehme gern auf, was Sie vorhin hinsichtlich meiner Bemühungen in den 90er-Jahren gesagt haben. Das haben Sie gar nicht falsch dargestellt. Ich habe in den 90er-Jahren davor gewarnt, voreilig die Bundeswehr zu verkleinern und ihr finanziell den Boden zu entziehen; denn ich war der Meinung, dass in Deutschland viel zu viel über die Friedensdividende und viel zu wenig über die sicherheitspolitische Rolle des vereinigten Deutschlands in der Mitte Europas als Sicherheits- und Stabilitätsanker für unseren Kontinent geredet wurde. Die Frage ist, ob wir im Vorfeld der heutigen Debatte genügend über unsere sicherheitspolitische Rolle geredet haben. Haben wir, haben Sie, Herr Minister Scharping, der deutschen Öffentlichkeit klargemacht, dass es Risiken gibt, für die wir Vorsorge leisten müssen? Es gibt Risiken in Europa, um Europa und darüber hinaus, die sich negativ auf unsere Stabilität hier vor der Haustür auswirken können. Ich bezweifle, ob diese Diskussion überhaupt verantwortlich genug geführt worden ist. Die sicherheitspolitische Diskussion ist ausgeblieben, das Pferd ist vom Schwanz her aufgezäumt worden. Es wurde über Geld, aber nicht über die Begründung für die Investitionen und die Reform geredet. Das ist ein Versagen des Bundesverteidigungsministers Scharping. ({0}) Sie wissen, dass wir hinsichtlich der Zielsetzung in manchen Punkten übereinstimmen, aber ich zweifle sehr stark an der Richtigkeit Ihrer Strategie. Ich habe mir noch einmal einen Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 4. Oktober 1999 hervorgeholt. In diesem Artikel wird über die legendäre Tagung in Decimonannu, Sardinien, berichtet. ({1}) Auf dieser legendären Tagung tritt Herr Scharping auf - ich komme gleich zu Zitaten - und sagt sehr deutlich: Bei den eingegangenen sicherheitspolitischen Verpflichtungen gegenüber der Europäischen Union und der NATO ergäben sich für die Bundeswehr in den nächsten zehn Jahren Mehrkosten in Höhe von 20 Milliarden DM. Dazu kämen noch zwischen 10 und 20 Milliarden DM, die sich durch den Investitionsstau der vergangenen Jahre angehäuft hätten. Das heißt, 30 bis 40 Milliarden DM in zehn Jahren, sprich 3 bis 4 Milliarden DM plus pro Jahr. Zum Sparen bei der Bundeswehr und den gleichzeitig gestiegenen Anforderungen sagte Scharping damals - ich zitiere -: Wenn man beides erreichen will, kann man die Bundeswehr auch gleich einstellen. Das ist dann ehrlicher. Wenn man also gleichzeitig sparen und die Vertragsverpflichtungen erfüllen will - sagt Scharping -, kann man die Bundeswehr einstellen. Ich stelle jetzt fest: Es ist leider das geschehen, wovor Scharping gewarnt hat. ({2}) Die Vertragsverpflichtungen gegenüber der NATO, in Europa und gegenüber der UNO sind eingegangen worden und gleichzeitig wird der Verteidigungshaushalt im mittelfristigen Finanzrahmen in einer unverantwortlichen Art und Weise herabgefahren. ({3}) Herr Scharping, was nun? Das ist die Situation, in der Sie sich jetzt befinden. Jetzt gehe ich einmal auf die Risiken und den deutschen Beitrag ein. Hinsichtlich des anstehenden Umbaus der Bundeswehr besteht Übereinstimmung darüber, dass die Einsatzfähigkeit, die Verfügbarkeit und die Durchhaltefähigkeit der Streitkräfte erhöht werden müssen. Wir sagen dazu - das geht aus unserem Antrag deutlich hervor; dort kann man es nachlesen -: Wir müssen die Erhöhung der Krisenreaktionsfähigkeit mit einer nach wie vor notwendigen Vorsorge auf dem Gebiet der Landesverteidigungsfähigkeit verbinden, die mit der Bündnisverteidigung fest verklammert ist. Wie sieht die Realität aus? Zur Realität gehört - es geht um unsere Mitverantwortung - der Stabilitätsanker Deutschland. Realität ist, dass wir unsere Bündnisverpflichtungen in der Zukunft nicht einhalten können. Herr Scharping hat der NATO zugesagt, dass wir Deutschen ein Divisionsäquivalent für die Dauer eines Jahres abstellen, und zwar in einem NATO-Partnerland. Herr Scharping, ich sage Ihnen voraus: Bei den jetzt anstehenden Planungen wird sich erweisen, dass Sie eine halbe Division für ein halbes Jahr aufstellen können und dass Sie den eingegangenen Vertrag nicht erfüllen. ({4}) Herr Scharping, was nun? Als Nächstes stellt sich für mich die Frage der personellen Ressourcen und der damit verbundenen Vorsorge. Ich komme zur Wehrpflicht. Ich teile das, was Kollegen der SPD eben zur Wehrpflicht gesagt haben: Die Wehrpflicht ist ein wesentlicher Bestandteil der sicherheitspolitischen Vorsorge für die Zukunft. Die Wehrpflicht schafft die Möglichkeit, dass sich die Bundeswehr an veränderte sicherheitspolitische Situationen anpassen kann. Was die F.D.P. macht, ist nichts anderes als umfallen. Kollege Günther Nolting, du verbiegst dich hier in einer Art und Weise, die ich nicht verstehen kann. ({5}) Der Umgang mit der Wehrpflicht vonseiten der SPD ist jedoch nicht in Ordnung. Ein zu starkes Absenken der Anzahl der Wehrpflichtigen führt dazu, dass Wehrungerechtigkeit entsteht und die Legitimationsbasis für die Wehrpflicht immer schwieriger wird. Das muss leider gesagt werden. ({6}) Es muss Wehrgerechtigkeit herrschen und es muss Vorsorge geleistet werden. Sie leisten dem Missverständnis junger Leute Vorschub, es komme auf ihren Beitrag für die deutsche Sicherheit nicht mehr an. Das ist ein riesiger Fehler. ({7}) Deswegen sagen wir: Wenn es 30 000 Stellen für Wehrpflichtige mehr gibt, dann herrschen Glaubwürdigkeit und Gerechtigkeit. Herr Scharping, bessern Sie nach! ({8}) Was die Finanzausstattung angeht, so sagen wir: Man wird mittelfristig über die - nach heutigem Geldwert berechnet - 50-Milliarden-DM-Grenze hinausgehen müssen. Hier ist gesagt worden: Nennen Sie doch die Finanzierung! - Ich sage Ihnen einmal eines: Die mittelfristige Finanzplanung sieht als zukünftige Finanzbasis der Bundeswehr knapp 44 Milliarden DM vor. Jeder Experte sagt: Wenn man die Bundeswehr modernisieren und sie vernünftig, überlegen ausstatten will, reicht das bei weitem nicht aus. Wenn das nicht geschieht, können wir aufgrund unserer Verantwortung keinen deutschen Soldaten in irgendeinen Einsatz schicken; das müssen Sie verstehen. Das ist nicht möglich, wenn man gleichzeitig an dieser Finanzbasis festhält. Wenn Sie fragen: „Wo nehmt ihr das Geld her?“, dann antworte ich: Herr Zumkley und andere Kollegen, der Unterschiedsbetrag von 6 bis 7 Milliarden DM pro Jahr entspricht in etwa der Differenz in der Steuerschätzung für ein halbes Jahr. Wenn Sie es bei einem Bundeshaushalt von über 450 Milliarden DM nicht schaffen, diesen Differenzbetrag für die Stabilitätspolitik Deutschlands aufzubringen, dann frage ich: Wozu sind Sie überhaupt noch in der Lage? Das muss doch deutlich gesagt werden. ({9}) Die großen Versprechungen des Bundesverteidigungsministers Scharping im Hinblick auf die Programme zur Verbesserung der sozialen Attraktivität der Bundeswehr stehen ebenfalls auf dem Prüfstand. Ich habe ein Schreiben aus dem Bundesfinanzministerium vom 27. Dezember 2000 an den Bundesminister des Inneren dabei. Mein lieber Georg Pfannenstein, ich bin davon überzeugt: Auch Sie besitzen das Schreiben. In diesem Schreiben wird deutlich, dass der Kabinettsbeschluss - es gebe ein Attraktivitätsprogramm; die Soldaten der Bundeswehr bekämen eine bessere Finanzausstattung, bessere Start- und Aufstiegschancen -, auf den Sie sich berufen, Herr Scharping, Lug und Trug ist. Hier wird deutlich, dass der Finanzminister eine völlig andere Linie als Sie fährt. Was kommt, ist keine Verbesserung in den Aufstiegschancen und der Attraktivität. Den Soldaten droht vielmehr eine Verschlechterung, ein Eingriff in ihre Heilfürsorge. Herr Minister, Sie stehen in der Gefahr, über Ihre heutige Unglaubwürdigkeit hinaus auch künftig in der Bundeswehr unglaubwürdig zu werden. Sie stehen in der Gefahr, Ihrer Verantwortung überhaupt nicht gerecht zu werden, was den Umbau der Bundeswehr angeht. Hier muss Aufklärung geleistet werden. Tun Sie es heute am Rednerpult des Deutschen Bundestages! Ich bedanke mich. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer eine Diskussion über die Zukunft der Bundeswehr führen will, führt eine Diskussion über die Zukunft der Sicherheit unseres Landes, seiner Partner und seiner Freunde. Die Bundeswehr selbst hat zu dieser Sicherheit in den vergangenen Jahrzehnten zuverlässig, gut, verantwortungsbewusst, leistungsstark und motiviert beigetragen. ({0}) Es wäre auch gut, wenn jeder hier in diesem Hause dies akzeptierte. Die Zukunft der Bundeswehr bestimmt sich zunächst durch die Veränderungen, die eingetreten sind und die jedenfalls in großen Teilen positiv sind. Sie bestimmt sich auch durch die Aufgaben, die sich daraus ergeben: äußere Sicherheit gemeinsam zu gewährleisten, Kooperation mit Partnern zu suchen, wo immer möglich, zum Beispiel mit Russland, und im Übrigen zur Krisenprävention und Krisenbewältigung fähig zu sein. Die Aufgaben sind unverändert, die Situation ist allerdings grundlegend verändert. Folglich braucht man dafür auch neue Fähigkeiten. Dem trägt die Entscheidung der Bundesregierung vom 14. Juni des Jahres 2000 Rechnung. Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Kollegen Robbe, Opel und Nachtwei, dass sie auf diese Umstände hingewiesen haben. Ohne eine solche grundsätzliche Orientierung und, wie ich hoffe, Übereinstimmung ist die Zukunft der Bundeswehr nicht zu gestalten. ({1}) Auf der Grundlage dieser jetzt grob umrissenen Situationsbeschreibung ist mehreres zu tun. Im Rahmen der Grobausplanung, also der Festlegung der grundsätzlichen Strukturen, sind dann Entscheidungen getroffen worden. Sie sind übrigens auch hier im Deutschen Bundestag debattiert worden. Bedauerlicherweise hat die Opposition zu großen Teilen die damals zur Verfügung stehende Redezeit - ich füge hinzu: bei einer günstigeren Debattenzeit - mit Standort- und Gelddebatten anstatt mit außen- und sicherheitspolitischen Debatten verbracht. ({2}) Insofern sollten Sie, Herr Kollege Breuer, nicht beklagen, was Sie selbst angerichtet haben, sondern Ihr Verhalten ändern. Wir haben in der Zeit seit der letzten Regierungserklärung und den Entscheidungen über die grundlegenden Strukturen der Streitkräfte Folgendes gemacht: Wir haben eine Priorisierungskonferenz zu den Rüstungsvorhaben durchgeführt. Daraus entsteht ein Material- und Ausrüstungskonzept, das Ende des Monats oder im Februar 2001 vorliegen wird. Obwohl es in erstaunlich kurzer Zeit vorliegen wird, ist es sehr gründlich erarbeitet worden. ({3}) Wir werden zum gleichen Zeitpunkt einen Bundeswehrplan vorlegen. Ich verbinde das mit der Bemerkung, dass Sie 1997/98 einen Bundeswehrplan gegen den sachverständigen Rat der Militärs nicht vorgelegt haben, dass Sie den Bundestag mit einem so genannten Datenberg abgespeist haben und dass Sie auf diese Weise verschleiern wollten, was Ihnen ehemalige Spitzenmilitärs gerne und im Zweifel öffentlich bestätigen, dass Sie die Lücke zwischen Ihren politischen Vorstellungen hinsichtlich Finanzen sowie Investitionen und Ausrüstungserfordernissen der Bundeswehr im Wahlkampf 1998 nicht sichtbar werden lassen wollten. Das ist auch eine Tatsache. ({4}) Im Übrigen werden wir in den ersten Märztagen einen Gesetzentwurf vorlegen, in dem alle erforderlichen Veränderungen zum Wehrdienstgesetz, zur Laufbahnverordnung, zum Soldatengesetz usw. enthalten sein werden. Herr Kollege Breuer, ich will Ihnen Ihr Engagement nicht absprechen. Aber es wird nicht dadurch glaubwürdiger, dass Sie damals zum sachlich Falschen hörbar geschwiegen haben, weil es die parteipolitisch Richtigen getan haben, während Sie sich heute zum sachlich Richtigen dröhnend auf Nebenkriegsschauplätzen äußern, weil es die angeblich parteipolitisch Falschen tun. ({5}) - Ich habe gesagt „hörbar geschwiegen“. Sie haben zum sachlich Falschen hörbar geschwiegen, während Sie sich jetzt zum sachlich Richtigen dröhnend auf Nebenkriegsschauplätzen bewegen. Sie hätten vorher eine Frage stellen können; das ist unter Kollegen ab und zu üblich. ({6}) Dann hätte ich Sie darüber informiert, dass ich Kenntnis von dem Schreiben eines Unterabteilungsleiters aus dem Bundesfinanzministerium vom 27. Dezember habe, dass ich darüber am vergangenen Dienstagabend mit dem Bundesfinanzminister gesprochen habe, dass der Bundesfinanzminister, der Bundesinnenminister und der Bundesverteidigungsminister sich einig sind, dass nicht dieses Schreiben der Maßstab der Gesetzgebung ist, sondern der Beschluss der Bundesregierung vom 14. Juni 2000. ({7}) Im Übrigen: Wenn Sie damit fortfahren, das Verhalten eines illoyalen Beamten, dem Sie auch eine Information verdanken - das ist Teil der Illoyalität -, zum Anlass zu nehmen, hier im Parlament Anklage gegen die Regierung zu erheben, anstatt vorher zu fragen, wie der Sachstand wirklich ist, dann betreiben Sie genau die Verunsicherung, die Sie hinterher lautstark und dröhnend beklagen. ({8}) Ich habe hier schon mehrfach vorgetragen, wie die Zahlen zum Haushalt sind. Daher will ich es jetzt nicht im Einzelnen darstellen. Damit sind wir bei dem Thema Feinausplanung, also der genauen Festlegung dessen, was auf der Grundlage der Entscheidungen über die Strukturen der Bundeswehr im Einzelnen zu tun sein wird. Sie wissen, dass ich in 1999 und 2000 25 Anhörungen mit Kompaniechefs, Kompaniefeldwebeln, Bataillonskommandeuren und vielen anderen durchgeführt habe. Ein Ergebnis dieser Anhörungen und der Gespräche mit den militärischen Stäben war, dass es angesichts der Einsatzerfordernisse der Bundeswehr dringend notwendig ist, die innere Stärke der militärischen Einheiten zu verbessern, also beispielsweise die von Kompanien und Bataillonen. Das werden wir tun.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Minister, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage des Kollegen Paul Breuer. Lassen Sie sie zu?

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Vermutlich bezieht sie sich auf einen zurückliegenden Sachverhalt. Deswegen habe ich in diesem Fall ausnahmsweise nicht die Absicht, sie zuzulassen. - Sie müssen schneller reagieren, Herr Kollege Breuer. Es ist also notwendig, die militärischen Einheiten, Kompanien und Bataillone, zu stärken. Das hat mit dem zu tun, was die Militärs Führerdichte nennen. Ferner muss die Verbindung von Ausbildungsmöglichkeiten und Einsatznotwendigkeiten verbessert werden. Auch das hat etwas damit zu tun, wie eine Brigade, wie ein Bataillon im Einzelnen zusammengesetzt ist. Das Ergebnis dieser Anhörungen mit mehreren Tausend Angehörigen in den Streitkräften und der Erörterungen mit den militärischen Stäben hat dazu geführt, dass wir entsprechende Entscheidungen im Rahmen der Festlegung der so genannten Feinstrukturen der Streitkräfte treffen werden. Das verbessert die Ausbildungsmöglichkeiten. Herr Kollege Breuer, ich setze mich mit der Bundeswehr auseinander. Da müssen Sie nicht lachen. ({0}) - Ich stehe Ihnen gerne für ein Gespräch zur Verfügung. Aber es tut mir Leid: Sie brauchen zu lange, um aus einem Sachverhalt, den ich schildere, eine Zwischenfrage zu entwickeln.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Stichwort ist gefallen: Es besteht ein weiterer Wunsch nach einer Zwischenfrage.

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Aber gerne. ({0}) - Das ist der Kollege Braun.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister Scharping, Sie sprechen von verbesserten Ausbildungsmöglichkeiten als einem Motiv für die Feinausplanung, wie sie in den nächsten Tagen veröffentlicht werden wird. Nun pfeifen es die Spatzen von allen Dächern, dass Teil dieser Feinausplanung die Verlegung der Schule für Feldjäger und Stabsdienst von der Generaloberst-BeckKaserne von Sonthofen nach Hannover sein soll. Ich frage Sie: Gehen Sie wirklich davon aus, dass die Schule - übrigens die Schule, in der die ersten Lehrgänge der Bundeswehr überhaupt stattgefunden haben - sich dort nicht bewährt hat oder dass es für die Soldaten, die dort in einer ganz besonderen Umgebung ihre Ausbildung bekommen, besser wäre, nach Hannover versetzt zu werden? Oder stehen nicht in Wirklichkeit andere Erwägungen im Hintergrund, vielleicht die Überlegung, dass ein besonderer Zuwachs an Sicherheit durch Bundeswehrfeldjäger in dieser Stadt, die sich früher als Stadt der Chaostage einen Namen erworben hat, notwendig sei? Ich darf auch gleich meine Zusatzfrage stellen. Können wir über diese Entscheidung eventuell noch einmal reden? Denn eine solche Entscheidung widerspricht den anderen Kriterien Ihres Konzepts, wonach es nämlich darauf ankommt, wie viele freigesetzte Soldaten und Zivilbedienstete eine Region aufnehmen kann.

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Herr Kollege Braun, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, dass man Kriterien sorgfältig und zuverlässig entwickeln und dann auch anwenden muss. Ich habe mehrfach öffentlich, auch im Parlament, über diese Kriterien gesprochen. Ich lade Sie herzlich ein, Vorschläge wie diesen zu machen. Ich nehme diesen selbstverständlich an. Soweit es weitere Vorschläge hinsichtlich der Kriterien und ihrer Anwendung gibt - es gibt ja einige Kollegen im Deutschen Bundestag, die mir solche Vorschläge machen -, sage ich Ihnen zu, dass diese sorgfältig geprüft und mit einer begründeten Entscheidung versehen werden. Das Ganze geschieht nicht par ordre du mufti. Wir werden über den Inhalt der Entscheidung sinnvoll miteinander reden können. Wenn Sie gestatten, komme ich noch einmal auf die wichtigen Punkte der inneren Stärke der Einheiten und der Verbindung von Ausbildung, Einsatzerfordernissen, Nachwuchsgewinnung usw. zurück. Ich will Ihnen hier ausdrücklich ankündigen, dass es entsprechend den Ergebnissen der Grobausplanung auch zu Anpassungen der Personalumfänge kommen wird. Vor diesem Hintergrund werden Sie vielleicht noch etwas besser verstehen, dass man zunächst einmal wissen muss, wie es bei der Bundeswehr insgesamt aussieht: Welche Umfänge hat sie? Was sind ihre Aufgaben? Wie werden diese wahrgenommen? Man muss erst einmal wissen, was zu stationieren ist, bevor man anfängt zu stationieren. In diesem letzten Prozess befinden wir uns zurzeit. Ich bedanke mich bei den Fraktionen ausdrücklich für das Einverständnis. Ich habe auch angeregt, am Montag, dem 29. Januar 2001, eine Sondersitzung des Verteidigungsausschusses durchzuführen, um über dieses Ressortkonzept zureden. Wir werden auch offiziell die Ministerpräsidenten einbeziehen. Das ist in einer ersten Runde geschehen und es wird auch eine zweite Runde geben. Wir werden ebenfalls mit Gemeinden reden; das weiß jeder. Insofern gibt es klare Kriterien: militärische Kriterien, Kriterien in der Personalführung und -fürsorge, Kriterien im zivilen Umfeld der Standorte, Kriterien im finanziellen und wirtschaftlichen Bereich, neben dem, was das Grundraster - wenn ich das einmal so sagen darf - bildet. Das sind in erster Linie die militärischen Erfordernisse, beispielsweise die Nähe zu Übungs- und Ausbildungsstätten, die internationale, multinationale Einbettung der Bundeswehr, die sich daraus ergebenden Einheiten und Verbände, wie die deutsch-französische Brigade, das deutsch-niederländische Korps, die amerikanisch-deutschen Einheiten, das dänisch-polnisch-deutsche Korps usw. Diese Fixpunkte sind vorhanden. Aus ihnen kann man etwas Vernünftiges entwickeln. Wer, soweit es um Stationierungsfragen geht, den Eindruck zu erwecken versucht, das Ganze sei gewissermaßen einer x-beliebigen politischen Willkür ausgeliefert, der liegt schlicht falsch. Herr Kollege Kossendey, ich möchte dem ausdrücklichen Dank für die zurzeit jedenfalls von manchen in der CDU/CSU geübte ruhige Tonlage und sachlich abgewogene Erörterung noch etwas hinzufügen, das mit Ihnen und Ihren Bemerkungen zu tun hat; denn dies soll ja eine Debatte sein: Selbstverständlich haben auch die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundeswehr Anspruch auf die gleiche Fürsorge. Dieser Anspruch wird auch eingelöst werden. Die Frage der Reduzierung der Zahl von Dienstposten - ich habe auch darauf im Deutschen Bundestag hier und da hingewiesen - darf nicht mit der Beseitigung oder Reduzierung der Zahl von Arbeitsplätzen verwechselt werden. Die Kooperation mit der Wirtschaft wird dazu führen, dass ein Teil dieser Arbeitsplätze nicht mehr bei der Bundeswehr, sondern in kooperativen Firmen zwischen Bundeswehr und privaten Unternehmen angesiedelt sein wird. ({0}) - Die Größenordnung, Herr Kollege Kossendey, ist nicht aus der Luft gegriffen. Sie wissen so gut wie ich, dass man in den 80er- und 90er-Jahren - jedenfalls noch vor der deutschen Einheit - ein entsprechendes Verhältnis von militärischen und zivilen Angehörigen der Bundeswehr hatte. Das war durchaus begründet und nicht aus der Luft gegriffen; das war durch vielfältige Entwicklungen und Argumente untermauert. ({1}) Wir müssen ungefähr zu dem damaligen Verhältnis zurückkehren. Ich entnehme Ihrer Gestik, dass Sie dem im Grunde genommen zustimmen. Wenn es sich aber so verhält, dann ist die Größenordnung richtig gewählt. Ich will im Übrigen noch einmal darauf aufmerksam machen, dass ich ganz bewusst dafür plädiert habe - Gott sei Dank ist die Bundesregierung dem gefolgt -, nicht einen Zeitpunkt zu nennen, an dem diese Zahl von Dienstposten erreicht sein muss. ({2}) Das haben Sie bei Ihrer Argumentation womöglich übersehen. Das hat damit zu tun - genau das wurde ja auch von Ihrer Seite gesagt -, dass erst der Umfang, die Qualität und die Intensität der Kooperation sowie auch das Vorankommen der Modernisierungsprozesse in der Verwaltung der Bundeswehr darüber entscheiden, in welchem Zeitraum diese Zahl von Dienstposten erreicht werden kann. Ich werde also bei den hier zu treffenden Entscheidungen ganz sorgfältig darauf achten, so wie übrigens auch bei den Veräußerungen, dass nicht das kurzfristige Interesse die langfristige Nachhaltigkeit und Verlässlichkeit beschädigt. ({3}) Meine Damen und Herren, da ich vermute, dass Sie mich ansonsten erneut fälschlicherweise einer mangelhaften Informationspolitik zeihen würden, möchte ich Sie zum Abschluss meiner Bemerkungen noch über etwas informieren, was nicht unmittelbar mit dem Gegenstand der Debatte zu tun hat, aber mit der Diskussion um Streitkräfte insgesamt schon. Ich habe heute am späten Mittag durch einen Anruf von USAREUR - wo überprüft wird, ob und in welchem Umfang es möglicherweise Unfälle mit DU-Munition gegeben hat - Folgendes erfahren: Es ist davon auszugehen, dass es am 28. Februar 1985 einen solchen Unfall in Schweinfurt gegeben hat. Es ist davon auszugehen, dass 1986 in Grafenwöhr versehentlich DUMunition verschossen worden ist. Es wird geprüft, ob ein Kampfpanzer auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr, der 1988 ausgebrannt ist, möglicherweise DU-Munition enthielt. Es muss überprüft werden, ob ein Kampfpanzer in Gollhofen, der 1988 ausgebrannt ist, DU-Munition enthielt. Dasselbe ist für Vorfälle zu überprüfen, die sich 1981 in Fulda und im März 1982 in Lampertheim ereigneten, und schließlich für Vorfälle, die sich im September 1988 in Oberaltertheim und 1990 in Wildflecken ereigneten. Zuletzt ist zu überprüfen, ob es 1985 in Garlstedt-Altenwede zu einem irrtümlichen Verschuss kam. Ich sage Ihnen das deshalb, weil ich hier nicht noch einmal eine Diskussion erleben möchte nach dem Motto: Der informiert uns nicht. ({4}) Das hat nie gestimmt und wird auch in Zukunft nie so passieren. ({5}) Deshalb will ich auch darauf verzichten, diese Fakten noch einmal mit den Antworten zu konfrontieren, die 1995 und 1997 auf die Anfragen des Kollegen Pfannenstein gegeben wurden. Das können Sie selber tun. ({6}) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen und dabei zuerst zu den Beschlussempfehlungen des Verteidigungsausschusses. Wir kommen zur Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zur Zukunft der Bundeswehr auf Drucksache 14/5087. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3775 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr sichern - Wehrpflicht aussetzen“ auf Drucksache 14/5088. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4256 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Zukunft durch Abrüstung - Für eine grundlegende Reform der Bundeswehr“ auf Drucksache 14/5089. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4174 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/5078 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch ({0}) - Drucksache 14/4053 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({2}) - Drucksache 14/5095 - Berichterstattung: Abgeordnete Renate Jäger Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. und ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS vor. Die Kolleginnen und Kollegen Renate Jäger, Heinz Schemken, Ekin Deligöz, Dr. Irmgard Schwaetzer sowie Pia Maier haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) - Ich stelle größtes Einverständnis des Hauses fest. Wir kommen daher sofort zur Abstimmung, und zwar über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ände- rung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch in der Aus- schussfassung. Es handelt sich hierbei um die Drucksa- chen 14/4053 und 14/5095. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/5111 vor, über den wir zuerst abstim- men. Wer stimmt für den Änderungsantrag der F.D.P.? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Ände- rungsantrag ist gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. Wer stimmt für den Gesetzentwurf in der Ausschuss- fassung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetz- entwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. angenommen. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- schließungsantrag der Fraktion der PDS auf Druck- sache 14/5096. Wer stimmt für diesen Entschlie- ßungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Ent- schließungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS-Frak- tion abgelehnt. 1) Anlage 3 Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({3}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Hildebrecht Braun ({4}), Ernst Burgbacher, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. zu der Großen Anfrage der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Klaus Haupt, Jürgen Türk, weiterer Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. Wettbewerbsbedingungen für die deutsche Tourismuswirtschaft im Euro-Land - Drucksachen 14/591, 14/1079, 14/1159, 14/4704 Berichterstattung: Abgeordnete Ernst Burgbacher Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in dieser Debatte ist für die F.D.P.-Fraktion der Kollege Ernst Burgbacher.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren über das Thema Tourismus wieder am Freitagnachmittag. Der Saal füllt sich. Wir bleiben noch hier und geben mit dieser von der F.D.P. beantragten Debatte den parlamentarischen Startschuss für das Jahr des Tourismus. Darüber, dass dieses Jahr des Tourismus notwendig ist, gab es große Übereinstimmung. Ich denke, unser Antrag, der Ihnen heute vorliegt, kann im Jahr des Tourismus auch der Regierung und dem Parlament eine Handlungsanweisung geben. Er weist insbesondere auf eine Problematik hin, die in aller Regel viel zu wenig beachtet wird: Zum 1. Januar 2002 wird der Euro als Bargeld eingeführt werden. Dies wird den Wettbewerb gerade im Tourismus radikal verändern. Wir Liberalen waren an der Spitze der Befürworter des Euro. Wenn mehr Wettbewerb herrscht, so ist dies gut für die Verbraucher. ({0}) Aber dann müssen wir unsere Anbieter, vom Familienbetrieb in der Gastronomie bis hin zum Reiseveranstalter, auch in die Lage versetzen, diesem Wettbewerb standzuhalten. Hierfür besteht politischer Handlungsbedarf. Insoweit muss eine Menge von Vorschriften überprüft, müssen Wettbewerbshindernisse abgebaut werden. Darum geht es. Ganz konkret: Unsere Tourismuswirtschaft ist in vielen Punkten benachteiligt. Ich nenne als erstes Beispiel - auch das steht in unserem Antrag - die Mehrwertsteuersätze in der Hotellerie. Es kann doch nicht sein, dass bei einheitlicher Währung der Gast in einem Hotel in Straßburg 5 Prozent und in Kehl - wenn er über die Rheinbrücke gegangen ist - 16 Prozent Mehrwertsteuer zahlen muss. Das kann angesichts des europäischen Wettbewerbs nicht sein. Deshalb appelliere ich an Sie: Stimmen Sie endlich dem reduzierten Mehrwertsteuersatz für die Hotellerie zu! ({1}) Es kann auch nicht sein, dass die Ökosteuer weitere Belastungen mit sich bringt. Ich will an dieser Stelle nicht mehr auf das Prinzip der Ökosteuer eingehen. Aber ich muss schon feststellen, dass die deutsche Bustouristik in einem harten Konkurrenzkampf mit ihren ausländischen und EU-Wettbewerbern steht. Wenn Sie sich zum Beispiel den Wettbewerb der baden-württembergischen Busunternehmer mit ihren französischen Konkurrenten anschauen, dann können Sie feststellen, dass die Belastungen für sie aufgrund der Ökosteuer ständig steigen und dass es auf der französischen Seite noch Subventionen gibt. Das bedeutet, dass unsere Busunternehmer in diesem Wettbewerb praktisch nicht mehr mithalten können. ({2}) Deshalb fordere ich Sie auf: Weg mit dieser Ökosteuer! Zumindest sollte es einen Verzicht auf weitere Erhöhungen geben. ({3}) Die Tatsache, dass Sie das ökologisch sinnvolle Verkehrsmittel Bus noch bestrafen, zeigt, wie schizophren das Prinzip der Ökosteuer überhaupt ist. ({4}) Wir von der F.D.P. versuchen massiv, Sie dazu zu bewegen, die unsägliche Trinkgeldbesteuerung endlich abzuschaffen. ({5}) - Wenn ich einer jungen Dame oder einem jungen Herrn Trinkgeld für guten Service gebe, dann möchte ich nicht, dass davon das Finanzamt, die BfA oder die AOK profitiert. ({6}) Wir reden im Augenblick über die Wettbewerbsfähigkeit. Lieber Kollege Brecht, in Frankreich soll nach Aussage der Bundesregierung das Trinkgeld besteuert werden. Ich habe aber weder einen Betroffenen noch einen Politiker antreffen können, der ein entsprechendes Gesetz kennt. Es wird eben in der Praxis nicht angewandt. Darum geht es doch. Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD: Ich freue mich sehr, dass immer mehr von Ihnen sich - auch öffentlich - auf den Weg hin zu F.D.P.-Positionen begeben. ({7}) Es ist im Übrigen immer gut, sich der F.D.P. anzunähern. ({8}) Ich sage Ihnen deshalb: Gehen Sie auf diesem Weg weiter! Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass Sie unseren vernünftigen Antrag vielleicht doch unterstützen. Vizepräsidentin Petra Bläss An die Adresse der Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU sage ich: Die von Ihnen angestrebte Erhöhung der Freibeträge löst das Problem nicht und sie ist im Übrigen auch systemfremd. Wir müssen endlich gesetzlich festlegen, dass Trinkgeld eine Schenkung für eine gute Leistung ist und nicht mit dem Einkommen besteuert werden darf. ({9}) Wir müssen ein Weiteres tun - ich plädiere nachdrücklich dafür -: Nutzen wir doch die Einführung des Euro dazu, unsere Gesetze, Vorschriften und Standards vorbehaltlos daraufhin zu überprüfen, was notwendig und was EU-wettbewerbstauglich ist! Schaffen wir all die Regelungen ab, die diesen Wettbewerb behindern! Ich glaube, das wäre in der Tat Supersprit für unsere deutsche Wirtschaft. ({10}) Lassen Sie mich in aller Kürze einen letzten Punkt ansprechen. Wir brauchen Bewegung auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb appelliere ich an Sie: Wenn Sie dem Einwanderungsbegrenzungsgesetz der F.D.P. zustimmen, dann brauchen wir die von Ihren propagierte Green Card nicht mehr. So schaffen wir Freiraum für die deutsche Wirtschaft. Wirtschaftsminister Müller hat viel angekündigt. Er spricht laufend davon, was er für den Tourismus alles tun will. Er hat aber leider in keinem einzigen Punkt bisher gehandelt. Er hat sich heute in der „Welt“ gegen eine Ausweitung der Betriebsratsgremien im Rahmen der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes ausgesprochen. Der DGB geht schon vehement dagegen an. Lieber Herr Müller, wir werden Ihr Handeln beobachten. Es reicht nicht aus, nur anzukündigen. Jetzt muss endlich gehandelt werden. Ich danke Ihnen. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Birgit Roth.

Birgit Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003214, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Das Thema „Wettbewerbsbedingungen für die deutsche Tourismuswirtschaft im Euro-Land“ ist für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, für uns Tourismus- und Wirtschaftspolitiker von ganz enormer Bedeutung. Denn der Tourismus ist eine der wachsenden Dienstleistungsbranchen, die wir haben, weil sich die Wettbewerbsbedingungen in den letzten beiden Jahren ganz klar verbessert haben. ({0}) Der Tourismus hat ein ganz enormes Wachstums- und Beschäftigungspotenzial, weil sich die Wettbewerbsbedingungen verbessert haben, weil Reformen durchgeführt worden sind - wir beide wissen ganz genau, dass es in den letzten Jahren einen großen Reformstau gab, und wir haben damit aufgeräumt -, weil es wieder eine andere Stimmung gibt. ({1}) Ich möchte Ihnen im Folgenden anhand von Fakten und Zahlen zeigen, dass sich die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen bei uns verbessert haben. Sie wissen ganz genau, dass der Tourismusbereich mittlerweile einen Anteil von 8 Prozent am Bruttosozialprodukt hat. Allein diese Zahl spricht für sich. Wir haben mittlerweile 2,8 Millionen Arbeitsplätze in diesem Bereich. Was für mich als junge Abgeordnete ganz besonders wichtig ist: Wir gehen davon aus, dass der Tourismussektor circa 90 000 Ausbildungsplätze bereitstellt. ({2}) Da wollen Sie sagen, dass die Wettbewerbsbedingungen hier nicht stimmig seien? Das passt doch nicht zueinander. Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit ergreifen, den vielen mittelständischen Betrieben in der Tourismusbranche zu danken, dass sie ihre Verantwortung gerade gegenüber der Jugend annehmen. ({3}) Denn Jugend braucht eine Zukunft, Jugend braucht Ausbildungsplätze und Jugend braucht eine Perspektive. Doch zurück zu den Fakten, Herr Burgbacher: ({4}) Die Beherbergungsbetriebe hatten 1999 über 100 Millionen Gäste. Das ist eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr um 5,6 Prozent. Nehmen Sie die Übernachtungen. Bei den Übernachtungen liegen wir bei ungefähr 308 Millionen. Auch hier haben wir eine Steigerung, und zwar von ungefähr 4,6 Prozent. Nehmen Sie die Zahl der Ankünfte von ausländischen Gästen. Hier haben wir eine Steigerung von circa 8,8 Prozent. Bei den Übernachtungen von ausländischen Gästen haben wir einen Zuwachs gegenüber dem letzten Jahr von 9 Prozentpunkten. ({5}) - Danke schön für die Zustimmung! Sie haben es genau auf den Punkt gebracht. ({6}) Besser hätte ich es nicht sagen können. Schauen Sie sich die Inlandsreisen an. Auch hier verzeichnen wir einen deutlichen Anstieg. Nehmen Sie den Geschäftsreiseverkehr. Hier haben wir die gleichen Steigerungsraten. Sie können auch einen Bereich wie den Städtetourismus herausgreifen, zum Beispiel Berlin. Berlin ist natürlich Hauptstadt und eine Stadt mit sehr großer Vielfalt, keine Frage. In Berlin haben wir bei den Zahlen der Gäste und der Übernachtungen zweistellige Zuwächse zu verzeichnen. Wie kann es denn, wenn ich Ihnen hier alle möglichen Bereiche aufzählen kann, die Steigerungen gegenüber dem Vorjahr aufweisen können, sein, dass die Wettbewerbsbedingungen nicht in Ordnung sind? Das passt doch nicht zusammen. Die Entwicklungen, die ich gerade angeschnitten habe, sind auch das Ergebnis der rot-grünen Reformpolitik der letzten zwei Jahre, durch die sich viel bewegt hat. ({7}) Denn wir, Herr Burgbacher, machen eine aktive Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wir haben die Staatsverschuldung reduziert. Wir haben eine Steuerreform durchgeführt, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Familien und die Unternehmen gleichermaßen entlastet. ({8}) Wir gehen von einem ungefähren Entlastungsvolumen von ungefähr 75 Milliarden DM aus. Das ist aktive Wirtschaftspolitik. Da sagen Sie, die Wettbewerbsbedingungen in diesem Lande würden nicht stimmen! Nehmen wir die Prognosen für dieses Jahr. Wir gehen davon aus, dass wir auch dieses Jahr ein Wirtschaftswachstum von 2,8 Prozentpunkten haben werden. ({9}) Auch das ist im Vergleich zu den letzten Jahren kein schwaches Ergebnis. Oder nehmen Sie die Zahlen der Arbeitslosigkeit. Im Vergleich zu den letzten fünf Jahren haben wir folgende Situation: Es ist ein Tiefstand erreicht worden. Natürlich genügt der momentane Abbau der Arbeitslosigkeit noch nicht. Aber wir stellen uns weiterhin der Herausforderung, diese zu reduzieren. Ich weiß noch ganz genau: Vor zwei, zweieinhalb Jahren war die Schmerzgrenze von 4 Millionen Arbeitslosen erreicht, wenn nicht sogar überschritten. Deswegen meine ich: Wir sind genau auf dem richtigen Weg. Schauen Sie sich die Zahlen und die Fakten an! ({10}) Mit Verlaub, werte Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., wenn ich mir die Beschlussempfehlung anschaue, die vor uns liegt, konstatiere ich: Dem Ganzen gingen eine Große Anfrage und ein Entschließungsantrag voraus. Von den ursprünglichen Kritikpunkten sind nicht sehr viele übrig geblieben. Ich kann das jetzt in zwei Richtungen interpretieren: Entweder haben wir Sie mit unseren Positionen überzeugt ({11}) oder wir haben in den letzten zwei Jahren enorm viel von dem abgearbeitet, was Sie in den letzten 16 Jahren nicht gemacht haben. ({12}) Stichwort Trinkgeldbesteuerung: Herr Burgbacher, wann ist denn die Trinkgeldbesteuerung realisiert worden? Da muss ich einfach auch die Frage stellen: Warum haben Sie denn während der letzten Legislaturperiode die Trinkgeldbesteuerung nicht abgeschafft? Ich glaube, so kommen wir hier nicht weiter. Was Sie auch immer kritisieren, ist die Änderung bei den 630-Mark-Beschäftigungsverhältnissen. Sie wissen, ich teile Ihre Kritik an dieser Stelle in keiner Art und Weise. Aber ich möchte Sie noch einmal an den Missbrauch erinnern, der in diesem Bereich vorgefallen ist. Hier musste etwas geändert werden. ({13}) Sind wir uns nicht alle darin einig, dass die entscheidende Herausforderung gerade auch im Tourismusbereich die Servicequalität ist? Denn Deutschland ist Hochpreisland, auch für den Urlauber. Das Entscheidende wird die Servicequalität sein, die wir jetzt und in den nächsten Jahren anbieten werden. Wird ein Betrieb, der mit gut ausgebildetem Fachpersonal arbeitet, nicht einen besseren Service anbieten können als ein Betrieb, der mit sehr vielen 630-Mark-Beschäftigten arbeitet, zu dem eine permanente Fluktuation zu verzeichnen ist? Sie kritisieren auch, dass jetzt Flexibilität nicht mehr vorhanden sei. Sie wissen ganz genau, dass es Ausnahmeregelungen für Engpässe in der Hochsaison gibt, sei es für das Gastronomiegewerbe, sei es für die Landwirtschaft, nämlich die 50-Tage-Regelung. Ich bitte auch, dies in Rechnung zu stellen. Um das Tourismusgewerbe und den Tourismusstandort Deutschland weiterhin zu fördern, ist dieses Jahr zum „Jahr des Tourismus“ ausgerufen worden. Dabei stehen die Vernetzung und Vermarktung von unterschiedlichen touristischen Highlights in den einzelnen Bundesländern im Vordergrund, natürlich auch in Zusammenarbeit und in Absprache mit der Tourismuswirtschaft. Sie haben Minister Müller angesprochen und sind auf ganz andere Bereiche gekommen. ({14}) - In diesem Sinne möchte ich auch eine Bemerkung machen. Ich halte nicht viel davon, zu sagen, Herr Müller habe nur angekündigt. Nehmen Sie nur einmal die Energiepolitik. Gerade auf diesem Felde hat er sehr viel bewegt. Wenn ich auf die Regierungsbank schaue, sehe ich Frau Staatssekretärin Wolf. Dass wir jetzt eine Mittelstandsbeauftragte haben, kann ich nur voll unterstützen. Ich danke Herrn Minister Müller, dass er dem Mittelstand diese politische Bedeutung zumisst und dass wir hier eine neue Stelle haben. ({15}) Ich meine, wir sind gerade im Bereich der Tourismuswirtschaft auf dem besten Wege. Dieser Bereich hat eine positive Perspektive. Auch die Politik der letzten zwei Birgit Roth ({16}) Jahre hat dies unterstützt und sie wird es weiter unterstützen. Vielen Dank. ({17})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Ernst Hinsken.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Frau Präsidentin! Die meisten haben bereits den „Heimtourismus“ angetreten. ({0}) Einige interessierte Kolleginnen und Kollegen sind noch anwesend. Ich meine, es ist wert, auf das von der F.D.P. gestellte Thema „Wettbewerbsbedingungen für die deutsche Tourismuswirtschaft im Euro-Land“ einzugehen. Aber bevor ich das tue, möchte ich Ihnen, Frau Wolf, herzlich gratulieren. Sie sind zur neuen Parlamentarischen Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium berufen worden. Sie tragen nun Verantwortung auch für den Mittelstand. Ich wünsche Ihnen eine allzeit glückliche Hand, darf aber schon bei dieser Gelegenheit darauf verweisen, dass wir Sie sehr kritisch begleiten und prüfen werden, ob das, was Sie früher gesagt haben, jetzt, wenn Sie der Exekutive angehören, auch umgesetzt wird. Alles Gute und auf gute Zusammenarbeit! ({1}) Nun möchte ich insbesondere auf das eingehen, was Frau Kollegin Roth aus ihrer Sicht vorgetragen hat, und manches geraderücken. Liebe Frau Kollegin Roth, ich pflichte Ihnen bei, wenn Sie darauf verweisen, dass gerade der Tourismus ein wichtiger Wirtschaftsbereich ist. Das, was Sie ausgeführt haben, müsste noch durch die Information ergänzt werden, dass in dieser Wirtschaftssparte über 100 000 Ausbildungsplätze nicht nur bereitgestellt werden, sondern auch besetzt sind. Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass der Anteil an der Bruttowertschöpfung bei circa 300 Milliarden DM liegt. Aber um was geht es vor allen Dingen bei dieser Debatte? Der Kollege Burgbacher hat bereits darauf verwiesen. Es geht darum, Rahmenbedingungen in dem sich verfestigenden Europa zu schaffen, damit wir mit dieser „Leitökonomie der Zukunft“, wie die Tourismuswirtschaft bezeichnet wird, auch weiterhin dabei sind. ({2}) Wenn innerhalb Europas in den nächsten zehn Jahren zu den 25 Millionen Arbeitsplätzen 2,5 Millionen Arbeitsplätze hinzukommen, dann hoffe und wünsche ich, dass die Bundesrepublik Deutschland in der Hotellerie, Gastronomie und allem, was zu diesem Bereich zählt, mit 400 000 bis 450 000 Arbeitsplätzen dabei ist. Das wird aber nur der Fall sein, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Bei ihnen liegt einiges im Argen. ({3}) Sie kennen sicherlich alle den Film mit dem Titel: „Denn sie wissen nicht, was sie tun“. Ich erwähne diesen Titel deshalb, weil ich genau das Gegenteil von dem meine, verehrte Frau Kollegin Roth, was Sie eben ausgeführt haben. Man muss feststellen, dass zutrifft, was der Titel dieses Films besagt, dass scheinbar einige von Ihnen - sogar die Mehrheit - nicht wissen, was sie tun; denn dem Mittelstand wird ein Negativum nach dem anderen aufgebürdet: ({4}) 630-DM-Regelung, Ökosteuer, Recht auf Teilzeit, Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes und, und, und. Ich frage mich: Wissen Sie denn überhaupt, was Sie tun? ({5}) - Nein, das wissen Sie nicht. ({6}) Sie würden sonst nicht solche blumigen Reden halten und sich weigern, Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, damit sich die Tourismuswirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland weiterhin entfalten kann. ({7}) Es gibt eben Landesteile, in denen der Tourismus von entscheidender Bedeutung ist, wie zum Beispiel in meiner Heimat oder in der meines Kollegen Kurt Rossmanith im Allgäu. In diesen Regionen ist er ein bedeutender Wirtschaftsfaktor, den man nicht vernachlässigen kann. Vielmehr braucht er Rahmenbedingungen, damit das Ganze weiterhin läuft. Frau Kollegin Roth, ich wundere mich nicht - das ist das Gegenteil von dem, was Sie ausgeführt haben -, dass trotz der Gäste- und Übernachtungszahlen die Tourismuswirtschaft in Deutschland einfach nicht richtig in Fahrt kommt. Lassen Sie mich zur Lage feststellen: Die Zahl unserer Gäste ist im Jahr 1999 gegenüber dem Vorjahr um 6 Prozent gestiegen und hat erstmals die Zahl von 100 Millionen überschritten. Die Übernachtungszahlen sind um 4,6 Prozent auf insgesamt 308 Millionen Übernachtungen gestiegen. Nun möchte ich nicht den Vergleich mit Spanien oder Griechenland ziehen, wo die Zahl - prozentual gesehen - doppelt so hoch ist. Es ist nicht von der Hand zu weisen: Diese Zahlen sind bestechend. Aber ich möchte auf etwas verweisen, weil Sie vorhin mit Ihren Aussagen nicht ganz richtig lagen. Deshalb gilt es, diese zurechtzurücken. Die Zahl der Beschäftigten im Gastgewerbe ist im Gegensatz zu den Übernachtungszahlen im ersten Halbjahr des Jahres 2000 um 3,7 Prozent zurückgegangen. Weiterhin sehe ich mit großer Sorge, dass 42 Prozent aller Gastronomiebetriebe in der Bundesrepublik Deutschland trotz guter Umsatzentwicklung Ertragsverluste verzeichnen mussten. Auch das kann nicht wegdiskutiert werden, verehrte Frau Wolf. Gerade aufgrund dieser Zahlen sehen Sie, was Sie tun müssen, um dem Mittelstand den notwendigen Schub zu Birgit Roth ({8}) geben, damit er nach vorne kommt. Wenn jetzt im Wirtschaftsministerium zwei Staatssekretäre, nämlich der Kollege Mosdorf für den Tourismus und Sie, Frau Kollegin Wolf, für den Mittelstand, verantwortlich zeichnen, dann darf es nicht heißen: „Quantität sticht Qualität“, sondern dann sollte auch die Qualität erhöht werden. Man sollte sich hier gegenseitig ergänzen, Ideen aufnehmen und etwas bewegen. Wenn man mit den betroffenen Verbänden und den verantwortlichen Unternehmen spricht, ({9}) dann stellt man fest, dass sehr vieles im Argen liegt. Die Umfrage des Dehoga im Sommer 2000, die in seinem Konjunkturbericht veröffentlicht wurde, hat zum Beispiel ergeben, dass vor allem kleine und mittlere gastronomische Betriebe massiv von Existenzsorgen und -nöten geplagt sind. Auch bei dieser Debatte muss man sich natürlich fragen: Worauf ist das zurückzuführen? Was sind die eigentlichen Ursachen? Auf der einen Seite beklagt der Deutsche Hotelund Gaststättenverband, dass ihm 80 000 Mitarbeiter fehlen. ({10}) Auf der anderen Seite ist festzustellen, dass allein seit April 1999 100 000 nebenberuflich Beschäftigte von der Bildfläche verschwunden sind. Das bewegt mich. Vorhin wurde davon gesprochen, dass der Tourismus ein wichtiger Wirtschaftszweig ist. Dem ist meines Erachtens hinzuzufügen: Die Zahl der Übernachtungen - diese Zahl ist für den Tourismusbereich wichtig - würde sich erhöhen, wenn man auch diejenigen erfassen würde, die in Hotels und Herbergen übernachten, die weniger als neun Betten haben. Ich habe mir die Arbeit gemacht, das einmal hochzurechnen, und bin auf folgende Zahlen gekommen: ({11}) - Richtig, das haben wir im Ausschuss schon gehört, Frau Voß. Aber hier wurde noch nicht darauf hingewiesen. Ich richte mich hier ja nicht an Sie, die Sie im Ausschuss, der nicht öffentlich tagt, sicherlich ab und zu ganz gut aufpassen. Dies muss hier im Plenum noch einmal dargestellt werden. - Circa 50 bis 70 Millionen zusätzliche Übernachtungen sind zu verzeichnen. Auch das ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Wenn man nämlich eine Übernachtung mit 80 DM ansetzt - auf dem Lande ist das noch so billig, Frau Schnieber-Jastram; da kostet eine Übernachtung nicht so viel wie in Hamburg ({12}) und dies hochrechnet, dann kommt man auf einen Betrag von ungefähr 5 bis 6 Milliarden DM. Ich habe hier die Möglichkeit, all das aufzugreifen, was negativ ist. In diesem Zusammenhang ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, was Hotellerie und Gastronomie und die gesamte Tourismuswirtschaft erneut beunruhigt: die Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes. Dazu muss ich Ihnen sagen: Wir werden höllisch aufpassen, dass hier nicht Maßnahmen ergriffen werden und Gesetzesvorlagen durchgehen, die insbesondere die kleinen und mittleren Betriebe schädigen und das Selbstständigsein nicht mehr interessant machen. Da müssen wir vor allem heran; dies brennt uns besonders auf den Nägeln. ({13}) Lassen Sie mich darauf verweisen, dass nicht nur eine Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes ins Haus steht, sondern dass vor allen Dingen auch die Ökosteuer - ich bin dankbar, dass Kollege Burgbacher sie angesprochen hat - eine große Belastung ist. Den meisten Mitbürgern ist überhaupt nicht bewusst, dass ein mittelständischer Betrieb allein durch die Ökosteuer jährlich mit ungefähr 10 000 DM zusätzlich belastet wird. ({14}) - Das ist eine zusätzliche Belastung. Herr Kollege Kubatschka, hinzu kommt, dass die Ökosteuer, die die Betriebe belastet, zu einer Mineralölsteuererhöhung geführt hat. Wenn ein Hamburger, Frau Kollegin Schnieber-Jastram, bereit ist, zu mir oder zu Kurt Rossmanith ins Allgäu bzw. in den Bayerischen Wald oder in den Schwarzwald zu fahren, ({15}) und wenn er 1 000 Kilometer hin und 1 000 Kilometer zurückfährt - vielleicht kommen noch ein paar Kilometer hinzu -, dann hat er bei einem Spritverbrauch von 10 Liter pro 100 Kilometer allein aufgrund der Ökosteuer 42 DM mehr zu zahlen. ({16}) Wissen Sie, was das ist? - Das ist dreimal Schweinebraten umsonst. So muss das gesehen werden. Das ist Politik gegen den kleinen Mann und gegen den Mittelstand. Das muss hier angesprochen werden. Darum pflichte ich Herrn Kollegen Burgbacher bei: Diese Ökosteuer muss weg, und zwar lieber heute als morgen. ({17}) Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Ein weiteres Ungemach droht durch die ersatzlose Streichung des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung. In diesem Zusammenhang ist vor allem zu sehen, dass kleine und mittlere Betriebe nicht in der Lage sind, eine breite Angebotspalette zugrunde zu legen. Hier ist man auf die Güter beschränkt, die man anbietet. Diese Tatsache beinhaltet, dass man von der Abschaffung des Rabattgesetzes negativ tangiert wird. Deshalb bin ich gegen eine ersatzlose Streichung. Diesem Umstand muss Rechnung getragen werden. Verehrte Frau Präsidentin, ich spreche die letzten zwei Sätze, dann bin ich schon fertig.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Sie haben so nette Urlaubseinladungen ausgesprochen, da kann ich nicht widerstehen.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank. - Ich meine, dass es sich im Hinblick auf die neuen Bundesländer für manchen Deutschen lohnen würde, nicht nur ins Ausland zu reisen, sondern im eigenen Lande zu bleiben und die Schönheiten kennen zu lernen, die ihm dort geboten werden. Deshalb die letzte Bemerkung: Kollege Burgbacher hat eingangs darauf verwiesen, er verstehe es nicht, dass auf der einen Seite das Jahr des Tourismus eingeläutet werde - was wir alle begrüßen und gutheißen -, während auf der anderen Seite die Bundesregierung nicht bereit sei, hierfür einen einzigen Pfennig zur Verfügung zu stellen. ({0}) - Ja, sicher. Deshalb bin ich der Meinung, man sollte Nägel mit Köpfen machen und nicht nur ideell auf die Verbände und Mitbürger einwirken, den Urlaub in Deutschland zu verbringen, einen Aha-Effekt zu erleben. Vielmehr sollte die Bundesregierung in die Tasche greifen und die Mittel bereitstellen, die man benötigt, um im Jahr 2001 den Tourismus in Deutschland so attraktiv zu machen, dass viele Mitbürger im eigenen Land bleiben und die Wirtschaft auf diese Weise mit ankurbeln. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht die Kollegin Sylvia Voß für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Sylvia Voß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003252, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hinsken, wir haben Nägel mit Köpfen gemacht, aber die scheinen Ihnen wehzutun. Die F.D.P. fühlt sich offensichtlich schon seit vielen Monaten um den Schlaf gebracht, denkt sie an die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Tourismuswirtschaft. Bei dem Versuch, sich in den Schlaf zu zählen, stocken Sie allerdings immer bei der Zahl 630. Diese Zahl macht den Freien Demokraten im Zusammenhang mit der Neuregelung der so genannten 630-DMJobs noch immer sehr zu schaffen, ({0}) obwohl sie auf jeden empirischen Beleg für die schlafraubenden Probleme verzichten und stattdessen eine Verunsicherung in der Branche lediglich konstatieren. ({1}) Der Grund dafür ist schnell genannt: Die Regelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse ist vor fast zwei Jahren in Kraft getreten und hat sich längst bewährt. ({2}) Etwa 100 000 Arbeitsverhältnisse geringfügig Beschäftigter - Herr Hinsken sagte es auch gerade - sind durch die Regelung in Beschäftigungsverhältnisse mit Sozialversicherungspflicht übergegangen. Dadurch wurde eine weitere Erosion der Finanzgrundlagen der Sozialversicherung - die uns alle betreffen würde - verhindert. ({3}) Das haben wir so gewollt und das haben wir auch geschafft. Zu Ihrer Beruhigung sei auch noch angefügt, dass durch diese Neuregelung, die ja nun inzwischen so neu nicht mehr ist, im europäischen Vergleich keine Wettbewerbsnachteile entstanden sind. Der Bundesregierung ist es mit dieser Regelung sogar gelungen, in wirtschaftlicher Hinsicht einen weiteren Schritt in Richtung europäische Einheit zu gehen. In Frankreich, Spanien und Italien Länder, die für ihre touristische Anziehungskraft und Bedeutung bekannt sind - gibt es keinerlei Sozialversicherungsfreiheit. Der Regelung ist es auch zu danken, dass es sich wieder lohnt, fachkundiges Personal einzustellen. ({4}) Etwa 30 bis 40 Prozent der Stellen im Bereich von Hotellerie und Gastronomie waren zeitweise 630-DM-Jobs. Gern griff man in diesem Bereich auf ungelernte Kräfte zurück. Was dabei auf der Strecke blieb, war die Qualität und das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., wäre ein Grund für tiefe Augenringe mangels Schlaf gewesen. Gegen die unruhigen Nächte der F.D.P. gibt es ein weiteres Mittel: Holen Sie sich mehr Gelassenheit durch einen ideologisch ungetrübten Blick in die Wirklichkeit. Nach einer aktuellen Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft, Herr Burgbacher, erwartet man für den Wirtschaftszweig Tourismus für das Jahr 2001 einen Anstieg der Beschäftigtenzahl. Zu der von Ihnen geforderten Einführung eines verminderten Mehrwertsteuersatzes für die deutsche Hotellerie möchte ich nur anmerken, dass die F.D.P. während vieler, allzu vieler Jahre die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik geprägt hat, ohne diesem jetzt von Ihnen in der Opposition erkannten Handlungsbedarf jemals zu entsprechen. Aber bei allem Respekt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P.-Fraktion, im jetzigen, dem Nachlass Ihrer Regierungsjahre geschuldeten Haushaltskonsolidierungsprozess so nebenbei Steuermindereinnahmen von 1,3 Milliarden DM, die Ihre Forderungen zur Folge hätten, zu veranlassen, ist wirklich nicht zu verantworten und zeigt Ihren traumtänzerischen Umgang mit diesem Metier. Neben der Bundesregierung ist auch die Deutsche Zentrale für Tourismus, DZT, um ein bestmögliches Erscheinungsbild des Reiselandes Deutschland im europäischen Ausland bemüht. Wir unterstützen diese Arbeit, indem der überwiegende Teil des Finanzbedarfs der DZT durch Mittel des Bundes gedeckt wird. Im Übrigen übertrifft das Wachstum des Tourismus in Deutschland die durchschnittliche Wachstumsrate in Europa. Den Abwärtstrend, den Sie uns hier suggerieren wollen, gibt es in dieser Art im Tourismus in Deutschland wirklich nicht. Auf Zustimmung stößt bei uns natürlich die Forderung nach einer Integration der Tourismuspolitik in andere Gemeinschaftspolitiken. Aber Sie wissen, hier ziehen wir im Tourismusausschuss ohnehin an einem Strang. Ihrer Forderung nach einem intensiveren nationalen Dialog zwischen Politik und Tourismuswirtschaft hat die Bundesregierung bereits entsprochen. Mit der neuen Mittelstandsbeauftragten der Bundesregierung, der Parlamentarischen Staatssekretärin Margareta Wolf, wird es möglich sein, die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Tourismusbranche noch ertragreicher zu gestalten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P.-Fraktion, dass Sie in Ermangelung substanzieller Einwendungen gegen unsere Tourismuspolitik auch wieder das Jammerlied der Ökosteuer singen würden, überrascht uns natürlich nicht. Aber Ihre mies machenden Behauptungen werden durch ewiges Wiederholen ja nicht besser. Zahlen, die den Niedergang des Tourismus in Deutschland belegen, haben Sie gar nicht. Ich kann Sie nur noch einmal auf die Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft verweisen, in der auch die Frage nach der Stimmungslage der Unternehmen im Wirtschaftszweig Tourismus gestellt wurde. Sie ist - hört, hört! - im Vergleich zum vorhergehenden Jahreswechsel besser, und das, obwohl am 1. Januar 2001 die dritte Stufe der Ökosteuer in Kraft getreten ist. Herr Burgbacher, zu dem Beispiel mit den Bussen möchte ich sagen: Am 8. Januar dieses Jahres waren Diesel und Benzin jenseits der Grenze zu Frankreich teurer als mit Ökosteuer auf der deutschen Seite der Grenze. Sie erfinden mit Ihren realitätsfernen, irrlichternden Vorstellungen die Welle rückwärts und den Mölle seitwärts. Deswegen kann man zu dem Entschließungsantrag Ihrer Fraktion nur noch humorvoll sagen: Alles Mölle-Welle, oder was? ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zum Abschluss der Debatte spricht noch einmal die Kollegin Birgit Roth für die SPD-Fraktion.

Birgit Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003214, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Hinsken, mein Ausschussvorsitzender, Sie wissen, dass ich das, was Sie gesagt haben, in dieser Form nicht stehen lassen kann. Ich möchte nur auf drei Punkte, die Sie angesprochen haben, eingehen. Erstens. Sie haben gesagt, es gebe im Tourismusbereich einen Beschäftigungsrückgang von 3,7 Prozent. Das ist in dieser Form nicht richtig. Es gibt zwar einen Rückgang, aber Sie müssen sehen, dass sich dieser Rückgang auf die Reduzierung der 630-Mark-Beschäftigungsverhältnisse zurückführen lässt. Mit Verlaub, 630-Mark-Jobs sind keine richtigen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze. ({0}) Wir wollen mit unserer sozialdemokratischen Politik die Schaffung von modernen, zukunftsweisenden sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen fördern. Sie wissen ganz genau - ich hatte das schon vorhin angesprochen -, was für ein Missbrauch in puncto 630Mark-Jobs betrieben worden ist. Sie müssen bedenken, wer auf der Basis von 630 DM arbeitet. Das sind in erster Linie Frauen. Frauen werden in unserer Gesellschaft noch immer schlechter als Männer bezahlt, haben Familienpause und erziehen die Kinder. Sie haben dementsprechend eine geringere Rente. Die Durchschnittsrente der Frauen in den alten Bundesländern liegt momentan bei 1 000 DM. Erklären Sie mir bitte, wie man mit 1 000 DM über die Runden kommen soll! Das geht einfach nicht. Daran sind auch die 630-Mark-Beschäftigungsverhältnisse schuld. Deswegen haben wir genau in diesen Bereich eingegriffen. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Roth, der Kollege Hinsken möchte eine Zwischenfrage stellen.

Birgit Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003214, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich möchte den Gedanken erst noch zu Ende führen. Sie müssen mir auch erklären: Warum muss jemand, der samstags arbeitet und Überstunden macht, sein Geld versteuern, während jemand, der neben seinem Hauptberuf auf der Basis von 630 DM arbeitet, dies nicht machen muss? Das ist nicht logisch. Auch deswegen ist es auch geändert worden. ({0})

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Roth, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Zahlen, die ich hier wiedergab, vom Deutschen Hotel- und Gaststättengewerbe stammen ({0}) aufgrund mehrmaligen Hinterfragens muss ich diese als authentisch und richtig einordnen - und insofern das, was Sie hier behaupten, nämlich dass der Rückgang in erster Linie auf die Abnahme der 630-DM-Beschäftigungen zurückzuführen sei, nicht stimmt?

Birgit Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003214, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Hinsken, ich beziehe mich auf eine Studie des DIW. Darin heißt es, dass der Grund für den Rückgang vor allem in der Rückführung der 630-DM-Beschäftigungen liege. ({0}) - Dann haben wir einen Dissens in dieser Frage. ({1}) Zur Ökosteuer. Was haben wir denn in diesem Bereich getan? Auf der einen Seite ist der Faktor Energie verteuert worden, aber auf der anderen Seite ist - ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie auch dies einmal erwähnen würden - der Faktor Arbeit günstiger geworden, weil die Lohnnebenkosten reduziert worden sind. ({2}) Das kommt - aber das wird von Ihrer Seite nicht erwähnt - sowohl den Arbeitgebern als auch den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zugute, ({3}) und zwar auch im Hotellerie- und Gastronomiegewerbe. ({4}) - Das stimmt! Ich glaube, auch hier haben wir einen Dissens. Aber ich bin dankbar, dass wir darüber diskutieren. Zu einem weiteren Thema muss ich noch etwas sagen, nämlich dem Recht auf Teilzeit. Herr Hinsken, wenn Sie dieses Thema anschneiden, dann müssen Sie bitte hinzufügen, dass ein Recht auf Teilzeit nur in Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten greift und darüber hinaus ein Einvernehmen mit dem Unternehmen - „wenn es der Arbeitsplatz erlaubt“ - erfordert. Ich sehe, dass dieser Bereich kompromissfähig ist und zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bzw. Arbeitnehmerin abgesprochen wird. ({5}) Was ist denn der Hintergrund dieser Regelung? Weil es Studien gibt, die ganz klar belegen, dass potenziell drei bis vier Millionen Beschäftigte bereit sind, Teilzeit zu arbeiten, ({6}) und dadurch ungefähr zwei bis drei Millionen neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze - da wollen wir hin - entstehen können. Aus diesem Grunde halte ich das Recht auf Teilzeit für richtig. ({7}) - Warum, Herr Burgbacher, soll es die Schwarzarbeit begünstigen, wenn jemand einen Teilzeitarbeitsplatz anstrebt? ({8}) Ich sehe überhaupt keine logische Verbindung zur Schwarzarbeit, wenn sich zwei Beschäftigte einen Arbeitsplatz teilen. Meines Erachtens gibt es diese auch nicht. ({9}) - Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das Gleiche täten. Danke schön. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. zu ihrer Großen Anfrage mit dem Titel „Wettbewerbsbedingungen für die deutsche Tourismuswirtschaft im Euro-Land“; es handelt sich um die Drucksache 14/4704. Der Ausschuss empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 14/1159 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Ich rufe den letzten Tagesordnungspunkt für heute auf, den Tagesordnungspunkt 23: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. UweJens Rössel, Dr. Christa Luft, Heidemarie Ehlert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS UMTS-Milliarden für die Einführung einer kommunalen Investitionspauschale des Bundes - Drucksache 14/4557 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({0}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Zunächst redet der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel für die PDS-Fraktion.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In der rot-grünen Koalitionsvereinbarung heißt es: Wir wollen die Finanzkraft der Gemeinden stärken und das Gemeindefinanzsystem einer umfassenden Prüfung unterziehen. Passiert ist aber fast gar nichts. Für die übergroße Mehrheit der Städte, Gemeinden und Landkreise in der Bundesrepublik hat sich die finanzielle Situation in den letzten Jahren eher verschlechtert. Kommunale Selbstverwaltung rückt in immer weitere Ferne. Einige Fakten: Die Verschuldung der Kommunen hat sich dramatisch zugespitzt und liegt derzeit bei rund 202 Milliarden DM, ein Zuwachs von etwa 8 Milliarden DM seit dem vergangenen Jahr. Besonders prekär und niederschmetternd ist die Lage mancher ostdeutscher Kommunalhaushalte, vor allem in strukturschwachen Regionen. Außerdem sind die kommunalen Investitionen dauerhaft rückläufig. Ende des Jahres 2000 lagen sie - ich sage ausdrücklich: preisbereinigt, also vergleichbar - etwa 30 Prozent unter dem Stand des Jahres 1992. ({0}) - Umso schlimmer, Kollege Kutzmutz, weil die Auswirkungen besonders schlimm sind. - Es geht um weniger Aufträge für das Bauhandwerk, für das Baunebenhandwerk und für das Gewerbe insgesamt. Dies hat zur Folge, dass der Arbeitsmarkt weiter belastet wird, die Arbeitslosigkeit daher zunimmt. Die vielerorts dramatische Situation der Kommunalfinanzen hat natürlich viele lokale Ursachen, die hier nicht zur Debatte stehen. Auch die Länder kommen ausnahmslos schlecht weg, wenn es um die finanzielle Unterstützung für die Kommunen geht. Hierzu kann ich wohl kein positives Beispiel benennen. Aber auch die Politik der rot-grünen Bundesregierung hat direkt bzw. indirekt dafür gesorgt, dass die Finanzausstattung der Kommunen weiter sehr angespannt bleibt, sich sogar verschlechtert hat. Hierzu einige Fakten: Durch die verschiedenen seit 1998 unter Rot-Grün verabschiedeten Steuergesetze werden den Kommunen im Jahre 2001 etwa 6,5 Milliarden DM an eigenen Einnahmen fehlen. Dazu kommt, dass auch die Länder durch die Steuergesetzgebung der Bundesregierung erheblich belastet werden, weniger Steuereinnahmen haben, was über den so genannten Finanzausgleich teilweise auf die Kommunen durchschlägt. Dies führt für die Kommunen im Jahre 2001 zu weiteren Mindereinnahmen in Höhe von 4,8 Milliarden DM. Insgesamt ergibt sich also die Summe von 11,3 Milliarden DM weniger Einnahmen seitens der Kommunen - ein unverantwortlicher Zustand. Auch auf der Ausgabenseite führt die Politik der rotgrünen Bundesregierung zwar zu einer Sanierung des Bundeshaushaltes, die aber sehr stark zulasten der Kommunen geht. Zwei Beispiele: Erstens. Die originäre Arbeitslosenhilfe wurde mit dem Haushaltsanierungsgesetz gestrichen. Die Kommunen müssen daraufhin etwa 900 Millionen DM mehr an Sozialhilfe aus ihren Budgets aufbringen. Zweitens. Der Bundesanteil am Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende wurde mit eben diesem Gesetz drastisch gesenkt. Die Kommunen müssen die dadurch entstehenden Ausfälle in Höhe von 400 Millionen DM tragen. Notwendig ist jetzt eine umfassende Reform der Kommunalfinanzierung. Als einen ersten Schritt dazu sieht die PDS-Fraktion die Möglichkeit, eine Investitionspauschale des Bundes einführen, die ab dem Jahr 2002 im Haushalts verankert wird und vom Bund zu bezahlen wäre. Der Bundeshaushalt sollte diesen Beitrag aufbringen, hat er sich doch in den zurückliegenden zehn Jahren in einer milliardenschweren Größenordnung auf Kosten der Kommunen saniert. Wir sehen die Chance als gegeben, diese Entscheidung, die politische Weitsicht voraussetzt, zu treffen, auch unter einem Bundesfinanzminister, der die Situation der Kommunen kennen müsste, ist er doch viele Jahre Oberbürgermeister einer hessischen Großstadt gewesen. Diese Investitionspauschale des Bundes sollte ohne Zwischenebenen und bürokratische Hürden vom Bund direkt an die Kommunen weitergeleitet werden. Sie soll unter Wahrung der kommunalen Selbstbestimmung vor Ort, für Investitionen im sozialen und soziokulturellen Bereich und auch im Bildungsbereich eingesetzt werden. Wir legen außerordentlich großen Wert auf eine unbürokratische Bereitstellung der Mittel durch den Bund, ({1}) weil die Kommunen endlich die Chance erhalten müssen - Kollege Schmidt, auch Sie kennen das aus Ihrem Wahlkreis -, ({2}) eigenverantwortlich zu entscheiden. ({3}) - Dass dies zulässig ist, zeigt die Tatsache, dass der Bund 1991 und 1993 eine solche Investitionspauschale für Ostdeutschland eingerichtet hatte. ({4}) Wir wollen sie ausdrücklich nicht nur für ostdeutsche Kommunen, sondern auch für strukturschwache Regionen im Altbundesgebiet und deren Kommunen einrichten. Wir wollen keine ausschließlich ostbezogene, sondern eine gesamtdeutsche Lösung. Gerade der Mittelstand braucht die Kommunen als Auftraggeber, Herr Schmidt. Daran mangelt es bekanntlich. Die Auftragslage ist sehr schwierig, und zwar auch oder gerade weil die Kommunen als Auftraggeber immer mehr ausfallen. ({5}) Eine kommunale Investitionspauschale des Bundes könnte helfen, diese Chance zu nutzen. Eine kommunale Investitionspauschale könnte dazu beitragen, eine Trendwende bei den Kommunalfinanzen einzuleiten und die Einnahmeausfälle für die Kommunen aufgrund der Steuergesetzgebung zumindest teilweise zu kompensieren. Diese Einnahmeausfälle werden in den nächsten Jahren in verstärktem Maße auftreten und für die Bürgerinnen und Bürger weitere Einschnitte im soziokulturellen Bereich bedeuten. Das will die PDS nicht hinnehmen. Deshalb schlägt sie vor, eine kommunale Investitionspauschale des Bundes alsbald einzurichten. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und ein schönes Wochenende. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die guten Wün- sche bin eigentlich ich zuständig. Die Kolleginnen und Kollegen Hans Georg Wagner, Peter Götz, Antje Hermenau und Gerhard Schüßler haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) - Ich sehe Einverständnis im ganzen Haus. Deshalb kommen wir sofort zur Überweisung. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/4557 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 24. Januar 2001, 13 Uhr, ein. Ich schließe mich den guten Wünschen meines Kollegen Uwe-Jens Rössel ausdrücklich an und wünsche Ihnen allen ein nicht allzu arbeitsreiches Wochenende. Die Sitzung ist geschlossen.