Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/11/1992

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, ich eröffne die Sitzung. Die Fraktion der F.D.P. teilt mit, daß sie in der Gemeinsamen Verfassungskommission folgenden Tausch vornehmen möchte: Der Abgeordnete Dr. Hermann Otto Solms, bisher ordentliches Mitglied, soll stellvertretendes Mitglied und der Abgeordnete Ulrich Irmer, bisher stellvertretendes Mitglied, soll ordentliches Mitglied in der Gemeinsamen Verfassungskommission werden. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann haben wir es so beschlossen und die beiden Kollegen, wie vorgeschlagen, für die Gemeinsame Verfassungskommission bestimmt. Der Abgeordnete Dirk Fischer ({0}) scheidet als stellvertretendes Mitglied aus dem Vermittlungsausschuß aus. Die Fraktion der CDU/CSU schlägt als Nachfolger den Abgeordneten Gunnar Uldall vor. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind Ihnen in der Zusatzpunktliste bekanntgegeben worden: 10. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({1}) zu dem Gesetz zur Verlängerung der Wartefristen für Eigenbedarfskündigungen in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet - Drucksachen 12/2758, 12/3605 ({2}), 12/3890, 12/3965 11. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({3}) zu dem Gesetz zur Bereinigung von Kriegsfolgengesetzen ({4}) - Drucksachen 12/3212, 12/3341, 12/3597, 12/3891, 12/3966 12. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({5}) zu dem Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens - Drucksache 12/3980 13. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes - Drucksache 12/3978 14. Aktuelle Stunde: Die Haltung der Bundesregierung in bezug auf Berufsfreiheit, Datenschutz und Hochschulautonomie in Bundesländern, dokumentiert am Beispiel des Freistaates Sachsen Sind Sie mit der Erweiterung der Tagesordnung einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen. Ich rufe nun die Zusatzpunkte 6 und 7 auf: ZP6 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erleichterung von Investitionen und der Ausweisung und Bereitstellung von Wohnbauland ({6}) - Drucksache 12/3944 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({7}) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 1. mb ZP7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar Schütz, Michael Müller ({8}), Hermann Bachmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren im Umweltbereich - Drucksache 12/3948 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({9}) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 1. mb Nach interfraktioneller Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann können wir die Debatte eröffnen. Ich erteile zunächst dem Abgeordneten Peter Götz das Wort.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir leben in einer Zeit der rasanten Veränderungen, in einer Zeit, in der heute schon von der Entwicklung überrollt ist, was gestern noch selbstverständlich erschien. Wer hätte vor wenigen Jahren gedacht, daß wir uns heute mit den Hinterlassenschaften des gescheiterten real existierenden Sozialismus in einer Größenordnung auseinanderzusetzen haben, die Menschen in Ost und West noch über einen längeren Zeitraum in vielen Bereichen fordern wird. Die Menschen in den neuen Bundesländern, die in Sorge um den Arbeitsplatz, um die Bewältigung des Alltags leben, erwarten von uns in der gegenwärtigen Phase des Umbruchs zu Recht Verständnis und Solidarität. Sie erwarten Investitionen, sie erwarten aber auch unbürokratisches Handeln. ({0}) Der Westen Deutschlands hat eine völlig andere Entwicklungsphase hinter sich, die in dieser Form auch nicht vorhersehbar war. ({1}) - So ist es. Es gab zu Beginn der 80er Jahre noch Schwierigkeiten, neu gebaute Wohnungen zu vermieten. Der Leerstand von einigen hunderttausend Wohnungen wurde beklagt, die Auflösung des Bundesbauministeriums stand zur Debatte, ({2}) weil es angeblich nichts mehr zu bauen gab. Die Städteplaner philosophierten von der entwickelten Stadt. Meine Damen und Herren, das ist noch gar nicht so lange her. Was kam dann? Der längste Aufschwung der Nachkriegszeit, von 1982 bis in dieses Jahr hinein. ({3}) Er hat die realen Einkommen und damit die Nachfrage nach Wohnraum deutlich steigen lassen. Die Haushalte wurden kleiner. In fast allen großen Städten leben ein Drittel oder mehr als Singles, die pro Kopf mehr Wohnraum in Anspruch nehmen als beispielsweise ein Vierpersonenhaushalt. Außerdem gab es eine unerwartet starke Zuwanderung in die westlichen Bundesländer, die, wie wir wissen, alle Prognosen um ein mehrfaches übertraf. Ich will das Thema der Zuwanderung nach Deutschland nicht vertiefen. Es war viel zu lange in der politischen Diskussion und hat genug Blessuren am Demokratieverständnis unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger hinterlassen. Wie viele der heutigen Probleme am Wohnungsmarkt hätten wir Wohnungssuchenden ersparen können, wenn Sie, meine Damen und Herren von der SPD, Ihre Verweigerungshaltung nicht jetzt erst aufgegeben und der notwendigen Grundgesetzänderung beim Asylrecht früher zugestimmt hätten! ({4}) - Auch das gehört zum Thema, Herr Großmann, denn Zuwanderungen, Einkommenszuwachs und Haushaltsverkleinerungen haben selbstverständlich die Wohnungsnachfrage steil in die Höhe getrieben. ({5}) - Deshalb sage ich es noch einmal. Die gesamte Nachfrage stürzt sich auf den engen Markt für Neuvermietungen und führt dort zu drastischen Preissprüngen. Diese wirken wieder in den vorhandenen Bestand zurück. Ehepaare, deren Kinder das Haus verlassen haben, und Witwen bleiben in den zu großen Wohnungen, weil eine neue, kleinere Wohnung teurer wäre. Dem Wohnungsengpaß auf der einen Seite steht Wohnraumhortung auf der anderen Seite gegenüber - eigentlich eine verrückte Entwicklung. ({6}) - Darauf kommen wir. Lag früher der Grundstücksanteil an den Baukosten noch zwischen 10 % und 20 %, so nähert er sich heute immer mehr der Marke von 40 % und darüber. Die fehlende Rentabilität führt dazu, daß sich klassische Bauherren, wie Versicherer, die ständig unter dem Druck stehen, große Summen anlegen zu müssen, weitgehend aus dem Wohnungsbau zurückgezogen haben. Der Ruf der Opposition nach mehr Staat, nach mehr Geld für die Wohnungsbauförderung, für den Sozialen Wohnungsbau, wird laut, hört sich gut an, ({7}) ist auch gut - davon bin ich überzeugt. Aber, Herr Reschke, können wir es uns so einfach machen bei jährlich 40 bis 50 Milliarden DM Steuersubventionen im Bereich des Wohnungsbaus? Es sind Subventionen des Steuerzahlers. Sollten wir nicht stärker an die Gründe für diese Entwicklung gehen? ({8}) - Prima. Fehlendes Bauland wird immer mehr zum Engpaß, verteuert den Wohnungsmarkt und wird damit zur Hauptursache fehlender Investitionsbereitschaft. ({9}) - Ich freue mich über dieses Einverständnis. Vielfältige Forderungen und Restriktionen aus den Bereichen des Naturschutzes, der Landes- und Regionalplanung erschweren die Verfahren zusätzlich. Es gibt bei uns eine große Gruppe Menschen, die gut bis sehr gut mit Wohnraum versorgt sind. Das Bewußtsein für den Wert von Natur und Landschaft nimmt deutlich zu. Beides begrüßen wir; es ist in Ordnung. Vielfach sind es jedoch genau die gleichen, die, gut wohnend, auf dem Balkon sitzend, den uneingeschränkten Erhalt der freien Landschaft fordern und im selben Atemzug die Wohnungsnot in Deutschland beklagen. ({10}) Ist es aber für den obdachlosen Bürger nachvollziehbar, daß Grundstücke für den Naturschutz bereitgestellt werden, mangels Bauland allerdings kein ausreichender Wohnraum geschaffen werden kann? Mit dem von den Koalitionsfraktionen CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetzes gehen wir gleichzeitig zwei wichtige Probleme an, um der veränderten Lage in unserem Land Rechnung zu tragen. Das sind erstens die Erleichterung von Investitionen und zweitens die verstärkte Ausweisung von Wohnbauland. ({11}) Die Erleichterung und Beschleunigung von Investitionen ist vor allem, Herr Kollege Dr. Seifert, in den neuen Bundesländern eine wichtige Voraussetzung für den Aufschwung, für die Stabilität und die Schaffung von neuen, wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen. Mein Kollege Rolf Rau wird darauf später näher eingehen. Aber auch in den alten Ländern ist die Dauer von Planungs- und Genehmigungsverfahren hemmend und wird zu einem Standortfaktor, der im internationalen Wettbewerb zunehmend an Bedeutung gewinnt. Deshalb müssen wir den Städten und Gemeinden in Ost und West Instrumentarien an die Hand geben, Wohnungsbau- und städtebauliches Investitionspotential beschleunigt zu mobilisieren. Für viele, die eine Wohnung suchen, spielt der Faktor Zeit eine entscheidende Rolle, auch aus menschlichen Gründen. Deshalb muß unsere Solidarität denen gelten, die auf der Suche nach einer Wohnung sind, und nicht denen, die bereits eine haben. Meine Damen und Herren, nach der Verabschiedung des wohnungspolitischen Sofortprogramms im Frühjahr dieses Jahres hat der Wohnungsbau erneut einen kräftigen Schub erfahren. Baugenehmigungen sind um über 30 % gestiegen. Die Trendwende am Wohnungsmarkt ist deutlich spürbar. Wir rechnen in diesem Jahr mit Fertigstellungszahlen von etwa 380 000 Wohneinheiten. Nächstes Jahr werden es sicherlich noch mehr sein, aber immer noch nicht genug, um die auseinandergehende Schere zwischen Angebot und Nachfrage zu schließen. Die besten Wohnungsbauprogramme, die wir aufstellen können, nützen nichts, wenn nicht genügend Bauland zur Verfügung steht. Wir wollen aufbauend auf dem Baugesetzbuch und dem bereits im Jahr 1990 mit großem Widerspruch der SPD verabschiedeten Wohnungsbauerleichterungsgesetz die Fristen für Bebauungspläne und städtebauliche Satzungen aller Art verkürzen. Ferner ist vorgesehen, erstens, das Instrument des städtebaulichen Vertrags zwischen Investor und Gemeinde auf eine breitere Basis zu stellen und den in den neuen Bundesländern bewährten Vorhaben- und Erschließungsplan auch im Westen einzuführen. Damit können konkrete Investitionsvorhaben beschleunigt werden, bei denen sich der Investor verpflichtet, die Planungs- und Erschließungskosten zu tragen, und die Kommune per Satzung das nötige Baurecht schafft. Zweitens. Die bisher zeitlich befristete städtebauliche Entwicklungsmaßnahme wollen wir als Dauerrecht in das Baugesetzbuch übernehmen. Drittens brauchen wir Regelungen zur Bewältigung der Konflikte zwischen Naturschutz und Bebauungserfordernis für den Wohnungsbau. Unter dem Eindruck der Ökologie-Diskussion der beiden letzten Jahrzehnte ist die Praxis heute eher darauf angelegt, das Bauen zu verhindern als es zu fördern. ({12}) Das nur bedingt harmonische Zusammenspiel von Baugesetzbuch, Bundesnaturschutzrecht und Umweltverträglichkeitsprüfung ermöglicht es den Fachbehörden in den Ländern, der Ausweisung und Erschließung von Wohngebieten große Stolpersteine in den Weg zu rollen. Hier sei nur an die in einigen Ländern immr wieder erhobene Forderung erinnert, Freiraum nur gegen Ersatzflächen oder Ersatzzahlung für die Bebauung in Anspruch zu nehmen, auch wenn diesem Gesichtspunkt bereits in der vorgeschriebenen Abwägung im Bebauungsplanverfahren Rechnung getragen wurde. Das sind nicht nur Investitionshemmnisse, sondern auch Gründe dafür, daß das Bauen und damit die Miete zwangsläufig teurer wird. Ich denke, es ist ausreichend, wenn die Prüfung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung künftig nur noch einmal, und zwar auf der Ebene des Bebauungsplanverfahrens, erfolgt. Meine Damen und Herren, dies kann nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Gesetzentwurf sein. Wir sind offen gegenüber weiteren Anregungen, ({13}) . die dazu beitragen, Verfahren zu beschleunigen, überflüssige Vorschriften abzubauen sowie zusätzliche Baulandmobilisierung zu ermöglichen. Das neue Investitions- und Baulandgesetz erweitert - ich glaube das ist auch für die Städte und Gemeinden wichtig - den Handlungs- und Gestaltungsspielraum unter bodenrechtlichen Gesichtspunkten. Es ist ein Beitrag zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung und dient gleichzeitig den Gemeinden als Anstoß, von ihrer Planungshoheit durch eine bedarfsgerechte Ausweisung von Wohnbauland und die Mobilisierung bestehender Baurechte aktiv Gebrauch zu machen. Lassen Sie mich abschließend ein Thema ansprechen, das mir sehr am Herzen liegt und wo ich für den Bund als Grundstückseigentümer eine zusätzliche Chance sehe, den im Wohnungsbau zum Nadelöhr gewordenen Grundstücksmarkt kurzfristig zu entlasten. Meine Damen und Herren, im Laufe der nächsten Jahre stehen durch den Abzug der alliierten Streitkräfte und der Aufgabe von Bundeswehrstandorten in über 1 000 Städten und Gemeinden ca. 60 000 ha Flächen zur Umwidmung an. Wenn es gelingt, nur die Hälfte dieser innerstädtischen Flächen, also 30 000 ha, kurzfristig dem Wohnungsbau zuzuführen, bedeutet dies bei einer Geschoßflächenzahl von 1,0 drei Millionen Wohneinheiten. Zügig und richtig gemanagt, kann dies für viele Regionen in Ost und West spürbare Entlastung bringen. Wir sollten deshalb den Mut haben, bei der Vermarktung dieser Flächen in enger Abstimmung mit den betroffenen Städten und Gemeinden auch private Verwertungsgesellschaften einzusetzen, damit in der Regel voll erschlossenes innerstädtisches Bauland ohne Verzögerung einer Bebauung zugeführt werden kann. ({14}) Wir alle wissen, daß der Wohnungs- und Städtebau auch ein wichtiger Wachstumsbereich ist, von dem starke Impulse für die Beschäftigung und Produktion in der ganzen Wirtschaft ausgehen können. Wir sind gut beraten, alles daran zu setzen, dieses Gesetzeswerk zügig zu beraten und zu verabschieden. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist dazu bereit. Vielen Dank. ({15})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Otto Reschke.

Otto Reschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Götz, in der Begründung des Gesetzentwurfs zur Erleichterung von Investitionen und der Ausweisung und Bereitstellung von Wohnbauland heißt es - ich habe bewußt die Begründung aus dem Referentenentwurf genommen, bei dem wir uns in einem Punkt einig sind -: Bauland zu Wohnzwecken wird zunehmend ein Engpaßfaktor für den Wohnungsbau. - Die Analyse ist klar. Das zweite Stichwort: Vorhandenes Bauland kommt angesichts niedriger Haltungskosten und zu erwartender Wertsteigerungen nicht ausreichend auf den Markt. Ich sage Ihnen: Die Konsequenz dieser beiden Punkte wäre doch eigentlich, bedarfsgerecht Wohnbauland auszuweisen und zu mobilisieren, aber gerade dies finden Sie in diesem Gesetzentwurf nicht wieder. Dies ist unser Problem, das wir damit haben. ({0}) Der Gesetzentwurf wird dieser Konsequenz nicht gerecht. Mit Inkrafttreten des Gesetzes in der vorliegenden Form wird kein Quadratmeter Bauland bereitgestellt. Die zigtausend Baulücken in unseren Innenstädten werden von diesem Gesetzentwurf nicht erfaßt und nicht berücksichtigt. ({1}) Zweiter Punkt. Bauland in den Flächennutzungsplänen der Gemeinden ist zur Genüge ausgewiesen worden, übrigens Anfang der 80er Jahre, Frau Bauministerin, nicht wie in dem Referentenentwurf geschrieben wird, in den 70er Jahren; die Flächennutzungspläne sind Anfang der 80er Jahre entwickelt worden. Aber die Bereitstellung scheitert an der Eigentumsfrage, an spekulativer Zurückhaltung und an Kosten für Erschließung und Infrastruktur. Auch darauf nimmt dieser Gesetzentwurf keine Rücksicht. Alles das wird mit der Novelle nicht erreicht, Frau Ministerin. Bislang ist die Bauministerin mit ihren halbherzigen Bemühungen zur Bekämpfung der Bodenspekulation durch eine Baulandsteuer an den Koalitionsparteien gescheitert, vor allem an der eigenen F.D.P. Seit Mai hat sie diese Novelle zur Baulandbereitstellung angekündigt und ist nun vom Kabinett endgültig gerupft worden. Finanzminister Waigel selbst hat reklamiert, daß er für Steuerfragen zuständig sei. Über sein Haus hat er verkünden lassen, er sei gegen eine Strafsteuer für Grundstücke; ich werde gleich einmal erklären, wie hoch die Grundstückseigentümer steuerlich bestraft werden. Für Deutschland heißt das: Wer Bauland aus spekulativen Gründen hortet und damit Wohnungsbau verhindert, soll nach dem Willen dieser Regierung weiterhin ungeschoren davonkommen - eine unmögliche Situation in diesem Staat. Die Durchsetzungsschwäche der Bauministerin und die Blockadehaltung des Finanzministers gereicht im Endeffekt den Bodenspekulanten, d. h. den Hortern, zum Vorteil. Die Bauministerin hat sich hier, so sehr wir sie unterstützt haben, an der falschen Stelle einschüchtern lassen. Sie hat einen Gesetzentwurf eingebracht, von dem im Grunde genommen nur der Rumpf übriggeblieben ist, Herz und Lunge fehlen vollständig. ({2}) Die Bauministerin will die Baulandbereitstellung wider besseres Wissen, wider ihre eigene Auffassung nur mit Hilfe des Städtebaurechts forcieren, und das wird nicht reichen. Wenn dieser Gesetzentwurf unverändert verabschiedet wird und ein Abgabenteil nicht hinzukommt, wird im Endeffekt die Hortungstendenz steigen. Selbst der Städtetag warnt vor der Wirkungslosigkeit der Novelle ohne abgabenrechtlichen Teil. Er ist im Grunde genommen ein Bagger - den begrüßen wir alle -, aber was sollen die Gemeinden mit einem Bagger ohne Schaufel vor der Tür, wenn sie kein Bauland bereitstellen und Wohnungsbau nicht betreiben können. ({3}) Dabei wird von allen Seiten, von Wissenschaftlern wie Praktikern, bestätigt: Wer mehr Bauland haben will, muß endlich an das Steuerrecht, an das Abgabenrecht herangehen. ({4}) - Nein, nicht mehr ausweisen. Sie kennen die Städte nicht. Sie haben noch keine Ahnung, was in den Flächennutzungsplänen der Städte steckt. ({5}) Drei Gutachten, zwei vom Finanzminister, eines von der Bund-Länder-Kommission bei der Bundesbauministerin bestätigen, daß man hier den Ansatz finden muß. ({6}) Aber die Regierung setzt sich über jeden Sachverstand hinweg. Städte und Gemeinden brauchen dringend Instrumente zur Besteuerung baureifer unbebauter Grundstücke, sie brauchen dringend eine neue Grundlage zur Bewertung des Grundvermögens, da bei fast allen Grundstücken nur noch 20 % des Werts von der Grundsteuer erfaßt werden. Selbst der Rechnungshof hat der Bundesregierung mehrmals eine Abmahnung erteilt, ohne daß sie, das Kabinett, darauf reagiert. ({7}) - Hören Sie zu, Herr Kansy! Wenn Sie Unsinn lauf end wiederholen, wird er auch nicht sinnvoll. ({8}) Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Ein Quadratmeter Bauland kostet heute - ich will noch nicht einmal auf die 500 DM, 600 DM pro Quadratmeter in den Zentren hinausgehen; ich nehme den Bundesdurchschnitt, damit es ziemlich zahm aussieht - in der Bundesrepublik im Durchschnitt 141 DM. Bei 500 Quadratmetern Bauland - Durchschnittsgrundstück - sind das 70 500 DM. Dafür sind an Grundsteuern auf der Basis des Einheitswerts von 1964 16,67 DM zu entrichten -0,18 DM je m2 im Jahr. Das heißt: Für 500 Quadratmeter Bauland haben Sie 88,50 DM in Deutschland an die Gemeinden zu entrichten. Dem steht im Jahr eine Wertsteigerung von mindestens 5 % gegenüber. Das sind 3 525 DM. ({9}) Da wären die Leute doch mit dem Klammerbeutel bepudert, wenn sie dieses Grundstück verkaufen und nicht weiter horten. ({10}) Das heißt: Einer Wertsteigerung von 3 525 DM stehen 88,50 DM an Grundsteuern gegenüber - keine Probleme mit der Quellensteuer, keine Probleme mit der Kapitalertragsteuer; im Gegenteil: Die Kapitalanlage und der Gewinn sind bei späterem Verkauf sogar noch einkommensteuerfrei. Dies ist der eigentliche Grund spekulativer Zurückhaltung von Bauland. ({11}) Die Bauministerin nennt dies verschämt im Gesetzentwurf niedrige Haltungskosten. Das muß man sich einmal vorstellen. ({12}) Städte und Gemeinden beklagen zu Recht die Baulandmisere und fühlen sich alleingelassen. Die Verfahren dauern zu lange. Die Verfügbarkeit an Boden fehlt. Jeder Bebauungsplan ist für eine Stadt ein Zuschußgeschäft. Erschließungs- und Planungskosten, Kosten der Infrastruktur und Folgelasten für Unterhaltung und Betrieb sind in vielen Bereichen zu leisten. Diese drei Kernfragen sind nicht allein mit dem Baurecht zu lösen. Sie sind nur mit abgabenrechtlichen Maßnahmen in den Griff zu bekommen, wie dies auch 15 von 16 Landesbauministern gesagt haben. Das heißt, wenn ich die Bundesbauministerin dazunehme, ist da eine Qualitätsentscheidung von 15 zu 2. Darüber muß man doch nachdenken. In der Presse war zu lesen: Frau Schwaetzer hält an der Baulandsteuer fest. Sie hatte ja vorgeschlagen, eine rückzahlbare Baulandsteuer C einzuführen. Wir können das diskutieren. Aber ich halte eine rückzahlbare Baulandsteuer C im Grunde genommen für eine nicht vertretbare Mehrbelastung der Kommunal- und Finanzverwaltung. Dann lassen wir es doch besser gleich sein. Ob der Flick-Paragraph 6 b zur vermehrten Baulandbereitstellung führt, wie es vorgeschlagen worden ist, ist fraglich. Was fehlt, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist eine klare Regelung für baureife unbebaute Grundstücke und übrige Nutzungsarten in den Städten. Erstens: Im Gesetz stehen Steuermeßzahlen für Grundstücksarten. Lesen Sie das einmal in § 15 nach. Landwirtschaft wird mit der Meßzahl 6 v. T. je Einheitswert versehen; Wohngrundstücke und sonstige: 3,5 v. T.; Zweifamilienhäuser: 3,1 v. T. und Einfamilienhäuser: 2,6 v. T. Warum die Eigentümer von Ein- und Zweifamilienhäusern bis zu 30 % weniger Grundsteuern in Deutschland zahlen gegenüber Mietern und Mieterinnen in Mietwohnungen oder gegenüber Eigentümern in Eigentumswohnungen bleibt Geheimnis dieses Staates. Dies zu ändern ist dem Finanzminister zu kompliziert. Es ist aber dringend geboten, da ranzugehen. Zweitens. Im Gesetz steht, daß Grundstücke den gleichen Hebesatz haben müssen. Das heißt, wenn man einen Verfassungsrechtler fragt: gleicher Hebesatz für gleiche Grundstücksarten und -nutzungen. Die Nutzungsarten sind in der Baunutzungsverordnung festgelegt. Warum verpflichten wir Städte und Gemeinden, den Hebesatz für den sozialen Wohnungsbau in Essen-Margaretenhöhe oder Düsseldorf-Flingern genauso hochzuhalten wie das Grundstück auf der Kö in Düsseldorf oder das Grundstück auf der Kettwiger in Essen? Das ist doch ein Unsinn in diesem Staat, wenn man einmal darüber nachdenkt. Da liegt ja auch ein Unterschied in der Ertragskraft von 5 DM bis 100 DM pro Quadratmeter Wohnfläche oder Nutzfläche. Wir sollten im Grunde genommen daran gehen, darüber nachdenken und dies als Ansatzpunkt nehmen. Die SPD schlägt zum einen die Neufestsetzung dieser Steuermeßzahlen vor, die bislang ungerecht und einseitig unbebaute Grundstücke bevorzugen. Wenn dabei eine gleiche Steuermeßzahl für Ein- und Zweifamilienhausnutzer, für Mietwohnungsnutzer und für Eigentumswohnungsnutzer herauskommt, wäre das doch eine soziale Gerechtigkeit. Zum anderen schlägt die SPD die Zulassung unterschiedlicher Hebesätze für die Grundsteuer bei den verschiedensten Grundstücksarten vor. Dies alles - trotz des Vorschlags des Städtetages von 140 % Zuschlag auf den Einheitswert, wie dies bei der Vermögens- und Gewerbekapitalsteuer ist - darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß bei der Besteuerung des Grundbesitzes seit langem ein anerkannter Maßstab fehlt. Die Grunderwerbs- und Erbschaftssteuer erfassen das Grundstück im Verkehrswert; Vermögens- und Gewerbekapitalsteuer nach dem Einheitswert von 1964 mit einem Zuschlag von 140 %. Die Grundsteuer erfaßt das Grundstück nach dem Einheitswert, d. h. auf der Preisbasis von 1964. In den neuen Bundesländern geht das alles noch auf der Basis von 1935. Ich sage deutlich: Langfristig sind deshalb die Grundvermögen von der Einheitsbewertung abzukoppeln, damit eine zeitnahe Bewertung möglich und auch die Ungerechtigkeit in der Bodenbesteuerung beseitigt wird. Ich komme zum Schluß, Herr Präsident: Wir hoffen, Frau Ministerin, daß vor diesem Hintergrund der Baulandprobleme die Koalition bei der Beratung in den Ausschüssen Einsicht zeigt. Wir gehen davon aus, Frau Ministerin, daß Sie brennend auf unsere Vorschläge warten, weil Sie ja auch mit uns der Auffassung sind: Der Abgabenteil für Boden muß geändert werden. Wir werden Sie nicht enttäuschen. Wir halten mit Ihnen gemeinsam an der Baulandsteuer fest und werden dies auch ins Plenum einbringen. Schönen Dank. ({13})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Ilja Seifert das Wort.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausweisung und Bereitstellung von preiswertem Bauland, insbesondere von Wohnbauland, gehört zweifellos zu den wichtigsten Voraussetzungen für die dringend notwendige Steigerung des Wohnungsbaus, insbesondere auch des sozialen Wohnungsbaus; ebenso aber auch für die harmonische Entwicklung der Städte und Gemeinden, für den Schutz der natürlichen Umwelt und nicht zuletzt auch für die Schaffung von Arbeitsplätzen in der Bauwirtschaft. Sehr unterschiedlich ist die Ausgangslage zwischen der ehemaligen BRD, vor allem in den Ballungsgebieten, und den ostdeutschen Bundesländern, die bekanntlich an Auszehrung leiden. Nicht zuletzt geht es um sehr viel Geld, welches die Kommunen nicht haben und das die Bodenspekulanten nur zu gern einkassieren möchten. Angesichts der Komplexität dieses Problems möchte ich ernste Zweifel anmelden, ob der von der Regierung vorgelegte Entwurf - einmal heißt er „Zur Erleichterung der Ausweisung und Bereitstellung von Wohnbauland", aber in der am 3. Dezember herausgegebenen Presseinformation von Frau Schwaetzer „Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz" - auch nur annähernd der Aufgabe gerecht wird. Natürlich enthält der Entwurf auch akzeptable Vorschläge, über die noch im einzelnen zu reden ist. Wir haben im Ausschuß dazu Zeit. Aber insgesamt wird an Symptomen herumlaboriert; bürokratische Regeln des Baugesetzbuches, die bekanntlich schon einmal, 1990, mit dem Wohnungsbauerleichterungsgesetz entrümpelt werden mußten, werden mit dem jetzt vorliegenden Entwurf total unübersichtlich und zudem noch für Ost und West unterschiedlich gestaltet. Aber auf die eigentlichen Probleme, so wie sie auch auf der gemeinsamen Sitzung der Bauausschüsse von Städtetag und Bundestag diskutiert worden sind, finde ich keine Antworten. Für äußerst bedenklich halte ich, daß unter dem Vorwand der Beschleunigung Mitspracherechte der betroffenen Bürgerinnen und Bürger und naturschutzrechtliche Eingriffsregelungen in den östlichen Bundesländern abgeschafft werden sollen. Das eine hat mit Bürgernähe und erlebbarer Demokratie nichts zu tun; das andere steht in krassem Gegensatz zur immer wieder behaupteten Umweltschonung. Für mich unerklärlich bleibt, wenn das Bauministerium davon ausgeht, daß die Träger öffentlicher Belange in den ostdeutschen Ländern sechsmal so schnell zu einem Bebauungsplan Stellung zu nehmen haben wie in der ehemaligen BRD. Hektik und mangelnde Sorgfalt würden doch das jetzt schon vorhandene Chaos von unkoordinierten Tiefbaumaßnahmen der Strom-, Gas- und Wasserversorgungsunternehmen, der Telekom und anderer Leitungsverwaltungen nur noch vergrößern. Oder arbeiten ostdeutsche Angestellte sechsmal schneller als westdeutsche Beamte? Dann sollten die aber auch tariflich sechsmal besser bezahlt werden. ({0}) Einer, der es wissen muß, der brandenburgische Umweltstaatsminister Engstfeld - übrigens CDU -, meint in der „Berliner Zeitung" vom 9. Dezember zu diesem Gesetz - ich zitiere -: Es sei an Bonner Schreibtischen völlig an den Realitäten der neuen Bundesländer vorbei ausgeheckt worden, mache die Bürgerbeteiligung zur Farce und degradiere die Landesplanungs- und Raumordnungsbehörden der Bundesländer zu reinen Nur-noch-Abstemplern. Wie Brandenburgs stets deutlich unter dem Bundesdurchschnitt liegenden Bearbeitungszeiten bewiesen, sei die Investitionsbeschleunigung aber kein gesetzliches, sondern ein verwaltungsorganisatorisches Problem. Der heißeste Punkt des ganzen Komplexes der Bereitstellung von Wohnbauland besteht aber nach meiner Auffassung darin, wie gewährleistet werden kann, daß die Baulandpreise nicht ins Uferlose steigen und die mehr oder weniger zufälligen Eigentümer, vom Finanzministerium kaum behelligt, nicht riesige Profite scheffeln, die vornehm als Planungsgewinne umschrieben werden. Nach überschläglichen Rechnungen, die von einer durchschnittlichen Bodenwertsteigerung in den ostdeutschen Ländern auf das Hundertfache und von einem Anteil von etwa 2 % des Territoriums der damaligen DDR ausgehen, handelt es sich hier um ein Spekulationspotential in Höhe von 1 000 Milliarden DM, also um eine Summe, die Herrn Waigel schon interessieren müßte, z. B. um die Verschuldung des Bundes zu stoppen und etwas mehr Geld für den sozialen Wohnungsbau bereitstellen zu können. Statt dessen verfährt er nach dem Motto „Sozialisierung der Verluste, Privatisierung der Gewinne". Ich stimme dem Kollegen Reschke ausdrücklich zu, wenn er sagt - er schrieb das auch schon -, Herr Waigel wolle jede Diskussion über die Besteuerung des Grundvermögens, über neue Einheitswerte und einen Planungswertausgleich verhindern. Aber es stellt sich doch die Frage, ob die Abgeordneten dieses Hohen Hauses, einschließlich derer, die sich noch erinnern können, was die Buchstaben C, D oder S in ihren Parteikürzeln bedeuten, sich dieses gefallen lassen. In diesem Zusammenhang möchte ich bemerken, daß ich dem Gedanken in bezug auf ein zoniertes Satzungsrecht aufgeschlossen gegenüberstehe, was natürlich auch für meine Bundestagsgruppe gilt. Voraussetzung ist, daß die Entscheidungskompetenz beim Umgang mit einem solchen Mittel bei den Kommunen so weit wie möglich unten angesiedelt bleibt und damit demokratische Mitspracherechte der Betroffenen gewährleistet sind. Zum Schluß zur Frage der Konversionsflächen, also zu den nicht mehr benötigten Standorten der Truppen der GUS und anderer Alliierter, der NVA und der Bundeswehr. So zurückhaltend wie gegenüber Bodenspekulanten verhält sich Herr Waigel in dieser Frage gegenüber den Kommunen, speziell auch in den ostdeutschen Ländern, nicht. Anstatt diese Liegenschaften den Kommunen kostenlos bzw. zu einem symbolischen Verkaufspreis zu überlassen, damit das Baulandangebot in öffentlicher Hand dem Höhenflug der Bodenpreise wirksam entgegengesetzt werden kann, verlangt die Bundesvermögensverwaltung den Verkehrswert oder nur unbedeutend weniger. Ich füge hinzu: Nach Aussagen der Bauminister der Länder verlangt sie sogar den zukünftigen Verkehrswert. Wirkungsvoller kann man Investitionshindernisse gar nicht schaffen, abgesehen vom verhängnisvollen Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung". Wie will man so das Menschenrecht auf Wohnung tatsächlich realisieren? Angesichts dieser Sachlage hält es die Gruppe PDS/Linke Liste im Bundestag für unerläßlich, daß zu diesem Thema umgehend ein Hearing mit wirklichen Fachleuten veranstaltet wird. Insofern freue ich mich, daß wir anschließend darüber noch beraten werden. Es ist den Abgeordneten des Deutschen Bundestages nicht zuzumuten, den nicht zu Ende gedachten Paragraphendschungel zu durchforsten. Wäre es nicht besser, an Stelle unendlicher Novellierungen übersichtliche und anwendungsfreundliche Neufassungen notwendiger gesetzlicher Regelungen endlich auszuarbeiten und zu verabschieden? Mit dieser Frage verabschiede ich mich von Ihnen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Christina Schenk das Wort. ({0})

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das heute zur Debatte stehende Gesetz über die Erleichterung von Investitionen und der Ausweisung und Bereitstellung von Wohnbauland setzt die Linie des Planungsbeschleunigungsgesetzes fort, versucht dazu noch größtmögliche Verwirrung zu schaffen, indem mit fortgesetzter Billigung des Bundesumweltministers zusammengeworfen wird, was keinesfalls zusammengehört, und als Ergebnis dieser Melange der Verlust von Rechten der Bürgerinnen und Bürger herauskommt. Für wie tölpelhaft hält eigentlich diese Regierung die Bürgerinnen und Bürger, wenn sie offenbar von deren Unfähigkeit ausgeht, eine Wohnung von einer Müllverbrennungsanlage zu unterscheiden? Was soll die Verknüpfung der Schaffung von Wohnbauland mit der Beschneidung von Öffentlichkeitsrechten beim Bau von Müllanlagen und anderen gewerblichen Großprojekten denn anderes sein als Vernebelung höchsten Ausmaßes? Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz wird die Eindämmung der Wirkung einer aufmüpfigen und nicht obrigkeitsstaatlichen Frauen- und Bürgerinnen- und Bürgerbewegung, also einer zivilen und antiautoritären gesellschaftlichen Strömung geübt. Muß - so frage ich - die gesellschaftliche Verwirrung, das Durcheinander, das das deutsch-deutsche Beziehungsgeflecht mit sich gebracht hat, jetzt auch noch dafür herhalten, eine Wendung zum obrigkeitsstaatlichen Mief der 50er Jahre zu vollziehen? ({0}) - Dann lassen Sie es bitte sein. Ihre Zwischenrufe sind auch eine Antwort nicht wert, Herr Kansy. ({1}) Das heute in erster Lesung zu verhandelnde Gesetz hat aber noch einen anderen Aspekt. Suggeriert wird erstens die Unvereinbarkeit von Ökologie und Wohnungsbau. Es wird so getan, als ob die soziale Frage, sprich: der Bau von notwendigen Wohnungen nur zu Lasten der Ökologie erreicht werden kann. Suggeriert wird zweitens die Unvereinbarkeit von Ökologie und Bürgerrechten. Schließlich werden drittens die neuen Bundesländer ökologisch wie Gebiete im Ausnahmezustand behandelt, indem Normen zum Schutz von Natur und Umwelt außer Kraft gesetzt werden. In den vergangenen Jahrzehnten, insbesondere in den 60er und 70er Jahren, wurde in den alten Bundesländern eine Landschaftszerstörung großen Ausmaßes betrieben. Die Erfahrungen mit rücksichtsloser und brutaler Zerschneidung von Landschaften, mit falsch gewählten Standorten für Großanlagen und mit der damit verbundenen Naturzerstörung drohen sich in den neuen Bundesländern zu wiederholen; obwohl man es heute besser weiß. Das Genehmigungs- und Planungsrecht soll ganz offenbar - wie es der Gesetzentwurf an vielen Punkten vorsieht - die Durchsetzung von Projekten erleichtern. Zu einem offenen Genehmigungs- und Planungsprozeß jedoch - sei es in der Bauleitplanung oder bei der Suche von Industriestandorten - gehört die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger, gehört die Suche nach umweltverträglichen und sozialen Lösungen, und dazu gehört vor allem aber auch die vorurteilsfreie Prüfung, ob das Vorhaben überhaupt notwendig ist. Konflikte, die in Planungsprozessen und Genehmigungsverfahren notwendig entstehen, dürfen nicht einseitig zugunsten der Betreiber oder eines bestimmten Wachstumsmodells gelöst werden, wenn man es mit der Lebenswelt und mit der Demokratie ernst meint. Ich bin mir sicher, daß der Versuch des Rückdrehens eines ganzen kulturellen Ansatzes, der mit der immer noch ungenügenden Öffentlichkeitsbeteiligung und der Verabschiedung des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung begonnen hat, auf lange Sicht scheitern wird - allerdings nicht ohne zuvor größeren Schaden angerichtet zu haben. Dieser neue kulturelle Ansatz bestand ja gerade darin, die preußische Abschottung der Verwaltung durch die Konfrontation mit den lebendigen Einwänden der Bürgerinnen und Bürger aufzubrechen und die Verwaltung so zu vernünftigem Handeln zu bringen. Dies hat in der Vergangenheit wenn auch nicht immer, aber doch häufig dazu geführt, daß auch die Verwaltung ihr Selbstbild ändern mußte. Bürger und Bürgerinitiativen haben mit Intelligenz Fragen gestellt, Einwendungen erhoben, Sachverständige zu Erörterungsterminen hinzugezogen und die Justiz angerufen. Die so deutsche Methode des Gegnerschaftsdenkens konnte dadurch relativiert, ja manchmal auch zugunsten von ökologischen Kompromissen aufgelöst werden. In der Begründung zum Gesetz werden die Änderungen im Bundesnaturschutzgesetz, im Abfallgesetz und im Bundes-Immissionsschutzgesetz ausschließlich mit der Notwendigkeit des Abbaus von Investitionshemmnissen begründet. Die damit beabsichtigte Auszeit für die Ökologie bedeutet im einzelnen folgendes. Erstens. Die erst seit zwei Jahren anzuwendende Regelung des § 6 a des Raumordnungsgesetzes wird, soweit dort erstmals die „Ermittlung, Beschreibung und Bewertung der raumbedeutsamen Auswirkungen der Planung oder Maßnahme auf Menschen, Tiere und Pflanzen, Boden, Wasser, Luft, Klima und Landschaft einschließlich der jeweiligen Wechselwirkungen" geregelt wurde, ersatzlos gestrichen. Ebenso ist die dort bisher vorgesehene Einbeziehung der Öffentlichkeit in das Raumordnungsverfahren beseitigt. In der Begründung zum Gesetzentwurf wird die Streichung der ökologischen Vorgaben des EG- Rechts lapidar mit der „Beschleunigung von Verfahrensabläufen" begründet. Damit wird künftig der ökologische Blick in der Raumordnung fehlen. Entscheidend ist dabei, daß der Ansatz des § 6 a des Raumordnungsgesetzes, der ja darin bestand, schon vorsorgend - also im Vorfeld von Planungen und anderen Vorhaben - die Umweltauswirkungen zu thematisieren, beseitigt, also die alte Linie der Umweltschädigung und nachfolgender Altlastenbehandlung fortgesetzt wird. Zweitens. In das Bundesnaturschutzgesetz wird ein neuer § 8 a eingefügt, der den Vorrang des ungestörten Bauens sichern soll. Die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung, die von Naturschutz- und Umweltverbänden bereits in ihrer heutigen Ausformung als völlig unzureichend kritisiert wird, wird damit weiter eingeschränkt. Die Bauleitplanung ist von ihrer gesetzlichen Beschreibung und Konzeption gerade nicht dazu geeignet, die Belange von Natur und Umwelt zu berücksichtigen. In der Praxis wird diese Neuregelung im großen Stil zur weiteren Zerstörung von noch leidlich intakten Naturlandschaften beitragen. Für die neuen Bundesländer schafft der geplante § 8 b für die Dauer von fünf Jahren die unsägliche Fiktion, daß alle Flächenversiegelungen auf Grund der Vorschriften des Baugesetzbuches nicht als Eingriff in Natur und Landschaft anzusehen sind. Den noch vorhandenen Naturlandschaften und Landschaftsschönheiten droht damit der Kahlschlag, weil die Wahrung der Naturbelange durch einzelne Bürgerinnen und Bürger und die Natur- und Umweltverbände nicht mehr möglich sein wird. Eine gesetzliche Form der Konfliktvermittlung oder des Interessenausgleiches gibt es dann nicht mehr. Drittens. Überall dort, wo der Bau von Müllverbrennungsanlagen oder Mülldeponien geplant ist, bilden sich Bürgerinitiativen, kämpfen Mütter und auch Väter wegen der Gesundheit ihrer Kinder gegen diese Großanlagen. Die Behandlung der Problematik durch den Gesetzentwurf ist auch hier autoritär: Die Genehmigungsanforderungen werden gesenkt, die Beteiligung der Öffentlichkeit soll künftig weitgehend ausgeschlossen werden. Für sämtliche Abfallentsorgungsanlagen gelten danach künftig die Regelungen des Bundes-Immissionsschutzgesetzes; das Planfeststellungsverfahren gilt nur noch für die Errichtung und den Betrieb von Mülldeponien. Aber auch im Fall des Baus von Deponien kann in das einfache Genehmigungsverfahren ausgewichen werden, wenn es sich um eine „unbedeutende Deponie" handelt. Das Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung aus dem Jahre 1990 wird schon zum zweiten Male eingeschränkt. Die Abfallentsorgungsanlagen - mit Ausnahme der Deponien - werden aus seinem Geltungsbereich herausgenommen. Begründet werden diese weitreichenden Änderungen mit der Notwendigkeit des beschleunigten Aufbaus der Entsorgungsinfrastruktur in den neuen Bundesländern. Tatsächlich ist der Geltungsbereich der neuen Bestimmungen aber nicht eingeschränkt worden. Es geht also vor allem um die Abschottung der Verwaltung vor den Einwendungen der Bürgerinnen und Bürger. Die Streichung derjenigen Vorschriften, die Öffentlichkeit, Transparenz, Erörterung und Verständigung möglich machen, aber auch Verfahrensrechte sichern, muß als Beschneidung der alltäglichen Formen von gelebter Demokratie, als Beschneidung politischer Freiheit schlechthin begriffen werden. Viertens. Die Änderungen des Bundes-Immissionsschutzgesetzes tendieren in dieselbe Richtung: Es geht um die Herausnahme von Anlagen aus den Genehmigungsanforderungen des § 4. Dies bedeutet einerseits die Senkung von Umweltstandards und andererseits den Dispens von der Notwendigkeit der Auslegung der Unterlagen und deren öffentlicher Erörterung. Die Auswirkungen dieser Änderungen im Gesetz selbst und den dazugehörigen Verordnungen sind absehbar: Die ökologische Belastung der Luft, des Bodens, des Wassers und des Klimas wird steigen. Fünftens. Der Instanzenweg im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbarkeit wird für die neuen Bundesländer weitgehend eingeschränkt: So soll eine Berufung zum Oberverwaltungsgericht in den das Gesetz betreffenden Bereichen nur zulässig sein, wenn sie ausdrücklich zugelassen wird. Widerspruch und Klage haben keine aufschiebende Wirkung. Kurz: Es darf weitergebaut werden. Diese Beschränkungen sind - auch wenn die Schwierigkeiten des Aufbaus einer Verwaltungsgerichtsbarkeit, insbesondere im Osten, nicht verkannt werden sollen - gerade im Hinblick darauf, daß es in den neuen Bundesländern überhaupt keine Verwaltungsgerichtsbarkeit gab, also Identität zwischen dem Staat und seinen Bürgerinnen und Bürgern angenommen wurde, besonders entwürdigend. Es hat oftmals den Anschein, als ob in den neuen Bundesländern nur „ein bißchen Rechtsstaat" zur Anwendung kommen soll. Eine letzte Bemerkung: Der Gesetzentwurf ist aus unserer Sicht in weiten Teilen EG-widrig. Gerade in der letzten Sitzungswoche anläßlich der Debatte über den Vertrag von Maastricht hat sich die Bundesregierung als EG-Musterschülerin aufgeführt. Nur: Das sollte dann auch im Kleinen so sein, was insbesondere die demokratischen und ökologischen Ansätze der EG betrifft. Oder nimmt die Bundesregierung eine Neuinterpretation in der Form vor, daß hier der „nationale Sonderweg" beschritten werden, also das Subsidiaritätsprinzip Anwendung finden muß? Die EG hat in den vergangenen Jahren gerade im Bereich der Verfahrenssicherung der Rechte von Bürgerinnen und Bürgern einiges Positives verabschiedet. Daran gilt es festzuhalten. Deshalb ist die Einleitung von Verstoßverfahren seitens der EG-Kommission gegen dieses Gesetzespaket unserer Meinung nach schon jetzt vorprogrammiert. Eine Schlußbemerkung. Wenn am Ausgang des 20. Jahrhunderts, dieses Jahrhunderts der Naturunterwerfung, des mechanistischen Denkens und der gigantischen Umweltzerstörung, das schlichte „Augen zu und durch" steht, so ist das nicht nur gespenstisch, sondern auch gemeingefährlich. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Demokratie für die Bürgerinnen und Bürger. Wir brauchen Einschränkungen in unserer Art zu konsumieren. Eine Auszeit für die Ökologie und die Demokratie darf es nicht geben. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich erteile nunmehr der Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Dr. Irmgard Schwaetzer, das Wort.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schnelle Investitionen sind lebenswichtig für den Aufschwung Ost, aber genauso notwendig für die Stabilität der Konjunktur West. Diese völlig unbestrittene Tatsache trifft auf komplizierte, langwierige Planungs- und Genehmigungsverfahren für Bauvorhaben und in den ostdeutschen Bundesländern auf eine Verwaltung, die sich noch im Aufbau befindet. Dies zusammengenommen führt zu einer Fülle von Hemmnissen, die den Schwung lähmt und viele Hoffnungen erdrosselt. Das können wir uns nicht länger leisten. ({0}) Deswegen haben wir dieses Gesetz vorgelegt. Frau Schenk, wenn Sie fragen, was der Wohnungsbau mit einer Müllverbrennungsanlage zu tun hat, dann sage ich Ihnen: viel; im Sinne dieses Gesetzes geht es z. B. um Planungs- und Genehmigungsverfahren, die in weiten Bereichen nach den gleichen Gesetzen gestaltet sind. Realität ist zugleich: Wohnungsbau ist nicht möglich, wenn nicht gleichzeitig die Entsorgung stimmt. Dies ist eines der Probleme, das sowohl im Osten wie im Westen heute besonders relevant ist. Wohnungsbauland kann nicht mehr ausgewiesen werden, wenn die Kläranlage zu klein ist. Die Genehmigung neuer Kläranlagen dauert bis zu zehn Jahren, und genau dort liegt das Problem. ({1}) Die Bauwirtschaft muß Konjunkturmotor sein. Hier ist unser Augenmerk vorrangig auf den Wohnungsbau zu richten. Wohnungsnot schafft viele menschliche Probleme, und wir haben diese Not im Osten wie im Westen unseres Landes. Völlig unbestritten ist, daß der Baulandengpaß ein entscheidendes Hemmnis für eine bessere Wohnungsversorgung ist. Hier wiederum treffen wir auf langwierige Planungs- und Genehmigungsverfahren, die häufig heute schon dafür sorgen, daß die Distanz der Bürger zu ihrem Staat immer größer wird, weil sie es nicht mehr einsehen und nicht mehr durchschauen können, warum es so lange dauert. ({2}) Damit liefert dieses Gesetz den ersten umfassenden Ansatz für einen „schlanken Staat". Wir verkürzen Planungs- und Genehmigungsverfahren, und der Zeitgewinn summiert sich zu erheblichen Zeitspannen auf. Das ist in der Tat auch notwendig, und zwar nicht nur, Herr Reschke, zur Mobilisierung von vorhandenem Bauland. Ich habe versucht herauszufinden, ob Sie auch nur ein Wort zu dem vorliegenden Gesetzentwurf gesagt haben. Mir ist allerdings nicht klargeworden, wie Sie zu dem vorliegenden Gesetzentwurf stehen. Ich entnehme Ihren Ausführungen, daß Sie dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen; denn Sie haben sich im wesentlichen mit einem Punkt beschäftigt, der nicht drinsteht. ({3}) Dazu will ich Ihnen folgendes sagen: Dieser Punkt, den ich gerne im Gesetz gesehen hätte, bedeutet auch in meinen Augen eine Möglichkeit zur Mobilisierung von Bauland. Aber die vorhandenen Probleme werden wir nicht allein durch eine Mobilisierung von Bauland lösen; was wir brauchen, ist eine Neuausweisung von Bauland. Wer dieses bestreitet, meine Damen und Herren, verschließt die Augen vor den wirklichen Problemen der Wohnungssuchenden. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Dr. Schwaetzer, sind Sie bereit, dem Abgeordneten Reschke eine Frage zu beantworten?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Ja, Herr Präsident.

Otto Reschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Ministerin, sind Sie bereit zuzugeben, daß der Finanzminister Waigel, ohne dies über den Gesetzentwurf zu regeln, Ihnen auch den steuerrechtlichen Teil aus dem Referentenentwurf herausgestrichen hat?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Reschke, wir haben uns zwischen Bauministerium und Finanzministerium geeinigt, daß im vorliegenden Gesetzentwurf die Regelungen, die in der Koalition noch diskutiert werden müssen, zunächst nicht aufgenommen werden. Aber Sie haben ja schon angekündigt, Sie werden das beantragen. Also wird der Klärungsprozeß in schnellen Schritten voranschreiten. ({0}) Wir hoffen auf einen guten Ausgang. Ich unterstreiche noch einmal: Mobilisierung ist wichtig, aber Mobilisierung ist nur ein ganz kleiner Teil dessen, was jetzt an Neuausweisung und an Verkürzung von Planungs- und Genehmigungsverfahren notwendig ist. Dies tun wir im vorliegenden Gesetzentwurf in fünf Komplexen. Erster Komplex: Vorbereitung der konkreten Planung. Hier ist das Raumordnungsverfahren schon angesprochen worden. In den neuen Bundesländern kann bei wichtigen Vorhaben auf das Raumordnungsverfahren verzichtet werden, und zwar unter bestimmten Voraussetzungen. Wir greifen hier eine Regelung auf, die wir bereits im Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz vorgesehen haben. Generell aber gilt, daß das Raumordnungsverfahren nicht mehr wie früher etwa zweieinhalb Jahre, sondern in Zukunft maximal sechs Monate dauern und damit der Einstieg in die konkrete Planung deutlich beschleunigt wird. Das Aufstellungsverfahren von Bebauungsplänen wird weiter verkürzt. Selbst wenn es einem schwerfällt, diesen Weg zunächst mitzugehen, so stehe ich trotzdem dazu, daß in den neuen Bundesländern für eine Zeit von fünf Jahren ein Normenkontrollverfahren gegen einen Bebauungsplan ausgesetzt wird. Dieses ist bei der im Aufbau befindlichen Verwaltungsstruktur Ost in meinen Augen unverzichtbar. ({1}) - Wenn Sie hier die Bürgerrechte einklagen, dann frage ich Sie: Wann sind Bürgerrechte eigentlich besser geschützt: wenn schnell im Interesse der Bürger etwas passiert - ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Herren, einer nach dem anderen, und zwar so, daß es verständlich ist.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Was ist eher im Sinne der Bürger: wenn schnell Arbeitsplätze geschaffen werden, wenn schnell Wohnungsbau geschaffen wird ({0}) oder aber wenn einer, der in einem Teilbereich seine Interessen verletzt sieht, aufschiebende Wirkung erreichen kann, so daß überhaupt nichts passiert? Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist, daß überhaupt nichts passiert. Deswegen halte ich diese Entscheidung für vernünftig. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun soll der Zwischenruf in eine Zwischenfrage umgewandelt werden. Frau Ministerin, sind Sie bereit, sie zu beantworten?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Präsident, immer unter dem Zeitvorbehalt.

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Ministerin, wollen Sie das auch anderswo zur Maxime der Gesetze machen? Daß der Bürger eine Möglichkeit des Einspruchs haben sollte, ist gerade bei Liberalen eine durchaus verbreitete Ansicht, oder täusche ich mich?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Ich habe es eben schon gesagt, und ich bin dankbar, daß Sie mir die Gelegenheit geben, dieses noch einmal zu unterstreichen: Ich halte dieses ausschließlich unter der Voraussetzung, daß sich in den östlichen Bundesländern die Verwaltungsstruktur noch im Aufbau befindet und sich auch die Gerichtsverwaltungsstruktur noch im Aufbau befindet, für vertretbar. Deswegen ist es ganz klar: Wir werden es nirgendwo sonst einführen. ({0}) Zweiter Komplex. Die Genehmigung von Bauanträgen und das Verfahren bei Bauvoranfragen wird vereinfacht. Aber hier möchte ich sehr deutlich darauf hinweisen, daß es nach unserer Meinung auch darauf ankommt, daß das Verwaltungshandeln in sich verkürzt wird. Wir wünschen, daß zu allen Bauanträgen Ämterkonferenzen stattfinden, ({1}) damit Akten nicht von einer Tür zur nächsten getragen werden, sondern an einem Tag gemeinsam bearbeitet werden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Ministerin, ich muß Sie noch einmal unterbrechen. Der Abgeordnete Dr. Seifert würde gern eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Ja, bitte.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Ministerin, kommt Ihnen das, was Sie jetzt sagen, nicht als Widerspruch vor? Einerseits verlangen Sie, daß die Ämter im Osten wesentlich schneller arbeiten, andererseits sagen Sie, sie sind noch nicht aufgebaut. Wie soll denn dieses Problem Ihrer Ansicht nach gelöst werden? Oder gehen Sie davon aus, daß das, was sich im Westen seit Jahrzehnten bewährt hat, nämlich daß die Kollegen in den Ämtern ordentlich prüfen, im Osten nicht nötig ist? ({0})

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Seifert, ich möchte noch einmal unterstreichen, daß dieses Gesetz im Osten und im Westen gilt. Es wäre doch völlig verfehlt anzunehmen, daß im Westen alles fabelhaft funktioniert. Gerade hier ist der Unmut über lange Genehmigungsverfahren besonders groß. ({0}) Deswegen ist dieser Punkt für alle Teile unseres Landes besonders wichtig. Ein Widerspruch ist insofern überhaupt nicht gegeben. Die Tatsache, daß die Verwaltungen noch im Aufbau sind, führt auch dazu, daß die Kooperation zwischen den einzelnen Verwaltungsteilen besonders eng sein muß. Dieses kann man durch Ämterkonferenzen zeitlich noch weiter zusammenfassen. Dritter Komplex: die Abwägung zwischen der Notwendigkeit, Wohnungsbauland auszuweisen, und Naturschutz. Dies ist ein wichtiges Thema. Denn einerseits ist völlig klar, daß die Verbesserung des Bewußtseins von der Endlichkeit der Natur in den achtziger Jahren etwas ist, was auch für die Zukunft für uns alle von ungeheurer Wichtigkeit ist. Auf der anderen Seite führt z. B. der Vorrang des Naturschutzes dazu - hier will ich nur ein Beispiel nennen -, daß in einer Gemeinde statt wie früher 40 Bebauungspläne, die von den Bürgern auch für notwendig gehalten wurden, in einem Jahr nur noch 20 aufgestellt werden. Das passiert in vielen Fällen. Dabei geht es nicht um ein Naturschutzgebiet, Frau Schenk, sondern es geht schlicht um ein Stück Brache an einer Straße, das bebaut werden soll, damit Menschen Wohnungen bekommen. Es geht darum, daß dieser Abwägungsprozeß wieder so durchgeführt wird, daß auch die Wohnungssuchenden eine Chance haben. ({1}) Wir haben diese Abwägungen neu vorgenommen und neu formuliert. Die Naturschutz- und Umweltschutzbelange werden bei der Aufstellung des Bebauungsplans berücksichtigt. Bei der Aufstellung des Bebauungsplanes muß auch der Ausgleich im Rahmen des Bebauungsplanes im Innenbereich vorgesehen werden. ({2}) Aber auch hier stehe ich dazu, daß wir diesen Kompromiß für den Osten unseres Landes zunächst einmal aussetzen. Ein letzter und ganz wichtiger Punkt: Die Bürgerbeteiligung bleibt in allen Phasen in vollem Umfang erhalten. Auch dieses halte ich für wichtig. Es ist von allen darauf hingewiesen worden: Bürgerbeteiligung hat friedensstiftenden Wert, ({3}) und diesen friedensstiftenden Wert wollen wir auf keinen Fall aufs Spiel setzen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Dr. Schwaetzer, sind Sie bereit, eine weitere Frage des Abgeordneten Reschke zu beantworten?

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Präsident, es ist Ihre Entscheidung, wie lange Sie noch Geduld haben. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich werde signalisieren, wann ich anfange, die Zeit anzurechnen. Bis jetzt noch nicht. - Herr Abgeordneter Reschke!

Otto Reschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Ministerin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Sie nach meiner Auffassung keine Ahnung vom Baugesetzbuch haben, ({0}) weil Sie eben behauptet haben, Bauvorhaben auf einem Stück Brache an einer Straße oder in einem Industriegebiet oder in einem Stadtgebiet unterlägen einem Abwägungsprozeß. Brachland in einer Stadt liegt größtenteils - zu über 90 %, ich würde sagen: zu fast 99 % - nicht in einem Bebauungsplan, wird keinem Abwägungsprozeß unterworfen und wird nach § 34 des Bundesbaugesetzes bebaut.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Herr Reschke, ob Sie den Begriff Brache oder irgendeinen anderen nehmen, es geht schlicht und einfach - ({0}) - Ich korrigiere „Brache" und sage „unbebautes Grundstück". ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nachdem wir diese Einigkeit hergestellt haben, können wir in der Debatte fortfahren.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Minister:in)

Politiker ID: 11002120

Das war eine ungeheuer wichtige Frage; sie hat uns wirklich weitergebracht. Vierter Komplex. Es geht uns darum, die Gemeinden in ihren Möglichkeiten, Bauland auszuweisen und Bauland zu nutzen, zu stärken. Dazu werden wir die städtebauliche Entwicklungsmaßnahme in Dauerrecht übernehmen. Damit haben die Gemeinden ein flexibles Planungsinstrument in der Hand, um über eine schnelle Verfügbarmachung von Bauland selbst zu entscheiden. Wir werden das Vorkaufsrecht der Gemeinden in bestimmten Bereichen stärken. Wir haben die Möglichkeit vorgesehen, durch einfache Satzung Ortsränder abzurunden. Wir werden auch das Bauen im Außenbereich vorsichtig erleichtern. Bei all diesen Punkten geht es uns darum, die Rechte der Gemeinden zu stärken. Ich wünsche mir, daß die Gemeinden Planungsrecht auch wieder als Planungspflicht begreifen. ({0}) Fünfter Komplex. Bauen ist immer in Zusammenarbeit mit Privaten zu stärken. Deswegen wollen wir die privatrechtlichen Verträge stärker im Baurecht verankern. Häufig wird Bauland ausgewiesen, aber nicht erschlossen, weil den Gemeinden dazu das notwendige Geld fehlt. Hier werden wir die privatrechtlichen Möglichkeiten verstärken, so daß die Erschließungskosten zu 100 % vom Bauherrn oder vom Bauträger übernommen werden und danach die gesetzlich vorgeschriebenen Kosten umgelegt werden können. Wir haben auch den Vorhaben- und Erschließungsplan, einen privatrechtlichen Vertrag, der sich in den östlichen Bundesländern als besonders vorteilhaft ausgewirkt hat, jetzt auch für die Übernahme in das westliche Recht in allen Fällen vorgesehen, wo es um große Investitionsvorhaben und um Wohnungsbauvorhaben geht. In all diesen Bereichen, meine Damen und Herren, kommt es uns darauf an, daß schnell gehandelt werden kann, denn schnelles Handeln tut not. Ich wünsche mir, meine Damen und Herren, daß wir die Beratungen im Deutschen Bundestag zügig über die Bühne bringen. Investitionen können nicht warten. Das komplexe Geflecht der unterschiedlichen Investitionen - etwa im Baubereich und im Umweltschutzbereich -, die miteinander zusammenhängen, ist hier aufgezeigt worden. Jetzt geht es uns darum, daß wir hier möglichst rasch Erfolge vorweisen können, damit die Menschen den Staat begreifen, damit sie ihn auch weiterhin akzeptieren können. Natürlich sind wir offen für weitere Vorschläge im Gesetzgebungsverfahren. Ich wünsche mir, daß aus den Reihen der Abgeordneten sowohl der Koalition als auch der Opposition konstruktive Vorschläge eingebracht werden, damit wir zu noch besseren Ergebnissen kommen, als sie bisher schon vorgelegt worden sind. Meine Damen und Herren, ich wünsche diesem Gesetz gute und konstruktive Beratungen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Rolf Rau.

Rolf Rau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001781, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Gesetzesinitiative insbesondere zur Investitionserleichterung und dem Wohnbaulandgesetz wird ein Stück Weg beschritten, den wir christdemokratische Abgeordnete aus den jungen Ländern im Sommer in Erfurt begonnen und in Leipzig mit der Tagung des Fraktionsvorstands fortgesetzt haben. Dieser Weg fand seine Kontinuität in den Gesprächen mit dem Bundeskanzler und in den Arbeitsgruppen, die vom Kanzleramt mit den Ministerien und uns gebildet worden sind. Ich begrüße es, daß die Bundesregierung auf unsere Vorschläge unmittelbar eingegangen ist und in einem tatsächlich unbürokratischen Verfahren den erforderlichen Kabinettsbeschluß rasch gefaßt hat. Ich möchte unterstreichen, daß im Widerspruch zu manchen anderen Dingen die Beamten hier tatsächlich sehr schnell gearbeitet haben. ({0}) - Aber es ist gelungen; es liegt ja auf dem Tisch. Die Situation in den jungen Bundesländern erfordert, daß wir gemeinsam - da schließe ich Sie, meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen der SPD, mit ein - in den nächsten zwei bis drei Monaten zu umsetzbaren Ergebnissen insbesondere bei der Investitionserleichterung kommen. Ich begrüße es ausdrücklich, daß mit dem Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz für einen Schlüsselbereich der Aufbauarbeit in Ostdeutschland neue Wege beschritten werden können. Mit dem stereotypen Übertragen von rechtlichen Regelungen und von eingefahrener Verwaltungspraxis aus Westdeutschland kann die Situation in den neuen Ländern nur schwer bewältigt werden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, den die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung gemeinsam tragen, sind diejenigen Verfahrensvereinfachungen und Beschleunigungen aufgegriffen worden, die nach unseren bisherigen Erfahrungen für die jungen Bundesländer dringend erforderlich sind. Das schließt nicht aus, daß durch Praktiker vor Ort weitere Erkenntnisse in die Endfassung des Gesetzes einfließen sollten. Grundsätzlich wollen wir, wo immer es möglich ist, die Planungs- und Baugenehmigungsverfahren verkürzen. Lassen Sie mich dazu einige wichtige Maßnahmen nennen. Raumordnungsverfahren, die in den alten Bundesländern im Durchschnitt zweieinhalb Jahre dauern, sollen auf maximal sechs Monate begrenzt werden. Die neuen Länder sollten von Raumordnungsverfahren auch dann ganz absehen können - die Frau Ministerin sprach gerade davon -, wenn durch diese Verfahren bedeutsame Investitionen unangemessen verzögert würden. Bei allen Bebauungsplanungsverfahren kann in den neuen Ländern von der vorgezogenen Bürgerbeteiligung abgesehen werden. Es bleibt selbstverständlich bei der öffentlichen Auslegung des Planentwurfs; dort sind die Äußerungen der Bürger erwünscht. Das möchte ich unterstreichen. Im Ergebnis bringt das eine Verfahrensverkürzung von sechs bis acht Wochen. Ferner wollen wir die Fristen für die Beteiligung der Träger öffentlicher Belange um mehr als die Hälfte verkürzen, ebenso die Genehmigungsdauer von Satzungen. Hier stellt sich für mich die Frage nach einer weiteren Vereinfachung durch die Reduzierung auf tatsächlich berührte Träger öffentlicher Belange. In den neuen Länder hat sich der Vorhabens- und Erschließungsplan als wichtiges Instrument erwiesen. Auch hier wollen wir die Genehmigungsfristen weiter verkürzen. Wir wollen schon bei Planreife der Satzung Vorhaben zulassen sowie eine vereinfachte Änderung solcher Pläne ermöglichen, wenn sich im weiteren Vollzug ein entsprechendes Erfordernis herausstellt. Für die neuen Länder sind die vorgeschlagenen Änderungen zu §§ 34 und 35 des Baugesetzbuches von großer Bedeutung. Auch wenn es manchen Kollegen aus den alten Ländern schwerfällt: Die Sondersituation in Ostdeutschland läßt keine anderen Lösungswege zu. ({1}) - Kollege Kansy, Sie können es ja gern übernehmen. Wir stehen in der Siedlungsentwicklung insbesondere auf dem Lande noch in den 50er Jahren. Die Dörfer im Osten müssen wieder ihre Chance bekommen. Deshalb sind wir für die Erweiterung der Satzung nach § 34 speziell für den Wohnungsbau mit Öffnung nach außen. An ein Zersiedeln, wie das manchen in den alten Ländern „gelungen" ist, ist bei uns nicht gedacht. Es ist erfreulich, daß es der Bundesbauministerin und dem Bundesumweltminister gelungen ist, im Zusammenspiel von Bundesnaturschutzrecht einerseits und Bauleitplanung andererseits zu einer an der Realität orientierten Lösung zu kommen. Dieser Kompromiß gilt nicht nur für die alten, sondern auch für die neuen Länder. Ich denke dabei gerade an die Blockademöglichkeit, wenn z. B. das Land Brandenburg sein Landschaftspflegegesetz voll in Anwendung bringt. Ein Zubetonieren der Wohnlandschaft steht den Wohnungserbauern nicht im Sinn. ({2}) --Krause macht es ordentlich; das denke ich auch. Ein Zubetonieren der Wohnlandschaft steht den Wohnungserbauern und auch Günther Krause nicht im Sinn. Deshalb ist eine sinnvolle Beteiligung der Häuslebauer durch eigenes, überschaubares Zutun bei der Begrünung eine Lösungsmöglichkeit. Ich denke, man sollte Wert darauf legen, daß immer das Machbare angesprochen wird. Uns Christdemokraten liegt die Bewahrung der Schöpfung besonders am Herzen. Aber es muß ein Konsens zwischen ökologischen Wunschvorstellungen und den realen Erfordernissen und Möglichkeiten erreicht werden. ({3}) Wir halten auch Änderungen in der Verwaltungsgerichtsbarkeit für erforderlich. ({4}) In den alten Ländern hat man Mitte der 70er Jahre die sogenannte Normenkontrolle eingeführt, also die Möglichkeit, bei den Oberverwaltungsgerichten die Rechtsgültigkeit des Bebauungsplans überprüfen zu lassen. Das heißt, nach 25 Jahren des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland, also erst, nachdem Verwaltung und Verwaltungsrechtsprechung eingespielt waren, wurde eine Verschärfung eingeführt. Als weitere Sonderregelung für die Verwaltungsgerichtsbarkeit könnte ich mir insofern vorstellen, daß bei Nachbarschaftsklagen nicht eine aufschiebende Wirkung der Baugenehmigung, sondern der Sofortvollzug solcher Entscheidungen vorgesehen wird. ({5}) Natürlich muß dies alles durch Gerichte überprüfbar bleiben. Ich wünschte mir die Vergleichbarkeit der Aufbauphase der 50er und 60er Jahre auch für die neuen Bundesländer, zumindest für die angemessene Übergangsphase. Vielleicht finden dann auch die alten Länder an mancher Lösung wieder Geschmack und helfen mit, Deutschland zu entbürokratisieren. Gestatten Sie mir noch ein Wort an unsere Landesregierungen und Landesparlamente sowie deren Verwaltungen. Es wäre gut, wenn diese im Bereich des Landesrechts und auf der Verwaltungsebene dem vom Bund ausgehenden Anstoß zur Prüfung ihrer eigenen Bauordnungen und Genehmigungs- und Entscheidungsverfahren nachgehen würden. ({6}) Ich wünsche eine Entrümpelung von Baubestimmungen und eine möglichst unbürokratische Bearbeitung von Bauanträgen in allen Gemeinden und Landkreisen. Die Investoren müssen sich begleitet fühlen. Ich denke, das ist ein wichtiger Standortvorteil. Die Verwaltungshilfe aus den alten Bundesländern schätze ich hoch ein; sie war dringend erforderlich und hilfreich. Aber es ist auch wahr, daß manche in den alten Ländern eingefahrene Verwaltungsform für die neuen Länder kaum praktikabel ist. Wir im Osten sind nicht in der Situation einer Wohlstands- und Verteilungsgesellschaft. Mit dem von mir ins Leben gerufenen Burg Gnandsteiner Gesprächskreis unterstützen wir seit einem Jahr diese Idee und wollen darüber hinaus im neuen Jahr durch eine Strukturfördergesellschaft der Region Leipzig eine praktikable Lösung hinzugewinnen. Es ist erfreulich, daß der Regierungspräsident dies mit seiner Dienstleistungsbehörde voll unterstützen wird. Vielen Dank. ({7})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dieter Maaß.

Dieter Maaß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Den heutigen Gesetzentwurf haben Sie, Frau Bauministerin, bereits im Mai für den Frühherbst angekündigt. Nun stehen wir kurz vor dem Jahreswechsel 1992/93. Diese Verspätung könnte man entschuldigen, wenn die Zeit dazu genutzt worden wäre, ein gutes und vor allem nachhaltig und rasch wirkendes Gesetz zur Mobilisierung von Bauland einzubringen. Leider ist das nicht der Fall. CDU/CSU und F.D.P. legen einen Entwurf vor, der halbherzig ist und mit völlig überzogenen Hoffnungen befrachtet wird. ({0}) Die Bundesregierung hat dieses Gesetz für eilbedürftig erklärt. In der Tat: Es wäre höchste Zeit, daß die Koalition ihre seit Jahren währende Untätigkeit in der Baulandpolitik endlich beenden würde. ({1}) Das Motiv der Regierung für die Eilbedürftigkeit liegt jedoch ganz woanders. Sie wollen mit diesem Gesetz versuchen, über falsche politische Entscheidungen insbesondere in den neuen Ländern hinwegzutäuschen und Ihre Handlungsunfähigkeit in anderen zentralen Bereichen der Wohnungspolitik zu kaschieren. ({2}) Sie spielen zudem leichtfertig mit den Vorurteilen gegenüber der öffentlichen Verwaltung und der Beteiligung von betroffenen Bürgerinnen und Bürgern beim Planungsverfahren. Sicher läßt sich bei Planungen vieles im Hinblick auf eine Beschleunigung verbessern. Aber richtig ist doch wohl auch, daß Vorhaben durch die frühzeitige Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern und von Fachbehörden häufig besser und nicht schlechter geworden sind. Richtig ist auch, daß Konflikte, die frühzeitig offen angesprochen und ausgetragen werden, den viel längeren Weg durch Gerichtsinstanzen häufig vermeidbar gemacht haben. ({3}) Wir haben bereits klargemacht, daß die gesamten ursprünglich vorgesehenen steuerlichen Maßnahmen für die Mobilisierung von Bauland vom Finanzminister aus dem Gesetzentwurf herausgestrichen worden sind. Ohne diese Regelungen aber - das hat Ihnen auch der Deutsche Städtetag mit der erforderlichen Klarheit gesagt - wird eine wirksame Bereitstellung von Bauland nicht möglich sein. In den von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen wortgleich verabschiedeten Entwürfen steht in der allgemeinen Begründung der richtige Satz: Vorhandenes Bauland kommt angesichts niedriger Haltungskosten und zu erwartender Wertsteigerungen nicht ausreichend auf den Markt. Die gesetzlichen Konsequenzen hat Ihnen der Finanzminister gestrichen und damit den Gesetzentwurf im Kern entwertet. ({4}) Vor dem Hintergrund dieser falschen Entscheidung ist auch das von der Bauministerin immer wieder vorgetragene Lamento vom Naturschutz, der den Wohnungsbau verhindert, mehr als fragwürdig. Jede Baulandpolitik, die glaubwürdig sein will, muß in Anbetracht der unbestreitbar vorhandenen Belastungen von Umwelt und Natur nachweisen können, daß alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, vorhandene Baugrundstücke auch tatsächlich zu bebauen. ({5}) Wer es zuläßt, daß das Horten von baureifem Boden ein lohnendes Spekulationsgeschäft bleibt, sollte seine flammenden Reden gegen überzogenen Umweltschutz in der Tasche lassen. Der Steuerstreik von Dr. Waigel hat auch an einem anderen Punkt nachhaltige Auswirkungen. In dem Gesetzentwurf wird die sogenannte Umlegung im ungeplanten Innenbereich möglich gemacht. Das begrüßen wir. ({6}) Dadurch können in Gemeindeteilen, für die kein Bebauungsplan besteht, Grundstücke z. B. durch Grundstückstausch so zugeschnitten werden, daß die Bebauung möglich wird. Dazu ist die Mitwirkung der Grundstückseigentümer in Form der freiwilligen Umlegung häufig unerläßlich. Die Grundstücke gehen in der Regel zunächst an eine Gesamthand und werden später an die neuen Eigentümer übertragen. Bei beiden Vorgängen fällt zur Zeit Grunderwerbsteuer an, obwohl vom wirtschaftlichen Ergebnis her kein Grunderwerb stattfindet. Durch diese Besteuerung wird die Umlegung erheblich erschwert und in ihrer Wirksamkeit eingeschränkt. Sie geben den Kommunen in diesem Bereich einen neuen Paragraphen, verwehren ihnen aber den Hebel, um ihn in der Praxis wirksam werden zu lassen. ({7}) Ihre Baulandpolitik ist auch unter einem anderen Gesichtspunkt wenig glaubwürdig. Wer mehr Bauland für Mietwohnungen fordert, muß glaubhaft machen können, daß er im Wohnungsbestand alles tut, um die Vernichtung von Mietwohnraum zu verhindern. ({8}) Sie tun genau das Gegenteil; denn Sie unternehmen nichts gegen die grassierende Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen. ({9}) Damit werden Mieter aus Wohnungen verdrängt und wird die Wohnungsnachfrage weiter in die Höhe getrieben. Dieter Maaß ({10}) Die Partei der Bauministerin hat auf dem letzten F.D.P.-Parteitag den Treibsatz für die derzeit rollende Umwandlungswelle, nämlich die steuerliche Förderung des Wohnungskaufs aus dem Bestand, sogar ausdrücklich gefordert. Durch unsinnige Steuergeschenke, vor allem an Wohlhabende, steigern Sie den Bedarf an Mietwohnungen, fordern mehr Bauland und schieben dann die Schuld für die Wohnungsprobleme auf den Umweltschutz. ({11}) Sie wollen mit diesem Gesetz auch die Möglichkeit eröffnen, die Bürgerbeteiligung drastisch zu reduzieren. Die von Ihnen, Frau Schwaetzer, wiederholt geäußerte Behauptung, Bürgerbeteiligung werde nicht beschnitten, stimmt so nicht. Richtig ist, daß es sich um eine Kann-Bestimmung handelt und es im Ermessen der Kommune liegt, davon Gebrauch zu machen. ({12}) Hier zeigt sich, worum es Ihnen bei diesem Gesetz tatsächlich geht. Sie bieten den Kommunen eine Möglichkeit an, von der jeder weiß, daß sie in der Praxis kaum eine Rolle spielt. Welche Stadtregierung, welches Stadtparlament würde es im Interesse des politischen Klimas einer Stadt verantworten, die Bürgerbeteiligung auf zwei Wochen nach Planauslegung zu kürzen, also Wohnungsbau und Gewerbeprojekte größeren Ausmaßes über die Köpfe der Bürger hinweg durchzuziehen!? Sie verteilen Zuckerpillen und verkaufen Sie als die Wundermedizin. Es ist unschwer vorherzusagen, daß in nicht allzulanger Zeit die Bundesbauministerin durch die Lande reist und erklärt, daß doch die Kommunen schuld seien, wenn es nicht schneller geht. ({13}) Mit diesem Gesetzentwurf soll die städtebauliche Entwicklungsmaßnahme als Dauerrecht ins Baugesetzbuch übernommen werden. Das begrüßen wir ausdrücklich und unterstreichen die Wichtigkeit dieses Teils des Gesetzgebungsvorhabens ({14}) dies zuletzt natürlich auch deshalb, weil damit eine seit langem von uns Sozialdemokraten erhobene Forderung endlich erfüllt wird. Sicher muß man dieses Instrument handhabbarer machen. Fest steht, daß es für die Aufgaben, die vor uns liegen, unverzichtbar ist. Bedauerlich ist allerdings, daß die Bundesregierung durch die völlige Streichung der Städtebaufördermittel West die Finanzierung solcher städtebaulicher Entwicklungsmaßnahmen erschwert. ({15}) Meine Fraktion wird im Bauausschuß mithelfen, diesen halben Gesetzentwurf zu einem ganzen Gesetz zu machen. Auch vom Bundesrat ist zu hören, daß von dort zahlreiche Verbesserungsvorschläge kommen werden. ({16}) - Das können Sie noch einmal nachlesen, Herr Dr. Kansy. In dem vor uns liegenden Beratungsverfahren wird sich wieder erweisen, daß Gesetze durch die Mitwirkung von Sozialdemokraten besser werden. Voraussetzung ist jedoch, daß die Koalitionsfraktionen für unsere richtigen Argumente zugänglich sind. ({17})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort erteile ich nunmehr Professor Dr. Jürgen Starnick.

Prof. Dr. Jürgen Starnick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002219, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im September hatten Mitglieder der CDU- und der F.D.P.-Fraktion einen Antrag zur Beschleunigung von Zulassungs- und Genehmigungsverfahren im Bereich des Umweltschutzes eingebracht, mit dem wir zunächst erreichen wollten, Investitionshemmnisse in den neuen Bundesländern abzubauen. Aber nicht nur in den neuen Bundesländern, sondern auch in den alten Bundesländern zeigte sich, daß Genehmigungsverfahren mehr und mehr zu einer Bremse der wirtschaftlichen Entwicklung wurden. Wir wollten deshalb eine kritische Überprüfung der Sinnfälligkeit von Regelungen im Immissionsschutz-, Abfall- und Wasserrecht erreichen und waren der Auffassung, daß Beschleunigungen möglich sind, ohne die Anforderungen an Qualität von Behördenentscheidungen und Genehmigungen und ohne die Beteiligung der Öffentlichkeit in Frage zu stellen. Nunmehr hat die Bundesregierung mit dem vorgelegten Artikelgesetz über das Umweltrecht hinausgehend einen Strauß von Möglichkeiten aufgezeigt, wie dieser Intention gefolgt werden kann. Der Gesetzentwurf wird deshalb auch von den Koalitionsfraktionen voll getragen. Das gilt gleichermaßen für das Baurecht wie für das Umweltrecht. ({0}) In erster Wertung des vorgelegten Gesetzentwurfes möchte ich mich auf das Umweltrecht beschränken und nur einige Aspekte herausgreifen: Erstens. Es war mir schon immer ein Anliegen, die Zulassungs- und Genehmigungsverfahren für die verschiedenen Anlagen dadurch zu straffen, daß sie einheitlich dem Bundes-Immissionsschutzgesetz unterworfen werden. Dem ist die Bundesregierung mit diesem Gesetzentwurf jetzt nachgekommen. Es ist nur konsequent, wenn z. B. Abfallbehandlungsanlagen und auch -zwischenlager, welche vielfach Industrieanlagen vergleichbar sind, wie solche genehmigungsrechtlich behandelt werden. Folgerichtig ist auch, daß die Konzentrationswirkung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes auf Abwasseranlagen ausgedehnt wird und wasserrechtliche Auflagen der Genehmigung nachgeschaltet werden. Zweitens. Typgleiche Anlagen wurden bisher mehrfach geprüft. Jedes Land betrieb bislang für sich den Aufwand, jede genehmigungsrechtsbedürftige Anlage, auch wenn sie schon mehrfach errichtet worden ist, im Zuge des Genehmigungsverfahrens wieder neu zu beurteilen. Solche Wiederholungsarbeit sollte grundsätzlich vermieden werden. Es ist deshalb zu begrüßen, daß im Bundes-Immissionsschutzgesetz nunmehr die Rechtsgrundlage für den Erlaß von Verordnungen für Bauartzulassungen geschaffen worden ist. Da hierdurch vielfach ein Genehmigungsverfahren zu einem Anzeigeverfahren vereinfacht werden kann, sind erhebliche Zeitgewinne zu erwarten. ({1}) Drittens. Anläßlich der Einbringung unseres Antrags im September habe ich angeregt, für einfache Genehmigungsfälle das Institut eines Genehmigungsnotariats in der Person eines vereidigten Sachverständigen zu schaffen, der seine besondere Befähigung zu beweisen hätte und der, mit begrenzten Befugnissen ausgestattet, eine Vorprüfung der Genehmigungsunterlagen ({2}) - hören Sie zu, Herr Kollege! - vornehmen und bestimmte genehmigungsrelevante Eigenschaften einer Anlage testieren kann. Ich begrüße es deshalb, daß die Bundesregierung diesen Überlegungen mit der Absicht nahegekommen ist, durch eine Rechtsverordnung zu regeln, daß solche Sachverständige verstärkt in ein Anzeigeverfahren eingebunden werden können, wenn sie die geforderte Fachkunde und Zuverlässigkeit für diese Tätigkeit mitbringen. Dies würde zu einer erheblichen Arbeitsentlastung der generell unter Personalmangel leidenden Genehmigungsbehörden der Länder führen. ({3}) Viertens. Von seiten der Opposition - Herr Schütz war es -, aber auch von mir wurde damals darauf hingewiesen, daß viele Verzögerungen bereits im Vorfeld einer Antragstellung für eine Anlage entstehen. Ich hatte auf die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit zwischen Antragsteller und Genehmigungsbehörde im Vorfeld einer Antragstellung hingewiesen, und ich freue mich deshalb, aus dem Gesetzentwurf erkennen zu können, daß nunmehr dem Antragsverfahren ein Vorgespräch zwischen dem Träger eines Vorhabens und der Genehmigungsbehörde vorgeschaltet werden soll, in dem rechtzeitig geklärt werden kann, welche Antragsunterlagen bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung und welche später vorgelegt werden können sowie welcher Terminplan dazu verabredet wird. Der Gesetzentwurf enthält auch einige Änderungen der jetzigen Gesetzeslage, mit denen wir uns eingehender auseinandersetzen müssen. Aus den kritischen Anmerkungen der Opposition läßt sich bereits entnehmen, daß die Naturschutzverbände für die Änderung des Naturschutzgesetzes keine Begeisterung empfinden. ({4}) Gleichwohl muß zugegeben werden, daß das, was hier an Regelungen zur Harmonisierung von Bau- und Naturschutzrecht vorgeschlagen ist, konsequent ist. Daß naturschutzrechtliche Eingriffsregelungen bislang sowohl im Rahmen des Bebauungsplanverfahrens als auch im Rahmen der Baugenehmigung zu prüfen waren, entbehrte der inneren Logik. Faktisch hat diese Regelung dazu geführt, daß der Bewuchs von noch unbebautem Bauland mit vielerlei Tricks verhindert wurde. Sie führte auch dazu, daß sich die Gemeinden im Zuge eines Bebauungsplanverfahrens oft der Verantwortung und der Auseinandersetzung zu naturschutzrechtlichen Eingriffsregelungen und Ausgleichsmaßnahmen entzogen, das Problem verschoben und auf diejenigen abgewälzt haben, die eine Baugenehmigung erlangen wollten. Wenn deshalb nunmehr die Prüfung nur einmal, und zwar auf der Ebene des Bebauungsplanes mit der dabei gebotenen Abwägung erfolgen soll, kann ich dem nur zustimmen. Meine Damen und Herren, wir werden uns sicherlich auch kritisch mit diesen Bestimmungen auseinandersetzen, insbesondere mit der Frage der Freistellung der entsprechenden Eingriffsregelungen in den neuen Bundesländern. Aber trotz dieser sehr kritischen Aufmerksamkeit, mit der wir das Gesetz begleiten wollen, verdient der vorgelegte Gesetzentwurf insgesamt eine positive Würdigung. Wir als Parlamentarier werden gut daran tim, ihn zügig zu beraten und alsbald in Kraft zu setzen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort erteile ich nunmehr Herrn Abgeordneten Dietmar Schütz.

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben ja auch einen Antrag zur Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren vorgelegt, und dieser Antrag und das vorgelegte Artikelgesetz zur Erleichterung von Investitionen und zur verstärkten Ausweisung von Wohnbauland reagieren gemeinsam auf einen gemeinsamen Befund. Wir sehen alle, daß die Genehmigungsverfahren es zur Sicherung und Verbesserung des Standortes Deutschland ermöglichen müssen, getroffene Investitionsentscheidungen gleichermaßen schnell umzusetzen. Ich denke, wir sind uns darin einig, daß die Genehmigungsverfahren in toto zu lange dauern, und das wollen wir ändern. Der Konsens hinsichtlich dieses Befundes darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß bei der Frage nach den Ursachen zum Teil erhebliche Unterschiede zwischen den Vorstellungen der Regierungskoalition und denen meiner Fraktion bestehen. Bereits bei unserer vorigen Debatte zu diesem Thema habe ich darauf hingewiesen, daß die Dauer der Verfahren in den einzelnen Bundesländern aus sehr verschiedenen Gründen unterschiedlich ist. Wenn wir nun über Instrumente der Beschleunigung reden, müssen wir deshalb sorgfältig analysieren, warum die Verfahren so lange gedauert haben. Die Antwort der Bundesregierung auf die Frage nach den Gründen scheint klar zu sein: Nach den vorgelegten Instrumenten ihrer Novelle ist die Hauptursache für die Verzögerung die Tatsache, daß der Bürger im Planungsverfahren beteiligt ist. Wie ein roter Faden zieht sich durch den gesamten Artikelgesetzentwurf die Möglichkeit, Baugenehmigungen, Anlagegenehmigungen und Betriebsgenehmigungen auszusprechen, die Öffentlichkeitsbeteiligung nicht mehr benötigen. Dieser Ansatz führt mit Sicherheit in eine Sackgasse, er sagt jedoch viel über die obrigkeitsstaatliche Geisteshaltung aus, die diesem Entwurf zugrunde liegt. Der Bürger wird als Störfaktor begriffen, den es aus diesem Verfahren möglichst herauszuhalten gilt. Frau Bundesbauministerin Schwaetzer hat das vorhin noch einmal deutlich betont. Einen solchen obrigkeitsstaatlichen Lösungsversuch lehnen wir entschieden ab. ({0}) Für eine offene Gesellschaft, die maßgeblich von komplexen Interessenverflechtungen gekennzeichnet ist, kann das Ausblenden bestimmter Gruppen keine Lösung sein. Eine Analyse der Verfahrensverzögerungen bestätigt das. Bei näherer Betrachtung der Verzögerungen zeigt sich nämlich deutlich, daß es wesentlich mehr und länger andauernde Verzögerungsmomente gibt, die von den Antragstellern selbst oder auf Grund der Abläufe in den Behörden zu verantworten sind, als solche, die durch einsprechende Bürger hervorgerufen werden. Im Gegenteil, meine Damen und Herren, die frühzeitige Beteiligung des Bürgers hat für die Gesamtdauer des Verfahrens häufig konsens- und akzeptanzstiftende Bedeutung. Zudem wird durch die Einbeziehung seines Wissens, seiner Anregungen und seiner Interessen die Voraussetzung für eine sozial und umweltverträgliche Entscheidung getroffen. Schließlich, meine Kolleginnen und Kollegen - und das sollte in diesem Kontext ebenfalls gesagt werden -, ist das Offenhalten bzw. Schaffen von Mitwirkungsmöglichkeiten auch ein wichtiges politisches Moment. In Anbetracht der wachsenden Staatsverdrossenheit kann die Bürgerbeteiligung durchaus einen Beitrag zur Überwindung von Politikmüdigkeit leisten. ({1}) Unser Antrag geht deshalb davon aus, daß verfahrensbeschleunigende Instrumente dem Ziel dienen müssen, alle mit einem öffentlichen Infrastruktur- oder einem privaten Investitionsprojekt verbundenen Probleme möglichst frühzeitig zu erkennen, um sie anschließend schneller bewältigen zu können. Dies funktioniert nur, wenn alle Beteiligten von Anfang an die Möglichkeit haben, Vorstellungen und Kritik zu äußern. Eine Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren, bei der real vorhandene Konflikte durch Übergehen lediglich in nachfolgende Gerichtsverfahren verlagert werden, würde das Beschleunigungsziel verfehlen. Wenn wir am Anfang zumachen, bekommen wir nachher die Verzögerung. Das sollten Sie sehen, wenn Sie den Bürger hinauswerfen. ({2}) Diese Gefahr besteht jedoch bei Teilen der Regierungsvorlage, weil an vielen Stellen der Kläger vorher keine Gelegenheit zur Interessenwahrnehmung hat. Wir haben deshalb Vorschläge vorgelegt, die das Ziel haben, im Genehmigungsverfahren die schwierige Balance zwischen den wirtschaftlichen und Innovationsinteressen des Investors auf schnelle Umsetzung seiner Entscheidung, den Interessen der Gesellschaft an einer Verbesserung der Umweltqualität und den demokratischen Prinzipien einer angemessenen Beteiligung der betroffenen Öffentlichkeit herzustellen. Diese Vorschläge zielen einmal auf die inhaltliche und organisatorische Straffung von Planungs- und Genehmigungsverfahren selbst. Sie, Herr Starnick, haben das auch gerade angesprochen. Dazu gehört erstens eine frühzeitige Eingangsberatung mit den Antragstellern, um die Vollständigkeit der Unterlagen zu prüfen. Mehr als 25 % aller Anträge können nicht bearbeitet werden, weil die Unterlagen nicht vollständig eingereicht worden sind. Das müssen Sie sich einmal vorstellen! Das ist auch heute noch so. Dazu gehören zweitens frühzeitige Ämterkonferenzen aller Beteiligten, um die geforderten Prüfschritte, die erforderlichen Unterlagen sowie die notwendige Prüftiefe festzulegen und Doppelgutachten zu vermeiden. Drittens. Die Genehmigungsschritte sollten parallel und nicht nacheinander ablaufen. Wir haben in dem Anhörungsverfahren zum Verkehrswegebeschleunigungsgesetz gehört - das gilt für viele Großprojekte -, daß z. B. bei dem Großprojekt Hochgeschwindigkeitstrasse Köln-Frankfurt behördenintern dafür acht Jahre benötigt wurden, bevor diese Entscheidung überhaupt das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat. Der Bürger konnte da noch gar nichts verhindern. Das muß man sich vor Augen halten und wissen, an welchen Stellen wir ansetzen müssen. Viertens müssen wir sagen, daß eine ausreichende personelle und sachliche Ausstattung sowohl der Planungs- und Genehmigungsbehörden als auch der Verwaltungsgerichte genauso erforderlich ist, wie dies bei den Verwaltungsgerichten auch sein muß. Fünftens brauchen wir klare Fristsetzungen und Fristenkontrollen. Ich glaube, darüber sind wir uns einig. Diese Vorschläge enthalten zum Teil auch die Gesetzesnovellierung, die Sie zum § 10 des Bundesimmissionsschutzgesetzes vorgelegt haben. Unsere Vorschläge gehen teilweise an dieser Stelle darüber hinaus. Dieser Bereich sollte bei der Verfahrensgestaltung mit aufgenommen werden. Zu den Umweltgesetzen im einzelnen will ich nur exemplarisch einige kritische Anmerkungen machen, die zum Teil Zustimmung und zum Teil Ablehnung beinhalten. Das Hauptmerkmal der Vorschläge zum Bundesimmissionsschutzgesetz liegt darin, daß an mehr als zwei Dutzend Stellen statt des förmlichen Genehmigungsverfahrens mit öffentlicher Beteiligung ein schlichtes Genehmigungsverfahren ohne öffentliche Beteiligung gewählt wird. Zum Teil wird das Genehmigungserfordernis überhaupt weggenommen, oder es werden teilweise die Erfassungsgrenzen, die die Öffentlichkeitsbeteiligung begründen, um den Faktor zehn erhöht. Wir werden die Richtigkeit der Vorschläge im Einzelfall prüfen. Unser Maßstab für den Umfang der Öffentlichkeitsbeteiligung muß dabei der Grad der Auswirkung auf die Umwelt sein. Sie sehen aus unserem Antrag, daß wir ebenfalls Möglichkeiten der Bauartzulassung, des vorzeitigen Betriebsbeginns und auch die Ausdehnung der Konzentrationswirkung vorschlagen. Wir wollen sogar die wasserrechtliche Genehmigung konzentrieren. Ich glaube, Sie machen das in diesem Umfang nicht. Prinzipiell sind wir auch mit den Fristenvorschlägen einverstanden, wobei wir aber über die Folgen der Nichteinhaltung von Fristen reden müssen. Der Gesetzentwurf sieht hierzu überhaupt nichts vor. Im Abfallgesetz sollen in Zukunft die meisten Verfahren für Abfallentsorgungsanlagen, Abfallbehandlungs- und -sortieranlagen allein nach dem Verfahren des Bundesimmissionsschutzgesetzes geprüft werden. Wir sind damit einverstanden, wenn die Prüftiefe und die Öffentlichkeitsbeteiligung genauso sind wie nach dem Planfeststellungsverfahren. Sie haben das zugesagt. Wir werden das an den einzelnen Stellen prüfen müssen. Massive Bedenken, meine Damen und Herren, haben wir aber bei der Lösung des vermeintlichen Konflikts zwischen Baurecht und Naturschutzrecht. Ich rede hier als Umweltschützer und nicht als Baurechtler. Ich bin sehr froh gewesen, daß meine Kollegen im Baurecht das genauso gesehen haben. ({3}) - Herr Kansy, wir reden hier nicht gespalten, sondern ich habe gerade gesagt, daß meine Kollegen Baurechtler das genauso gesehen haben. Und ich bin froh darüber, daß sie es getan haben. Wenn wir uns darauf einigen können, die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung nur noch im Rahmen des Planverfahrens zu prüfen und die Baugenehmigung auf Grund des geprüften Bebauungsplans zu erteilen, so ist viel Konfliktstoff beseitigt. Auch wir wollen das, wir wollen die Eingriffsregelung im Rahmen des Planverfahrens prüfen. Es ist aber nicht vertretbar, daß innerhalb bebauter Ortsteile auf die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung verzichtet wird, weil dort vorgeblich Ausgleich oder Ersatz nicht möglich seien. Aber der bebaute Ortsteil hat vielleicht Parkflächen, große Gärten und Spielplätze, die ökologisch hohe Schutzfunktion haben, und muß deshalb dem Naturschutzrecht unterliegen. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Lieber Dr. Kansy, es ist Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, daß im Moment der Abgeordnete Schütz das Wort hat.

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vollkommen unverständlich ist, meine Damen und Herren, daß in den neuen Ländern auch der Außenbereich fünf Jahre lang ohne Rücksicht auf naturschutzrechtliche Belange planerisch zur Verfügung steht. Dies öffnet Tür und Tor für die Zerstörung weiterer ökologisch wertvoller Flächen. Gerade dort, wo 40 Jahre lang der Aspekt der Bürgerbeteiligung auch aus ökologischen Gründen und der ökologisch abgestimmten Planung keine Rolle spielte, kann die Schutzfunktion des Bundesnaturschutzgesetzes nicht noch auf weitere fünf Jahre ausgehebelt werden. Das Gegenteil sollte eingeübt werden. Wir brauchen eine Beteiligung interessierter Bürger. Wir brauchen keine Beschleunigung im Rückschritt für den Naturschutz. Der Artikelgesetzentwurf, meine Damen und Herren, hat zumindest in den Umweltgesetzen viele Vorschläge der Umweltministerkonferenz, die wir mittragen, aufgenommen und umgesetzt. Wir werden das Gesamtpaket daran messen, ob auch die Feststellung der UMK gilt, daß jedes überbeschleunigt durchgeführte Genehmigungsverfahren - ich füge hinzu, jedes an der Öffentlichkeit vorbei durchgeführte Genehmigungsverfahren - das Risiko erhöht, im späteren Rechtsstreit wegen materieller und verfahrensrechtlicher Fehler aufgehoben zu werden. Wir werden die vorgelegten Rechtsinstrumente Punkt für Punkt in den Ausschußberatungen durchleuchten, mit der Absicht, wirklich zu beschleunigen, aber zu keiner Zeit ein Umweltdumping im Verfahren und in den materiellen Anforderungen zuzulassen. Das wird unser Maßstab sein. Ich danke Ihnen. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat nun der Abgeordnete Peter Paziorek.

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach den Ausführungen von Herrn Schütz halte ich es doch für notwendig, einiges zu den grundsätzlichen Ausführungen, die er gemacht hat, aus der Sicht der Regierungsfraktionen zu sagen. Meine Damen und Herren, auch nach unserer Ansicht ist jede industrielle Tätigkeit mit Umweltbelastung verbunden. Es ist daher Aufgabe unserer Rechtsordnung, so weit wie möglich unser wirtschaftliches Handeln auf den Schutz der Umwelt abzustellen. Zweifellos ist in unserem Lande bei allen Unternehmen und Betrieben die Einsicht in die Notwendigkeit eines konsequenten Umweltschutzes gestiegen. Niemand wird heutzutage den Satz bestreiten wollen, der da lautet: Wir haben die Umwelt nicht geerbt, sondern wir haben sie nur von unseren Kindern geliehen. ({0}) Es gibt somit eine moralisch-ethische Notwendigkeit zum Umweltschutz, es gibt auch eine ökonomische Notwendigkeit für den Umweltschutz. Aber es gibt keine Notwendigkeit zu einem urflexiblen, bürokratischen Umweltgenehmigungsverfahren. Umweltpolitik muß so angelegt sein, daß sie Anreize zur Vermeidung von Umweltbelastung abgibt. Jeder, der auf mehr Umweltschutz setzt, hat die volle Unterstützung des Staates verdient. Er hat es aber nicht verdient, in ein bürokratisches Genehmigungsverfahrens zu geraten. Vielfach wirft dieses Genehmigungsverfahren bei den Antragstellern die Frage auf, ob es sich überhaupt lohne, sich in ein solch hindernisreiches Verfahren zu begeben. Es ist eine Tatsache, daß nur noch in einem einzigen anderen westeuropäischen Land die durchschnittlichen Genehmigungszeiten länger sind als die in unserem Land. Dadurch wird deutlich, daß hier bei uns in Deutschland umweltverbessernde Investitionen nicht so schnell realisiert werden können, wie dies in anderen europäischen Staaten der Fall ist. Dadurch setzt sich unser Land im internationalen wirtschaftlichen Wettbewrb hausgemachten Schwierigkeiten aus. Ich meine, wir müssen den Ehrgeiz entwickeln, von diesem zweifelhaften Ruhm des Platzes 2 im Sinne einer Verhinderungssilbermedaille herunterzukommen. Lange Planungszeiten schaden nicht nur den Finnen, sondern letztlich der gesamten Volkswirtschaft und damit allen Bürgern. Natürlich, Herr Schütz, Sie haben recht, und auch ich will nicht in Schwarzweiß malen. Es stimmt, daß die langen Genehmigungszeiten oft auch an den unvollständigen Antragsunterlagen liegen, die von den Firmen den Genehmigungsbehörden vorgelegt werden. Die Unvollständigkeit hängt nicht immer mit dem unübersichtlichen und sehr differenzierten Umweltrecht zusammen, sondern auch mit Managementfehlern im Unternehmensbereich. Diese Managementfehler können natürlich nicht der Politik angelastet werden. Aber sagen wir es doch ganz deutlich: Wir haben es als Gesetz- und Verordnungsgeber unserer Wirtschaft mit unserem Umweltgenehmigungsrecht - darauf stelle ich ab - nicht leicht gemacht. Wir haben es in den letzten Jahren zugelassen, daß die Antragsverfahren für den Antragsteller immer weniger transparent und immer weniger kalkulierbar geworden sind. Wenn es uns nicht gelingt, diese Unsicherheit im Genehmigungsverfahren zurückzuführen, werden wir den Wirtschaftsstandort Bundesrepublik Deutschland weiter schwächen. Dies kann und darf nicht das Ergebnis unserer Politik sein. Wer den innovativen Unternehmer will, der muß auch den rechtlichen Rahmen zur Verfügung stellen, daß zugunsten des Umweltschutzes Innovationen in Deutschland schnell und zügig eingeführt werden können. Und genau darum geht es den Regierungsfraktionen bei dem vorliegenden Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung beraten. Die vorgesehenen Regelungen zum Abbau von Investitionshemmnissen im Umweltrecht beziehen sich auf das Bundesnaturschutzgesetz, das Abfallgesetz, das Bundesimmissionsschutzgesetz und auf einige andere umweltrechtliche Vorschriften. Mit der Vereinfachung und Beschleunigung immissionsschutzrechtlicher Genehmigungen werden die beiden Zielsetzungen verfolgt, mit denen eine verbreitete Kritik an der Dauer und Kompliziertheit umweltrechtlicher Zulassungsverfahren aufgenommen wird. Befragungen Betroffener haben ergeben, daß die Dauer der Verfahren oftmals als unangemessen lang empfunden werden. Die zuständigen Landesbehörden bezeichnen den bürokratischen Aufwand, der mit der Durchführung der Industriezulassung verbunden ist, zum Teil selber als oft unangemessen hoch. So ist auch nicht einzusehen, daß z. B. eine mobile Bodenwaschanlage, die an ihrem bisherigen Standort nach ihrem umweltverbessernden Einsatz abgebaut wird, um in einem anderen Bundesland wieder aufgebaut zu werden, dort wieder voll und ganz das gesamte immissionsschutzrechtliche Genehmigungsverfahren durchlaufen muß, ({1}) obwohl die Standards dieser Anlage bekannt sind und sich durch die Veränderung des Standorts auch nicht verändert haben können. Ich freue mich auch über die Zustimmung aus ihren Reihen. Hierdurch wird überzeugend belegt, daß mit unserem Genehmigungsverfahren irgend etwas nicht stimmen kann. Weil die Vereinfachung des Zulassungsverfahrens in der gesamten Bundesrepublik dringend erforderlich ist, sollten die meisten Vorschriften dieses Investitionserleichterungsgesetzes nicht nur in den neuen Bundesländern, sondern ebenfalls in den alten Ländern gelten. ({2}) Ich betone, daß es nicht unsere Absicht ist, von den materiellen Vorschriften, also von den Umweltschutzstandards, irgendwelche Abstriche vorzunehmen. Es darf auch kein sogenanntes Zwei-KlassenNiveau im Bereich der Umweltschutzstandards zwischen den alten und den neuen Bundesländern geben. Auch dies wird mit der Gesetzesnovelle nicht angestrebt. Wir wollen mit dieser Novelle vielmehr die Zulassungsverfahren für die Abfallentsorgungsanlagen verbessern, ein vereinfachtes Verfahren bei Anlagenänderungen nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz einführen, den vorzeitigen Beginn der Inbetriebnahme neuer Anlagen erleichtern und Fristen zwingend vorschreiben, innerhalb deren die Genehmigungsbehörden entschieden haben müssen. Meine Damen und Herren, mit Freude konnten wir der Presse entnehmen, daß auch das Bundesland Nordrhein-Westfalen eine einfachere Umweltgesetzgebung anstrebt. Natürlich bin ich etwas erstaunt darüber, daß laut dieser Pressemeldungen die Vorschläge des nordrhein-westfälischen Umweltministers erst Anfang 1993 erfolgen sollen. Ich appelliere dringend an die nordrhein-westfälische Landesregie11182 rung, ihre Vorschläge rechtzeitig vor den Beratungen in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages, also in den ersten Januartagen, auf den Beratungstisch zu legen. ({3}) - Ich spreche das so deutlich an, Herr Lennartz, weil ich noch gut in Erinnerung habe, was Mitte dieses Jahres - Sie waren bei den damaligen Erörterungen im Bundestag nicht dabei - im Bundesrat mit dem Antrag des Freistaats Bayern auf Beschleunigung des Genehmigungsverfahrens geschehen ist. Von fünf konkreten Anliegen, die größtenteils nun in diesen Gesetzentwurf aufgenommen worden sind, sind in den Bundesratsausschüssen von Nordrhein-Westfalen letztlich nur zwei unterstützt worden. Ich weiß, daß wir auf Grund des föderalen Staatsaufbaus in der Bundesrepublik Deutschland in all den Fragen, die wir heute morgen erörtern, eine weitgehend einvernehmliche Lösung zwischen Bund und Ländern anstreben sollten. Wer aber eine Neuorientierung im Bereich des Umweltrechts will, wie es auch von Nordrhein-Westfalen signalisiert worden ist, sollte jetzt seine Absichten klar und deutlich mitteilen, damit wir frühzeitig auf diese Überlegungen eingehen können. Verzögerungen im Beratungsablauf können wir uns bei dem brennenden Problem, das mit diesem Gesetzentwurf sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern gelöst werden soll, nicht leisten. Meine Damen und Herren, wir stehen vor einer völligen Neuorientierung im Umweltverfahrensrecht. Notwendig ist die Abkehr von der Überregulierung hin zu einer stärkeren Betonung einer Umweltpolitik durch Marktanreize. Wir müssen deutlich machen, daß wir in der ökosozialen Marktwirtschaft umweltorientiertes Verhalten fördern und belohnen wollen. Dies ist nur glaubwürdig, wenn wir mit dem Immissionsschutzrecht eine entscheidende Rechtsmaterie des Umweltrechts wesentlich vereinfachen. Insgesamt werden die angestrebten Rechtsänderungen zusammen mit anderen Verfahrenserleichterungen im allgemeinen zu Verfahrensverkürzungen bis zu einem Drittel der bisherigen Verfahrensdauer führen. Damit signalisieren wir unserer Wirtschaft, daß der Staat ein Interesse daran hat, Investitionen zur Verbesserung unserer Umwelt zu fördern, statt sie zu behindern. Wir setzen hiermit sowohl ein umweltpolitisches als auch ein wirtschaftspolitisches Zeichen, das wir gemeinsam in den Ausschußberatungen schnellstens über die Hürden bringen sollten. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Klaus Lennartz.

Klaus Lennartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001319, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist wohl kein Zufall, daß aus der großen Debatte über die Entschlackung der Verwaltungsverfahren ausgerechnet der Umweltschutz übriggeblieben ist, den Bundesregierung und Koalition nunmehr als Hauptgrund langwieriger Genehmigungsverfahren entdeckt haben. Steuerrecht, Rentenrecht und alle anderen überaus komplizierten Regelungsbereiche bleiben außen vor. Mit großen Krokodilstränen beweinen die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag, wie lange hierzulande doch die Genehmigungsverfahren auf Grund hoher Umweltschutzanforderungen dauern. Im Baurecht, im Verkehrsrecht, im Immissionsschutz und bei abfallrechtlichen Bestimmungen sollen unter dem Vorwand, bürokratische Hemmnisse beseitigen zu wollen, der Schutz von Natur und Umwelt faktisch heruntergeschraubt und die Bürgerinnen und Bürger zum Teil überhaupt nicht mehr beteiligt werden. Doch der wahre Grund für alles Beschleunigen, Verkürzen und Vereinfachen ist nicht die Gefahr, der Wirtschaftsstandort Deutschland könnte im internationalen Wettbewerb wegen zu langer Genehmigungsverfahren leiden und der Aufschwung Ost könnte behindert werden. Nein, das ist nicht der Grund. Der wahre Grund für Ihre gut getarnte Operation an Bürgerrechten und Naturschutzmaßnahmen sind Ihre selbstgeschaffenen, gigantischen Probleme mit Abfallbergen und Abfallbeseitigungsanlagen. ({0}) Denn während Sie nichts tun, um Abfall zu vermeiden, sind kaum noch Bürger bereit, Deponien oder Verwertungsanlagen vor ihrer Haustür zu dulden. Genau diese Menschen sollen sich nach Ihren Plänen demnächst nicht mehr in Planfeststellungsverfahren äußern können. Das geht nicht, meine Damen und Herren! Hier liegt der Hund begraben, das ist Ihre wahre Motivation. Alles andere ist vorgeschobenes Getue. Es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, daß sich viele Genehmigungsverfahren schon auf Grund des heute geltenden Rechtes verkürzen lassen. Wir haben dazu gerade eine Menge konstruktiver Vorschläge auf den Tisch gelegt. Es gibt keinen Zweifel daran, daß Genehmigungsverfahren für Straßen, Industrieanlagen und Deponien schneller über die Bühne gehen können, als das heute der Fall ist. ({1}) Das ist aber möglich, ohne dabei Bürgerrechte einzuschränken. Lieber Herr Kollege Rüttgers, gerade Sie als ehemaliger Beigeordneter der Stadt Pulheim in unserem heimatlichen Erftkreis müssen doch wissen, wie schnell und unbürokratisch wir arbeiten; denn wir schauen nicht danach, was nicht geht, sondern danach, was geht. Der gemeinsame Wille muß vorhanden sein; dann funktioniert das. ({2}) Sie brauchen keine Bürgerrechte auszuschalten, Sie brauchen nicht auf Ausgleichsmaßnahmen im Rahmen des Naturschutzes zu verzichten, und Sie brauchen keine schnelle Zwangsplanung. ({3}) Meine Damen und Herren, es steht doch völlig außer Frage. ({4}) - Herr Dr. Rüttgers, ich gehe davon aus, daß das, was Sie formuliert haben, ein reiner verbaler Schlenker, aber doch nicht vom Inhalt getragen war. Auf Grund der Gegebenheiten, die bei uns vorliegen, müssen Sie anders reden. Das aber ist eine parteipolitische Demagogie und sonst überhaupt nichts. ({5}) Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik Deutschland ist heute eine der modernsten Industrienationen der Welt mit modernsten Produktionsanlagen auf einem dichten Verkehrsnetz und auf dicht besiedeltem Gebiet. Unter den schwierigen Bedingungen eines kleinen Landes, in dem im Vergleich zu den USA vieles auf kleinem Raum geregelt werden muß, haben wir es mit den bestehenden Gesetzen so weit gebracht. Trotz der bestehenden Gesetze und trotz der langwierigen Verfahren haben wir es so weit gebracht. Oder - so muß ich fragen, meine Damen und Herren - haben wir es gerade wegen dieser Verfahren so weit gebracht? Das alte Vorurteil, wir könnten uns hohe Umweltstandards nur leisten, weil wir reich sind, muß revidiert werden: Wir sind reich, weil wir uns hohe Umweltstandards leisten. ({6}) Meine Damen und Herren, demokratische Planungsprozesse sind die Grundlage einer modernen Industriegesellschaft. Ohne demokratische und langwierige Planungsprozesse ist keine moderne Industriegesellschaft möglich. Wer nur schneller planen und Verfahren verkürzen will, ohne sich nur mit organisatorischen Verbesserungen zufriedenzugeben, muß notwendigerweise auch dieses Stück Demokratie aufgeben. Wer wesentlich schneller genehmigen will, als es heute möglich ist, opfert Demokratie. Wer das wirklich will, soll das offen im Plenum bekennen und sagen. ({7}) Das Extrem der schnellen Planfeststellung hat der rumänische Diktator Ceaucescu vorgeführt, als er, mit einer Handbewegung verfügend, ganze Landstriche entvölkern ließ, ({8}) ein Extrem, dem nachzueifern ich niemandem in diesem Raume unterstelle. ({9})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Rüttgers? - Bitte.

Dr. Jürgen Rüttgers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001899, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Lennartz, ich möchte Ihnen Gelegenheit geben, diesen Vergleich zurückzunehmen.

Klaus Lennartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001319, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, es ist immer sehr sinnvoll, wenn man bei einem Satz, der angefangen hat, auch den Nachfolgesatz noch hört. Ich darf bitten, daß Sie im Protokoll genau nachschauen. Ich habe formuliert: Das Extrem der schnellen Planfeststellung hat der rumänische Diktator Ceaucescu vorgeführt, als er, mit einer Handbewegung verfügend, ganze Landstriche entvölkern ließ - wie schon gesagt, ein Extrem, dem nachzueifern ich niemandem in diesem Hause unterstelle. So habe ich das formuliert, und demzufolge habe ich nichts zurückzunehmen. ({0}) Wenn Sie sich getroffen fühlen, Herr Kollege, muß ich Sie fragen: Woran liegt das, an Ihnen oder an mir? ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Lennartz, wir hatten hier im Hause einmal die Vereinbarung - das hat hier im Hause besonders einer meiner Vorgänger, der Kollege Westphal, eingeführt -, auch bei noch so rhetorisch geschickten Umschreibungen Vergleiche mit diktatorischen Regimes der Kommunisten und der Nationalsozialisten zu unterlassen. Ich glaube, darauf hat der Kollege Rüttgers eben angespielt. ({0})

Klaus Lennartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001319, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich nehme Ihre Erläuterungen dankend zur Kenntnis. Meine Damen und Herren, aber trotzdem kann ich Ihnen den Vorwurf mit den Verfahrenskürzungen nicht ersparen. ({0}) Ein bißchen wollen Sie sich in Zukunft schon mit den Leuten weniger herumschlagen als bisher, wenn Sie z. B. eine Entsorgungsanlage für Altreifen, eine Aufbereitungsanlage für Sondermüll oder ein Kunststoffverwertungszentrum für das duale System errichten wollen. Dies ist Ihre Schuld. ({1}) - Ach, Herr Kollege, wissen Sie: Bevor Sie mich blaß machen können, müssen schon andere Argumente kommen. ({2}) Aber bei Ihnen kommen keine Argumente. Bei Ihnen kommt nur heiße Luft; aber das ist Ihr Problem. ({3}) Meine Damen und Herren, da Sie sich überhaupt nicht vorstellen können, Abfallmengen zu reduzieren, wachsen Ihnen die Berge mit all dem, was Sie so schön separat sammeln, demnächst über den Kopf. Die Menschen unseres Landes, die Sie allesamt zu ehrenamtlichen Müllmännern und Müllfrauen ernannt haben, sind zu Recht stinksauer. Sie müssen nämlich nicht nur ohne Lohn ihren Abfall sortieren, nein, vorher haben sie an der Ladenkasse für diesen Abfall auch noch Geld gezahlt. Und an Abfallbeseitigungsgebühren für die Städte fällt mindestens genausoviel an wie in den Vorjahren, wenn nicht sogar noch mehr. Das schafft Verdruß. Diesen Verdruß werden Sie zu spüren bekommen, wenn dieselben Menschen, die Sie so verdrossen haben, nun auch noch all die Deponien und Kunststoffverwertungs- oder Zwischenlagerzentren erdulden müssen. So geht das, wenn man Politik nicht bis zum Ende denkt. Wir bleiben dabei: Für eine Beschleunigung der ökologischen Krise sind wir nicht zu haben, wohl aber für kürzere Verwaltungswege, dies selbstverständlich auch bei Genehmigungsverfahren. Herr Töpfer hat längst die Segel gestrichen und läßt sehenden Auges ein Gesetz an sich vorüberziehen, das doch tatsächlich in den neuen Bundesländern die Ökologie für fünf Jahre außer Kraft treten läßt. Es wird Jahre dauern, um die ökologischen Fehler aus diesen fünf Jahren zu heilen. Der Herr Kollege Töpfer spricht so oft von der SED-Erblast. - Herr Präsident, dies darf man doch formulieren. - Nur, hier wird eine neue Erblast geschaffen, und zwar durch den Bundesminister Töpfer. Meine Damen und Herren, für Wohnungsbauförderung sind wir zu haben, wenn Sie das entsprechende Bauland preiswerter machen bzw. zusätzliche Anreize für Wohnungsbauinvestoren schaffen wollen. Aber wollen Sie denn wirklich Wohnungsbauförderung, indem Sie Ausgleichsmaßnahmen für Eingriffe in Natur und Landschaft dort streichen, wo sie nötig sind? Meinen Sie denn wirklich, es findet sich ein Investor für Sozial- und Wohnungsbau deshalb, weil er keine Ausgleichsmaßnahmen mehr schaffen muß? Wollen Sie denn wirklich, daß die Menschen in unserem Land nicht mehr beteiligt werden, sich nicht mehr äußern können, wenn vor ihrer Haustür Autowrackanlagen oder neue Deponien errichtet werden? Das haben wir doch aus den Fehlern der 60er Jahre in den alten Ländern schmerzhaft am eigenen Leibe erfahren müssen. Wenn Sie so Wachstum schaffen wollen, machen Sie das nur zu Lasten der nächsten Generationen. Es ist ein ökonomisches Gebot, die Ökologie nicht außer acht zu lassen. Darum geht es. Ist es nicht besser und ehrlicher, diese Konflikte in der Auseinandersetzung mit den Bürgerinnen und Bürgern durchzustehen und auszutragen sowie zu argumentieren und öffentlich für die Notwendigkeit einer solchen Anlage zu werben, statt den Menschen per Gesetzestext die Mitwirkungsrechte zu nehmen? Welches fatale Politikerverständnis oder Politikverständnis verbirgt sich dahinter? Demokratie muß man wagen. Für seine Ideen muß man werben, auch kämpfen. Oder wird den Bürgerinnen und Bürgern im Lande diese Koalition langsam lästig? Für uns gilt jedenfalls die Devise: Schneller planen - ja, weniger Demokratie - nein! ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Bertram Wieczorek.

Dr. Bertram Wieczorek (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich zu meinen eigentlichen Ausführungen komme, erlaube ich mir, Herr Kollege Lennartz, nachdem ich Ihren Ausführungen sehr aufmerksam gefolgt bin, als Arzt einmal eine Bemerkung: Wenn Sie einem Kollegen im Bundestag die Exspiration von heißer Luft unterstellen, dann kann er eigentlich nur Fieber haben, und Sie müßten ihm sofort helfen. Ansonsten kommt da nur warme Luft. ({0}) Meine Damen und Herren, der von den Koalitionsfraktionen eingebrachte Entwurf eines Artikelgesetzes greift ein Anliegen auf - ich möchte ausdrücklich den Antrag der SPD hier mit einbeziehen -, das in der Bundesrepublik und auch hier im Deutschen Bundestag von einer breiten Mehrheit unterstützt wird. Viele Genehmigungsverfahren sind zu schwerfällig und dauern zu lange. Dies verursacht nicht nur hohe Kosten, sondern hemmt Investitionen in fortschrittliche, vor allem umweltverträglichere Neuanlagen. Umweltbelastende Altanlagen werden weiter betrieben. Eine solche Entwicklung ist inakzeptabel. Sie liegt nicht im Interesse einer wirksamen Verbesserung der Umwelt und vor allem des Schutzes unserer Mitbürger. Eine derartige ökologische Selbstblockade muß vermieden werden. Mir will nicht einleuchten, daß eine Anlagenänderung zur Verbesserung der Umweltsituation - ich denke hier einmal an den Einbau von Rauchgasreinigungsanlagen - das gleiche aufwendige Zulassungsverfahren durchlaufen muß wie ein Vorhaben, das sich absehbar negativ auf die Umwelt auswirkt. Ferner ist es notwendig, daß Anlagen, die serienmäßig hergestellt werden, nicht immer wieder das gleiche Genehmigungsverfahren durchlaufen müssen. Das ist hier vielfach schon gesagt worden. Eines will ich an dieser Stelle jedoch deutlich hervorheben: Die Umweltverträglichkeit von Industrieansiedlungen wird nach wie vor eingehend geprüft und gesichert. Von den hohen Umweltstandards und den Beteiligungsrechten der Bürger in Deutschland werden keine Abstriche gemacht. Ganz im Gegenteil: Der Standortvorteil der Bundesrepublik Deutschland ist auch auf das hohe UmweltschutzParl. Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek niveau zurückzuführen, das in anderen Staaten innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft erst noch erreicht werden muß. Es wäre ein fataler Irrtum, hieran etwas zu ändern. Abstriche am materiellen Umweltrecht kommen insbesondere wegen der prekären Umweltsituation in den neuen Bundesländern nicht in Frage. Herr Kollege Paziorek hat entsprechende Ausführungen dazu gemacht. Die neuen Länder haben nach langen Jahren mit zum Teil katastrophalen Umweltbeeinträchtigungen geradezu ein Anrecht auf strikte Verwirklichung eines hohen Umweltstandards. Wenn ich mir die ersten gebauten Kläranlagen in den neuen Bundesländern anschaue - um hier einmal ein Beispiel zu nennen -, so muß ich Ihnen sagen, daß sie bereits jetzt die EG-Abwasserrichtlinien mit Reinigungsleistungen von zum Teil über 98 % einhalten. Gerade in diesem Bereich werden wir keine Abstriche tätigen. Wir werden auch sehr gespannt - ich sage das einmal als Ostdeutscher - darauf achten, wie die alten Bundesländer mit weniger Fördermitteln - wir haben ohnehin sehr wenig - zu solchen Ergebnissen kommen. ({1}) Indem wir durch eine entsprechende Ausgestaltung von Genehmigungsverfahren die schnelle Modernisierung der Wirtschaft in den neuen Ländern ermöglichen, tragen wir auch wesentlich zur Entlastung der Umwelt in den neuen Ländern bei. Der umweltrechtliche Teil des vorliegenden Gesetzes hat seine Schwerpunkte in Vorschriften über das Genehmigungsverfahren nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz, dem Abfallgesetz und dem Bundesnaturschutzgesetz. Zunächst möchte ich die wesentlichen Vorschläge im Bereich des Bundes-Immissionsschutzrechtes erläutern. Da ist zunächst einmal die Einführung einer Regelfrist für das Genehmigungsverfahren. Die Frist beträgt künftig für förmliche Verfahren - das sind Verfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung - sieben Monate. Verfahren ohne Öffentlichkeitsbeteiligung sind innerhalb einer Frist von 3 Monaten zu entscheiden. Diese Zeitvorgabe darf nur in besonderen Ausnahmefällen überschritten werden. Verzögert z. B. der Antragsteller das Verfahren, ist die zuständige Behörde berechtigt, die Frist um jeweils 3 Monate zu verlängern. Allerdings setzt dies eine detaillierte Begründung im Einzelfall voraus. Dadurch wird die zuständige Behörde gezwungen, über jede Ausdehnung der Verfahrensdauer Rechenschaft abzulegen. Zum zweiten ist das vereinfachte Verfahren bei umweltverbessernden Anlagenänderungen zu nennen. Das Genehmigungsverfahren für wesentliche Änderungen von Industrieanlagen wird vereinfacht. Die zuständige Behörde muß künftig das Verfahren verkürzen, wenn durch die Änderung einer Anlage keine erheblichen Belastungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeigeführt werden können. Zum dritten geht es um den vorzeitigen Beginn der Inbetriebnahme. Auch wenn die endgültige Genehmigung noch nicht vorliegt, kann künftig eine Produktionsanlage bereits errichtet und probeweise in Betrieb genommen werden. Sollen Einrichtungen erstellt werden, die dem Umweltschutz zugute kommen, z. B. Rauchgasentschwefelungsanlagen, dürfen diese nicht nur vorzeitig errichtet, sondern anschließend auch dauerhaft betrieben werden. Viertens geht es um die Neuregelung der Bauartzulassung; darauf ist bereits durch den Kollegen Starnick hingewiesen worden. Das Bundes-Immissionsschutzgesetz erhält eine Neubestimmung über die Bauartzulassung. Dies betrifft Anlagen oder Anlagenteile, die serienmäßig hergestellt, errichtet und betrieben werden sollen. Bei solchen Serienanlagen muß nicht an jedem Standort eine Genehmigung nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz erteilt werden; vielmehr genügt es, wenn eine generelle Bauartzulassung vorliegt. Nach Erteilung einer solchen Bauartzulassung ist auch für die zuständigen Behörden anderer Bundesländer festgestellt, daß das geprüfte Baumuster den vorgeschriebenen Anforderungen entspricht und damit die Anlage errichtet und betrieben werden darf. Meine Damen und Herren, das ist wieder ein typisches Beispiel dafür, wie Erfahrungen in den neuen Bundesländern, die auf Vereinbarungen im Einigungsvertrag basieren, z. B. das Übereinkommen über die Verwaltungshilfe, in die Überlegung zukünftiger Verfahrensgestaltungen, beispielsweise bei der Konzeption der Bauartzulassung, in Gesamtdeutschland einfließen können. Zum fünften geht es um die Novellierung der Verordnung über das Genehmigungsverfahren, die 9. BImSchV. Zu den Vereinfachungsvorschlägen zählt insbesondere das Vorgespräch, das zwischen dem Träger eines Vorhabens und der Genehmigungsbehörde geführt wird und in dem bereits wesentliche Weichenstellungen für das Verfahren erfolgen. Beispielsweise kann in solchen Vorgesprächen geklärt werden, welche Antragsunterlagen bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung vorgelegt werden müssen und welche später nachgereicht werden können, welche Gutachten vergeben werden und wie Doppelgutachten vermieden werden können. Geklärt werden kann auch, wie der Terminplan für das Verfahren ausgestaltet werden soll. Herr Kollege Schütz, ich nehme an, daß Ihre Zahl, daß nämlich zu 25 % falsche Unterlagen zu Genehmigungsverfahren eingereicht werden, aus den alten Bundesländern stammt. Ich meine, daß der Prozentsatz bei uns in den neuen Ländern auf Grund auch der häufig fehlenden Erfahrung der Antragsteller eher noch höher ist als die von Ihnen angegebene Prozentzahl. Sechstens geht es um die Novellierung der Verordnung über genehmigungsbedürftige Anlagen; das ist die 4. BImSchV. Der Katalog der Anlagen, die vor ihrer Errichtung einer Genehmigung bedürfen, wurde gründlich überarbeitet und ausgedünnt. Herr Schütz, ich möchte jetzt nicht alle Anlagen nach Spalte 1 und Spalte 2 anführen - das wäre für Frau Schenk vielleicht einmal ganz wichtig, um einmal zu sehen, wie kompliziert Umweltrecht ist -, aber ich kann Ihnen sagen: Von der Genehmigungspflicht werden wirklich nur solche Anlagen befreit, die nach ihrer mittlerweile modernisierten Technik ein nur noch geringes Umweltgefährdungspotential haben und die Umwelt nicht belasten. Dazu einige Beispiele: Ein Beispiel, das Ihnen sehr entgegenkommt, sind die Windkraftanlagen; ich muß das hier nicht weiter ausführen. Dann sind Anlagen zur Herstellung von Dispersionsfarben zu nennen. Die Freistellung von Genehmigungserfordernis beruht darauf, daß bereits in der Produktion eine weitgehende Umstellung auf Wasserfarben, also ohne Lösemittel, erfolgt. Weiter sind zu nennen Anlagen zur Oberflächenbeschichtung von Gegenständen mit Pulver und -- ganz wichtig - die Blockheizkraftwerke, die auch in den neuen Ländern ganz entscheidend werden können. ({2}) Bestimmte Anlagen werden vom förmlichen Verfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung in das vereinfachte Verfahren, also von Spalte 1 nach Spalte 2, ohne Öffentlichkeit überführt. Dazu gehören - das ist auch schon angesprochen worden - mobile Bodensanierungsanlagen, Anlagen zur Herstellung von Betonfertigteilen, Anlagen zur Herstellung von Teerbelag, Hammerwerke und andere. Meine Damen und Herren, ich komme nun zu den Vorschlägen des Gesetzentwurfes zum Abfallrecht: Um die Zulassungsverfahren für Abfallentsorgungsanlagen zu verbessern und zu beschleunigen, werden künftig Abfallbehandlungsanlagen und Zwischenlager, die mit sonstigen Industrieanlagen vergleichbar sind, nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz genehmigt. Das Planfeststellungsverfahren nach dem Abfallgesetz entfällt damit. Es gilt jedoch weiterhin - diesbezüglich muß ich Sie korrigieren - für die Errichtung und den Betrieb von Deponien. Sie erkennen hier ganz deutlich auch die Abfallwirtschaftspolitik der Bundesregierung. Die ist bereits ein schlüssiger Teil des im nächsten Jahr zu verabschiedenden Kreislaufwirtschaftsgesetzes mit allen Verordnungen, über die im Umweltausschuß bereits diskutiert wurde. Ich komme nun zu dem aus Ihrer Sicht heikelsten Thema, nämlich dem Bereich des Naturschutzes. Hinsichtlich des Verhältnisses der Eingriffsregelung nach dem Bundesnaturschutzgesetz zum Baurecht verfolgt der Gesetzentwurf eine Kompromißlinie, die Doppelprüfungen bei der Eingriffsregelung zu vermeiden sucht. Im Bereich eines Bebauungsplanes oder sonstiger städtebaulicher Satzungen, mit denen Baurechte neu geschaffen werden, soll die Prüfung der Naturschutzbelange an Hand der Grundprinzipien der Eingriffsregelung - Vermeidung, Ausgleich und Ersatz - künftig nur einmal erfolgen, und zwar schon bei der Planung. Innerhalb bereits bebauter Ortsteile soll die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung nicht zur Anwendung kommen, da dort in der Regel Ausgleich und Ersatz nicht möglich sind. ({3}) - Ich komme gleich dazu. - Eine behutsame Nachverdichtung der Bebauung ist regelmäßig die ökologisch schonendste Inanspruchnahme von Grund und Boden, da die erforderliche Infrastruktur ja bereits vorhanden ist. Im Außenbereich verbleibt es dagegen bei der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung. Allerdings - darüber müssen wir diskutieren; das ist heute auch schon angesprochen worden - soll in den neuen Ländern die Eingriffsregelung im baulichen Innenbereich - innen, nicht außen; Sie haben immer vom Außenbereich gesprochen - grundsätzlich nach 5 Jahren zur Anwendung gelangen. Damit sollen im Interesse der dort notwendigen Investitionen die Genehmigungsverfahren noch weiter vereinfacht werden. ({4}) Die sich schon aus dem Baurecht ergebende Berücksichtigung der Naturschutzbelange bei der Planung bleibt davon unberührt. Ich hoffe, daß ich hiermit auch endlich einmal einen Irrtum, was den Innen- und Außenbereich und die diesbezüglichen Absichten der Bundesregierung angeht, ausräumen konnte. ({5}) - Ich habe mich, denke ich, eindeutig geäußert, Herr Schütz. ({6}) Meine Damen und Herren, zum Schluß einige bewertende Worte zum Vorschlag der SPD. Ich hatte ja schon zu Anfang gesagt: Wir haben einmal eine Liste der Konsens- und Dissenspunkte aufgeführt. Ich denke, daß es eine ganze Menge Übereinstimmung gibt. Wir haben in unserem Artikelgesetz Regelungen getroffen, die Ihren Antrag eigentlich bis auf zwei Punkte fast überflüssig machen, so daß ich meine, daß wir zu einem gemeinsamen Antrag kommen können. Das ist zum einen die Reform der Behördenstruktur. Hierzu haben Sie, denke ich, den falschen Ansprechpartner gewählt. ({7}) Da müssen wir mit aller Vorsicht und Behutsamkeit auf die Länder zugehen. Man kann sich hierbei nicht direkt an die Bundesregierung richten. Man kann das, denke ich, in Form eines Appells an die Länder formulieren. Die sonstigen Vorschläge der SPD, z. B. zum Staatsziel Umweltschutz, haben mit Vereinfachung und Beschleunigung von Genehmigungsverfahren nichts zu tun. Die sind, denke ich, in der Verfassungskommission ganz gut aufgehoben. Pari. Staatssekretär Dr. Bertram Wieczorek Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/3944 und 12/3948 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Zusatztagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zur Verlängerung der Wartefristen für Eigenbedarfskündigungen in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet - Drucksachen 12/2758, 12/3605 ({1}), 12/3890, 12/3965 -Berichterstattung: Abgeordneter Hans-Joachim Hacker Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann kommen wir gleich zur Abstimmung. ({2}) - Pardon! Mir hatten die Geschäftsführer signalisiert, daß auf die Berichterstattung verzichtet wird. ({3}) - Aber der Berichterstatter kann eine Erklärung abgeben. ({4}) - Ich wäre Ihnen dankbar, wenn sich die parlamentarischen Geschäftsführer in einem solchen Fall zum einen vorher wirklich einigten und mir keine falsche Information gäben und zum anderen mir nicht durch Zwischenruf mitteilten, daß jemand, der Berichterstatter ist, kein Berichterstatter sei. Sie sind der Berichterstatter. Infolgedessen haben Sie das Recht, zu sprechen, wenn Sie das wünschen.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Auch wenn Sie heute vielleicht eine Viertelstunde später in Ihre Heimatwahlkreise reisen und sich die Veranstaltungen zu Hause etwas verlängern, möchte ich doch die Gelegenheit nutzen, kurz zu diesem Gesetz zu sprechen. Wir haben am 5. November dieses Jahres im Bundestag in zweiter und dritter Lesung das Gesetz zur Verlängerung der Wartefristen für Eigenbedarfskündigungen in den neuen Ländern beraten und gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Mit der Forderung auf namentliche Abstimmung hatte die SPD-Bundestagsfraktion insbesondere angestrebt, die Verlängerung des erweiterten Kündigungsschutzes bis zum 31. Dezember 1997, ungeachtet dessen vorzunehmen, ob es sich um Einliegerwohnungen oder normale Wohnungen handelt. Eine zweite zentrale Frage war, daß politisch determinierte Einschränkungen hinsichtlich der Erweiterung des Kündigungsschutzes ausgeschlossen werden sollten. Beiden Forderungen haben sich die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen nicht anschließen können. Sie haben diese Anträge abgelehnt. Abgelehnt haben die Anträge auch die Abgeordneten aus den neuen Bundesländern. Der Bundesrat hat diesem Gesetz, das am 5. November dieses Jahres verabschiedet wurde, die Zustimmung versagt und damit den Weg für Nachbesserungen des Gesetzes eröffnet. Vom Bundesrat wurde angestrebt, die Weitergeltung des bisherigen Schutzes gegen Eigenbedarfskündigungen bis zum 31. Dezember 1997 zu erreichen und die Anwendung der Schutzregelungen auch auf Mietverhältnisse über Einliegerwohnungen zu erstrecken. Von Einliegerwohnungen sind in den neuen Ländern ca. 500 000 Mietrechtsverhältnisse erfaßt; so die Ermittlungen des Mieterbundes. Der Vermittlungsausschuß hat am 9. Dezember 1992 zu dem Anrufungsbegehren beraten und folgende Einigung erzielt: Wir haben uns darauf verständigen können, daß der erweiterte Kündigungsschutz bis zum 31. Dezember 1995 gilt. Das ist sicherlich ein Abstrich gegenüber der ursprünglichen Forderung der SPD-Bundestagsfraktion, aber wir werden im Jahre 1995 die Sache erneut verhandeln müssen und neu zu entscheiden haben. Ein Punkt, der mir besonders wichtig ist, ist, daß es eine Verlängerung des Kündigungsschutzes für diese Einliegerwohnungen geben wird. Damit bringen wir in 500 000 Mietrechtsfällen Vermietern in den neuen Ländern mehr Rechtssicherheit, und wir verhindern die weitere Kulmination von sozialem Sprengstoff. Ein Defizit ist - was ich offen einräume -, daß es uns nicht gelungen ist, diesen politisch determinierten Ansatz für die Infragestellung von Kündigungsschutzregelungen auszuhebeln. Das ist ein Manko, mit dem wir leben müssen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusammenfassen: In diesem Falle - da spreche ich die Kollegen aus den neuen Ländern an - hat sich wieder bewiesen, daß elementare Interessen der Menschen in den neuen Ländern im wesentlichen erst im Vermittlungsverfahren durchgesetzt werden können, d. h. daß die SPD über die SPD-regierten Länder erst im Vermittlungsverfahren die erforderlichen Mehrheiten zustande bringen konnte. Das sollte uns zu denken geben. Darüber sollten insbesondere die Abgeordneten aus den neuen Ländern nachdenken. Wenn wir über diese politische Determination sprechen, müssen wir immer daran denken - ich habe das schon in der Debatte am 5. November 1992 gesagt -, wer in den für Wohnungspolitik zuständigen Abteilungen der früheren DDR gesessen und die Entscheidungen getroffen hat. Das waren nicht nur SED- Mitglieder. Gerade in diesen Abteilungen haben auch Mitglieder der früheren Blockparteien gesessen. Daher halte ich es für sehr bedenklich, wenn heute die Mehrheit des Bundestages davon ausgeht, daß diese Entscheidungen zum Maßstab für die Bewertung von Mietrechtsverhältnissen unbeteiligter Bürger in den neuen Ländern gemacht werden sollen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Wir kommen zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen. Ich rufe nun Zusatzpunkt 11 der Tagesordnung auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zur Bereinigung von Kriegsfolgengesetzen ({1}) - Drucksachen 12/3212, 12/3341, 12/3597, 12/3891, 12/3966 -Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Heribert Blens Wird zur Berichterstattung das Wort gewünscht? ({2}) - Erklärungen werden nicht abgegeben, also verzichtet auch der Berichterstatter auf das Wort. Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß über die Änderungen im Deutschen Bundestag gemeinsam abzustimmen ist. Ich bitte diejenigen, die der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen. Der Abgeordnete Lowack hat nach § 31 der Geschäftsordnung um das Wort für eine Erklärung zur Abstimmung gebeten. Bitte.

Ortwin Lowack (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001379, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich halte dieses Verfahren für absolut würdelos. Es ist mit dem Vermittlungsverfahren etwas eingebracht worden, was im Deutschen Bundestag unbedingt in einer Debatte hätte erörtert werden müssen. Vielleicht ist vielen Kolleginnen und Kollegen noch gar nicht bewußt, was hier geschehen ist. Man hat ein Verfahren verabschiedet, bei dem ein Großteil der Deutschen, die in ihrer alten Heimat geblieben sind und die gedacht haben, daß sie eine Brücke für den Wiederaufbau sein könnten, in ihrem Status erheblich beeinträchtigt wurden mit der Konsequenz , daß sie sich in Zukunft vor deutschen Ämtern teilweise rechtfertigen müssen, die wegen fehlenden Einfühlungsvermögens gar nicht nachempfinden können, wie es den Deutschen in ihrer Heimat gegangen ist. Ich halte dieses Verfahren für verfassungswidrig und habe deswegen mit Nein gestimmt.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich rufe Zusatzpunkt 12 der Tagesordnung auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0}) zu dem Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens - Drucksache 12/3980 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Hedda Meseke Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung auf Drucksache 12/3980? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich rufe Punkt 4 a und die Zusatzpunkte 8 und 9 der Tagesordnung auf: 4. a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Brigitte Baumeister, Dr. Rita Süssmuth, Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/ CSU sowie den Abgeordneten Franz Müntefering, Peter Conradi, Gerd Wartenberg ({1}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Ina Albowitz, Manfred Richter ({2}), Dr. Jürgen Starnick, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Bundesbauverwaltung ({3}) - Drucksache 12/3808 Beschlußempfehlung und Bericht des Ältestenrates - Drucksache 12/3979 Berichterstattung: Abgeordnete Brigitte Baumeister ({4}) ZP8 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({5}) Sammelübersicht 82 zu Petitionen - Drucksache 12/3962 ZP9 Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({6}) Sammelübersicht 83 zu Petitionen - Drucksache 12/3963 Es handelt sich um die Beschlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Wir kommen zur Abstimmung über Punkt 4 a der Tagesordnung, und zwar zur zweiten und dritten Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. eingebrachten Zuständigkeitsanpassungs-Gesetzes auf den Drucksachen 12/3808 und 12/3979. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Vizepräsident Hans Klein in der Fassung der Beschlußempfehlung des Ältestenrates zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Zusatzpunkte 8 und 9 der Tagesordnung, und zwar über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses zu den Sammelübersichten 82 und 83 zu Petitionen auf den Drucksachen 12/3962 und 12/3963. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlungen sind angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 13 der Tagesordnung auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes - Drucksache 12/3978 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({7}) Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Aber wenn ich es richtig sehe, haben sich die Geschäftsführer inzwischen auf eine Fünf-Minuten-Runde geeinigt. ({8}) - Sie hätten so oder so nicht mehr Redezeit, Frau Enkelmann. Ihr Einwand geht daher ins Leere. Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Joachim Hörster das Wort.

Joachim Hörster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000932, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute in erster Lesung über den Entwurf eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und eines Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes, der von den Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD und der F.D.P. gemeinsam eingebracht wird. Dieser Gesetzentwurf befaßt sich mit der Entschädigung und der Aufwandspauschale für Abgeordnete. Nur zur Erinnerung: Das Vierzehnte Gesetz zur Änderung des Abgeordnetengesetzes befaßte sich mit der Einführung eines § 44 b, der eine Überprüfung von Abgeordneten im Hinblick auf eine politische Verantwortung für oder eine Mitarbeit im Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR auf freiwilliger Basis oder von Amts wegen ermöglichte. Wenn wir das Abgeordnetengesetz ändern, geht es also nicht immer nur um Geld. Jährlich hat die Präsidentin oder der Präsident des Deutschen Bundestages im Benehmen mit dem Ältestenrat bis zum 30. September einen Bericht über die Angemessenheit der Entschädigung der Abgeordneten im Sinne des Art. 48 des Grundgesetzes zu erstatten und zugleich einen Vorschlag für eventuelle Änderungen zu machen. Nach entsprechender Beratung und Beschlußfassung treten diese Änderungen dann mit Wirkung vom 1. Juli des selben Jahres in Kraft. So regelt es § 30 des Abgeordnetengesetzes. Wenn der Bericht in diesem Jahr erst zum 15. Oktober 1992 vorgelegt wurde und wir den darauf basierenden Gesetzentwurf erst in der letzten Sitzungswoche dieses Jahres beraten, so liegt dies schlicht und einfach auch daran, daß wir als Mitglieder des Bundestages erst eine Reihe anderer wichtiger Vorhaben erledigen, also wichtige Entscheidungen zu Problemen treffen wollten, die keinen Aufschub vertrugen und die viel Kraft kosteten. Ich möchte beispielhaft den Haushalt 1993, das Ratifizierungsgesetz zum Vertrag von Maastricht und die dazugehörigen Änderungen des Grundgesetzes und auch die zwischen CDU/CSU, SPD und F.D.P. vereinbarte Entscheidung zur Asyl- und zur Zuwanderungsproblematik sowie das Gesundheits-Strukturgesetz nennen. In dem Gesetzentwurf, den wir jetzt beraten und zu dem das Benehmen im Ältestenrat hergestellt wurde, wird eine Anhebung der Entschädigung um 2,35 % und eine Anhebung der Kostenpauschale um 3,69 % vorgeschlagen. Die Anhebung der Kostenpauschale um 3,69 % entspricht dem in dem Bericht der Präsidentin ermittelten Wert, der schlicht und einfach die Teuerungsrate für die Aufwendungen der Abgeordneten in Ausübung ihres Mandates wiedergibt. Bei dieser Aufwandspauschale muß immer wieder darauf hingewiesen werden, daß sie Aufwendungen ersetzt, die ein Abgeordneter in Ausübung seines Mandates hat und die er nicht - wie andere Bürger - als Sonderausgaben im Rahmen der Berufsausübung geltend machen kann. Während im Bericht eine Anhebung der steuerpflichtigen Entschädigung um 4,7 % für angemessen gehalten wird, haben sich die Fraktionen nach eingehenden Erörterungen darauf verständigt, die Anhebung zum 1. Juli 1992 auf 2,35 % zu begrenzen. Dies entspricht der Hälfte des an sich gerechtfertigten Betrages. Dabei war seitens meiner Fraktion folgende Überlegung maßgebend: Im Finanzplanungsrat von Bund und Ländern war eine Begrenzung des Ausgabenwachstums der öffentlichen Haushalte auf 2,5 %, maximal auf 3 % einvernehmlich als notwendig angesehen worden. Wir haben unsererseits die tariflichen Lohnabschlüsse im Jahre 1992 als zu hoch und gesamtwirtschaftlich nur schwer vertretbar gewertet. Darüber hinaus erörtern wir einen Solidarpakt, zu dem alle am Wirtschafts- und Sozialleben Beteiligten, d. h. insbesondere Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die Verbände, die Gemeinden, der Bund und die Lander, beitragen sollen. Indem wir selbst mit der Regelung unserer eigenen Entschädigung unter der Teuerungsrate bleiben, wollen wir ein Zeichen dafür setzen, daß sich andere für die kommenden Erörterungen diesem Beispiel anschließen mögen. Wir halten den Vorschlag, der in Form des Entwurfs zur Änderung des Abgeordnetengesetzes unterbreitet wird, für der Lage und der Situation angemessen und werden diesen Gesetzentwurf unterstützen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann.

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man sagt, Geld verdirbt den Charakter. Offensichtlich auch den Charakter der hier so oft gelobten parlamentarischen Demokratie. Die große Koalition - pardon, die Fraktionsspitzen von CDU/CSU, F.D.P. und SPD - haben wieder einmal hinter dem Rücken ihrer Fraktionskolleginnen und -kollegen und der Gruppen gekungelt. ({0}) Das gilt übrigens auch für die Redezeiten zu diesem Tagesordnungspunkt. Im Ergebnis wollen Sie dem Parlament ein nicht gerade billiges Geschenk in einem Wert von immerhin 6,9 Millionen DM unter den Weihnachtsbaum legen, und zwar rückwirkend zum 1. Juli dieses Jahres. Nun hatten die Fraktionen zwar inzwischen Gelegenheit, sich darüber zu verständigen; die Abgeordneten der Gruppe PDS/Linke Liste dagegen erfuhren von der geplanten Diätenerhöhung nur dank der Tatsache, daß auch sie bei ARD und ZDF in der ersten Reihe sitzen. Diese Art von Geheimdiplomatie aber ist nicht der Grund, weshalb wir - wie bereits in den vergangenen Jahren - die Erhöhung ablehnen. 450 DM scheinen für Sie kaum der Rede wert zu sein. Für nicht wenige Rentnerinnen und Rentner in den neuen Bundesländern, aber auch für Studentinnen und Studenten, Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger und andere macht das immerhin etwa die Hälfte ihres monatlichen Einkommens aus. Sie genießen zudem auch nicht die anderen Privilegien von Abgeordneten. 450 DM entsprechen auch dem, was vielerorts monatlich für die Kinderbetreuung aufgebracht werden muß. Mancher in den neuen Bundesländern weiß heute kaum, wie er seine Miete ab Januar zahlen soll. Bewohnerinnen und Bewohnern von Feierabend- und Pflegeheimen, die die Heimkosten nicht selbst tragen können, gesteht man ein Taschengeld von weniger als 200 DM zu. Hier stimmen einfach die Relationen nicht. Ich predige keinesfalls Askese, Gleichmacherei oder Absage an ein leistungsbezogenes Einkommen. Aber 4,2 % Aufschlag bei 10 000 DM sind eben ein Plus von 420 DM, während die gleiche Erhöhung bei 1 000 DM gerade einmal 42 DM ausmacht. Die Schere zwischen Gutverdienenden und Schlechtergestellten geht nach diesem System immer weiter auseinander. Das hat nichts mehr mit sozialer Gerechtigkeit zu tun. Ich nenne noch einen Grund für meine Ablehnung: Die Haushaltsberatungen 1993 sind gerade erst beendet. Mit Krokodilstränen in den Augen nach dem Motto „Leider, leider, aber wir haben kein Geld" wurden Kürzungen bei ABM-Stellen in nennenswerten Größenordnungen, im Umweltschutz, bei der Kultur- und Sportförderung usw. vorgenommen. Plötzlich ist das alles vergessen. Nun ist Geld vorhanden: für die Behebung der zig Pannen im neuen Plenarsaal, für die abgeordnetengerechte Umgestaltung des Restaurants und eben für die Erhöhung der Abgeordnetendiäten. Wenn die Bürgerinnen und Bürger von diesem Pult aus immer öfter dazu aufgefordert werden, den Gürtel enger zu schnallen, dann sollten die Abgeordneten dieses Parlaments mit gutem Beispiel vorangehen. Das könnte übrigens Teil eines wirklichen Solidarpakts sein. Der Bundestag sollte sich statt höherer Diäten lieber eine politgesundheitsfördernde Diät verordnen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Manfred Richter.

Manfred Richter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001835, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hörster hat bereits auf die wesentlichen Gesichtspunkte hingewiesen, die in den Meinungsfindungsprozeß des letzten halben Jahres eingeflossen sind. Wir haben es uns nämlich mit der Erhöhung der Diäten keinesfalls leichtgemacht. Die Präsidentin des Deutschen Bundestages hat mit Ihrem Bericht vom 15. Oktober einen Vorschlag auf der Grundlage der allgemeinen Einkommensentwicklung vorgelegt. Wir bleiben nach eingehender Diskussion hinter diesem Vorschlag zurück. Meine Damen und Herren, es ist das Verfahren der Diätenanpassung, das bei vielen von uns einen unangenehmen Beigeschmack zurückläßt, weil wir selbst über die Höhe der Diäten entscheiden müssen. Die Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Abgeordnetenrechts wird uns hierzu bis zum Frühjahr Lösungsvorschläge unterbreiten. Ebenfalls erhoffe ich mir von dieser Kommission Hinweise zur Frage der angemessenen Höhe der Abgeordnetenentschädigung.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Richter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hirsch?

Manfred Richter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001835, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Richter, indem ich mich gleichzeitig dafür entschuldige, daß ich ausgerechnet Ihnen diese Zwischenfrage stelle, frage ich Sie: Halten Sie es mit dem Gebot des Bundesverfassungsgerichts, daß Entscheidungen transparent sein müssen, also mit der Vorschrift, daß die Diätenregelungen offen und eingehend erörtert werden sollen, wirklich für vereinbar, daß die Vorlage, die hier in erster Lesung behandelt wird, den Fraktionen in dieser Woche überraschend vorgelegt und in derselben Woche ebenso überraschend auf die Tagesordnung dieses Plenums gesetzt wurde, so daß viele Kollegen überhaupt keine Gelegenheit hatten, sich mit dem Vorschlag, den Sie erläutern, auseinanderzusetzen? ({0})

Manfred Richter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001835, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Hirsch, der Beifall kommt wie immer von der falschen Seite. ({0}) Herr Kollege Hirsch, es wird Ihnen nicht entgangen sein, daß der Gesetzentwurf, der heute auf dein Tisch des Hauses liegt, nicht schaumgeboren ist. Er ist der Schlußpunkt eines nun ein halbes Jahr andauernden Diskussionsprozesses innerhalb des Hauses und innerhalb der Fraktionen. Ich erinnere mich an mindestens drei Sitzungen in unserer Fraktion - in denen Sie, wie ich glaube, auch zugegen waren -, ({1}) in denen wir die Grundzüge dieses Gesetzes beraten und kontrovers diskutiert haben. Es ging um die Frage, ob, wann und wie wir unsere Diäten erhöhen. ({2}) - Diese abweichende Meinung ist uns selbstverständlich bekannt. Daß am Ende ein Gesetzentwurf mit einer konkreten Zahl herauskommt, über die so vorher möglicherweise nicht diskutiert worden ist, liegt in der Natur einer kontroversen Diskussion, die mit einem Kompromiß endet.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Richter, würden Sie auch eine Frage des Kollegen Hinsken beantworten?

Manfred Richter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001835, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, gerne.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Richter, wären Sie bereit, den Kollegen Hirsch zu fragen, ob er schon einmal einen Wahlkreis betreut hat und meine Meinung teilt, daß man, wenn ein Wahlkreis einen Durchmesser von 150 Kilometern hat, sehr viele Kilometer zurückzulegen hat und viel Zeit opfern muß, um bürgernah zu sein, um alles aufnehmen und hier einbringen zu können?

Manfred Richter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001835, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Kollege Hinsken, ich bin mir dieser Problematik selbstverständlich bewußt. Sie war schon seit langem Gegenstand der Frage, mit der wir uns beschäftigt haben. Um Ihre Frage konkret zu beantworten: Nein, an dieser Stelle bin ich nicht bereit, den Kollegen Hirsch das zu fragen, weil ich gerne in meinen Ausführungen fortfahren möchte. ({0}) - Eine noch, Herr Präsident. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Von wem?

Manfred Richter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001835, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich lasse beide Zwischenfragen zu, aber dann würde ich gerne fortfahren.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Nun hat Herr Hirsch das Wort, danach Herr Hinsken.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Richter, ich schicke voraus, daß ich selbstverständlich einen Wahlkreis betreue und auch das Land, auf dessen Reserveliste ich gewählt worden bin. - Stimmen Sie mir darin zu, daß man zwischen den Aufwendungen, die ein Abgeordneter hat, die normalerweise als Werbungskosten gelten und bei uns in der Tat pauschaliert sind, und der reinen Diät, also dem, was bei einem „normalen" Bürger das Gehalt, das Einkommen ist, unterscheiden muß, und würden Sie mir darin zustimmen, daß die Erhöhung, über die wir hier reden, nicht nur die Werbungskosten, also unsere Ausgaben, betrifft, sondern natürlich auch die Einnahmen, was der verehrte Vorfrager vielleicht noch nicht begriffen hat?

Manfred Richter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001835, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich habe den Eindruck, das hat er schon begriffen. Das Problem, Herr Dr. Hirsch, ist in der Tat, daß wir es mit zwei verschiedenen Dingen zu tun haben. Das eine, die Diäten-Sie sagen es zu Recht-, sind die Bezüge, die für die Tätigkeit des Abgeordneten gezahlt werden und zu seinem Lebensunterhalt dienen. Das andere, die Kostenpauschale, deckt alle Kosten ab, die mit der Mandatsausübung verbunden sind, die üblicherweise abrechnungsfähig sind, also im Falle eines Unternehmens etwa Dienstreisen usw. Nun kann man sich grundsätzlich zwei Lösungswege denken: Der eine ist der, den wir im gültigen Recht haben, nämlich die pauschalierte Abgeltung. Der andere ist die einzelfallbezogene Abrechnung. Man würde damit wahrscheinlich einzelfallgerechter vorgehen, muß aber den Nachteil in Kauf nehmen, daß damit ein ziemlich großer Verwaltungsaufwand verbunden ist ({0}) Bei dieser Abwägung kann man zu verschiedenen Ergebnissen kommen. Eine Regelung, der alle 100%ig zustimmen, wird es nicht geben. Ich glaube aber, diese Abwägung muß man vornehmen.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Richter, wären Sie bereit, dem Kollegen Hirsch die Empfehlung zu geben, ({0}) daß er, wenn er dagegen ist, daß die Diäten um 2,35 % erhöht werden, die Möglichkeit hat, genauso wie ich ein Sozialkonto einzurichten, dieses Geld dorthin zu überweisen und es an bedürftige Organisationen zu verteilen? Wenn er ein solches Konto nicht hat, bin ich gerne bereit, ihm meine Kontonummer zu nennen, damit er mir das Geld überweist. Ich gebe es gezielt weiter.

Manfred Richter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001835, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Hinsken, das ist eine Anregung, die sicherlich ins Leere geht, weil ich von vielen Kollegen weiß, daß sie ihrerseits an wohltätige Organisationen Spenden in nicht unbeträchtlicher Höhe geben. Aber es ist immer einer Minute der Plenarberatungen wert, darauf hinzuweisen, daß so etwas geht.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Richter, jetzt muß ich eine Bemerkung machen: Es gibt Vereinbarungen, die den Ablauf unserer Beratungen sichern sollen. Selbstverständlich hat jeder Kollege in jeder Debatte Fragerecht. Aber wenn wir eine halbe Stunde Redezeit vereinbaren und die Geschäftsführer diese Zeit noch reduzieren, weil wir, wie Sie alle wissen, den letzten Arbeitstag vor Weihnachten haben, dann finde ich es nicht ganz in Ordnung, wenn wir die Debatte mit Fragen auch „über Kreuz" um das Doppelte verlängern. Ich wäre dankbar, wenn wir jetzt entsprechend unserer Vereinbarung weiterfahren könnten. Herr Kollege Richter, bitte. ({0})

Manfred Richter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001835, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich möchte gern auf die Arbeit der Unabhängigen Kommission zurückkommen. Ich hatte darauf Bezug genommen, daß vielen unwohl dabei ist, die Diätenhöhe selber festlegen zu müssen. Ich erhoffe mir Lösungsvorschläge von dieser Kommission, die die Ergebnisse ihrer Arbeit im Frühjahr vortragen wird. Ich erhoffe mir auch Hinweise zur Frage der angemessenen Höhe der Abgeordnetenentschädigung, und zwar insbesondere im Vergleich zu einigen Landtagen. Denn die erstaunlichen Erhöhungen in einigen Landtagen lassen eine gewisse Disparität erkennen und lassen die Kritik an unserer wirklich maßvollen Erhöhung geradezu absurd erscheinen. Ich bedauere übrigens, daß sich die Unabhängige Komission nicht in der Lage gesehen hat, eine Stellungnahme zum aktuellen Bericht der Bundestagspräsidentin und zur diesjährigen Diätenerhöhung abzugeben. ({0}) Ich hätte es nämlich sehr begrüßt, wenn wir in dieser Situation eine Entscheidungshilfe von dieser Kommission bekommen hätten. Unser Vorschlag zur Diätenerhöhung bietet keinerlei Anlaß, etwas zu verteidigen oder zu rechtfertigen. Die Erhöhung liegt unter der Teuerungsrate. Sie liegt weit unter der durchschnittlichen tariflichen Einkommensverbesserung der Arbeitnehmer von 5,6 %. Wir wollen uns hier nicht beschweren oder ein Klagelied singen. Aber ich glaube, wir haben einen Anspruch auf mehr Offenheit und Ehrlichkeit in der Diskussion. Dazu gehört die Feststellung, daß für viele Freiberufler oder qualifizierte Mitarbeiter aus Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft die Arbeit als Bundestagsabgeordneter aus finanziellen Gründen gar nicht erstrebenswert ist. Wir nehmen in der schwierigen wirtschaftlichen Situation, in der wir uns zur Zeit befinden, bewußt reale Einkommenseinbußen in Kauf, um ein Zeichen für den anstehenden Solidarpakt zu setzen. Auf längere Sicht jedoch werden wir nicht umhinkommen, uns generell mit dem Thema der Angemessenheit der Bezüge von Bundestagsabgeordneten zu beschäftigen. Es ist - um den Vergleich zum öffentlichen Dienst herzustellen - einfach nicht in Ordnung, daß die Bezüge der Abgeordneten vom Niveau der Gehaltsgruppe B 6 jetzt fast bis auf das Niveau der Gehaltsgruppe A 16 abgesunken sind. Geradezu absurd ist der Vorwurf, wir würden klammheimlich die Diäten erhöhen; so hat es, glaube ich, Herr Schulz vom BÜNDNIS 90 formuliert. Wenn Sie die Diskussionen hier im Plenarsaal für klammheimlich halten, ist das Ihre Sache. Aber die gesamte Diskussion des letzten halben Jahres verschlafen zu haben wirft ein trauriges Schlaglicht auf Ihre Wahrnehmungsfähigkeit. ({1}) Meine Damen und Herren, die Erhöhung der Abgeordnetenbezüge ist maßvoll. Sie ist absolut vertretbar. Ich bitte Sie um Zustimmung, nachdem wir diesen Gesetzentwurf an die zuständigen Ausschüsse überwiesen haben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile dem Kollegen Dr. Peter Struck das Wort.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es steht einem Abgeordneten nicht zu, den Präsidenten zu kritisieren. Bei Ihnen, Herr Präsident, würde ich mir das schon nie erlauben.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das würde ich Ihnen auch nicht raten. ({0})

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Deshalb sage ich auch nur ganz vorsichtig, Herr Präsident: Der letzte Arbeitstag vor Weihnachten ist das heute für uns MdBs ganz bestimmt nicht. Der letzte Arbeitstag vor Weihnachten wird im Zweifel wohl am 24. Dezember morgens beendet sein, wenn wir die letzten Weihnachtsfeiern hinter uns gebracht haben.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Struck, erstens ist es wichtig und richtig, daß Sie mich auf diese Weise ergänzen. Das war ja keinerlei Kritik, sondern eine wichtige und konstruktive Ergänzung Vizepräsident Hans Klein meiner Aussage. Zweitens habe ich im Zusammenhang mit der Aussage über unsere Arbeit natürlich zunächst einmal in Plenarkategorien gedacht.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut, Herr Präsident. Ich sehe, wir sind uns wie immer voll einig. Nun zur Sache: Ich finde, Frau Kollegin Enkelmann, Sie haben eine Rede gehalten, die schlicht auf populistische Neidgefühle der Menschen abzielt, ({0}) die diese Neidgefühle aufnehmen will und schlicht eine Verdrehung der Tatsachen bedeutet. ({1}) So etwas kann man hier nicht stehenlassen. Das gilt übrigens auch für Ihre Bemerkung, Herr Kollege Hirsch, der Sie - dafür sind Sie talentiert -Begriffe wie „überraschend" und ähnliche ins Gespräch gebracht haben. Das, was heute passiert, ist überhaupt nicht überraschend. Im Gegenteil: Seit mehr als einem halben Jahr liegen die Überlegungen zu den Vorschlägen für eine Erhöhung der Abgeordnetendiäten vor. Ich kann das nicht als überraschend empfinden. Jeder weiß, daß wir darüber diskutiert haben. Ich möchte hier für die SPD-Fraktion erklären, daß wir uns in diesem Jahr sicherlich ganz besonders schwergetan haben, einem solchen Vorschlag im Ältestenrat zuzustimmen, weil wir nicht dahin gehend argumentieren sollten -- ich tue das auch nicht, obwohl es in der Tat so ist -, daß es in Deutschland eine ganze Reihe von Menschen gibt, die wesentlich mehr verdienen. Aber von denjenigen, die hier im Plenarsaal des Deutschen Bundestages sitzen, ist niemand gezwungen worden, hierherzukommen. Wir alle haben uns um dieses Mandat beworben, in unseren Parteien, beim Wähler. Wir haben dieses Mandat erhalten. Deshalb sollten wir uns auch nicht über viel Arbeit und wenig Geld beklagen. Wir sollten darauf Rücksicht nehmen, daß sehr viele Menschen in Deutschland weniger als wir verdienen. ({2}) Deshalb muß man schon sehr vorsichtig über die Frage diskutieren: Ist das, was wir jetzt haben, angemessen, ist es überhöht, oder ist es zu niedrig? Ich persönlich hätte mir, wie auch viele andere in meiner Fraktion, in diesem Jahr eine Lösung vorstellen können, die faktisch dazu geführt hätte, daß die Erhöhung der Diäten, die zweifellos anstehen mußte, weil jeder von uns steigende Lebenshaltungskosten und dergleichen hat, nicht an die Abgeordneten ausgezahlt wird. Wir hätten uns über ein Modell unterhalten können, wie wir den Betrag, der für unsere Diätenerhöhung aufzubringen ist, z. B. für Zwecke des Aufbaus in den neuen Ländern zur Verfügung stellen können. ({3}) - Ich beantworte Ihnen das gleich, Herr Hirsch. Nun hat in einer demokratischen Fraktion - in der F.D.P. genauso wie in der SPD - ein offener Meinungsbildungsprozeß stattgefunden. Die Argumente, die für die z. B. auch von mir persönlich für richtiger gehaltene Lösung vorgetragen wurden, haben schließlich nicht dazu geführt, daß sich die Mehrheit dieser Auffassung angeschlossen hat. Die Mehrheit hat empfohlen - ich kann mich mit dieser Mehrheitsmeinung identifizieren; ich trage sie hier ja auch vor -, die von der Präsidentin vorgeschlagene und wohl auch angemessene Erhöhung um 50 % zu kürzen. Herr Kollege Hirsch, ich kann nicht sehen, daß sich die Abgeordneten mit einer Erhöhung von 2,35 % etwa unredlich in die eigene Tasche gewirtschaftet und Solidaritätspflichten, die wir alle haben, verletzt hätten. Das kann ich angesichts dieses Betrages ganz sicher nicht erkennen. Man muß hier feststellen: Dieser Prozentsatz liegt unter der Rentenerhöhung und weit unter der Preissteigerungsrate. Ich sage noch einmal ganz deutlich - dann sind aber auch Sie, Herr Kollege Hirsch, als Mitglied einer Regierungsfraktion gefordert -: Wenn es denn nach den Sozialdemokraten ginge, würden die Bundestagsabgeordneten z. B. auch mit einer Ergänzungsabgabe für Besserverdienende belastet werden. Warum machen Sie das denn nicht mit? ({4}) - Na, dann ist es ja gut. Dann sorgen Sie einmal dafür, daß auch Ihre Fraktion mitmacht! - Warum machen Sie, meine Damen und Herren, denn nicht bei der Einführung einer Arbeitsmarktabgabe mit? Das wäre ein Beitrag zur Solidarität ({5}) mit den Menschen in Deutschland, denen es viel schlechter geht als uns. Fazit: Weil wir in Deutschland die einzige Berufsgruppe sind, die selber entscheiden muß, ob und um wieviel ihr Gehalt erhöht wird, stehen wir immer in dem Geruch, wir seien ein Selbstbedienungsverein. Ob dieser Vorwurf berechtigt ist oder nicht: Richtig ist, daß wir eine Lösung finden müssen, die diesen Vorwurf ein für allemal aus der Welt schafft. Das geht nur dadurch, daß eine Unabhängige Kommission festsetzt, nach welchen Kriterien hier künftig entschieden werden soll. Dafür wollen wir uns einsetzen. Ich hoffe, daß uns alle, die mit der vorgeschlagenen geringfügigen Erhöhung Probleme haben, wenigstens in diesem Punkt folgen werden: Eine Unabhängige Kommission bestimmt, wie die Bezüge der Abgeordneten aussehen sollen. ({6}) - Herr Hirsch, ich hätte mir gewünscht, daß diese Kommission, die der Bundestag einstimmig eingesetzt hat, so gearbeitet hätte, daß sie schon jetzt in der Lage gewesen wäre, einen Vorschlag zu unterbreiten. ({7}) Ich bedauere sehr, daß das nicht geschehen ist. Hoffentlich legt die Kommission ihre Vorschläge bald vor. Dann werden wir sie im Deutschen Bundes11194 tag ausführlich diskutieren. Ich bin dafür, daß wir dann eine sehr ausführliche, drei- oder vierstündige Debatte über unser Selbstverständnis als Parlamentarier, über unsere Berufsauffassung führen, in der die gesamten finanziellen Bedingungen einmal deutlich angesprochen werden. Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. ({8})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/3978 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf: a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über die Bemühungen der Bundesregierung, - im Rahmen der GATT-Verhandlungen zu einer Verringerung der Agrarsubventionen als auch zu einem Abbau der Importhindernisse für Agrargüter aus Entwicklungsländern zu kommen, - die EG-Nahrungshilfepolitik an entwicklungspolitischen Zielsetzungen auszurichten, - um eine Änderung des Artikels 3 der Nahrungsmittelhilfeverordnung dahin gehend, daß Nahrungsmittelhilfen entgegen der bestehenden Regelung grundsätzlich in Entwicklungsländern und nur ausnahmsweise in der EG beschafft werden - Drucksachen 12/926, 12/2016 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Fritz Gautier b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({1}) zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Großen Anfrage der Abgeordneten Wolfgang Roth, Dr. Norbert Wieczorek, Dr. Ingomar Hauchler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD GATT-Welthandelssystem: Freier Welthandel zur Sicherung der Leistungskraft der deutschen Wirtschaft, Integration Osteuropas in die Weltwirtschaft und Überwindung des Nord-Süd-Konfliktes - Drucksachen 12/1817, 12/1330, 12/1745, 12/2312 Berichterattung: Abgeordneter Peter Kittelmann Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Rudolf Sprung.

Dr. Rudolf Sprung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002208, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es gibt kaum ein Thema, das uns in den letzten Jahren so häufig beschäftigt hat, über das wir auch in diesem Hause so häufig debattiert haben wie das der Verhandlungen über eine Erweiterung des geltenden GATT-Abkommens. Das letzte Mal war das vor acht Wochen der Fall, am 14. Oktober. Da wir die GATT-Verhandlungen heute erneut auf der Tagesordnung haben, möchte ich der Hoffnung Ausdruck geben, daß es hoffentlich das allerletzte Mal vor einem endgültigen Verhandlungsergebnis ist. Es ist höchste Zeit, endlich zu einem Abschluß zu kommen. ({0}) Die lange Dauer der Verhandlungen, bis heute mehr als sechs Jahre, stellt eine erhebliche Belastung für die Weltwirtschaft und das multilaterale Handelssystem dar. Reformen in wichtigen Bereichen des internationalen Wirtschaftslebens, z. B. bei den Dienstleistungen, den Investitionen, dem Schutz des geistigen Eigentums, warten dringend auf Regelungen. Leider hat der Agrarkonflikt alles andere überschattet. Es hatte in der Öffentlichkeit völlig zu Unrecht den Anschein, als ginge es bei den GATT-Verhandlungen ausschließlich um Agrarfragen. ({1}) Wenn ich sagte, daß es kaum ein Thema gibt, das uns in den letzten Jahren so häufig beschäftigt hat, so ist hinzuzufügen, daß es ebenfalls kein Thema gibt, bei dem im Grundsatz und über das Ziel, das durch die Verhandlungen erreicht werden soll, sowenig Meinungsverschiedenheiten bestehen, wenigstens in diesem Hause. Wenn wir uns alle einig sind, daß die Bundesrepublik ein elementares, ein überragendes Interesse an einem erfolgreichen Abschluß der Uruguay-Runde hat, so folgt daraus - das ist unsere allgemeine Meinung -, daß die GATT-Runde zu einem Erfolg werden muß. Alle beteiligten Länder sind zum Erfolg verdammt, wenn sie nicht alle Schaden nehmen wollen. Denn ein Scheitern hätte für alle verheerende Folgen. Alle Länder werden gewinnen, wenn die Verhandlungen zu einem Erfolg führen; sie würden alle verlieren, wenn am Ende ein Mißerfolg stünde. ({2}) Viel, wirklich sehr viel steht auf dem Spiel. Dies ist immer wieder auch in diesem Haus gesagt worden. Die Gründe für diese Einschätzung können gar nicht oft genug genannt werden: Erstens. Das GATT und seine Weiterentwicklung ist von größter Bedeutung für eine weitere Stärkung des multilateralen weltweiten Handelssystems. Ein Scheitern würde die Tendenz zu einer Bilateralisierung der Handelsbeziehungen zu Lasten Dritter und die wachsende Neigung zu einseitigen handelspolitischen Maßnahmen auf unheilvolle Weise wieder verstärken. Es würde der Bildung regionaler Handelsblöcke Vorschub geleistet. Die bisherige Politik der wirtschaftlichen Kooperation würde durch eine Politik der Konfrontation ersetzt werden. Unweigerlich würde die Gefahr gegenseitiger Sanktionen wachsen. Vermehrte Handelskonflikte wären zu erwarten mit all den absurden Folgen, die solchen Konflikten eigen sind. ({3}) - Ich habe auf die verheerenden Folgen, Herr Beckmann, schon hingewiesen. Es wäre in der Tat eine Katastrophe. Ich stimme dem, was Sie sagen, voll und ganz zu. - Im Falle einer Eskalation wären auch Handelsstreitigkeiten zwischen der EG und den USA und eine dauerhafte Beeinträchtigung des transatlantischen Verhältnisses zu erwarten, etwas, was uns wirklich nicht gleichgültig sein könnte und was um jeden Preis verhindert werden muß. Zweitens. Die Weltwirtschaft befindet sich in einer Phase der Stagnation, und es besteht die Gefahr, daß sie in eine Rezession abrutscht. Ein Scheitern der Uruguay-Runde würde die aktuellen rezessiven Tendenzen in der Weltkonjunktur verstärken. Die konjunkturelle Erholung, die auch wir dringend benötigen, würde zumindest mit erheblicher zeitlicher Verzögerung eintreten. Umgekehrt wird ein erfolgreicher Abschluß der Verhandlungen der Konjunkturentwicklung weltweit entscheidende neue Impulse geben. Drittens. Das GATT und seine Weiterentwicklung ist von größter Bedeutung auch für die Dritte Welt. ({4}) Alle finanzielle Entwicklungshilfe - mag sie noch so groß sein - wird niemals das erreichen können, was ein erfolgreicher Verhandlungsabschluß für die Entwicklungsländer bringen würde. ({5}) Die Entwicklungsländer sind daher ebenfalls dringend auf einen erfolgreichen Abschluß angewiesen. Ihre Wirtschaft wird sich nur dann auf einen tragfähigen Wachstumskurs bringen lassen, wenn das System des freien Welthandels gestärkt werden kann. Das gleiche gilt im übrigen für die neuen, unabhängigen Länder in Mittel- und Osteuropa. Ohne eine weitere Öffnung unserer Märkte werden sie sich nicht in die Weltwirtschaft integrieren können. Viertens. Für die Bundesrepublik ist mehr als für jedes andere Industrie- und EG-Land ein freier Welthandel unverzichtbar. Ein Drittel unseres Bruttosozialprodukts setzen wir auf dem Weltmarkt ab. Der Export ist damit ein Lebensnerv unserer Wirtschaft. Eine Fortentwicklung des freien Welthandels und eine weitere Öffnung der Märkte sind aus diesem Grunde für uns lebensnotwendig. Ein Rückfall in alte Handelsbeschränkungen darf es deshalb nicht geben. Was wir daher heute fordern müssen, ist eine sofortige Fortsetzung der Verhandlungen in Genf. Dies um so mehr, als in den letzten Wochen das größte Hindernis für einen Fortgang der Verhandlungen aus dem Wege geräumt worden ist. Die Einigung über die noch offenen Agrarfragen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den USA hat den Weg für eine endgültige Einigung über das Gesamtpaket frei gemacht. Meine Damen und Herren, ich meine, es ist angebracht, dem Bundeslandwirtschaftsminister für diesen Erfolg zu danken, zu dem er durch seine konstruktive Haltung einen wesentlichen Beitrag geleistet hat. Wir sollten nicht vergessen, in was für einer schwierigen Situation er sich befindet: auf der einen Seite die berechtigten Wünsche, Forderungen und Interessen der Landwirte, auf der anderen Seite der unabweisbare Zwang, die GATT-Verhandlungen nicht scheitern zu lassen. Es ist doch gar nicht zu bestreiten, daß den Landwirten durch die getroffenen Vereinbarungen zum Teil beträchtliche Opfer abverlangt werden. Dies rechtfertigt, meine ich, auch die Forderung, für diese Opfer im Gesamtinteresse einen Ausgleich zu leisten. ({6}) Wenn wir alle von einem erfolgreichen Abschluß der GATT-Verhandlungen profitieren, muß es möglich sein, die Situation der deutschen Landwirte künftig so zu gestalten, daß diese mit dem GATT-Kompromiß leben können. ({7}) - Sehr schön, ich freue mich. Jetzt, wo der Weg durch die Einigung EG-USA frei geworden ist, geht es darum, möglichst schnell auch die noch offenen Fragen auf anderen Verhandlungsfeldern der Uruguay-Runde zu einer baldigen Klärung zu bringen. Dies sollte relativ leicht möglich sein, sind doch rund 95 % der zu verhandelnden Probleme inzwischen abgearbeitet. Es ist zu bedauern, daß über die Agrarfragen die anderen noch zu behandelnden Themen praktisch auf Eis gelegt worden waren. Dazu haben auch die USA einen erheblichen Beitrag geleistet. Auch sie hatten sich in die Agrarprobleme regelrecht verbissen. Von den noch endgültig abzuschließenden anderen Verhandlungsfeldern erwähne ich die Dienstleistungen, den Textilsektor, den Marktzugang und den Schutz des geistigen Eigentums. Bei den Dienstleistungen sollte es möglich sein, auch jene Dienstleistungen mit einzubeziehen, bei denen sich die USA bislang eher reserviert gezeigt haben; ich meine die Finanzdienstleistungen. Nachdem die USA hier aber auf eine Ausnahme von der Meistbegünstigung verzichtet haben, dürfte der Weg für den Abschluß eines Rahmenabkommens und erste Liberalisierungsverpflichtungen frei sein. Beim Thema Marktzugang müssen die Vereinigten Staaten noch Entgegenkommen zeigen. Der Marktzugang ist ein Punkt von beträchtlicher Bedeutung, nicht nur für die Entwicklungsländer und die Länder in Osteuropa - ich habe dies bereits erwähnt -, sondern auch für die Europäische Gemeinschaft ihrerseits. Nicht nur wir haben Märkte zu öffnen, sondern auch die Schwellenländer, namentlich in Südostasien, müssen dies tun. Aber auch die Entwicklungsländer müssen den Marktzugang verbessern. Zufrieden sein können wir mit dem bereits Erreichten zum Schutz des geistigen Eigentums. Was jetzt noch fehlt, ist der Abschluß eines multilateralen Abkommens über die vorgesehenen Schutzstandards und über deren Durchsetzung. Für die deutsche Wirtschaft und Industrie sind - ich habe darauf bereits in der letzten Debatte hingewiesen - allein die Regelungen über das geistige Eigentum Grund genug, die Verhandlungen und selbst ihre Dauer zu rechtfertigen. Mit Befriedigung haben wir am Mittwoch im Wirtschaftsausschuß gehört, daß Kommission und Rat die Ergebnisse der Verhandlungen zwischen der EG und den USA zur Kenntnis genommen und festgestellt haben - dies ist, meine ich, eine wichtige Feststellung; die Kommission hat dies sogar einstimmig getan -, daß sie sich im Rahmen der EG-Agrarreform halten. Mit Genugtuung haben wir auch gehört, daß ein erneuter Blockadeversuch in der Sitzung am 7. Dezember gescheitert ist. Die französische Veto-Drohung ist zwar noch nicht vom Tisch, doch das wichtigste ist: sofortige weitere Verhandlungen fiber alle Verhandlungsfelder der Uruguay-Runde. Auf dem Gipfel in Edinburgh, der heute beginnt, wird hoffentlich noch einmal mit allem Nachdruck und aller Entschiedenheit zum Ausdruck gebracht werden, daß die Verhandlungen in den nächsten vier Wochen zu einem endgültigen Abschluß geführt werden müssen. Die Bundesregierung wird darauf drängen - davon bin ich überzeugt -, daß in der EG eine Außenwirtschafts- und Außenhandelspolitik praktiziert wird, die am Interesse der gesamten EG-Wirtschaft und nicht nur an bestimmten Sonderinteressen, weder sektoralen noch regionalen, ausgerichtet ist. ({8}) Nur so können die Bürger Europas von den Vorteilen der europäischen Integration überzeugt werden, nur so lassen sich Wohlstand und Arbeitsplätze dauerhaft sichern. Ich danke Ihnen. ({9})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Elke Leonhard-Schmid.

Dr. Elke Leonhard-Schmid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002723, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst, Herr Präsident: Heute können Sie unbesorgt sein. Ich habe sogar meinem Kollegen von der Landwirtschaft eine Minute meiner Redezeit abgetreten. ({0}) - Einvernehmlich, natürlich.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Aber besorgt gemacht haben Sie mich nie. ({0})

Dr. Elke Leonhard-Schmid (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002723, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Einen Zusammenbruch des GATT, des General Agreement on Tariffs and Trade, kann sich die Welt nicht leisten. Konkret: Die Zukunftsaussichten der Weltwirtschaft sind eindeutig an den erfolgreichen Abschluß der Uruguay-Runde gekoppelt. Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Das Schicksal der achten Verhandlungsrunde des Zoll- und Handelsabkommens darf nicht den Bürokraten überlassen werden. Es ist eine zentrale Aufgabe des Parlaments. ({0}) Nicht nur die Opposition dieses Hauses, sondern die deutschen Industrieverbände und die Institute erinnerten die Bundesregierung bei jeder sich bietenden Gelegenheit an die vitale Bedeutung des GATT- Abschlusses gerade für die deutsche Wirtschaft. Was, meine Damen und Herren, steht auf dem Spiel? Wenn ich das so sagen darf, ohne die Pfälzer zu treffen: Es steht mehr auf dem Spiel als Pfälzer Saumagen. Für dessen Rettung hätten Sie natürlich längst einen Krisenstab eingesetzt. ({1}) Um was geht es konkret? In der exportporientierten Bundesrepublik macht der Ausfuhranteil von Gütern und Dienstleistungen nicht nur 34 % des Bruttosozialprodukts aus, sondern auch jeder dritte Arbeitsplatz ist direkt oder indirekt vom Export abhängig. Der konjunkturelle Wert einer erfolgreich abgeschlossenen Uruguay-Runde ist also nicht zu verkennen. Mehr noch: Eine OECD-Studie errechnet eine mögliche Steigerung des Welt-Bruttosozialprodukts um 20 % bis zum Jahr 2002, was einen Wachstumsgewinn von 5 250 Milliarden Dollar entspricht. Anders ausgedrückt, könnte in den nächsten zehn Jahren jede Familie mit einem durchschnittlichen Kaufkraftzuwachs von 17 000 Dollar rechnen. Es ist bekannt, was auf dem Spiel steht. Dennoch erleben wir seit einem Jahr eine für viele Beteiligte fast nicht mehr erträgliche Stagnation. Am 20. Dezember jährt sich die Verabschiedung des sogenannten Dunkel-Kompromisses, der im Winter letzten Jahres wieder Bewegung in die 1986 gestartete, immer noch festgefahrene Uruguay-Runde bringen sollte - ein geeigneter Anlaß, wie ich meine, einige Handlungsdefizite der Bundesregierung und ihren Anteil an dem verhängnisvollen Verhandlungspatt der laufenden GATT-Runde der Kürze der Zeit wegen zumindest anzureißen. Lassen Sie mich drei Punkte herausstellen: Erstens. Obwohl es der Bundesregierung nicht an deutlichen Hinweisen fehlte, daß es im transatlantischen Agrarstreit weniger das Spannungsfeld zwischen der EG und den USA zu entschärfen, als vielmehr die Interessen der großen Agrarexporteure Frankreich und USA in Einklang zu bringen galt, schwankte Bonn zuletzt zwischen - na, ich würde einmal sagen Dr. Elke Leonhard-Schmid schüchterner Zurückhaltung und unbeteiligt wirkender Neutralität; ({2}) eine infantile Haltung, wie ich meine. ({3}) Schon im März 1992, wenige Monate nach dem Dunkel-Kompromiß, forderte US-Präsident Bush den Kanzler zu verstärktem Druck auf den französischen EG-Partner auf. Doch nichts, absolut nichts bewegte sich; außer den Augen des Kanzlers. ({4}) Alle zum Schlußtermin hochstilisierten Verhandlungsrunden und Gipfeltreffen verpufften; erinnert sei an die Daten: Anfang Januar dieses Jahres, April und Juli. Bei dem G-7-Treffen in München versprachen die Regierungschefs, die GATT-Verhandlungen noch vor Ende 1992 zu einem „weltweit ausgewogenen Resultat zu führen"; bitterer Zynismus angesichts der bislang vorherrschenden Realität; ({5}) bitterer Zynismus vor allem aber für jene übrigen 108 Mitgliedstaaten des GATT, die bis zur Beilegung des transatlantischen Gerangels um den Abbau von Agrarsubventionen, insbesondere der subventionierten Agrarexporte, weitgehend auf die Zuschauerbank verbannt bleiben; ein unerträglicher Zustand. Die Verletzung erkennt jeder, der nach Genf fährt und mit den einzelnen Delegationen redet. Sie ist unverkennbar. Zweitens. In unverantwortlicher Weise übersah die Bundesregierung die Weltwirtschaftssignale, die keinesfalls - auch mein Kollege Sprung hat das schon angedeutet - auf Freihandel stehen. Gerade das Jahr 1992 droht zum Jahr der Handelsregionalisierungen und Handelsblöcke zu werden. Ende Januar einigten sich in Singapur die ASEAN-Staaten, ein Verbund der dynamischsten Weltmärkte überhaupt, auf die Schaffung der Freihandelszone AFTA. Am 12. August formierte sich auf dem nordamerikanischen Kontinent der weltgrößte Handelsblock, die NAFTA, bestehend aus Mexiko, Kanada und den USA; ein Markt mit 360 Millionen Verbrauchern, einem Bruttosozialprodukt von 6 450 Milliarden US-Dollar und einem Exportvolumen von 593 Milliarden Dollar. Also: ein Warnsignal nach dem anderen! Lassen Sie mich hinzufügen: Es gehört schon eine gehörige Portion Ignoranz dazu, eine weltwirtschaftliche Message nach der anderen zu verkennen. ({6}) Drittens. Nicht nur die Sicherung der Leistungskraft der deutschen Wirtschaft, die Vermittlerrolle zwischen Paris und Washington und die entstehenden Handelsblöcke wurden unterschätzt, sondern es wurde auch die vielbeschworene Integration der Staaten Ost- und Mitteleuropas in die Weltwirtschaft bislang verhindert. Nicht zuletzt warten die Entwicklungsländer, denen allein durch Agrarsubventionen der Industrienationen jährliche Exportverluste von 50 Milliarden Dollar entstehen, weiter auf ihre faire Chance, am Welthandel zu partizipieren. ({7}) Alle flehenden Appelle der schwächeren Handelsnationen verhallten. Weltwirtschaftliche Verantwortung vermissen auch die 14 in der CAIRNS-Gruppe zusammengeschlossenen Nationen, in deren Export die Agrarprodukte dominieren. Von den hochsubventionierten amerikanischen und europäischen Agrargütern an den Bettelstab gebracht, hoffen und warten gerade diese Länder auf den baldigen Agrarsubventionsriegel der Uruguay-Runde. Es bedurfte erst der gescheiterten Chicagoer Verhandlungen Anfang November und massiver Strafzolldrohungen der USA, um die Bundesregierung - zumindest für kurze Zeit - aus ihrem handelspolitischen Dornröschenschlaf zu wecken. ({8}) - Richten Sie einmal Ihre Unruhe an die Regierungsbank! Gehen Sie einmal nach Genf und reden Sie mit den Leuten! Dann kommen Sie vielleicht zu einem anderen Bild. Wenn Sie sonst gegenüber dieser Regierung nichts zu sagen haben, verstehe ich ja Ihren Unmut. Aber ich bin nicht der Blitzableiter. ({9}) - Der Prinz ist da - aha -; das habe jetzt auch ich entdeckt. Gut. Statt zielgerichteten Krisenmanagements und klarer Worte an die Adresse Frankreichs gab es aber wieder nur hektischen Aktionismus, um in der leidigen Frage der Ölsaaten-Subventionierung die amerikanischen Sanktionen abzuwenden, die auch deutsche Weißweinimporte getroffen hätten. Was unter dem Strich nach knapp einem Verhandlungsjahr bleibt, gibt zu denken. Nicht die UruguayRunde wurde abgeschlossen, sondern mühselig - unter Hauen und Stechen - ein Handelskrieg verhindert. ({10}) Diese Dramaturgie würde eine umfassende Analyse des Handlungsdefizits der Bundesregierung verlangen. Aber: Die globale Dringlichkeit des GATT- Abschlusses verbietet derzeit langatmiges Nachkarten der Versäumnisse bundesdeutscher Handelspolitik. Die Devise muß statt dessen lauten: Retten, was noch zu retten ist. Selbst das wird schwer genug sein.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit stattlich überschritten. Dr. Elke Leonhard-Schmid: Ja. - Nur noch ein Schlußsatz, Herr Präsident. Auf dem Spiel steht nicht nur internationale und nationale Handelspolitik. Vielmehr geht es in einer Zeit wachsender Orientierungs11198 losigkeit um die Wahrung eines in 45 Jahren mühsam aufgebauten Instruments. 1992: Viel Vertrauen wurde zerschlagen. Dennoch: Begreifen, ergreifen Sie endlich die Jahrhundertchance! ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Frau Kollegin, das kann ich mir jetzt natürlich nicht verkneifen: Sie haben mir zwar keine Sorgen gemacht, aber Sie haben sich weder an die Vereinbarung noch an Ihre eigene Ankündigung gehalten. ({0}) Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Beckmann.

Klaus Beckmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir befinden uns heute in der Tat in einer besonders wichtigen Phase der Entwicklung des Welthandelssystems. Für meine Fraktion steht es seit jeher außer Frage, daß dem Modell der Marktwirtschaft im Inneren außenwirtschaftlich das Modell des freien Welthandels entspricht. Wir wissen: Ein freies, offenes Welthandelssystem ist eine der entscheidenden Quellen des Wachstums und des Wohlstands in der Welt. Angesichts der Protestaktionen der vergangenen Tage in Frankreich und auch in Deutschland, ({0}) die letztlich die Verfolgung von Gruppeninteressen mit protektionistischen Maßnahmen zum Ziel hatten, stelle ich für meine Fraktion hier ausdrücklich fest: Wir haben aus den Erfahrungen mit den verheerenden ökonomischen und letztlich auch politischen Folgen des Protektionismus Anfang der 30er Jahre dieses Jahrhunderts und aus der Apokalypse des Zweiten Weltkrieges gelernt. Also müssen wir den Bürgern immer wieder klarmachen, daß Protektionismus die Verbraucher belastet, weil sie höhere Preise bezahlen müssen. Protektionismus führt auch zu Wettbewerbsverzerrungen und damit letztlich zu höherer Arbeitslosigkeit. Auf Dauer schaden der Schutz vor Wettbewerb und die Abkehr von den Prinzipien des freien Welthandels allen Beteiligten; sie schaden auch den vermeintlich begünstigten Sektoren. Ich füge hinzu: In der Protektion liegt die Gefahr der Eskalation. Am Ende gibt es keine Sieger, sondern nur noch Verlierer. ({1}) Dagegen bedeutet der freie Welthandel nicht nur mehr Einkommen und mehr Wohlstand, sondern auch mehr Wahlfreiheit und mehr Entfaltungsmöglichkeit. Er bedeutet auch die Verfügungsmöglichkeit über Produkte aus aller Welt, niedrigere Preise und bessere Qualität. Ich mache noch auf eines aufmerksam: Wir dürfen bei all dem jedoch nicht vergessen, daß das freie Welthandelssystem bisher vor allen Dingen den Industrieländern zugute gekommen ist. ({2}) Der Integrationsgrad der Entwicklungsländer blieb dagegen weit zurück. Deswegen müssen wir jetzt über den Abschluß der Uruguay-Runde auch den Entwicklungsländern helfen. Ich denke, daß der Zugang zu den Märkten der Industrieländer die beste Entwicklungshilfe ist. Darauf hat eben auch schon der Herr Kollege Sprung hingewiesen. Insgesamt geht es also um die Neugestaltung des Welthandelssystems bis weit in das nächste Jahrhundert hinein. ({3}) Lassen Sie mich hervorheben: Der Erfolg der marktwirtschaftlichen Reformen in den Ländern Osteuropas und die Lösung der Probleme der Entwicklungsländer hängen maßgeblich davon ab, daß die Weltmärkte diesen Ländern offenstehen. ({4}) Deshalb ist auch der Abschluß der Uruguay-Runde überfällig. Die Konsequenzen des Scheiterns der UruguayRunde, Herr Kollege, wären allerdings fatal. ({5}) Die protektionistischen Kräfte in der Welt würden gestärkt und könnten gefährliche Handelskonflikte heraufbeschwören. Auch würde die wirtschaftliche Basis der freiheitlichen Gesellschaften ausgehöhlt, die Reformen in den osteuropäischen Ländern würden behindert, und schließlich würden die Entwicklungsländer von der Teilnahme am wirtschaftlichen Fortschritt weiter ausgeschlossen werden. ({6}) Aus diesen Konsequenzen - das will ich noch einmal unterstreichen - wird die politische Bedeutung der Uruguay-Runde besonders deutlich. Vor diesem Hintergrund begrüßt die F.D.P.-Fraktion ausdrücklich das Einvernehmen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Vereinigten Staaten von Amerika über bilateral offene Agrarfragen sowie über Ölsaaten vom 18./19. November 1992. Dies scheint uns eine gute Basis für die Fortsetzung der UR-Verhandlungen zu sein. Aus unserer Sicht konnte durch das Einvernehmen im Ölsaatenstreit ein gefährliches Konfliktpotential für die Handelsbeziehungen zwischen der EG und den USA unter Kontrolle gebracht werden. Wir begrüßen es, daß noch Einzelheiten geprüft werden, und gehen davon aus, daß sich dabei bestätigen wird, daß sich die Ergebnisse im Rahmen der EG-Agrarreform halten bzw. mit den Instrumenten der Reform umsetzen lassen. ({7}) Insofern unterstützt meine Fraktion auch die Haltung der Bundesregierung und deren Auffassung, daß das Einvernehmen durch das EGK-Mandat gedeckt ist und nicht über den Rahmen der EG-Agrarregform hinausgeht. Meine Fraktion unterstützt die Bundesregierung in dem Bemühen, auf einen erfolgreichen Abschluß der Verhandlungen bis zum Jahresende zu drängen. Der jetzt gefundene Kompromiß hat vom Ministerrat am 7. Dezember - also am Montag dieser Woche - in Brüssel grünes Licht erhalten. Damit wird der Weg für die Fortsetzung der UR-Verhandlungen auch in anderen Sektoren frei. Ich erinnere an den Abschluß der Verhandlungen über Marktzugang und Dienstleistungen; ich denke, daß der Bundeswirtschaftsminister hierauf noch eingehen wird. Die hier vorhandenen Probleme sind aus meiner Sicht und aus der Sicht meiner Fraktion durchaus lösbar. Meine Fraktion fordert deswegen, Herr Bundeswirtschaftsminister, die Bundesregierung auf, mit Nachdruck darauf zu drängen, daß die Kommission die Verhandlungen in Genf zügig und entschlossen weiterführt und sie möglichst bis zum Jahresende abschließt. ({8}) Das am heutigen Freitag in Edinburgh stattfindende EG-Gipfeltreffen sollte deshalb nicht nur das Erreichte positiv zur Kenntnis nehmen, sondern gleichzeitig die EG-Kommission ermutigen, auf der Grundlage der gefundenen Kompromißlösung abschlußorientiert weiter zu verhandeln. Vielen Dank. ({9})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Konrad Weiß.

Konrad Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002461, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident, mit einem Zitat von Adam Smith beginnen, das die Absurdität einiger Positionen in den GATT-Verhandlungen und insbesondere im Agrarstreit verdeutlicht. Adam Smith schreibt: In Treibhäusern, Mistbeeten und erwärmtem Mauerwerk lassen sich auch in Schottland recht gute Trauben ziehen und daraus auch sehr gute Weine keltern; nur würden sie etwa 30mal so viel kosten wie ein zumindest gleich guter aus dem Ausland. Wäre es also sinnvoll, jegliche Einfuhr von ausländischen Weinen durch Gesetz zu verbieten, nur um den Anbau von Klarett und Burgunder in Schottland anzuregen? Ein Familienvater, der weitsichtig handelt, folgt dem Grundsatz, niemals zu versuchen, selber etwas herzustellen, was er sonstwo billiger kaufen kann. ({0}) Adam Smith hätte sich sicher nicht träumen lassen, daß dieser vernünftige Grundsatz 150 Jahre später in der Europäischen Gemeinschaft gänzlich vergessen scheint. Es bleibt zu hoffen, daß sich die Bundesregierung mit der Vernunft eines Familienvaters um einen erfolgreichen Abschluß der GATT-Runde bemüht und sich nicht vom lauten Geschrei nach Ausgleichszahlungen und Subventionen verwirren läßt. Bei allem Verständnis für die Bauern und ihre Existenzängste: Die Demonstrationen in den letzten Tagen und das stete Pochen auf Subventionen sind verfehlt. ({1}) Die Bundesrepublik Deutschland hat eine kurzsichtige Agrarpolitik betrieben und allzu willig der starken Agrarlobby nachgegeben. ({2}) - Ja, sicher; auch das gehört dazu. Die EG-Agrarpolitik hält mit Subventionen eine nicht mehr zeitgemäße Agrarpolitik am Leben, die weder volskwirtschaftlich sinnvoll ist noch in irgend einer Weise vor den Steuerzahlern und den Verbrauchern gerechtfertigt werden kann. ({3}) - Ich habe eine andere Meinung als Sie, und das ist wohl auch Sinn dieses Hauses. - Notwendig ist eine Agrarreform, die Qualität stützt und garantiert und die den Landwirten in Landschaftspflege, ökologischem Anbau und artgerechter Tierhaltung eine wirkliche Chance bietet. Die angeschlagene Weltwirtschaft kann es sich nicht leisten, zugunsten eines volkswirtschaftlichen Verlustgeschäftes ein Scheitern der GATT-Verhandlungen zu riskieren; da stimme ich mit Ihnen überein. Experten erhoffen sich von einer Liberalisierung des Welthandels eine enorme Steigerung der Wertschöpfung, die angesichts einer spürbaren Furcht vor einer Weltrezession aufatmen ließe. Bei allgemeiner Wachstumsbelebung und Exportzunahme von mehr als 50 Milliarden DM jährlich könnten auch die Entwicklungsländer Einkommensgewinne erzielen, die den Wert der offiziellen Entwicklungshilfe bei weitem übersteigen würde. ({4}) Die bisher verhandelten Vereinbarungen von GATS über TRIPs und TRIMs aber fördern die Industrieländer und bringen nur vereinzelt Vorteile für die Entwicklungsländer. Dringend notwendig ist eine weitere Demokratisierung des GATT. Die in den Sonntagsreden geforderte weitreichende Marktöffnung wird von den Industrienationen selten verwirklicht. Maßnahmen wie freiwillige Exportquoten, Dumpingverfahren und Ausgleichszölle werden immer öfter eingesetzt. Vor dem Schiedsgericht setzt sich das Recht des Stärkeren durch. Sonderregeln, Ausnahmen und Marktabsprachen sind an der Tagesordnung, Schiedssprüche gelten nur für unbedeutende Handelspartner. Wo Entwicklungsländer als Konrad Weiß ({5}) Konkurrenten gefährlich werden können - das ist doch leider die Praxis -, sehen sie sich in ihre Schranken verwiesen. Die UNDP schätzt in ihrem jüngsten Jahresbericht, daß der ungleiche Zugang zum Weltmarkt den Süden 500 Milliarden Dollar kostet. Das von den GATT-Unterhändlern durch die Hintertür eingeführte Regelwerk wird der Aufgabe der Demokratisierung des Welthandels nicht gerecht. In der Öffentlichkeit wurde bislang kaum thematisiert, daß mit der Unterzeichnung der Abkommen der Uruguay-Runde gleichzeitig die Mitgliedschaft in der neugeschaffenen Multilateral Trade Organisation - MTO - besiegelt wird. Hier wurde in aller Stille eine Organisation geschaffen, die die nationale Souveränität beschneidet. Sie ist in der bestehenden Form nicht zu akzeptieren, und über sie muß noch intensiv verhandelt werden, und zwar unabhängig vom GATT. Wichtig ist - bei aller Befürwortung der Liberalisierung - eine soziale und ökologische Absicherung des Handelssystems. Die einseitige Ausrichtung auf wirtschaftliches Wachstum ist kurzsichtig gedacht und trägt nicht zur Schaffung eines gerechteren Weltwirtschaftssystems bei, das aber die Grundlage für eine Veränderung der Verhältnisse ist. Die Vereinbarungen des GATT müssen mit den Werten der internationalen Gemeinschaft abgestimmt sein. Abkommen, die zum Schutz der Umwelt und zur Sicherung sozialer Mindeststandards geschlossen wurden, dürfen auch vom GATT nicht unterlaufen werden. Vielen Dank. ({6})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Dr. Fritz Schumann, Sie haben das Wort.

Dr. Fritz Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002114, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor fast genau einem Jahr haben wir uns hier am 12. Dezember 1991 auf der Grundlage der Großen Anfrage der SPD zum GATT-Welthandelssystem verständigen können und prinzipiell unseren Standpunkt klargemacht. Seit dieser Zeit hat es eine Reihe von Entscheidungen und Hinweisen gegeben, die speziell unter den Landwirten sehr starke Emotionen ausgelöst haben. Wir konnten in dieser Woche Zeuge davon werden. Ich möchte für uns feststellen, daß wir prinzipiell dafür sind, die GATT-Verhandlungen zu einem erfolgreichen Abschluß zu bringen. Ich möchte aber gleichzeitig dazu sagen, daß es uns darum geht, noch viel mehr Fortschritte zu erreichen, und zwar in Richtung einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung, in Richtung dauerhafter Schutzrechte für die Entwicklung der schwächeren Länder, in Richtung Regulierung des Welthandels nach ökologischen Kriterien usw. Ich glaube, daß das alles Fragen sind, die auch und gerade im wohlverstandenen Zukunftsinteresse der sogenannten Ersten Welt liegen, also der fortgeschrittenen Industrieländer. ({0}) Nach Berichten der Weltbank ist der Verlust der Entwicklungsländer durch Protektionismus im Welthandel gegenwärtig etwa doppelt so hoch wie die gesamte Entwicklungshilfe. ({1}) - Darüber unterhalten wir uns mal, Herr Hornung, zu welchem Preis wir Weizen verkaufen können. Ich werde aber noch ein bißchen etwas zur Agrarreform sagen. Der tatsächliche Durchbruch bei den GATT-Verhandlungen ist für uns erst dann erreicht, wenn das GATT nicht mehr als Instrument der reichen Länder und der transnationalen Konzerne im Welthandel mißbraucht werden kann. Das kann es noch; darauf haben sich eine Reihe von Vorrednern j a bezogen. Der Durchbruch in der seit Jahren festgefahrenen Uruguay-Runde, der Agrarkompromiß zwischen den USA und der EG-Kommission, ist nur ein Teil der strittigen Gesamtproblematik, die beim GATT noch aussteht. Er dient zuallererst dem Kapital in Industrie, Dienstleistungen und Handel. Das müssen wir eindeutig feststellen. Zugleich verdeutlicht er die Misere einer Agrarpolitik, die die westeuropäischen Landwirte zu Subventionsempfängern degradierte. Ich glaube, das ist niederschmetternd für die, die sich darin bewähren müssen. Entschieden möchte ich mich von jenen Politikern distanzieren, die, wie ich meine, in verantwortungsloser Art und Weise den Agrarkompromiß mit den USA mißbrauchen, indem sie, anknüpfend an die berechtigten Ängste der Bauern, Emotionen schüren und Feindbilder aufbauen. ({2}) Ich möchte mit aller Deutlichkeit sagen: Ich war über die Demonstration am Dienstag gegenüber auf der anderen Rheinseite erschrocken, als dort in zwanzig Metern Entfernung zum Präsidium und zum Rednerpult ein Galgen vorbeigeführt wurde, an dem eine Puppe aufgehangen war, die einen Bundesminister darstellen sollte. Ich glaube, es ist Zeit, daß wir uns alle auflehnen sollten, so etwas zu dulden und öffentlich zu machen. ({3}) Tatsache ist jedoch, daß nicht der jüngste Agrarkompromiß, sondern der sich verschärfende Strukturwandel in der Landwirtschaft, den wir zu verzeichnen haben, und die darauf ungenügend reagierende Agrarreform der EG hier aufeinanderprallen. Nach meiner Meinung blockiert sich die Argrarreformpolitik inzwischen selbst. Sie verlangt wettbewerbsfähige, gut strukturierte und sicher auch größere Betriebe, aber die Ausgleichszahlungen halten - speziell in den Altbundesländern - die Pachtzahlungen hoch und verhindern auch dadurch sinnvolle Entwicklungen von Pachtbetrieben, die natürlich zu verzeichnen sind und viel schneller vorangehen müßten. ({4}) Dr. Fritz Schumann ({5}) Für mich steht fest, daß die Gesellschaft auf Dauer keinen Zweig unterstützen wird, der Einkommen verlangt, die die Preise nicht decken, bzw. einen Zweig, der nur noch die Landschaft pflegt. Der Konservatismus der Agrarpolitik hat doch dazu geführt, daß die Mehrzahl der kleinen und mittleren Bauernhöfe nur solange existieren kann, wie Ausgleichszahlungen ungekürzt fließen. Die Agrarreform hat die Weichen in Richtung wettbewerbsfähige Betriebe gestellt; dies ist ganz eindeutig festzustellen. Nichts wird die Bauern davon abhalten, sich den wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten und der Nachfrage kostenoptimal anzupassen. Daraus erwächst das Problem, daß sich in der EG der Wettbewerb zwischen den unterschiedlichen Steigerungsmöglichkeiten der Produktion - und, in der Endkonsequenz, des Gewinns in den Intensivgebieten und den benachteiligten Gebieten abspielt. Das heißt, der Verdrängungswettbewerb der von Natur aus benachteiligten Gebiete ist vorprogrammiert. Fakt ist, daß die flankierenden Maßnahmen der Reform auf eine Verminderung der Produktion in benachteiligten Gebieten zielen. All das stellt Fragen für die Entwicklung ländlicher Räume in neuen Dimensionen. ({6}) - Wir wollen das nicht. Ich bin eher dafür, daß alles in allem mehr Ehrlichkeit der Politik gegenüber den Bauern Einzug halten muß. Dazu gehört, bereits jetzt über die Reform der Reform nachzudenken, und zwar gemeinsam mit den Landwirten. Danke schön. ({7})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Christoph Matschie.

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Beginn der UruguayRunde des GATT im September 1986 stand die große Idee von einem freieren Welthandel, der dem Wohl aller Staaten dienen und gerade den Entwicklungsländern bessere Chancen einräumen sollte. Im Laufe der Jahre ist das große Unterfangen zu einem kleinlichen Gezänk verkommen. Im öffentlichen Bewußtsein ist GATT nur noch verbunden mit dem Schacher um Ölsaaten und aufgebrachten protestierenden Bauern. O GATT, o GATT!, möchte man ausrufen. Die entscheidende Frage müßte doch lauten: Wie muß der Welthandel gestaltet werden, damit die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in der Welt verringert werden und faire Entwicklungschancen für alle entstehen? ({0}) In der entwicklungspolitischen Diskussion taucht immer wieder das Schlagwort „Handel statt Hilfe" auf. Gemeint ist damit, daß faire Handelsbedingungen mehr bewirken können als Entwicklungshilfe. Schauen wir uns die Praxis an. Im letzten Bericht der UN-Entwicklungsbehörde UNDP heißt es: Zwanzig von vierundzwanzig Industrieländern sind heute protektionistischer als vor zehn Jahren. Weiter führt dieser Bericht aus: Handelsschranken werden gerade bei solchen Produkten aufgebaut, bei denen die Entwicklungsländer wettbewerbsfähiger sind. ({1}) Oder: Das Zollniveau erhöht sich bei einer beträchtlichen Zahl von Waren mit ihrem Verarbeitungsgrad. Damit werden Entwicklungsländer davon abgehalten, ihre Rohwaren zu verarbeiten. Wie soll angesichts solcher Mißstände eine vernünftige Entwicklung Platz greifen können? Die Forderung, die sich für mich aus dem gegenwärtigen Dilemma ergibt, ist aber nicht die uneingeschränkte Liberalisierung des Welthandels. Denn erstens konkurrieren reiche und arme Länder als ungleiche Partner auf den Weltmärkten. Der soeben zitierte UNDP-Bericht bemerkt sehr treffend: „Das freie Funktionieren von Märkten führt leicht dazu, daß sich die Disparitäten zwischen Reich und Arm vergrößern." Und zweitens dürften der Schutz der natürlichen Umwelt und die Bemühungen um vernünftige soziale Entwicklungen nicht unterlaufen werden. Es kommt also auf ein Gleichgewicht zwischen sinnvoller Öffnung und sinnvollem Schutz an. ({2}) Die Vergangenheit hat auch gezeigt, daß GATT einen institutionellen Rahmen und ein leistungsfähiges Streitschlichtungsverfahren braucht. Andernfalls regiert weiterhin das Recht des Stärkeren. Die Bemühungen der Bundesregierung um Schaffung einer multinationalen Handelsorganisation sind daher zu unterstützen. Allerdings sind die bisher bekannten Vorschläge nach meiner Auffassung nicht ausreichend. Hier muß noch sichergestellt werden, daß die Entwicklungsländer gleichberechtigt beteiligt werden. ({3}) Es muß klar sein, daß sich die neu zu schaffende Organisation am Ziel einer auf Dauer ökologisch tragfähigen und sozial gerechten Entwicklung orientiert. ({4}) Die SPD-Bundestagsfraktion hat vor einem Jahr einen Antrag vorgelegt, der dazu beitragen sollte, den eben genannten Zielen näherzukommen. Es mag sein, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß dieser Antrag nicht vollkommen ist. Was mich enttäuscht, ist aber der Umgang der Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen mit unserem Antrag. Die Union ließ im Protokoll vermerken, daß der SPD- Antrag richtige Ansätze aufweise, aber auch Elemente enthalte, die man nicht mittragen könnte. Wenn die Sache so wichtig ist und wenn es richtige Ansätze gab, vermisse ich jetzt einen Antrag der Union, der die richtigen Ansätze aufgreift und das gemeinsame Anliegen befördert. ({5}) Die Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P. empfanden den Antrag als überwiegend überholt. Dazu kann ich abschließend nur sagen: Wer nicht begreift, daß wir weltweit vor Herausforderungen stehen, die ein Nachdenken und Handeln in den von unserem Antrag angesprochenen Bereichen nötig machen, der wird vielleicht bald selbst als überwiegend überholt gelten müssen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({6})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Günter Marten.

Günter Marten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001425, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ziel unserer Agrarpolitik ist es, eine vielseitig strukturierte, leistungsfähige und umweltverträgliche Landwirtschaft sich entwickeln zu lassen, die auch zukünftig im Wettbewerb bestehen kann. In Europa befindet sich die agrarische Entwicklung im Umbruch. Osteuropäische Länder, deren gesamte landwirtschaftliche Nutzfläche rund 610 Millionen ha beträgt, sehen ihre Chancen im land- und ernährungswirtschaftlichen Bereich. Sie können auch auf Dauer mit ihren Produktionspotentialen von der EG nicht abgeschottet bleiben, zumal einige dieser Länder beabsichtigen, in die EG einzutreten. Natürlich werden auch die jungen Bundesländer nach der schwierigen Umbruchphase ihrer Agrarwirtschaft in Richtung auf eine unternehmerische, kostengünstig produzierende Land- und Ernährungswirtschaft gehen und sich am Markt bewähren wollen. Eine voll flächendeckende Landwirtschaft ausschließlich zur Nahrungsmittelerzeugung wird es in der EG nicht mehr geben. Dem tragen auch die EG-Programme zur Aufforstung und Extensivierung sowie zur Flächenstillegung Rechnung. ({0}) Natürlich hat der Agrarkompromiß zwischen der EG und den USA im Rahmen der Uruguay-Runde keine uneingeschränkte Zustimmung gefunden. Aber die Einigung über die noch offenen Agrarfragen haben nun den Weg für eine endgültige Zustimmung zum möglichen Abschluß der GATT-Verhandlungen freigemacht. Meine Damen und Herren, wir dürfen dem Kompromiß nicht die Zustimmung versagen, denn er leistet einen entscheidenden Beitrag zum endgültigen Abschluß des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens, des GATT! Nur eine prosperierende Wirtschaft ist in der Lage, ihre Landwirtschaft zu stützen, Herr Bundeswirtschaftsminister. Wie kritisch aber die Stimmung in der Landwirtschaft ist, machten die Bauerndemonstrationen am Dienstag und in den letzten Tagen deutlich. ({1}) - Richtig. Wie sehen aber nun die Fakten aus? Die EG erzeugt Jahr für Jahr bis zu 2 % mehr Agrarprodukte, während der Verbrauch nur um 0,5 % ansteigt. Bei einigen wichtigen Produkten, z. B. rotes Fleisch und Butter, geht der Verbrauch sogar weiter zurück, ohne daß die Agrarpolitik daran etwas ändern kann. Bei begrenzten Exportmöglichkeiten gibt es riesige Überschüsse, jährlich ca. 30 Millionen Tonnen Getreide, und folglich hohe Kosten für Lagerung und Exporterstattung. Die Interventionsbestände im Rindfleischbereich betrugen Ende 1991 etwa 950 000 Tonnen, heute liegen sie bei 1,1 Millionen Tonnen. Die Marktordnungsausgaben der EG werden 1992 voraussichtlich 71 Milliarden DM betragen, während sie vor zehn Jahren noch bei 30 Milliarden DM lagen. ({2}) Meine Damen und Herren, wir wissen doch alle: Auf überschüssigen Märkten hat die Landwirtschaft noch nie nachhaltig ausreichende Preise und Einkommen erzielen können, ({3}) Nur gleichgewichtige Märkte sind Garanten auch für gute Gewinne. Deshalb war eine Agrarreform überfällig. Ihre wesentlichen Elemente sind die Rückführung der Produktion, also Flächenstillegung und Quotenanpassung, ({4}) sowie Preissenkungen gegen Preisausgleich. Aber den Preisausgleich bekommen natürlich nur die Landwirte, die auch Flächen stillegen. Bei einer wirkungsvollen Durchführung der Agrarreform wird es möglich sein, die künftigen GATT- Verpflichtungen einzuhalten. Die GATT-Beschlüsse werden nicht zum Ruin der Landwirtschaft führen! ({5}) Das Ziel der EG, die Ausgleichszahlungen im Rahmen der Agrarreform von der Abbaupflicht im GATT zu befreien, wurde erreicht. ({6}) Allein für Deutschland bedeutet das, daß die Mittel für Flächen- und Tierprämien in Höhe von jährlich 7 bis 8 Milliarden DM keiner Abbaupflicht unterliegen werden. Die variablen Zölle, also die Abschöpfungen der EG, sollen auf feste Zölle umgestellt und schrittweise um durchschnittlich 36 % bis 1999 abgebaut werden. Ein ausreichender Außenschutz bleibt für die EG-Landwirtschaft erhalten und stellt sicher, daß das Erzeugerpreisniveau in der EG nicht von außen unterlaufen wird. Bei Getreide ist dieser Außenschutz sogar höher als nach der EG-Agrarreform. Bei Zucker könnten dagegen extrem niedrige Weltmarktpreise unter Umständen auf die Erzeugerpreise durchschlagen. Hier muß in den weiteren Verhandlungen erreicht werden, die Abbaurate nicht auf 36 %, sondern auf den geringstmöglichen Satz von 15 % festzulegen. Zur Stabilisierung des Getreidemarktes wird gefordert, die Einfuhr von Substituten zu beschränken. Die Einfuhr von Getreidesubstituten wird aber ohnehin abnehmen, da die Wettbewerbsfähigkeit heimischer Futtermittel zunehmen wird. Die subventionierten Exportmengen werden im Zeitraum 1994 bis 1999 schrittweise um 21 % gegenüber dem Fünfjahresdurchschnitt 1986 bis 1990 verringert werden müssen. Dabei darf man aber nicht übersehen, daß die EG Ende der neunziger Jahre immer noch mit Subventionen jährlich von z. B. 23,4 Millionen Tonnen Getreide und rund 800 000 Tonnen Rindfleisch behaftet ist. Zusätzlich zu den niedrigeren Abbauraten bei den Exportmengen war eine Bündelung nach Produktgruppen nicht durchsetzbar. Agrarprodukten aus Drittländern wird ein Mindestzugang von zunächst 3 % und am Ende der Übergangszeit von 5 % des EG-Verbrauchs zu einem ermäßigten Zollsatz eröffnet, wobei diese 3 bis 5 % heute natürlich schon erreicht sind. ({7}) - Das ist richtig. Die Garantieflächen für Ölsaaten konnten auf 5,13 Millionen ha festgelegt werden und entsprechen damit dem Bezugszeitraum, der der Agrarreform zugrunde liegt. Bei einer 15 %igen Stillegung auch von Ölsaatenflächen wäre der Anbau von 4,36 Millionen ha ohne Kürzungen der Ölsaatenbeihilfe möglich. Ein spezielles Flächenstillegungsprogramm für Ölsaaten ist nicht erforderlich. Ich darf hier allerdings darauf aufmerksam machen, daß diese neuen Bedingungen erst für die Aussaat 1994 anzuwenden sind. Zur Kenntnis nehmen sollten wir jedoch auch, daß die USA sich verpflichtet haben, ihre Agrarstützung deutlich abzubauen. Besonders der subventionierte Export von Weizen - 28 % -, Gerste 6 % - und pflanzlichen Ölen - sogar 80 % Einschränkung - wird somit stark gesenkt werden. Ebenso verpflichten sich die USA, ihre Märkte stärker für Agrarimporte zu öffnen und keine Streitverfahren vor dem GATT zu beantragen oder autonome Vergeltungsmaßnahmen zu ergreifen, solange die EG ihre Zusagen zum Abbau der verschiedenen Stützungsmaßnahmen einhält.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Lieber Herr Kollege, den Schlußsatz, bitte!

Günter Marten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001425, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ich komme zum Schluß, Herr Präsident. Meine Damen und Herren, wir sind auf einen erfolgreichen Abschluß der GATT-Runde angewiesen, um eine Rezession - nicht nur in Deutschland - abzuwenden und um die Zukunft der Landwirtschaft durch einen sozialverträglichen Strukturwandel mit erheblichen Finanzmitteln zu ermöglichen. Denn, meine Damen und Herren, Agrarpolitik ist ein Bestandteil allgemeiner Wirtschaftspolitik. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Dr. Gerald Thalheim.

Dr. Gerald Thalheim (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002311, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Eröffnung des neuen Plenarsaals hat der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Roman Herzog, den Abgeordneten ins Stammbuch geschrieben, daß sie in der Vergangenheit viel zu viele Themen an sich gezogen haben, die sie politisch nicht bewältigen konnten. Die Agrarpolitik ist dafür exemplarisch. ({0}) - Die Bauernproteste dieser Woche, Herr Kollege Hornung, haben das Scheitern der Bundesregierung auf diesem Gebiet deutlich gemacht. Viel zu lange wurde bei den Bauern die Illusion genährt, das System der Preisstabilisierung durch Marktordnungen ließe sich unbegrenzt in die Zukunft fortsetzen, viel zu lange wurde die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Reform geleugnet. ({1}) Viel zu lange wurde versucht, mit kosmetischen Korrekturen das alte System zu stabilisieren und in die Zukunft fortzuschreiben. Die Folgen sind bekannt. Immer stärker wurde am Markt vorbei produziert, so daß heute immense Überschüsse in den Lägern der Gemeinschaft liegen. Mit Unsummen werden diese Überschüsse seit Jahren auf den internationalen Märkten abgesetzt. Die Bäuerinnen und Bauern haben nichts davon. Profitiert davon haben in erster Linie der Handel und die Lagerhaltung. ({2}) Mit der EG-Agrarreform wurde der längst überfällige Systembruch vollzogen. Vor allem von der Flächenstillegung und der Erzeugerpreisminderung ist eine deutliche Mengenreduzierung zu erwarten. Damit wurde von den Landwirten ein entscheidendes Hemmnis auf dem Weg zu einer Einigung im GATT aus dem Weg geräumt bzw. diese Einigung überhaupt erst möglich gemacht. Für die Betroffenen ist es bitter, daß das in der Öffentlichkeit bisher kaum zur Kenntnis genommen, geschweige denn gewürdigt wurde. Deshalb wende ich mich dagegen, die Bauern als Sündenböcke hinzustellen. ({3}) Die heutige Situation in der Landwirtschaft ist nicht das Ergebnis freier Entscheidung der Landwirte. Seit Abschluß der Römischen Verträge im Jahre 1957 gehört die Landwirtschaft zu den am stärksten „vergemeinschafteten" Bereichen der EG. Die gegenwärtige verfahrene Situation kann also nicht den Landwirten angelastet werden, sondern ist das Ergebnis falscher politischer Vorgaben. ({4}) Dieser Vorwurf ist sowohl den Agrarpolitikern der Regierung als auch den Verbandsfunktionären zu machen. Das bekam selbst Präsident Heereman auf der Protestveranstaltung dieser Woche zu spüren. Den Bauern kann man nicht zum Vorwurf machen, daß sie den politsichen Versprechungen der Vergangenheit glaubten. Einen Vorwurf muß man allerdings machen: Die Art und Weise, wie diese Protestdemonstration verlaufen ist, war wenig geeignet, in der Öffentlichkeit Verständnis für die berechtigten Anliegen zu wecken. ({5}) Aus zwei Gründen wende ich mich weiter mit Vehemenz dagegen, die verfahrene Situation zur Stimmungsmache gegen die EG zu nutzen: Erstens. An allen Entscheidungen der Europäischen Gemeinschaft war auch die Bundesregierung beteiligt. ({6}) Zweitens. Der Beweis ist noch nicht erbracht, daß wir in Deutschland nicht auch ohne die Europäische Gemeinschaft die gleichen Überschußprobleme und die gleichen politischen Probleme, damit fertigzuwerden, hätten. ({7}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, in der jetzigen Situation dürfen wir uns nicht darauf beschränken, falsche Weichenstellungen der Vergangenheit zu beklagen. Die Agrarpolitiker sollten die Entwicklung der letzten Jahre zum Anlaß nehmen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. ({8}) Tatsache ist, daß die vorliegende Einigung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den USA einen tragfähigen Kompromiß darstellt. Richtig ist auch: Die Reduzierung der subventionierten Exporte stellt einen schmerzhaften Einschnitt dar. Dieser ist nur zu verkraften, wenn es gelingt, im Rahmen der EG-Agrarreform die Produktion wirklich zu drosseln. Deshalb ist es wichtig, daß die Reform in allen Ländern der Gemeinschaft umgesetzt wird. Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, die diejenigen Betriebe begünstigen, die den Herausforderungen des Wettbewerbs auf europäischer Ebene und darüber hinaus gewachsen sind. Nur wenn sich die Landwirtschaft den Realitäten stellt, kann sie mit der notwendigen Solidarität der Gesellschaft rechnen, auf die sie auch in Zukunft angewiesen sein wird. ({9})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Wirtschaft, Jürgen Möllemann.

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! 1948 haben sich gut 20 Staaten zusammengetan, um ein Regelwerk zu entwickeln, nach dem die Wirtschaftsbeziehungen und der Handel zwischen diesen Staaten berechenbar ablaufen können, so daß man weiß, worauf man sich als Händler, Verkäufer und Käufer einstellen kann. Seither gibt es dieses Regelwerk, das GATT. Darüber reden wir hier. ({0}) - Ich habe der Debatte bisher zugehört und mich gefragt, ob die Bürger, die draußen zuhören, wissen, worüber wir sprechen. Ich glaube, es ist vernünftig, daß wir das einmal erklären. ({1}) - Hören Sie mir doch einmal einen Moment zu. Benehmen Sie sich bitte, wenn Sie mich für einen Lehrer halten, wie ein ordentlicher Schüler. ({2}) Seither gibt es dieses Regelwerk. In der jetzt achten Runde wird der Versuch unternommen, es auf immer mehr Bereiche auszuweiten, so daß sich der internationale Handel möglichst unbeeinträchtigt entfalten kann. ({3}) Diese Runde steht vor großen Schwierigkeiten und auch vor der Gefahr des Scheiterns, und das ausgerechnet in einer Situation, in der wir jeden neuen Anstoß für Wachstum brauchen können, in einer Situation, in der wir weltweit Rezession haben, in der viele Millionen Menschen hoffen, daß aus neuem Wachstum neue Arbeitsplätze entstehen. ({4})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herbert Wehner hätte früher an einer solchen Stelle gerufen. Herr Präsident, der Sielaff stört.

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Aber fällt nicht weiter ins Gewicht! ({0}) - Der Abgeordneter Sielaff fällt nicht ins Gewicht; Eintrag im Protokoll. ({1}) - Nicht einmal das können Sie. Nun zum Thema zurück, auch wenn es Ihnen schwerfällt. - Meine Damen und Herren, in einer Situation, in der wir dringend Wachstumsimpulse brauchen, gibt es diese kritische Lage bei den GATT- Verhandlungen. Wie ist der Zwischenstand jetzt? Im Zusammenhang mit dem Thema Schutz des geistigen Eigentums ist zu sagen, daß das, was heute unterschriftsreif wäre, aus unserer Sicht allein schon Grund genug wäre, das Abkommen in Kraft zu setzen. Wir sind forschungsintensiv, entwicklungsintensiv. Geistiges Eigentum, das auf dieser Grundlage erarbeitet wird, zu schützen, das ist auch Schutz von Milliardeninvestitionen. Zum Thema Dienstleistungen: Wir exportieren im Augenblick pro Jahr Dienstleistungen in der Größenordnung von 52 Milliarden Dollar. Bei uns haben 2,3 Millionen Menschen ihren Arbeitsplatz durch den Export von Dienstleistungen. Das GATT-Abkommen, wie es jetzt möglich wird, schützt diesen Export. Wir brauchen das dringend. Streitig ist der Bereich der Landwirtschaft, sind die Agrarexporte. Das ist in der Tat ein heikles Thema. Das war es eigentlich immer seit der Entwicklung der EG-Agrarpolitik - übrigens unter Beteiligung vielfältiger Regierungen. Ich erinnere mich meiner Zeit in der sozialliberalen Koalition, in der wir den Agrarminister stellten und die Landwirtschaftspolitik gemeinsam formuliert haben. ({2}) Wir haben mit der EG-Agrarpolitik und der mit ihr verbundenen Praxis des Subventionierens bestimmte Marktmechanismen mit verschiedenen mehr oder weniger überzeugenden Begründungen außer Kraft gesetzt. Das wirkt sich jetzt aus. ({3}) - Auf die Idee sind andere auch schon gekommen. ({4}) Das wirkt sich jetzt nachhaltig aus. Es ist erfreulich, daß die mit dieser Tatsache verbundenen Schwierigkeiten von den EG-Kommissaren Andriessen und MacSharry in Gesprächen mit der amerikanischen Regierung jedenfalls weitgehend reduziert werden konnten. Eine nüchterne Bestandsaufnahme des Zwischenergebnisses, das am Rande eines Handelskriegs zwischen den USA und der EG erreicht werden konnte, zeigt, daß es in seinen wesentlichen Eckpunkten mit der soeben verabredeten Reform der europäischen Agrarpolitik vereinbar ist. Dann kann es ja kein Hindernis sein. Ich verstehe sehr wohl, daß sich Landwirte dagegen auflehnen, daß wir auf der einen Seite stetig steigende Subventionen haben, davon aber auf der anderen Seite bei ihnen auf ihren Höfen ständig weniger ankommt. ({5}) Also muß es doch immer noch strukturelle Defizite in der Gemeinschaftsagrarpolitik geben, die wir anzugehen haben. ({6}) Allerdings muß ich sagen: Ich habe die Kritik an der Form der Demonstration, die hier geäußert wurde, verstanden. Ich sehe das genauso. Für Freiherr von Heereman gilt sozusagen: Wer Wind sät, wird Eier ernten. Das kommt dann so. ({7}) Wenn man seine Verbandsmitglieder selber in einer übetriebenen Weise fehlinformiert, dann darf man sich nicht wundern, daß die Leute aus Angst, es könnte so, wie es ihnen gesagt worden ist, stimmen, so reagieren. Trotzdem ist es nicht gut. Ich hoffe, daß man das künftig bleiben läßt. ({8}) Meine Damen und Herren, wichtig ist auch der hier mehrfach angesprochene Aspekt, der den Bereich der Handelspolitik und der Agrarpolitik überschreitet, der nämlich die Dritte-Welt-Politik, die Entwicklungspolitik, berührt. Die Amerikaner haben das mit „trade not aid" - also: Handel ermöglichen, statt nur Schecks auszuhändigen - umschrieben. Anders gesagt: Wir müssen den Ländern der Dritten Welt die Möglichkeit geben, die zum Teil mit unserer Hilfe erstellten Produktionsstätten auch zu nutzen, indem sie die Produkte exportieren können. Dafür brauchen sie einen geregelten Rahmen. Es wäre also nicht überzeugend, wenn wir von Hilfe für die Dritte Welt sprechen und wenn dann ausgerechnet die Hauptindustrieblöcke, Nordamerika und Europa, verhindern würden, daß dieses Abkommen zustande kommt. Wir können einen Handelskrieg nicht gebrauchen. Wir können in dieser Zeit, in der wir dringend Wachstumsimpulse brauchen, nur darauf setzen, daß möglichst schnell abgeschlossen wird. Ich möchte am Schluß, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, doch sagen: Es überzeugt mich natürlich nicht sehr ({9}) - nicht einmal ein bißchen -, wenn Sie so argumentieren, wie Sie es hier vorhin getan haben. Sie haben, weil wir die Verhandlungen in Brüssel nicht nur in internen Sitzungen führen, sondern unsere Positionen auch öffentlich markiert haben, beobachten können, daß wir in der Gemeinschaft für die Annahme dieses Kompromisses plädiert und daß wir in der Gemeinschaft ein Mehrheitsvotum herbeigeführt haben, das den Kommissaren Andriessen und MacSharry Handlungsvollmacht gab. Sie haben mitbekommen, woher der Widerspruch kam. Es ist nun einmal die Sozialistische Partei Frankreichs, zu der Sie in der Sozialistischen Internationale doch leichter Zugang haben dürften als wir, die durch die französische Regierung die Blockade vorgelegt hat, ({10}) Auch der Bundeskanzler kann dem französischen Präsidenten keine Weisungen geben. Es ist doch so: Sie können die bürgerlich-liberale Koalition in Bonn nicht dafür verantwortlich machen, daß die sozialistische Regierung in Frankreich eine Position einnimmt, die blockiert. Das ist nicht redlich. ({11}) Wir haben uns in der letzten Woche bei einem anderen Anlaß hier über dieses Thema unterhalten. Wenn ich das in einen Zusammenhang mit der vorhin geführten Debatte zu dem Thema „Parlamentarismus" stelle, muß ich sagen: Wir dürfen uns über die Reaktionen wirklich nicht wundern, wenn wir das Ganze so fortsetzen, daß man - aber nur, weil man halt Opposition ist - bei einem Thema, zu dem es hier eine breite Gemeinsamkeit gibt, irgendeinen verschlungenen Weg findet, der Regierung doch noch einen mitzugeben. ({12}) Ich hätte mich über Ihre Unterstützung gefreut und tue das auch weiterhin. Aber nun bitte ich Sie herzlich: Nutzen Sie Ihre Kontakte zu Ihren politischen Glaubensbrüdern in der Sozialistischen Internationale, und werben Sie für die Einsichten, die Sie hier verkündet haben. Wir haben sie schon. Vielen Dank. ({13})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Bericht der Bundesregierung über den Abschluß der Uruguay-Runde des GATT, Drucksachen 12/926 und 12/2016. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen. Wir stimmen jetzt ab über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zum GATT-Welthandelssystem, Drucksache 12/2312. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/1817 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und des Versammlungsgesetzes und zur Einführung einer Kronzeugenregelung bei terroristischen Straftaten ({0}) - Drucksache 12/3685 ({1}) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2}) - Drucksache 12/3973 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Geis Dr. Hans de With ({3}) Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Dagegen erhebt sich ganz offenkundig kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Norbert Geis das Wort.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir wollen heute die Kronzeugenregelung verlängern. Der Generalbundesanwalt von Stahl und der Präsident des Bundeskriminalamtes Zachert - beide Persönlichkeiten, die unmittelbar in diesem Bereich zu tun haben - sprechen sich ganz entschieden für die Verlängerung aus. Das gleiche gilt für die früheren Justizminister Engelhard und Dr. Kinkel. Ebenso haben sich für die Verlängerung der frühere Innenminister Gerhart Baum und natürlich der jetzige Innenminister ausgesprochen. Die SPD ist gegen die Verlängerung ({0}) und begründet dies, wie ich meine, sehr unzureichend. Die SPD behauptet, die Kronzeugenregelung stelle einen groben Systembruch unseres Strafrechtes dar. Wir haben aber schon jetzt in den Fällen des § 153d, wo es um den Austausch von Spionen geht, des § 153e, wo es um Staatsschutzdelikte und um Landesverrat geht, in § 154b Abs. 3 der Strafprozeßordnung, wo es um die Ausweisung von Ausländern aus dem Geltungsbereich unseres Grundgesetzes geht, und in den Fällen des § 31 des Betäubungsmittelgesetzes ganz eklatante Beispiele, bei denen das System des Strafrechtes, nämlich das Prinzip der Legalität, das sogenannte Legalitätsprinzip, durchbrochen und dem Opportunitätsprinzip, wie wir Juristen sagen, der Vorzug gegeben wird. Die SPD hat sich noch mit keiner Wortmeldung gegen diese - wenn man so will - Durchbrechungen des Systems des Strafrechtes gewandt. Deswegen ist es mir nicht ganz einsichtig, Herr de With, warum Sie dies ausgerechnet jetzt bei der Kronzeugenregelung so wollen, obwohl diese Regelung doch ganz und gar auf den Bereich des Terrorismus beschränkt ist und in ihrer Auswirkung längst nicht einen solchen „Systembruch" darstellt, wie es in den vorgenannten Fällen der Fall ist. Die SPD behauptet, die Kronzeugenregelung verderbe das Rechtsbewußtsein unserer Bürger. Aber ich frage: Wird denn das Rechtsbewußtsein unserer Bürger nicht viel mehr beeinträchtigt, wenn Mörder frei herumlaufen, weil wir sie nicht fassen können, wenn Straftaten nicht aufgeklärt werden oder wenn Straftäter nicht damit rechnen müssen, daß ihre Straftaten verfolgt werden, weil es unmöglich ist, die Straftaten aufzuklären? Wir haben die Kronzeugenregelung doch eingeführt, damit wir Straftaten besser aufklären können, was, wie Sie wissen, in der Zwischenzeit auch gelungen ist.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, jetzt sind Sie nach Ihren Ausführungen sicher in der Lage, mir einen Fall zu nennen, in dem die Kronzeugenregelung gegriffen hat. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, natürlich. Zehn Fälle kann ich Ihnen nennen. Ich werde sie im Laufe meiner Rede auch nennen. Ich hoffe, daß mir der Präsident dazu die Möglichkeit gibt. Es gibt zehn Fälle, zehn eklatante Fälle. Ich weiß nicht, wo die Informationen umherirren, auf die auch Sie sich jetzt berufen und die Sie zu dieser Zwischenfrage veranlaßt haben. Es gibt zehn eklatante Fälle, in denen die Kronzeugenregelung angewendet worden ist und in denen sie auch gegriffen hat. Ich weiß nicht, woher Sie Ihre Informationen haben. Vielleicht wäre es gut, Sie würden sich einmal eingehender mit dieser Frage beschäftigen.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Pardon, Herr Kollege Geis. Eine weitere Frage zunächst des Kollegen Koppelin.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, sind Sie bereit, entgegenzunehmen, daß ich mich, auch wenn ich kein Jurist bin, mit diesem Thema beschäftige, indem ich z. B. Ihrer Rede sehr aufmerksam folge, um anschließend entscheiden zu können? Können Sie mir dann aber auch noch sagen: Sind Straftaten durch die Kronzeugenregelung verhindert worden?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zumindest im Fall Cetiner sind Straftaten verhindert worden. Aber wenn Sie einmal mit mir die Überlegung nachvollziehen, daß es beim Strafrecht darum geht, Straftaten aufzuklären und zu verurteilen, und daß die Wirkung des Strafrechtes eben darin besteht, daß durch die Aufklärung und durch die nachfolgende Verurteilung die sogenannte Generalprävention des Strafrechtes einsetzt, nämlich das Strafrecht die Wirkung hat, daß sich der einzelne Täter, bevor er seine Tat begeht, sehr wohl überlegt, ob es sinnvoll ist, sie zu begehen, wenn er nachher entdeckt und bestraft wird - diese generalpräventive Wirkung des Strafrechtes ist ja allgemein bekannt -, dann werden Sie mir zustimmen, daß die Generalprävention nur erzeugt wird, wenn aufgeklärt werden kann. Bei RAF-Straftaten sind neun Fälle aufgeklärt worden, die vorher nicht aufgeklärt waren. Dies hat doch, wie ich meine, für das Rechtsbewußtsein der Bürger eine ganz entscheidende Bedeutung; denn die Bürger wissen jetzt, daß der Staat alles tut, um Straftaten aufzuklären. Damit wird das Rechtsbewußtsein nicht so beschädigt, wie dies immer draußen behauptet wird.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Geis, der Kollege Singer möchte Ihnen gern eine Frage stellen.

Johannes Singer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002181, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Geis, können Sie dem Plenum und der deutschen Öffentlichkeit die Frage beantworten, warum diese zehn Erfolgsfälle der Kronzeugenregelung von der Bundesregierung bisher verheimlicht und der Öffentlichkeit vorenthalten worden sind? ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie sind nicht verheimlicht worden. Da kennen Sie die Erklärung der Bundesregierung vom 19. Mai dieses Jahres nicht. Da steht nämlich folgendes drin - darf ich Ihnen das vorlesen? -: In insgesamt zehn Fällen haben die Gerichte inzwischen die Kronzeugenregelung angewendet. Es handelt sich um - und das steht so in dieser Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der PDS/Linke Liste drin -: Werner Lotze, Susanne Becker, Henning Beer, Silke Maier-Witt, Monika Winter, Sigrid Friedrich, Ralf Baptist Friedrich, Ingrid Viett, Peter-Jürgen Book und Ali Cetiner. Die Aussagen der RAF-Mitglieder führten zur Einleitung von Strafverfahren gegen weitere Terroristen der RAF. Das ist die Anwendung der Kronzeugenregelung, und sie hat sich in diesem Fall hervorragend ausgewirkt.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Herr Kollege Geis, der Herr Kollege Singer möchte eine weitere Frage stellen. Wollen Sie auch diese beantworten?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Johannes Singer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002181, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Geis, sind Sie bereit einzuräumen, daß die von Ihnen zitierten Fälle eben gerade keine klassischen Kronzeugenfälle sind, weil die Folgen der Kronzeugenregelung, die im Gesetz vorgesehen sind, bei diesen Leuten ja nicht angewendet worden sind? ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist nicht wahr. Die Folgen der Kronzeugenregelung sind genau bei diesen Personen angewendet worden, soweit sie bislang verurteilt worden sind. Ich gestehe Ihnen zu, Herr Singer, daß wir, als wir die Kronzeugenregelung gemacht haben, gemeint haben, daß diese Regelung der Strafmilderung - die Kronzeugenregelung ist ja im Grunde nichts anderes - bei den Gerichten größere Beachtung findet, aber die Gerichte haben in ihrer Freiheit, die sie haben, den Informationswert der Aussagen der jeweiligen Kronzeugen auf der einen Seite und die Schwere der Straftat auf der anderen Seite abgewogen und sind zu dem Ergebnis gekommen, daß in dem einen und anderen Fall anders bestraft werden mußte. Aber die Strafmilderung der Kronzeugenregelung hat in jedem Falle Platz gegriffen. ({0}) - Das ist nicht wahr. Herr Singer, Sie sind doch lange genug im Geschäft, Sie sind ausgedienter Jurist und wissen, daß es bei Mord keine Strafmilderung gibt. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Bitte keinen Dialog zwischen den Kollegen.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Also ich nehme das zurück. Herr Singer, Sie sind mir ein lieber Kollege, und Sie sind natürlich längst noch nicht ausgedient! Entschuldigung. Ich wollte damit nur das wiedergeben, was Karl May mit „Old" bezeichnet, „Old Shatterhand" usw. ({0}) - Ausgebildet.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Bitte, Frau Kollegin.

Ingrid Köppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001159, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß sich der von Ihnen eben als Kronzeuge benannte Ali Cetiner inzwischen selbst wegen Falschaussage angezeigt hat?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Er hat sich ja nicht in allen Fällen wegen Falschaussage angezeigt, sondern nur in wenigen Fällen. Sie waren doch dabei, als der Generalbundesanwalt am letzten Montag sein Statement in der Anhörung abgegeben und sich der Diskussion gestellt hat. Wir haben da gehört, daß Ali Cetiners Aussage für die Aufklärung von Straftaten sehr wohl von entscheidender Bedeutung war und daß auf Grund dieser Aussage inzwischen solche Straftaten auch zur Verurteilung gelangt sind. Wir haben auch gehört, daß seit dieser Aussage des Ali Cetiner keine weiteren Straftaten der PKK in der Bundesrepublik Deutschland vorgekommen sind. Da hat doch die Kronzeugenregelung ganz eklatant und offensichtlich eine präventive Wirkung gezeitigt. Wir haben also genau das erreicht, was wir mit der Kronzeugenregelung erreichen wollten. ({0})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Eine weitere Zusatzfrage der Kollegin Köppe.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Ingrid Köppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001159, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wie bewerten Sie die Tatsache, daß eben dieser Kronzeuge von entsprechenden Stellen als psychisch krank eingeschätzt wird?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich meine, wenn jemand als psychisch krank eingeschätzt wird, gibt es diese Einschätzung, und es gibt eine andere Einschätzung. Ich kann mir darüber kein Urteil erlauben, weil ich den Sachverhalt nicht so genau kenne. Ob er nun wirklich psychisch krank ist oder nicht, das kann ich hier nicht sagen. Darüber müssen Fachleute entscheiden. Ich habe darüber nicht zu entscheiden. ({0}) - Das ist nicht wahr.

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Der Lebendigkeit und, wie ich glaube, auch dem Informationsgehalt der Debatte dienen diese vielen Zwischenfragen. Gleichwohl bin ich der Meinung, daß wir zu einem geordneten Debattenverlauf zurückkehren sollten. Die Kollegen, die die Zwischenfragen stellen, sind sehr freundlich, aber sie verlängern die Redezeit des Kollegen Geis um mindestens das Doppelte. ({0}) - Deshalb haben wir es ja als Debattenthema auf der Tagesordnung, Herr Kollege Koppelin.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich meine, daß jetzt, nachdem aus dem innersten Bereich der RAF Täter herausgebrochen worden sind, die sich als Kronzeugen zur Verfügung gestellt haben, natürlich eine große Verunsicherung in der RAF eingetreten ist. Jetzt gilt das Dogma nicht mehr, daß aus diesem Bereich keiner herausgebrochen werden kann, sondern jetzt ist jedem potentiellen Täter klar, daß er damit rechnen muß, daß sein Mittäter unter Umständen zum Kronzeugen wird und daß seine eigene Tat dadurch entdeckt wird. Dadurch entsteht große Verunsicherung. Dadurch entsteht das Bedürfnis nach weiterer Abschottung. Dadurch wird natürlich die Aktionskraft der RAF entscheidend beeinträchtigt. Ich meine, daß darin doch ein ganz erheblicher Grund für die Kronzeugenregelung liegt. Es wird auch immer behauptet, die RAF sei ideologisch so sehr eingeschworen, daß es gar keinen Sinn habe, da den Versuch zu unternehmen, mit Hilfe von Kronzeugen in den innersten Kernbereich der RAF einzudringen. Dieses Argument ist überholt, weil die Tatsachen eine andere Sprache sprechen. Im übrigen ist es der Terror und sind es die Mordanschläge, die jede verbrecherische Bande zusammenhalten. Das galt und gilt auch für die RAF. Dies hat im übrigen Horst Mahler bei seiner Aussage eindeutig und eindrucksvoll bestätigt. Der Mythos, die RAF könne nicht aufgebrochen werden, ist durch den Gang der Ereignisse auf jeden Fall nicht bestätigt worden. Das Aussteigen der Aussteiger wird jetzt leichter sein. Hinzu kommt folgender weiterer Gesichtspunkt, der meiner Meinung nach ganz entscheidend dafür spricht, es zumindest auf drei weitere Jahre bis zum Jahre 1995 bei der Kronzeugenregelung zu belassen: Die RAF hat in ihren Briefen vom 10. April und vom 29. Juni angekündigt, wie wir alle wissen und in der Presse gelesen haben, daß sie sich nunmehr den linksextremistischen Gruppierungen öffnen und mit ihnen in einen Dialog kommen wolle. Das bedeutet doch, daß sie sich nicht mehr abschotten kann. Sie kann nicht mehr so kompakt auftreten. Das wiederum heißt, daß diese abgeschottete Zusammengehörigkeit, dieses Blockdenken aufgebrochen werden muß, weil man sonst gar nicht in der Lage ist, einen Dialog zu führen. Dann gibt es also nicht mehr dieses Bandenbewußtsein, wie wir es hatten, so daß der Kronzeugenregelung eine größere Chance geöffnet wird. Es wird auch manchmal von seiten der SPD - nicht von Ihnen, Herr de With, aber von Ihrer Seite schon behauptet, die Bedrohung von links sei weg, und wir brauchten deshalb die Kronzeugenregelung nicht. Ich meine, daß Sie eine solche Auffassung nicht ernsthaft vertreten können. Die Bedrohung ist nach wie vor da. Dafür gibt es Informationen. Auch die Ausschreitungen bei der Berliner Demonstration zeigen doch, daß auch auf der linksextremistischen Seite immer noch ein Gewaltpotential vorhanden ist. ({0}) - Ich will ja nur darauf hinweisen, daß das Gewaltpotential vorhanden ist. Diese Leute waren gewalttätig. Schon aus diesen Gründen können wir ganz und gar nicht auf die Verlängerung verzichten. Im übrigen hat die Kronzeugenregelung - darauf hat Herr van Essen bei der ersten Lesung schon hingewiesen - natürlich vor allem für den rechtsextremistischen Bereich eine ganz ausschlaggebende Bedeutung. Wer bei der Anhörung am letzten Montag gewesen ist, der hat erfahren, wie der Richter Rottweiler, der einmal gegen die Kronzeugenregelung war, erklärt hat: Ich bin deshalb vom Saulus zum Paulus geworden, weil ich glaube, daß man mit der Kronzeugenregelung vor allen Dingen im rechtsextremistischen Bereich, also bei den rechtsextremistischen Terroristen, mehr erreichen kann als bei den Linksterroristen, weil die Rechtsterroristen es noch nicht geschafft haben, so eine Bande, so eine Gruppierung zu werden, einen so abgeschlossenen Bereich aufzubauen, wie es bei den Linksterroristen der Fall gewesen ist. Ich meine aber vor allem auf folgendes hinweisen zu sollen: Wenn wir die Kronzeugenregelung verlängern und sie jetzt weiter in unserem Strafgesetzbuch haben, sollten wir uns Gedanken darüber machen, ob wir sie ausdehnen - nicht heute, aber ich möchte es erwähnen auf den Bereich der organisierten Kriminalität. Ich hatte die Möglichkeit, heute vor acht Tagen in München bei einem Symposium anwesend zu sein, bei dem es um die organisierte Kriminalität ging. Der Direktor des FBI und der General, der der Ermittlungsbehörde gegen die italienische Mafia in Italien vorsteht, haben übereinstimmend erklärt, daß die Kronzeugenregelung gerade in dieser Bandenkriminalität, in dieser organisierten Kriminalität eine verheerende Wirkung habe. Denn die organisierten Kriminellen müssen vielleicht noch viel mehr als die Linksterroristen und die Rechtsterroristen damit rechnen, daß aus ihrem Bereich im Interesse einer Strafmilderung Mittäter herausgebrochen werden können und Zeugnis ablegen können von Straftaten. Deswegen hat die Kronzeugenregelung vielleicht in Zukunft noch eine viel größere Bedeutung im Bereich der organisierten Kriminalität. Ich hoffe doch sehr, daß wir bei aller Skepsis, die sicherlich gegen die Einführung der Kronzeugenregelung von Anfang an vorhanden und angezeigt war - so leicht kann man sich diese Regelung nicht machen, es ist immerhin die Durchbrechung eines wichtigen Prinzips unserer Strafprozeßordnung, und das wollen wir nicht auf die leichte Schulter nehmen -, immer im Blick behalten, worum es geht. Es geht uns doch nicht um die Durchbrechung eines Prinzips, sondern es geht uns um eine bessere Strafverfolgung. Dies ist möglich mit Hilfe der Kronzeugenregelung. Es mag vielleicht Gründe, die gewichtig waren, gegen die Einführung dieser Regelung gegeben haben. Von Anfang an war aber klar, daß die drei Jahre nicht ausreichen. Es gibt, wie ich meine, kein begründetes Argument gegen die Verlängerung bis zum Jahre 1995. Deshalb bitte ich Sie sehr, mit uns heute für die Kronzeugenregelung zu stimmen. Ich bitte auch den Bundesrat schon im vorhinein, daß er dieser Regelung zustimmt. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({1})

Hans Klein (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001114

Das Wort hat der Kollege Dr. Hans de With.

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 6. November 1992 hat die Bundesministerin der Justiz wissen lassen, daß sie sich gegen eine Verlängerung des Kronzeugengesetzes wenden werde. Am 10. November haben CDU/ CSU und F.D.P. gleichwohl das Gesetz zur Verlängerung der Kronzeugenregelung eingebracht. Die Bundesministerin der Justiz wurde also überstimmt. Am 12. November fand hierzu die erste Lesung statt. Am 25. November hat der Rechtsausschuß in einer Sondersitzung mit der Beratung begonnen. Am 7. Dezember, und zwar wiederum in einer Sondersitzung, hat der Rechtsausschuß die von der SPD beantragte Anhörung durchgeführt. Und heute, am 11. Dezember, nach nur einem Monat, soll in zweiter und dritter Lesung die Verlängerung der Kronzeugenregelung bis zum 31. Dezember 1995 beschlossen werden. Ich kann nur sagen, atemberaubend diese Geschwindigkeit für ein wirklich den Atem raubendes Gesetz. ({0}) Nur drei von acht geladenen Sachverständigen haben eine Verlängerung befürwortet, mit lediglich dem Hinweis - Sie waren dabei, Herr van Essen , wir sollten es noch einmal versuchen. Nichts anderes. Die weit überwiegende Mehrheit der Fachöffentlichkeit auch das ist unbestritten - wendet sich strikt gegen das Gesetz. Und was ist, wenn das auch der Bundesrat tut und der Vermittlungsausschuß angerufen wird? Dann wäre zumindest zunächst einmal alle Mühe umsonst. CDU/CSU, F.D.P. und die von ihnen getragene Bundesregierung müssen sich fragen lassen: Was soll das Durchpeitschen der Verlängerung dieses wirkungslosen und unseligen Gesetzes, das am Ende vom Bundesrat angehalten wird? Schon in der Anhörung vor vier Jahren hatte die überwiegende Mehrheit der Sachverständigen auf die Gefahren und die Nutzlosigkeit dieses Gesetzes hingewiesen. Die dreieinhalb Jahre, wenn Sie so wollen, „Erprobung" der Kronzeugenregelung haben diese Bedenken nur bestätigt. Im übrigen, Herr Geis, hören Sie doch bitte einmal zu: Auch der Generalbundesanwalt mußte einräumen - das ist der Punkt -, daß mit der Kronzeugenrege11210 lung keine einzige Straftat verhindert und - seine Worte kein Mitglied aus einer terroristischen Vereinigung wirklich herausgebrochen wurde. ({1}) Im Fall Cetiner hat er eine Vermutung angestellt und sonst gar nichts. Es fehlt jedweder Beweis. ({2}) - Deswegen können Sie doch hier nicht behaupten, das hätte gebracht, was die Kronzeugenregelung sagt, ({3}) nämlich daß damit konkrete Einzelfälle verhindert werden, die anstanden. ({4})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, Herr Kollege Geis wünscht eine Zwischenfrage. Gestatten Sie, Herr Dr. de With, diese Zwischenfrage?

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege de With, geben Sie mir zu, daß, wenn Aufklärung von Straftaten gelingt, das Strafgesetzbuch nicht nur auf dem Papier steht, sondern seine generalpräventive Wirkung entfalten kann?

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist unbestritten. Dazu brauche ich aber keine Kronzeugenregelung. Das geht auch jetzt schon. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Geis.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Geben Sie mir zu, daß in neun Fällen die Kronzeugenregelung bei RAF-Terroristen angewendet wurde und daß durch diese Aussagen der Kronzeugen die Polizei erhebliche Erkenntnisse gewonnen hat über die Strukturen der RAF, über die Depots der RAF, über die Vorgehensweise der RAF, und stimmen Sie mit mir darin überein, daß durch diese Erkenntnisse eine nach menschlicher Erfahrung erhebliche Verunsicherung in der RAF entstanden ist und die RAF dadurch zu noch größerer Abschottung genötigt war und deshalb ihre Aktionskraft ganz entscheidend beeinträchtigt wurde?

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Daß der Generalbundesanwalt in neun Fällen versucht hat, den Betroffenen eine Strafbegünstigung anzukündigen, ist unbestritten, aber auch in der Sache mit sehr zweifelhaftem Erfolg; denn dem ist das Gericht zum Teil gar nicht gefolgt. Zum zweiten ist das von Ihnen eine pure Vermutung, die wirklich nicht belegt ist. Wenn der Generalbundesanwalt meint, daß im Zuge der Wiedervereinigung aus der vormaligen DDR entdeckte RAF-Leute mit Hilfe der Kronzeugenregelung - das ist auch einer Ihrer Punkte, Herr Geis - frühere und fast immer schon abgeschlossene Fälle weiter aufgeklärt hätten, so bleibt für mich die Frage offen, erstens, ob das nicht auch ohne Kronzeugenregelung so gewesen wäre; denn offensichtlich befanden sich diese RAF-Leute insoweit bereits im Begriff, sich von der RAF loszusagen. Zweitens ist dies alles nur gelaufen, weil wir die Akten des MfS hatten. Das dürfen Sie doch bei allem nicht übersehen. ({0}) Auch der Hinweis auf den nun schon sattsam bekannten Kronzeugen Cetiner in den beiden Kurdenprozessen - es war einer in Berlin und einer in Düsseldorf - kann nicht überzeugen. Unbestritten ist doch, daß von den zwanzig in Düsseldorf Angeklagten zwölf in den Genuß einer Einstellung des Verfahrens kamen, einer noch nicht rechtskräftig freigesprochen wurde, bei einem weiteren die Hauptverhandlung nicht eröffnet wurde und bisher allein ein rechtskräftiges Urteil, nämlich von einem Jahr und sechs Monaten, vorliegt. Und das soll die Wirkungsweise eines Kronzeugen sein? Das kann ich nicht verstehen. Wenn darüber hinaus drei befürwortende Sachverständige eine Verlängerung um drei Jahre - das ist bisher noch nicht angesprochen worden, jedenfalls nicht in dieser Deutlichkeit - mit dem ergänzenden Hinweis begründen, man brauche diese Regelung zur Bekämpfung des Rechtsradikalismus, so hat die weitere Befragung im Ausschuß ergeben, daß diese Beurteilung allein auf Hoffnungen und Spekulationen beruht und nicht durch irgendwelche Rechtstatsachen belegt ist, Ich kann doch aber nicht auf Spekulationen hin ein Gesetz machen, das sich in den vergangenen drei Jahren in keiner Weise bewährt hat. ({1}) Hier, meine sehr verehrten Damen und Herren, können wir wirklich nur mit Nein stimmen, gegen das dem Bundestag aufgedrückte Schnellverfahren - das war so - und gegen das Gesetz selbst, gegen ein Gesetz, das - ich zitiere einen Sachverständigen - „den staatlichen Kuhhandel legalisiert", weit mehr Schaden als Nutzen gebracht hat und in unserem Rechtssystem einen Fremdkörper darstellt. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, jetzt hat unser Kollege van Essen das Wort.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bereits vor einigen Wochen habe ich die Bereitschaft der F.D.P.-Fraktion erklärt, einer Verlängerung der Kronzeugenregelung zuzustimmen. Auch die zwischenzeitliche Anhörung veranlaßt uns nicht, diese Position zu ändern. Es war schon abenteuerlich, was man von dem einen oder anderen Kritiker zu hören bekam, so etwa die Formulierung von der „angeblichen" terroristischen Vereinigung RAF von einem der journalistischen Sachverständigen. Ich bleibe hei meiner Feststellung: Nicht eines der vorgebrachten theoretischen Bedenken hat sich in der bisherigen Praxis als zutreffend erwiesen. Was hat man nicht alles an Befürchtungen hören müssen? Die Realität hat sie widerlegt. Niemand hat z. B. ernsthaft behaupten können, daß als Folge der Kronzeugenregelung Urteile gesprochen worden wären, die das Gerechtigkeitsgefühl verletzt hätten. Auch dies hat den vom Kollegen Geis erwähnten Richter eines Staatsschutzsenates dazu veranlaßt, seine ursprünglich ablehnende Haltung gegen die Kronzeugenregelung aufzugeben. Ich bleibe auch bei der weiteren Feststellung, daß die Kronzeugenregelung im Falle der kurdischen Terrororganisation PKK erfolgreich gewesen ist. Die Aussagen des Zeugen Cetiner haben jedenfalls das Oberlandesgericht Düsseldorf offensichtlich überzeugt. Herr Kollege de With, klar ist auch, nachdem es 13 Morde durch diese Organisation gegeben hat, daß es danach keinen Mord mehr gegeben hat. ({0}) - Ich behaupte, daß es darauf zurückzuführen ist. Wenn eine Organisation, die überhaupt keine Hemmungen hatte, 13 Morde nacheinander zu begehen, plötzlich damit aufhört, dann muß sie doch ein Ereignis beeindruckt haben; und das war eben die Aussage des Zeugen Cetiner. ({1}) Wenn man sich noch einmal das ansieht, was wir bisher gehört haben, fällt auf, daß die Kritiker kaum auf die Bedrohung durch die sich formierende rechte Szene eingegangen sind. Auffällig war auch, daß die Kritiker während der Anhörung in dieser Frage so platt argumentierten, daß unser Kollege Eylmann als Vorsitzender des Rechtsausschusses sich zu einer Bemerkung dazu veranlaßt sah. Wir haben in der Anhörung vom Generalbundesanwalt gehört, daß er mehrere Verfahren nach den §§ 129, 129 a StGB gegen rechte Organisationen führt, die von Woche zu Woche zunehmen. Es hat nicht erst der fürchterlichen Morde von Mölln bedurft, um die Gefährlichkeit der rechten Szene eindeutig unter Beweis zu stellen. Der Generalbundesanwalt hat auf etwas hingewiesen, was für mich sehr interessant war, nämlich darauf, daß die Beschuldigten angeben, Strukturen von der Linken zu übernehmen. Damit ist natürlich klar, daß die RAF ein Vorbild sein soll.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege van Essen, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen de With zu? Bitte, Kollege de With!

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege van Essen, stimmen Sie mit mir darin überein, daß es sich im Fall der drei Morde von Mölln nicht um Taten einer terroristischen Vereinigung gehandelt hat, sondern daß der Generalbundesanwalt aus anderen Gründen die Sache an sich gezogen hat, mit der Folge, daß wir eine Kronzeugenregelung dafür nicht gebraucht hätten und sie dafür auch nicht anwendbar gewesen wäre? Die Geständnisse hat es auch so gegeben.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist völlig richtig, Herr Kollege de With, aber ich weise darauf hin, daß der Generalbundesanwalt eben wegen dieser Gruppierung, aus der heraus diese Morde begangen worden sind, ein solches Verfahren führt. Das zeigt eben auch die Gefährlichkeit dieser Organisation. Ich möchte noch auf etwas anderes eingehen, was mir auch Sorge macht. Wenn man Durchsuchungen bei den Rechtsradikalen macht, von denen die meisten gleichzeitig Waffennarren sind, stellt man fest, daß man immer auf Waffen, Handgranaten und ähnliches stößt. Deshalb warne ich dringend davor, diese Gefahr zu unterschätzen. Es kommt hinzu: Das vordringliche Ziel einer Kronzeugenregelung ist es, die Verfestigung der inneren Struktur einer solchen Vereinigung zu verhindern. Der schon mehrfach zitierte Richter hat darauf hingewiesen und meine persönliche Erfahrung aus meiner Tätigkeit in der Staatsschutzabteilung geht in die gleiche Richtung -, daß Täter aus dem rechten Bereich schneller dazu bereit sind, auszusagen und sich herausbrechen lassen. In diesen Tagen wird zu Recht das entschlossene Handeln des Staates gegen Gewalttäter von rechts und links gefordert. Ich bitte Sie daher, diesen Gesetzentwurf nicht abzulehnen und damit den notwendigen Handlungskatalog insbesondere gegen die sich formierende rechte Gewalt nicht zu beschneiden. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Das Wort hat jetzt Frau Kollegin Ulla Jelpke.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fünf von acht Sachverständigen haben sich eindeutig gegen die Verlängerung der Kronzeugenregelung ausgesprochen. Alle Sachverständigen - und zwar auch Herr von Stahl und Herr Zachert haben gesagt, daß es keinerlei Tataufklärung im Vorfeld gegeben hat bzw. daß terroristische Taten verhindert worden sind. Die Befürworter der Verlängerung der Kronzeugenregelung können sich auch nur noch an die Aussteiger der RAF klammern. Ich erinnere daran, daß die RAF- Aussteiger bereits 1980/81 ausgestiegen sind, als es noch gar keine Kronzeugenregelung gab. Außerdem klammern sie sich noch an dem einen Ex-PKK- Mitglied Cetiner fest, das hier schon mehrfach erwähnt wurde. Im Falle der RAF-Aussteiger wären meines Erachtens schon aus Strafmilderungsgründen Aussagen gemacht worden, dazu wäre die Kronzeugenregelung nicht nötig gewesen. Im Falle des PKK-Aussteigers Cetiner werden schlicht und einfach Tatsachen ignoriert oder sogar geleuget, die diesen psychisch kranken und manipulierten Kronzeugen betreffen. Noch ein Satz zu dem inzwischen fallengelassenen Kronzeugen Nonne. Wer die Recherche des Sachverständigen Wisnewski gelesen hat, veröffentlicht im Buch „Das RAF-Phantom", muß eigentlich zu dem Schluß kommen, daß in Sachen Kronzeuge Nonne und die Rolle von staatlichen Institutionen längst ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß überfällig ist. Zurück aber zu den Argumenten der Befürworter einer Verlängerung der Kronzeugenregelung. Herr Geis und Herr van Essen wußten in der letzten Debatte zu berichten, daß die Kronzeugenregelung die RAF verunsichert habe. Auch heute wurde dies wieder gesagt. Auch der Sachverständige Generalbundesanwalt von Stahl benutzte dieses Argument, um mit den RAF-Aussteigern den Beweis anzutreten. Dabei hat die Kronzeugenregelung für den Ausstieg der Betreffenden keine Rolle gespielt. Es gab sie damals nämlich noch gar nicht. Die RAF hat den bewaffneten Kampf mit einer politischen Entscheidung beendet und nicht als Folge der Anwendung der Kronzeugenregelung auf die Aussteiger. Wo also soll die sicherheitspolitisch wirksame Verunsicherung durch die Kronzeugenregelung liegen? Interessanter waren in der letzten Debatte allerdings die beschwörenden Argumente von Herrn Geis und Herrn van Essen, daß die Kronzeugenregelung gegen den wachsenden Rechtsextremismus von Bedeutung sei. Immerhin gebe es jetzt schon einen Fall, der im übrigen immer noch überprüft wird. Abgesehen davon, daß dieser Fall inzwischen vom Generalbundesanwalt in Frage gestellt wurde, hat sowohl die Anhörung als auch die Diskussion im letzten Innenausschuß über Gewalt und Rechtsextremismus eindeutig Klarheit geschaffen. Weder Generalbundesanwalt von Stahl noch Herr Werthebach vom Bundesamt für Verfassungsschutz noch Herr Zachert vom Bundeskriminalamt sind gewillt, Neofaschisten mit dem § 129a strafrechtlich zu verfolgen, weil die Strukturen dafür im rechten Bereich ihrer Meinung nach nicht vorliegen. Das teile ich zwar nicht, aber damit fällt Ihre Begründung für eine Verlängerung der Kronzeugenregelung wie ein Kartenhaus zusammen, jedenfalls nach der bisherigen ausschließlichen Anwendung der Kronzeugenregelung im Bereich Terrorismus. Es bleibt eine Phantomdiskussion über die Gefahr von links. Meine Damen und Herren, die Sachverständigen, die sich gegen eine Verlängerung der Kronzeugenregelung ausgesprochen haben, machten eindeutig klar, daß Kronzeugen krankhafte, korrumpierbare und manipulierbare Menschen sind, die zudem an Identitätsverlust leiden. Die Kronzeugenregelung widerspricht dem Legalitätsprinzip und dem Glaubwürdigkeitsprinzip, und sie legitimiert das Denunziantentum des eigenen Vorteils wegen. Deswegen lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort der Frau Kollegin Ingrid Köppe.

Ingrid Köppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001159, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Behandlung des Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetzes im Plenum und in den Ausschüssen bestätigt meine Skepsis gegenüber der parlamentarischen Demokratie. Nachdem uns die erste Beratung dieses Gesetzes vor kurzem als Nacht-und-Nebel-Aktion zugemutet wurde, findet die abschließende Beratung nur als Schlußlicht der Parlamentswoche statt, sozusagen als Vorweihnachtsgeschenk an den Generalbundesanwalt und das Bundeskriminalamt. Das ganze Prozedere wurde unter „ferner liefen" während der Haushaltswochen vor der Öffentlichkeit versteckt. Von Beratung sollte ernsthaft nicht gesprochen werden; denn in welcher Weise sich die Koalitionsfraktionen einer nüchternen Bewertung dieses Gesetzes entzogen haben, kann einem schon den Glauben an die parlamentarische Demokratie nehmen. Die CDU kündigte im Rechtsausschuß Herr Geis, Sie werden sich an Ihre Worte erinnern ({0}) bereits vor der öffentlichen Anhörung an, egal, was diese Anhörung erbringen mag, man werde das Kronzeugengesetz auf jeden Fall verlängern und durchboxen. Allen Beurteilungen von Fachverbänden und geladenen Fachleuten zum Trotz - die Sachverständigen bei der Anhörung haben der Kronzeugenregelung nämlich mehrheitlich einen Bankrott attestiert - wird weiterhin mit Glaubenssätzen dafür gefochten, mit diesem Instrument seien terroristische Straftaten - jetzt nach rechts gewandt - zu verhüten. Ein tatsächlicher Austausch von Argumenten fand nicht statt. Man fragt sich, wie ernst sich der Generalbundesanwalt selbst nimmt, wenn er Kronzeugen öffentlich präsentiert, die er hinterher dann wie verdorbenes Obst fallenlassen muß - wie Siegfried Nonne -, oder ob es der Bundesregierung und der Koalition nicht peinlich ist, wenn ihr letzter Topkronzeuge, der hier mehrfach genannte Ali Cetiner, im PKK-Prozeß sich später gar faktisch wegen Falschaussage selbst anzeigt. Soviel Ignoranz und Beschränktheit wie bei der Behandlung des Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetzes ist mir in einem parlamentarischen Beratungsverfahren noch nicht begegnet. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Jürgen Meyer.

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach einem berühmten Satz des Bundesgerichtshofes ist Ziel des Strafverfahrens die Aufklärung der Wahrheit, aber nicht um jeden Preis. Welchen Preis müssen wir für den Kronzeugen zahlen? Erstens zahlen wir den Preis eines Kuhhandels um Gerechtigkeit, worauf mein Kollege Hans de With schon hingewiesen hat. Zeugenaussagen werden für den Preis der Strafmilderung herbeigeführt. Zweitens sind diese Aussagen wegen dieses erwähnten Motivs von zweifelhaftem Wert. Darauf weist der Bundesgerichtshof mit Nachdruck in seiner Rechtsprechung hin. Dr. Jürgen Meyer ({0}) Drittens - dieser Punkt ist mir sehr wichtig, weil er auch in der Sachverständigenanhörung z. B. in den Erläuterungen von Professor Weigend eine große Rolle spielte -: Den Kronzeugen wird ein neues Leben versprochen, eine neue Identität, nachdem sie sich von ihrer Familie getrennt haben. Aber wir wissen, daß sie häufig ein elendes Ende nehmen, weil sie der Rache ihrer früheren Komplizen nicht entgehen. Wir haben vor einiger Zeit ein Zeugenschutzgesetz in Ansätzen verabschiedet, und dieses Gesetz soll die Gefahr für Belastungszeugen generell mindern. Nun führen wir durch den Kronzeugen eine erhöhte Gefahr für sogenannte Verräter herbei. Ich bin der Auffassung, wir können das nicht verantworten. Viertens werden diese Kronzeugen sehr häufig getäuscht: einmal über die Gefahr, die ihnen droht, vor allem aber darüber, daß sie im Ausland keineswegs vor Strafverfolgung wegen ihrer früheren Taten, für die sie Strafnachlaß oder Straffreiheit erhalten haben, sicher sind. Deshalb sage ich in voller Übereinstimmung mit der liberalen Justizministerin - ich hoffe, daß dieses bei der F.D.P.-Fraktion auch gewürdigt wird : Unser Rechtsstaat sollte auf diese zweifelhaften Praktiken verzichten. Sie schaden dem Ansehen unseres Staates. Wir sollten das nicht in Kauf nehmen. Danke. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Eduard Lintner das Wort.

Eduard Lintner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001351

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kronzeugenregelung, die zum Ende dieses Jahres ausläuft, sollte nach unserer Auffassung um weitere drei Jahre verlängert werden. Auch wenn die Kronzeugenregelung - was hier schon zum Ausdruck gekommen ist nicht alle bei Einführung in sie gesetzten Erwartungen erfüllt hat, so hat sie sich in der Vergangenheit eben doch als ein wirksames Mittel bei der Bekämpfung insbesondere des Terrorismus erwiesen. Sie hat zur Aufklärung schwerster Straftaten der Rote-Armee-Fraktion geführt. Sie hat zur Gewinnung wichtiger Erkenntnisse über Strukturen, taktisches Vorgehen, konspirative Wohnungen und Depots der RAF bis hin zu konkreten Tatbeteiligungen durch die Aussagen von RAF-Aussteigern beigetragen. Durch Kronzeugenaussagen - davon gibt es bisher neun Anwendungsfälle - konnte RAF-Lügen wie „Isolationsfolter" und „Morde in Stammheim", denen große Mobilisierungskraft zukam, begegnet werden.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. de With?

Eduard Lintner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001351

Ja, gerne.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte, Kollege de With.

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär Lintner, ich möchte nicht in die Organisationsgewalt der Bundesregierung eingreifen, aber fragen darf ich doch, warum sich an Stelle des anwesenden Staatssekretärs beim Bundesminister der Justiz ausgerechnet der Staatssekretär beim Bundesminister des Innern äußert, der nicht federführend ist. ({0}) Hat das damit zu tun, daß die Frau Justizministerin ganz anderer Meinung ist? ({1})

Eduard Lintner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001351

Herr Kollege de With, das dürfen Sie mich nicht fragen. In jedem Fall hat das Innenministerium einen wichtigen Beitrag zur Materie zu liefern, und den wollten wir Ihnen nicht vorenthalten. Das ist die ganze Wahrheit. ({0}) Meine Damen und Herren, um Kronzeugen zu vermeiden, mußte sich die RAF beispielsweise noch stärker abschotten, was ihre Aktionskraft behinderte. Durch die Aussagen der RAF-Aussteiger ist zweifellos auch eine Verunsicherung der RAF und des Umfeldes eingetreten, hervorgerufen schon allein durch die Tatsache der drohenden Aussage selbst. Hier wurde das Dogma, ein RAF-Kader würde nie aussagen, zerstört. Die Kronzeugenregelung hat damit auch im Bereich des RAF-Terrorismus präventive Wirkung erzielt, auch wenn dies naturgemäß nicht konkret dargelegt und belegt werden kann. Darüber hinaus ist in mehreren Verfahren gegen Angehörige der Kurdischen Arbeiterpartei ein Kurde als Kronzeuge aufgetreten. Auf Grund von dessen Aussagen ist nicht nur faktisch ein Teilbereich der PKK als terroristische Vereinigung erkannt worden, sondern es ist auch die Aufklärung zahlreicher schwerer Straftaten auf deutschem Boden ermöglicht worden. Es handelt sich hier nicht um Kleinigkeiten, sondern um dreizehn vollendete und drei versuchte Tötungsdelikte. Im Verlauf der Verfahren wurden 20 Haftbefehle erlassen, von denen neun vollstreckt wurden. Bemerkenswert ist, daß seit dieser Aussage weitere schwere Straftaten der PKK in der Bundesrepublik nicht mehr zu verzeichnen sind. Deshalb sollte auf die Chance, die sich durch die Kronzeugenregelung eröffnet, nicht verzichtet werden. Wenn auch zur Zeit von einer relativ entspannten Gefährdungslage bezüglich der RAF auszugehen ist, bleibt die RAF nach wie vor handlungsfähig und auch handlungswillig, je nach der entsprechenden konkreten Lageentwicklung. Möglich ist, daß die Kronzeugenregelung in Zukunft auch im Bereich schwerer Straftaten mit rechtsextremistischer Motivation Anwendung finden wird. Möglich ist auch, daß mit ihrer Hilfe ein Einbruch in andere ausländische Terrorgruppen gelingen könnte. Wir sollten bedenken, daß diese Regelung gerade dort Wirkung zu entfalten vermag, wo die Strafverfolgungsbehörden die größten Schwierigkeiten mit der Beweisermittlung haben. Dem Votum der Sicherheitsbehörden, die sich einhellig für eine Verlängerung ausgesprochen haben, sollten wir uns deshalb nicht verschließen. Auch der Generalbundesanwalt hat sich für eine Verlängerung, wie hier schon mehrfach betont, ausgesprochen. Noch eines, meine Damen und Herren: Auch auf Grund der kurzen Dauer der bisherigen Versuchsphase sollte eine weitere Verlängerung erfolgen, weil erst dann ein sicheres und verantwortbares Urteil möglich sein wird. Ich danke. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, zu diesem Tagesordnungspunkt liegt mir eine schriftliche Erklärung zur Geschäftsordnung nach § 31 von Frau Dr. Michaela Blunk vor.*) Außerdem möchte der Herr Kollege Wolfgang Lüder für drei Abgeordnete gemäß § 31 der Geschäftsordnung das Wort ergreifen. Bitte sehr.

Wolfgang Lüder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001390, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der Erklärung nach § 31 kann ich leider nicht mehr in die Debatte eingreifen. Deswegen kann ich Ihnen nur empfehlen, die Protokolle der beiden Anhörungen nachzulesen. Dann werden Sie auch sehen, daß es auf Grund der Beschuldigungen von Cetiner nur zu einem Urteil kam, und dieses hieß „Freispruch", weil das Gericht dem nicht folgte. Weiterhin gab es einige Einstellungen. Meine Damen und Herren, die Kollegen Dr. Hirsch und Jürgen Koppelin haben mich gebeten, folgende Erklärung vorzutragen, die wir drei hier vor dem Deutschen Bundestag abgeben: Wir können dem Entwurf des Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetzes nicht zustimmen. Schon die Überschrift verschleiert den Sachverhalt. Es geht nicht um einen Zeugen der Krone oder des Staates, sondern es geht darum, einem Straftäter Straffreiheit oder weitestgehenden Strafnachlaß zu gewähren, wenn er zur Überführung anderer Täter beiträgt. Das Gesetz ist eine Belohnungsamnestie oder ein Aussagenkauf und darum ein Verstoß gegen den grundlegenden Rechtssatz der Gleichheit vor dem Gesetz. ({0}) *) Anlage 2 Man könnte das vielleicht noch hinnehmen, wenn sich die Belohnung auf die Verhinderung künftiger, drohender Straftaten bezöge, was der Generalbundesanwalt bei der Anhörung in der 10. Legislaturperiode als einzigen Legitimationsgrund genannt hat. Aber die Erfahrungen der drei Jahre zeigen, daß dieses Ziel nicht erreicht worden ist und daß keine Chancen bestehen das hat die heutige Debatte ergeben -, dieses Ziel zu erreichen. Alles das, was hier bisher Negatives festgestellt worden ist, war als die fast sichere Wirkung des Gesetzes geradezu angekündigt. Wer an diesen Voraussagen zweifelte, wurde als jemand hingestellt, der das nächste Verbrechen selbst zu verantworten habe. Wir haben keine glaubwürdigen Aussagen bekommen. Wir haben keine Verhinderung zukünftiger Straftaten bekommen. Keine der Voraussagen ist eingetroffen, und keine der Voraussagen wird eintreffen. Weder die in der damaligen DDR festgenommenen RAF-Aussteiger noch der immer wieder und auch heute wieder zitierte Fall des PKK-Funktionärs Cetiner können in Wirklichkeit als ein Erfolg der Kronzeugenregelung bewertet werden. Die Anhörung - soweit ich von ihr Kenntnis nehmen konnte - hat dieses bestätigt. Meine Damen und Herren, das gilt auch im internationalen Vergleich. Es ist naheliegend, daß man die Aussage eines Zeugen mit um so größerer Skepsis betrachten muß, je größer die Belohnung ist, die er sich durch eine Aussage verschaffen kann. Die Kronzeugenregelung ist ein Verstoß gegen die Gleichheit vor dem Gesetz. Sie erleichtert die Wahrheitsfindung nicht, sondern sie erschwert sie. Bisher ist kein Argument dafür gekommen - auch heute nicht , warum wir diese Regelung wiederum befristen sollen. Das verrät nur das schlechte Gewissen. Wir lehnen diese Regelung ab. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Ich schließe die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. eingebrachten Entwurf eines KronzeugenVerlängerungs-Gesetzes auf Drucksache 12/3685 ({0}). Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/3973, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei einigen Gegenstimmen aus der F.D.P.-Fraktion sowie Gegenstimmen von den Gruppen und von der SPD-Fraktion angenommen. Vizepräsident Helmuth Becker Wir kommen zur dritten Beratung und Schlußabstimmung. - Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung bei den gleichen Stimmenverhältnissen wie in der zweiten Beratung angenommen. Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des § 240 StGB und zur Straffreiheit für Teilnehmer und Teilnehmerinnen an Demonstrationen mit kurzzeitigen Verkehrsbehinderungen - Drucksache 12/2166 -Überweisungsvorschlag Rechtsausschuß ({1}) Innenausschuß b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann, Ingrid Köppe, Konrad Weiß ({2}) und der Gruppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung des Strafrechts -§ 240 StGB - Drucksache 12/2366 Überweisungsvorschlag: Rechtausschuß ({3}) Innenausschuß Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch, so daß ich sagen kann: Es ist so beschlossen. - Die Zeit muß nicht ausgeschöpft werden. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner unserem Kollegen Dr. Hans de With das Wort.

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unsere Zeit ist schnellebig. Die sogennante Prominentenblockade vom 1. September 1983 an sämtlichen Zugängen zum US-Airfield in Mutlangen für drei Tage und drei Nächte ist fast schon wieder vergessen. Wir kennen nur noch den Begriff Mutlangen. Die Staatsanwaltschaft Ellwangen hat es seinerzeit abgelehnt, gegen einzelne Demonstranten strafrechtlich vorzugehen. In anderen, ähnlichen gelagerten Fällen - ich verweise auf die Sitzblockade vor dem Raketendepot in Großengstingen am 9. Mai 1983 - erfolgten hingegen Verurteilungen wegen Nötigung. Wiederum andere Blockierer, z. B. die Teilnehmer an Lkw-Blockaden in 1985, erhielten die Gunst der Verfahrenseinstellung wegen Geringfügigkeit. Diese Widersprüche der Rechtsprechung können sogar an ein und derselben Person deutlich gemacht werden: So hat das Oberlandesgericht Stuttgart mit Beschluß vom 31. Januar 1985 in Verbindung mit dem Urteil des Landgerichts Ellwangen vom 3. Oktober 1984 eine Person wegen der Teilnahme an einer Sitzdemonstration rechtskräftig verurteilt. Dieselbe Person wurde wegen der Teilnahme an einer gleichgearteten Demonstration vom Oberlandesgericht Köln eineinhalb Jahre später, nämlich mit Urteil vom 22. Juli 1986, jedoch freigesprochen. An dieser widersprüchlichen Rechtsprechung hat sich in den Folgejahren nicht viel geändert, obwohl inzwischen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und des Verfassungsgerichts vorliegen. Im sogenannten Bastian-Beschluß vom 14. Juli 1987 hat sich das Bundesverfassungsgericht, diese Widersprüche zum Anlaß nehmend, dazu wie folgt geäußert - das, meine ich, sollten wir wirklich mit Ernst zur Kenntnis nehmen -: Soweit die gegensätzliche Beurteilung von Sitzdemonstrationen durch das Bundesverfassungsgericht und durch die Strafgerichte Unklarheiten und Unsicherheiten ausgelöst hatte, beruhen diese letztlich auf der vielfach kritisierten Fassung des § 240 StGB und können nur vom Gesetzgeber beseitigt werden. Damit war und ist der Deutsche Bundestag gefordert, den Nötigungsparagraphen zu ändern bzw. zu ergänzen. CDU/CSU und F.D.P. ebenso wie die Bundesregierung haben sich bis heute dazu ausgeschwiegen. Der vorliegende Gesetzentwurf der Fraktion der SPD - er stammt schon vom 26. Februar dieses Jahres - will der Forderung des Bundesverfassungsgerichts nachkommen und damit zugleich die Spannbreite demokratischer Äußerungsmöglichkeiten erweitern und damit sichern. In § 240 soll nämlich folgender Absatz 3 angefügt werden: Eine Blockierung des Verkehrs oder die Störung einer Veranstaltung im Rahmen friedlicher Demonstrationen ist nur strafbar, wenn die Blokkierung oder die Störung zu dem angestrebten Zweck unter Berücksichtigung der Folgen für die Rechte anderer und der Beweggründe des Täters in erheblichem Maße als verwerflich anzusehen sind. Damit soll erreicht werden, daß ohne Eingriffe in das bestehende Gefüge des Nötigungsparagraphen mit Hilfe einer bloßen Ergänzung ersichtlich begrenzte Blockaden nicht mehr kriminalisiert werden. Die erlaubte Zeitdauer bemißt sich nach der beschriebenen Güterabwägung. Parallel dazu soll durch ein Amnestiegesetz - das versteht sich von selber - denen geholfen werden, deren Verfahren noch läuft, deren Strafe noch nicht vollstreckt ist und die wegen entsprechender Taten einen Eintrag im Bundeszentralregister erhalten haben. Nun mag einer einwenden, die Raketen seien abgebaut, die Gemüter hätten sich beruhigt, und für die Hauptbeteiligten sei dieses Geschehen bereits Geschichte. Das mag zutreffen oder nicht. Zwei Verhaltensweisen haben sich aber in jedem Fall bei dem Bürger als Handlungsbestandteil demokratischer Äußerungsnotwendigkeit und Äußerungsfähigkeit eingeprägt: die Demonstration und als Teil davon die Sitzblockade als wirksames Mittel demokratischer Willenskundgebung und Einwirkungsmöglichkeit. Diese Verhaltensweisen stellen - so sehen wir Sozialdemokraten das wenigstens - Instrumente grundgesetzlich gesicherten Versammlungs- und Außerungsrechts dar. ({0}) Es kann und darf deswegen nicht angehen, daß Menschen kriminalisiert oder gar der Gruppe verfemter Nötiger gleichgestellt werden, wenn sie von einem guten demokratischen Recht in angemessener Zeit Gebrauch machen. Es können morgen schon Geschehnisse eintreten, gegen die sich besorgte Menschen, wie in der Vergangenheit gegen den Vietnamkrieg oder Raketen, aus ethisch wohlbegründeten Motiven nachdrücklich wehren möchten. ({1}) In das Gefüge der Nötigungsvorschriften haben wir deshalb nicht eingegriffen, weil dieser Paragraph als Auffangtatbestand eine große Anzahl von Handlungsweisen unter Strafe stellt, die mit Recht als kriminell angesehen werden und bei entsprechenden Veränderungen unter Umständen dann strafrechtlich nicht mehr erfaßt würden. Niemand will z. B. den gefährlichen Autobahndrängler oder den mit bloßstellenden Veröffentlichungen Drohenden von Strafe freistellen. Wir haben im übrigen durch das MaxPlanck-Institut festgestellt, daß es über 30 Handlungsweisen gibt, die davon erfaßt werden und von denen keiner will, daß sie nicht mehr der strafrechtlichen Ahndung unterliegen. Deswegen haben wir keinen Eingriff in den eigentlichen Nötigungsparagraphen, sondern nur eine Anfügung vorgesehen. Wir wollen natürlich nicht für uns in Anspruch nehmen, daß wir mit dieser Formulierung den Stein der Weisen gefunden hätten. Konstruktive Anregungen sind bei dieser rechtlich heiklen und sehr schwierigen Materie erbeten und gefragt. Ich darf Sie ganz unprätentiös bei der Bewältigung dieser sehr schwierigen, aber demokratisch dringend erforderlichen Arbeit um Unterstützung und Mithilfe bitten. Rechtsunsicherheit beim Grundrecht der Meinungsfreiheit ist einer Demokratie - darin sollten wir alle übereinstimmen - abträglich. Wir könnten hiergegen etwas tun. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Wolfgang Ullmann das Wort.

Dr. Wolfgang Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002354, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Welt redet von Verschärfung - des Strafrechts natürlich -, allein das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tritt wieder einmal mit dem Vorschlag der ersatzlosen Streichung eines Strafrechtsparagraphen auf. Wie ich Sie kenne, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist es diese Position, in der Sie uns vermuten und mit den üblichen Abwehrreaktionen antworten. ({0}) Ich bitte Sie jetzt, diesem Vorurteil einmal nicht nachzugeben, sondern lieber mit mir folgendes zu überlegen. § 240 StGB ist derjenige, dessentwegen weltweit wegen ihrer Friedensliebe und ihres Bekenntnisses zur Gewaltlosigkeit bekannte Leute wie Heinrich Böll, Walter Jens, Robert Jungk sowie Hunderte unbekannter Menschen aus der Friedensbewegung verfolgt worden sind; viele von ihnen, wie Walter Jens und seine Frau wurden sogar verurteilt. Andererseits hat es wohl in wenigen Strafrechtsbereichen so viele einander entgegengesetzte Urteile gegeben - Herr de With hat darauf hingewiesen - wie in dem des § 240. Selbst das Bundesverfassungsgericht, das schon in seinem Brokdorf-Urteil vom 4. Mai 1985 ähnlich wie die Gewaltkommission der Bundesregierung den Gewaltbegriff dieses Paragraphen thematisiert und problematisiert hatte, kam in einer Nachprüfung der einschlägigen richterlichen Praxis am 11. November 1991 nur zu einer PattEntscheidung. Die problemanzeigenden Beispiele ließen sich vermehren. § 240 StGB entspricht zweifellos nicht den Maßstäben, die Art. 103 Abs. 2 für die Normenklarheit des Strafrechts aufrichtet. Als Alternative zu unserem Vorschlag der Problemlösung könnte erwogen werden, zur älteren Fassung des Gewaltbegriffs zurückzukehren, der Gewalt mittels des Begriffes der körperlichen Einwirkung definiert. Aber wer sähe nicht - die Beispiele von Herrn de With haben das unterstrichen -, daß sich Gewalt - zumal im Zeitalter der Medien - in dieser Weise nicht einengen läßt? Darum bleibt der Weg dieser Repristination verschlossen, und man muß das vorliegende strafrechtliche Problem in seinem Kern angehen.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Dr. Ullmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Christina Schenk?

Dr. Wolfgang Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002354, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Natürlich.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte sehr, Frau Schenk.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Dr. Ullmann, § 240 ist gegenwärtig der einzige im Strafgesetzbuch, der es gestattet, Ehemänner, die ihre Frauen vergewaltigen oder sexuell nötigen, strafrechtlich zu belangen. Stimmen Sie mit mir dahingehend überein, daß wir vielleicht die Forderung nach Streichung des § 240 so lange aussetzen sollten, bis es zu einer Reform der §§ 177 bis 179, wie wir es auch in unserem Gesetzentwurf fordern, gekommen ist?

Dr. Wolfgang Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002354, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Letzteres ist vielleicht eine Maximalforderung, die sich durch den Gang der Debatte erledigt, verehrte Frau Kollegin. Im übrigen muß ich Ihre Frage als einen sehr wichtigen und ernsthaften Einwand betrachten. Ich werde mich nachher noch einmal dazu äußern. Was ich sage, läuft wenigstens in der Sache auf dasselbe hinaus wie das, was sie vorschlagen. Das Grundproblem besteht meines Erachtens darin, daß am Begriff der Nötigung wieder einmal eine der jetzt vieldiskutierten Grenzen des Strafrechts offenbar wird. Gemeint ist mit diesem Begriff doch die strafrechtliche Normierung einer „verwerflichen Einwirkung" . Aber wieso muß dieser Begriff eigens thematisiert werden, wenn die §§ 174 bis 241a im speziellen Teil des StGB von gar nichts anderem als Persönlichkeitsverletzungen handeln? Liegt in dem im § 240 plötzlich auftauchenden höchst abstrakten Nötigungsbegriff nicht genau die Quelle jener mit dem Begriff der „Vergeistigung des Gewaltbegriffs" gekennzeichneten illegitimen Normenausdehnung, deren Konsequenz nur die provozierende Widersprüchlichkeit der richterlichen Verwerflichkeitsurteile sein kann? Andererseits reicht der Verwerflichkeitsbegriff der Nötigung so weit in den Bereich des Moralischen, daß er sich nicht nur der strafrechtlichen, sondern auch der zivilrechtlichen Normierung entzieht. Gegen den Vorschlag der Streichung des § 240 kann bei der jetzigen Rechtslage nur geltend gemacht werden - wie eben gesagt wurde und worauf Herr de With hinwies -, daß er als Auffangtatbestand dient und die einzige Handhabe bietet, um gegen Vergewaltigung in der Ehe vorzugehen - eine in mancher Hinsicht bedenkliche Verunklärung des Tatbestandes der sexuellen Nötigung aus § 178, nicht nur in Hinsicht der Strafmaße. Die längst fällige Lösung kann meines Erachtens nur in der Streichung des Wortes „außerehelich" in den §§ 177 und 178 StGB bestehen. Fassen wir in diesem unsere Strafjustiz so bestürzend herausfordernden Moment unserer gesellschaflichen Entwicklung den mutigen Entschluß, den Anforderungen der Normenklarheit einen höchst widersprüchlichen und trotzdem hartnäckigen Usus weichen zu lassen. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Wolfgang Götzer das Wort.

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Gestern hat dieses Parlament in eindrucksvoller Weise über die Bekämpfung von Gewalt und Extremismus diskutiert. Heute haben wir über zwei Gesetzentwürfe zu beraten, die angesichts dessen gerade makaber anmuten. ({0}) Während überall im Land Strafverschärfungen überlegt werden, soll nach dem Willen der SPD gezielte Gewaltanwendung durch Straßenblockaden oder Störung von Versammlungen künftig unter bestimmten Voraussetzungen nicht mehr strafbar sein. Dies käme im Ergebnis einem - wenn auch begrenzten - Freibrief für Linksradikale und natürlich auch - das haben Sie vielleicht nicht bedacht, meine Damen und Herren von der SPD - für Rechtsradikale gleich. Sicherlich ist jedenfalls letzteres von Ihnen nicht beabsichtigt. Die Opposition läßt nämlich keinen Zweifel daran, daß sie mit ihrem Änderungsantrag eigentlich nur einen ganz bestimmten Kreis von Demonstranten gemeint hat, nämlich diejenigen, die bei Aktionen der sogenannten Friedensbewegung strafbare Handlungen im Sinne des § 240 StGB begangen haben. ({1}) Dies macht die Sache aber nicht besser, denn abgesehen davon, daß nicht verhindert werden kann, daß sich auch Rechtsradikale auf den Entwurf der SPD berufen können, ({2}) kann es nicht angehen, daß bei der Frage der Strafbarkeit einer Handlung politische Motive eine Rolle spielen. Das Ansinnen der SPD und erst recht natürlich das Ansinnen des BÜNDNISSES 90 und der GRÜNEN ist gerade in dieser Zeit nicht zu verantworten. ({3}) Aus den vom BMI vorgelegten Zahlen ergibt sich, daß die Gesamtzahl aller Demonstrationen in den letzten Jahren stetig zugenommen hat und daß auch die Anzahl der unfriedlich verlaufenen Demonstrationen stark angestiegen ist. Der Versuch, aus ideologischen Motiven heraus bestimmte Formen von Gewalt straffrei zu stellen, ist freilich nicht neu: Im Jahr 1990 brachte das Saarland im Bundesrat einen Gesetzesantrag ein, in dem vorgeschlagen wurde, den Gewaltbegriff neu zu formulieren. Begründet wurde dies damals interessanterweise mit der angeblich „konturlosen Ausdehnung des Gewaltbegriffes", die es zu beseitigen gelte. Meine Damen und Herren, da stellt sich die Frage: Wer hat denn damit angefangen? Ich erinnere mich noch gut an die Diskussionen in den späten 60er und frühen 70er Jahren über die angeblich allgegenwärtige und potentiell in allem staatlichen Handeln steckende strukturelle Gewalt. Gegen diese, so hieß es damals, sei Gegengewalt durch die Objekte der Repression - sprich: die unterdrückten Bürger - gerechtfertigt, ja notwendig. In der Tat konnte man damals das Ausufern des Gewaltbegriffs feststellen, freilich nur soweit es um die Definition sogenannter repressiver staatlicher Gewalt ging. Was aber die Gewaltausübung auf seiten der Demonstranten anging und angeht, so ist genau das Gegenteil festzustellen, nämlich ein immer enger werdender Gewaltbegriff, der immer größeren Freiraum für radikale Formen von Meinungsäußerungen schaffen soll, und das werden wir nicht zulassen. ({4}) Der heute in erster Lesung zu beratende Gesetzentwurf der SPD verfolgt das gleiche Ziel auf andere Weise: Man will den § 240 StGB um einen Abs. 3 erweitern, der speziell die Blockierung des Verkehrs oder die Störung einer Veranstaltung betrifft. Diese Handlungen werden nur dann für strafbar erklärt, wenn sie im Rahmen friedlicher Demonstrationen erfolgen und die Blockierung oder die Störung zu dem angestrebten Zweck unter Berücksichtigung der Folgen für die Rechte anderer und der Beweggründe des Täters in erheblichem Maße als verwerflich anzusehen ist. Ich möchte einmal davon absehen, ob diese Formulierung die gewünschte Rechtsklarheit schafft; ich habe da meine Zweifel. ({5}) Ich möchte auch davon absehen, ob eine Demonstration überhaupt noch friedlich ist, wenn dabei gezielt eine Veranstaltung gestört oder der Verkehr blockiert wird. Viel gravierender ist meines Erachtens, daß die SPD die Frage der Strafbarkeit von der Berücksichtigung der Beweggründe des Täters abhängig machen will. Dies kann und darf nicht sein. ({6}) Der BGH dagegen hat in seiner Entscheidung vom 5. Mai 1988 ausführlich und überzeugend dargelegt, daß die Fernziele von Straßenblockierern nicht bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit der Nötigung, sondern nur bei der Strafzumessung berücksichtigt werden dürfen. ({7}) Des weiteren hat der BGH darauf hingewiesen, daß sich brauchbare objektivierbare Bewertungsmaßstäbe für solche Fernziele nicht aufstellen lassen. Der Vorschlag der SPD liefe darauf hinaus, daß die strafbarkeitsrelevante Wertung dieser Fernziele letztlich doch von der nicht kalkulierbaren politischen Einstellung des jeweils zuständigen Richters abhinge. Wer das will, möge es laut und deutlich sagen. Wir sind der Auffassung, daß die politische Überzeugung keiner inhaltlichen Kontrolle durch den Richter unterzogen werden darf. Gegen den Vorschlag der SPD sprechen auch schwerwiegende rechtspolitische Gesichtspunkte, auf die auch der BGH unmißverständlich hingewiesen hat: Die Anerkennung von Zielen, für deren Verwirklichung auch unter Anwendung von Zwang im Sinne des § 240 StGB geworben werden dürfte, läßt die Gefahr einer Radikalisierung der politischen Auseinandersetzung entstehen. Natürlich würde die Verwirklichung des SPD-Entwurfs bedeuten, daß die Hemmschwelle für politisch motivierte Gewaltanwendung deutlich sinken würde. ({8}) Dies könnte fatale Folgen für den derzeit ja ohnehin besonders bedrohten inneren Frieden in unserem Land haben. Ich möchte den BGH an dieser Stelle wörtlich zitieren: Es liegt ... im hohen Maße im allgemeinen Interesse, daß Auseinandersetzungen über politische Streitfragen frei von Gewalt bleiben. Dieses Ziel - so der BGH weiter läßt sich nur erreichen, wenn die Grenzen zwischen den erlaubten Mitteln des Meinungskampfes und strafrechtlich relevanten Mißbräuchen des Demonstrationsrechts klar und unmißverständlich festgelegt bleiben. ({9}) Der Gesetzentwurf der SPD dient dem gerade nicht. Er stellt im Ergebnis vielmehr eine Rechtfertigung der Begehung bestimmter Straftaten zur Durchsetzung politischer Ziele dar. Die vorgesehene Amnestieregelung trägt nicht zum Rechtsfrieden bei, ({10}) sondern ermuntert dazu, sich über strafrechtliche Gebote und Verbote hinwegzusetzen. ({11}) Der Entwurf der SPD leistet damit - ich muß das in aller Deutlichkeit sagen - einen Beitrag zur Radikalisierung der Politik auf Kosten der rechtstreuen Bürger. ({12}) Dies ist besonders fatal in einer Zeit, da nach dem Linksextremismus nun auch der Rechtsextremismus zu einer immer größeren Gefahr wird. Die Anwendung von Gewalt durch Blockaden und die Störung von Versammlungen sind nicht rechtmäßig und werden es auch in Zukunft nicht sein. Dies gebieten die Friedenssicherungspflicht des Staates und das Prinzip der wehrhaften Demokratie, und dafür stehen wir ein. ({13})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Jörg van Essen, Sie haben jetzt das Wort.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heute zu behandelnde Gesetzentwurf zur Bereinigung des Strafrechts sieht vor, entweder den § 240 StGB ersatzlos zu streichen - so die Vorstellung des BÜNDNISSES 90 - oder aber um eine Privilegierung von Straßenblockierern zu erweitern; so die Vorstellung der SPD. Ich kann mich - Sie werden nicht überrascht sein, Herr Kollege de With - für beide Vorstellungen nur schwer erwärmen. § 240 StGB schützt die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung vor Angriffen. Der Schutz der Freiheit ist ein Thema, bei dem sich Liberale immer in besonderer Weise angesprochen fühlen. ({0}) Der Freiheitsschutz, den § 240 StGB auf der einen Seite gewährt, bedeutet zwangsläufig Freiheitseinschränkung auf der anderen Seite. Allerdings verJörg van Essen sucht das Stafgesetzbuch, diese Einschränkung so gering wie möglich zu halten, indem als Nötigungsmittel nur die Gewalt und die Drohung mit einem empfindlichen Übel pönalisiert werden. Es ist gar nicht zu bestreiten, daß der Gewaltbegriff des Stafgesetzbuches bis heute eine sehr weite Ausdehnung erfahren hat. Während früher unter Gewalt nur die körperliche Kraftentfaltung verstanden wurde, hat später eine Verfeinerung des Gewaltbegriffes stattgefunden, so daß man in der Literatur auch von einer Vergeistigung des Gewaltbegriffes spricht. Dies bedeutet jedoch nicht, daß diese Ausweitung eine Streichung des § 240 StGB, wie vom BÜNDNIS 90 gefordert, begründen kann. Als Grund für diese Forderung wird im Gesetzentwurf angegeben, daß eine große Rechtsunsicherheit durch den sogenannten vergeistigten Gewaltbegriff entstanden sei. Aber diese Offenheit liegt in der Natur der Sache und ist daher hinnehmbar. Dadurch, daß uns § 240 StGB selbst keine Definition des Gewaltbegriffes liefert, muß dieser durch die Rechtssprechung im Wege der Auslegung, also in einem normalen juristischen Verfahren - das muß immer wieder betont werden -, entwickelt werden. Ich teile die Einschätzung im Leipziger Kommentar, daß es ungerecht erscheint, die Entwicklung in ihrer Gesamtheit als verhängnisvoll darzustellen. Gerade die Stärke einer Strafvorschrift zeigt sich auch darin, daß sie nicht jedesmal unter Berücksichtigung neuer Nötigungsmethoden im Wandel der Anschauungen und Verhältnisse neu gestaltet werden muß. ({1}) Eine Streichung des § 240 StGB würde darüber hinaus eine Rechtslücke entstehen lassen, die ich insbesondere im Straßenverkehr - der Kollege de With hat ja einige Beispiele dafür gebildet - für nicht hinnehmbar halte. Auch wenn der in den verschiedenen anderen Vorschriften des Strafgesetzbuches verwandte Gewaltbegriff nicht immer der gleiche sein mag, so weist er doch gemeinsame Grundelemente auf. Das Argument des BÜNDNISSES 90 hinsichtlich der Rechtsunsicherheit müßte daher folgerichtig auch zur Streichung dieser Paragraphen führen, was Sie mit Sicherheit nicht wollen. Ich kann mich auch nicht mit den Gedanken der SPD anfreunden, die von der Überlegung getragen sind, den gewalttätig Demonstrierenden gegen die sogenannte NATO-Nachrüstung nachträglich zu helfen. ({2}) - Ich komme gleich darauf zu sprechen, Kollege de With. - Mir ist ein Aufsatz in Erinnerung geblieben, den ein Mitglied der SPD, ein Oberst der Bundeswehr, in jenen Tagen geschrieben hat. Er hat angefragt, ob die medienwirksame Blockierung der Familienheimfahrt von einfachen Wehrpflichtigen, die in den Entscheidungsprozeß über die NATO-Nachrüstung überhaupt nicht eingebunden waren, tatsächlich zu rechtfertigen sei. ({3}) Diese Frage stellt sich mir in gleicher Weise noch immer. Die Staatsanwaltschaften haben während der Demonstrationen gegen die NATO-Nachrüstung nach meinen Beobachtungen - Ausnahmen bestätigen nur diese Regel - jeweils sorgfältig geprüft und sind sich des Spannungsfeldes zwischen den Grundrechten der Meinungs- sowie der Versammlungs- und der Demonstrationsfreiheit auf der einen und der ungehinderten Bewegungsfreiheit auf der anderen Seite durchaus bewußt gewesen. Die hohe Zahl von Verfahrenseinstellungen belegt das.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege van Essen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen de With?

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Bitte, Kollege de With.

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr van Essen, ich muß Sie fragen, ob Sie meinen Ausführungen zugehört haben, in denen ich klargemacht habe, daß die Zeit der Blockade begrenzt ist, ganz abgesehen davon, daß es sich immer nur um friedliche Demonstranten handeln kann? Zieht man andere Demonstrationen in Betracht, die wir seit Jahrhunderten haben - was völlig in Ordnung ist -, wo eine ganze Stadt z. B. durch eine religiöse Demonstration verstopft werden kann, dann träfe dasselbe zu. Meinen Sie nicht, daß die Argumentation, die Sie hier gebracht haben, hinkt? Es geht um die Meinungsfreiheit und einen vernünftigen Weg dazu, ihr Bahn zu verschaffen, nach Möglichkeit ohne große Hemmnisse für andere.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege de With, Sie können ganz sicher sein, daß die Liberalen immer Verfechter der Demonstrationsfreiheit sein werden. Es kommt jedoch auf den Einzelfall an. Es muß jeweils abgewogen werden. Genau diese Abwägung läßt der § 240 des Strafgesetzbuches in der jetzigen Fassung schon zu. Sie wird auch so vorgenommen. ({0}) Genau das habe ich gerade ausgeführt. Es bedarf keiner besonderen Privilegierung. ({1}) - Ich möchte jetzt gerne fortsetzen. ({2}) Für mich - ich weiß, daß das eine oder andere Mitglied meiner Fraktion in der heute zur Diskussion stehenden Frage anders denkt - ist diese Debatte auch ein Beispiel dafür, daß mit bewußten und vorsätzlichen Regelverletzungen von einer bestimmten politischen Seite verharmlosend umgegangen wird. Die Resultate dieses falschen Verhaltens, unter anderem mit der Übernahme bestimmter Rechtfertigungsmuster, sehen wir in diesen Tagen der Gewalt in unserem Lande mehr als deutlich. Herr Kollege de With, Sie haben die Sensibilität der Materie angesprochen. Wir sollten im Rechtsausschuß tatsächlich sorgfältig darüber diskutieren. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Das Wort erhält jetzt unser Kollege Dr. Jürgen Meyer.

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Kritik an den Strafurteilen gegen Sitzblockierer wird gelegentlich in dem Satz zusammengefaßt: Die Raketen sind weg, aber die Prozesse gehen weiter. Wer damit allerdings die Aufforderung verbindet, die Gerichte oder der Gesetzgeber sollten nun endlich den Erfolg der friedlichen Demonstrationen durch symbolische Blockaden von Atomraketenlagern honorieren, denkt nach meiner Auffassung zu kurz. Denn die Vergabe von Prämien für politische Erfolge ist nicht Sache des Gesetzgebers. Die Strafwürdigkeit eines Verhaltens hat auch wenig mit dem mehr oder weniger glücklichen Ausgang politischer Entscheidungsprozesse zu tun. Dieser Ausgang war auch nicht das Motiv für die von meinem Kollegen Hans de With zitierte Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts an den Gesetzgeber, den Nötigungsparagraphen zu reformieren. Dem Gericht ging es um die Unklarheiten und Unsicherheiten der Rechtsprechung, die nach der Auffassung der obersten Richter nicht der Justiz, sondern der seit vielen Jahrzehnten auch von der Wissenschaft immer wieder kritisierten weiten Tatbestandsfassung anzulasten ist. Das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot kann zwar auch durch die Konkretisierung einer Norm durch die Gerichte erfüllt werden. Aber bis heute ist das in den Sitzblockiererprozessen nicht gelungen. Als Verteidiger in einem solchen Prozeß kann ich berichten, daß es für die Mutlangen-Demonstranten darauf ankam, bei welchem Richter des Amtsgerichts Schwäbisch Gmünd ihr Prozeß stattfand. ({0}) Denn der eine Richter verurteilte die vor ihm erscheinenden Angeklagten geradezu am Fließband, während sein Kollege im selben Haus wegen völlig gleichartiger Handlungen freisprach oder die Verfahren einstellte. ({1}) Vor welchem Richter der Prozeß stattfand, hing vor allem vom Anfangsbuchstaben des Zunamens der Hauptangeklagten ab. ({2}) Das war gewissermaßen die Schwäbisch Gmünder Version des geborenen Verbrechers - frei nach Lombroso. ({3}) Ein mir bekannter Prozeß ist seit etwa sieben Jahren in nunmehr zweiter Instanz beim Landgericht Ellwangen anhängig, weil die Einzelfallprüfung, wie sie der Bundesgerichtshof und ihm folgend das Oberlandesgericht Stuttgart inzwischen verlangen, immer noch nicht abgeschlossen werden konnte. ({4}) Woran liegt das? Herr Kollege Geis, das liegt nicht am Richter, sondern an den Strukturen und am Gesetz. Deshalb frage ich: Wie kann der Gesetzgeber entsprechend der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts helfen? In der Literatur und zahlreichen Verfassungsbeschwerden ist immer wieder der weite sogenannte vergeistigte Gewaltbegriff der Nötigungshandlung gerügt worden. Ich halte diesen Reformansatz im Unterschied zu unserem Kollegen Ullmann für falsch. Denn erstens würde ein engerer, auf die unmittelbare körperliche Zwangswirkung beschränkter Gewaltbegriff raffinierter handelnde Täter begünstigen. Herr Kollege van Essen, die Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung ist ein zu hohes Rechtsgut, um es gegenüber derartigen Pressionen, wie sie gleichrangig durch die Drohung mit einem empfindlichen Übel erfaßt werden, von vornherein schutzlos zu stellen. Das tun übrigens auch vergleichbare westeuropäische Demokratien nicht. Zweitens zeigt die vorhin schon erwähnte Untersuchung des Freiburger Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, daß durch einen engeren Gewaltbegriff eindeutig strafwürdiges Verhalten - wie etwa das Bedrängen anderer Autofahrer auf der Autobahn - aus dem Nötigungstatbestand herausfallen könnte. Drittens und vor allem sollte es im Strafgesetzbuch keine unterschiedlichen Gewaltbegriffe geben. Das wäre aber die zwangsläufige Folge einer Einengung bei der Nötigung. Nicht zu Unrecht wird bei den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung häufig verlangt, ({5}) den Gewaltbegriff eher zu erweitern. Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch eine Neufassung der berühmten Verwerflichkeitsklausel, wonach die Anwendung der Gewalt zu dem angeDr. Jürgen Meyer ({6}) strebten Zweck als verwerflich anzusehen sein muß, macht große Schwierigkeiten. ({7}) In der ersten Phase der Blockiererprozesse vertraten manche Gerichte die Auffassung, Mittel einer Sitzblockade sei das Hinsetzen auf die Straße, und Zweck sei das Anhalten der Autofahrer, weshalb die Fernziele außer Betracht zu bleiben hätten. Dieser juristisch-chirurgische Einschnitt, mit dem der eigentliche Gehalt der Handlung als einer politischen Meinungsäußerung gewissermaßen wegoperiert werden sollte, konnte sich natürlich nicht durchsetzen. Inzwischen ist weitgehend anerkannt, daß die Fernziele sehr wohl zu berücksichtigen sind, jedenfalls bei der Strafzumessung. ({8}) Das, verehrte Kollegen von der CDU, hat zur Folge, daß das Maß der Schuld so gering sein kann, daß das Verfahren eingestellt werden muß. Man könnte mm bei der Reform des Nötigungstatbestandes daran denken, am Gemeinwohl, also etwa der Friedenssicherung, orientierte Sitzblockaden anders zu behandeln als solche, die der Durchsetzung privater Interessen dienen, etwa höhere Preise für landwirtschaftliche Produkte oder eine raschere Abfertigung von Lastkraftwagen am Brennerpaß. Wir alle kennen diese Fälle. Natürlich würden im Beispielsfall die Landwirte nach einer Blockade z. B. der Europabrücke in Kehl sehr rasch geltend machen, daß ein funktionierender Agrarmarkt auch im Interesse des Gemeinwohls liege. Deshalb würde mit ökologischer Begründung auch für niedrigere Tarife bei Straßenbahnfahrten geltend gemacht werden, auch diese lägen im Gemeinwohl. ({9}) Die Strafrichter würden also zu politischen Bewertungen von Demonstrationszielen gezwungen, was wir nicht wollen. ({10}) In Wirklichkeit war es das eigentliche Ärgernis bei den unterschiedlichen Straßenblockaden, daß die Sitzblockaden vor Atomraketenlagern schon von Polizei und Staatsanwaltschaft anders behandelt worden sind als sonstige Blockaden des Straßenverkehrs, etwa durch Landwirte. Wir wollen nicht, daß sich das durch eine Änderung der Verwerflichkeitsklausel mit anderen Vorzeichen wiederholt. Schließlich ist als Problemlösung immer wieder eine Amnestie verurteilter Sitzblockierer gefordert worden. Diese Lösung kann aber nur überzeugen, wenn der Gesetzgeber zuvor klarstellt, daß er derartige Formen politischer Meinungsäußerung in sozialverträglichen Grenzen nicht für strafwürdig hält. ({11}) Strafwürdigkeit setzt Sozialschädlichkeit voraus. Daran fehlt es an unserer Überzeugung hier. Eine Amnestie ohne Änderung des § 240 StGB würde nur Altfälle lösen, aber nicht künftige Strafverfahren verhindern. Das von interessierter Seite vor Jahren einmal vorgeschlagene Tauschgeschäft einer Amnestie der Sitzblockierer vor Atomraketenlagern bei gleichzeitiger Amnestie der Steuersünder im Parteispendenskandal ist glücklicherweise nie zustande gekommen. Es hätte die Parteiverdrossenheit mit Sicherheit und mit Recht erheblich gesteigert. Aus den geschilderten Gründen setzen wir mit unserer Problemlösung dort an, wo die wesentliche Ursache der gegenwärtigen Verunsicherung der Gerichte liegt: Friedliche Demonstrationen durch Verkehrsblockaden oder kurzzeitige Störungen von Veranstaltungen liegen nämlich exakt im Schnittpunkt des Nötigungsstrafrechts einerseits und der Ausübung von Meinungsfreiheit und Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit andererseits. Es handelt sich um eine besondere Fallgruppe, die einer eigenständigen Beurteilung zugefügt werden muß. Letztlich geht es darum, anzuerkennen, daß bestimmte Handlungen in einer Demokratie legitim sind, die unter anderen Verfassungsformen, die nicht von deren Verfassungsformen, die nicht von der Luft der freien Meinungsäußerung leben, durchaus konsequent verboten werden können. Das ist der Grundansatz unseres Entwurfs. Daß dieser Grundgedanke, in § 240 StGB besondere Fallgruppen eigenständig zu regeln, auch dem Bundesverfassungsgericht nicht fremd ist, haben wir vor zwei Tagen, zur Überraschung einiger Prozeßteilnehmer, bei der Verhandlung über das Familien- und Schwangerenhilfegesetz in Karlsruhe erfahren. Einer der Richter hat angeregt, die Nötigung der Schwangeren durch ihren Partner zum Abbruch der Schwangerschaft als besonderen und eventuell schweren Fall mit erhöhter Strafdrohung ausdrücklich zu regeln. Der Richter wies darauf hin, daß man so gerade in einem Beratungssystem die eigenverantwortliche Entscheidung der Schwangeren nach der Beratung wirksamer als bisher schützen könne. Als Vertreter des Bundestages haben wir zugesagt, diesen Gedanken in die Reformüberlegungen zur Strafbarkeit der Nötigung einzubringen. Schlußbemerkung: Wir haben vor kurzem in diesem Hause das Rechtspflegeentlastungsgesetz verabschiedet. Es ging uns dabei darum, die Ermittlungsbehörden und die Justiz von unnötigen Strafprozessen freizustellen. Der Gesetzentwurf, den wir heute einbringen, könnte ein weiterer Schritt sein, vor allem die westdeutschen Gerichte von dem Ballast teilweise seit vielen Jahren anhängiger Nötigungsprozesse zu befreien. Sie warten darauf; denn unsere Justiz hat wichtigere Aufgaben. Deshalb hoffen wir auf Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf. Ich danke Ihnen. ({12})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt dem Kollegen Klaus-Heiner Lehne das Wort.

Klaus Heiner Lehne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001303, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir werden diese beiden Gesetzentwürfe ja noch im Rechtsausschuß beraten, da wir uns heute erst in der ersten Lesung befinden. Ich möchte trotzdem die Gelegenheit nutzen, schon vorab einige Aspekte anzusprechen, die meines Erachtens nach dafür sprechen, daß hier kein Entscheidungsbedarf, jedenfalls nicht im Sinne dieser Gesetzentwürfe, besteht. Der § 240 StGB, der Nötigungsparagraph, hat sich meines Erachtens nach in unserer Strafrechtsordnung in jeder Hinsicht bewährt. Es gibt hierzu klare Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes, zuletzt 1987, und des Bundesgerichtshofes, zuletzt 1988, die klare Richtlinien aufgestellt haben, wie der Nötigungsparagraph von der Rechtsprechung anzuwenden ist, wie der Gewaltbegriff auszulegen ist und wie man mit dem Problem der Nötigung insgesamt in unserem Lande fertig werden kann. Ich bin auch der Meinung, daß Gewalt, die über das hinausgeht, was im Rahmen des Strafgesetzbuches zulässig ist, nicht schützenswert ist, egal ob es sich um aktive oder um passive Gewaltausübung handelt und egal, aus welchem Anlaß sie verübt wurde, wenn sie nicht im Einzelfall zu rechtfertigen ist. Hinzu kommt, daß unser derzeitiger Nötigungsparagraph, der § 240 StGB, sich bereits selber von einer Vielzahl anderer Tatbestände im Strafgesetzbuch unterscheidet, indem er bei Erfüllung des Tatbestandes keine automatische Indizierung der Rechtswidrigkeit annimmt, sondern das besondere Instrument des Verwerflichkeitskriteriums einführt, das einer besonderen Prüfung und der Abwägung aller Umstände durch den Richter bedarf. Dabei haben die höchsten Gerichte eindeutig entschieden, zuletzt der BGH, daß politische Fernziele bei der Beurteilung der Verwerflichkeit und damit der Rechtswidrigkeit als unbeachtlich anzusehen sind. Lediglich bei der Strafzumessung - das ist hier richtig angesprochen worden - können sie im Einzelfall berücksichtigt werden. Aber bei der Frage der Rechtswidrigkeit - und bei Ihrem Gesetzentwurf wollen Sie ja dort ansetzen - ist es eben anders. Dies entspricht nicht dem, was die höchsten Gerichte in den letzten Jahren an Rechtsprechung entwickelt haben. ({0}) Maßgeblich ist nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung die Art der Gewaltanwendung und deren unmittelbares Ziel, z. B. die Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit zu Demonstrationszwecken. Dies ist eindeutig so entschieden, und ich glaube, dies ist auch eindeutig zu verstehen. Selbst dann, wenn untere Gerichte hier oder da einmal andere Entscheidungen treffen, ist dies nichts Ungewöhnliches. Ausschlaggebend ist das, was die höchstrichterliche Rechtsprechung hierzu sagt. Wir erleben zu jedem Strafrechtsparagraphen hier oder da einmal abweichende Entscheidungen unterer Gerichte, die in der nächsten Instanz entsprechend berichtigt werden. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Herr Kollege Lehne, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen de With?

Klaus Heiner Lehne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001303, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Was sagen Sie denn zu dem Satz des Bundesverfassungsgerichts, den ich zitiert habe, wonach die Widersprüchlichkeit nur durch den Gesetzgeber geklärt werden kann - eine Auffassung des höchsten Gerichts, in der eine Aufforderung an uns enthalten ist, das zu regeln?

Klaus Heiner Lehne (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001303, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin der Meinung, daß dies deshalb nicht notwendig ist, weil das Bundesverfassungsgericht eindeutig entschieden hat und wir uns an die Kriterien, die vom Bundesverfassungsgericht vorgegeben sind, ohne weiteres halten können. Auch die Rechtsprechung tut dies. Das ist eine Entscheidung wie jede andere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes auch. ({0}) Jetzt möchte ich kurz etwas zu den Anträgen sagen, zunächst einmal zu dem Antrag vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN auf Abschaffung des § 240 StGB. Leider ist vom BÜNDNIS 90 an diesem späten Freitagnachmittag offensichtlich keiner mehr da. ({1}) Ich halte diesen Antrag schlicht für absurd, und zwar einfach vor dem Hintergrund der Bedeutung, die der Nötigungsparagraph in unserem gesamten Strafrecht hat. Ich will nur einmal die Beispiele der Nötigung im Straßenverkehr oder der Nötigung durch Telefonterror nennen. Es gibt eine ganze Reihe von Maßnahmen, derer sich die Täter in unserem Lande bedienen und bei denen das Opfer sicherlich als schützenswert anzusehen ist. Allein auf Grund dieser Absurdität müßte man sich damit eigentlich gar nicht weiter befassen. Ich meine auch, man muß bei dieser Gelegenheit feststellen, daß die Versammlungs- und Meinungsfreiheit in diesem Lande nicht unbegrenzt gelten kann, ({2}) sondern die Freiheit des einen die Grenzen immer dann finden muß, wenn die Freiheit des anderen bedroht ist. Der § 240 StGB ist nichts anderes als ein Ausdruck dieses Grundsatzes, ganz zu schweigen davon, daß - dies geht auch aus der Begründung des Antrages von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hervor - man offensichtlich doch selbst der Meinung zu sein scheint, daß hier und da psychische Gewalt, die ja unter den weiten Gewaltbegriff fällt, schlimmer sein kann als physische Gewalt. Zu dem SPD-Antrag: Mit ihm wird angestrebt, Blockierung des Verkehrs und die Störung einer Veranstaltung zu dem angestrebten Zweck nur dann strafbar sein zu lassen, wenn „erhebliche Verwerflichkeit" vorliegt. Dies halte ich für eine Privilegierung einer politischen Nötigung ohne jeden sachlichen Grund. Wer demonstrieren will, kann dies auch tun, ohne Gewalt zu verüben, ob aktiv oder passiv. Das sieht unser Demonstrationsrecht so vor. Ein anderes Verhalten ist in meinen Augen nicht schützenswert, ganz zu schweigen davon, daß die SPD in ihrem neuen Gesetzentwurf im Grunde unbestimmte Rechtsbegriffe anführt - wie „erhebliche Verwerflichkeit" -, daß die Beweggründe bei der politischen Entscheidung zu berücksichtigen sind oder daß der Begriff des „angestrebten Zwecks" extrem auslegungsbedürftig ist und zweifellos zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit führen würden. Schlimm wäre es auch, wenn Richter plötzlich über die politischen Beweggründe und ihre Wertigkeit zu entscheiden hätten. Dann wäre die politsiche Meinung des Richters letztlich ausschlaggebend für die Frage, ob sich jemand strafbar gemacht hat oder nicht. Das von Ihnen vorgeschlagene Amnestiegesetz würde zu einer endlosen Rückabwicklung von bereits stattgefundenen Prozessen führen, ohne daß es dafür einen rechtlichen Grund gäbe; denn spätestens seit dem Läpple-Urteil Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre hat jeder in unserem Lande gewußt, was strafbar ist und was nicht. ({3}) Jeder, der Straßen blockiert hat, wußte, was er da tat und daß er sich damit möglicherweise strafbar macht. Um es zusammenzufassen: Ich bin der Meinung, daß die hier vorgelegten Anträge letztlich zu einer Verwilderung des Rechtsbewußtseins in unserem Lande führen würden, würden sie denn beschlossen werden. ({4}) Das Recht des Stärkeren bei Demonstrationen hätte endgültig Vorrang vor dem Recht des Normalen, der frei und friedlich seinem Demonstrationsrecht nachgeht. Die Gewalt, die passive Gewalt, die Blockade bei Demonstrationen würde, wenn das Gesetz würde, was hier beantragt worden ist, in diesem Land zur Regel werden und nicht mehr Ausnahme bleiben, wie es im Augenblick Gott sei Dank noch der Fall ist. Wir würden, ganz zu schweigen von den Problemen, die hier aufgeworfen sind, auch noch dazu beitragen, eine weitere Bagatellisierung und Relativierung des Gewaltbegriffs in unserem Lande zu bewirken, ({5}) und damit eine ausgesprochen negative Entwicklung fortsetzen, die seit Anfang der 70er Jahre zu beobachten ist und zu einer weitgehenden Steigerung der Kriminalstatistiken in diesem Lande geführt hat. Ich erinnere nur daran, daß die rechtspolitische Diskussion in den 70er Jahren, die nicht immer sehr glücklich gelaufen ist, zunächst einmal dazu führte, daß eigentlich schon das Eigentum nicht mehr viel wert war und Eigentumsdelikte kaum noch bestraft wurden. Der nächste Schritt, der jetzt offenbar kommt, ist die Tatsache, daß die Freiheit des anderen - das ist auch seine Bewegungsfreiheit - nicht mehr viel wert ist. Ich frage, wann auch die körperliche Unversehrtheit des einzelnen in diesem Lande nichts mehr wert ist. ({6}) Deshalb möchte ich ganz deutlich sagen, daß diese Gesetzentwürfe, so wie sie vorliegen, meines Erachtens unmöglich beschlossen werden können. Dies würde zu einer Zunahme des Unrechtsbewußtseins in diesem Lande führen und rechtspolitisch gerade auch vor dem Hintergrund der Zunahme der Gewaltstraftaten in den letzten Wochen und Monaten in die exakt falsche Richtung zeigen. ({7})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, ich erteile das Wort unserem Kollegen Dr. Uwe-Jens Heuer.

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dem eben gemalten Horrorgemälde des Zugrundegehens des Rechtsstaats ({0}) möchte ich die Aufmerksamkeit doch wieder auf die Gesetzentwürfe lenken. Herr Ullmann hatte erklärt, daß allein das BÜNDNIS 90 gegen eine weitere Verschärfung sei. Ich möchte mich diesem Antrag anschließen und das auch begründen. Es geht heute darum, daß die Fraktion der SPD - das ist gesagt worden - § 240 StGB ergänzen will, um Straffreiheit für Teilnehmer an friedlichen Sitzblockaden zu erzielen. Sie rüttelt aber grundsätzlich nicht an der Struktur dieses Paragraphen. Das BÜNDNIS 90 will diesen Paragraphen dagegen gänzlich streichen lassen. Es sind schon Anmerkungen über eventuelle Korrekturen gemacht worden, aber im Prinzip möchte ich diesen Antrag unterstützen. Ich möchte das folgendermaßen begründen. Die Mehrheit des Senats des Bundesverfassungsgerichts, der über die Verfassungsgemäßheit des § 240 StGB zu entscheiden hatte, hat in seiner Entscheidung vom 11. November 1986 die strengen Grundsätze des Bestimmtheitsgebots abgemildert und die Grenzen der Auslegung eines Strafgesetzes erweitert. In der Entscheidungsbegründung hat das Gericht dem Bürger das Risiko des Verständnisses des Gesetzestextes aufgebürdet. Es sei unvermeidlich, daß in Grenzfällen zweifelhaft sein kann, ob ein Verhalten noch unter den gesetzlichen Tatbestand fällt oder nicht. Die Mehrheit des Senats hat es dann für ausreichend erklärt, daß dem Bürger wenigstens das Risiko erkennbar sei. Das Gericht hat dann den Gewaltbegriff ausgedehnt; ich glaube nicht, daß man einfach nur von „Verfeinerung" sprechen kann. Gewalt wurde ursprünglich im Sinne des unmittelbaren körperlichen Einwirkens verstanden. Sie wurde - das ist heute schon gesagt worden - immer mehr vergeistigt, bis dann im Läpple-Urteil von 1967 endgültig der qualitative Sprung zur völligen Loslösung des Gewaltbegriffs von körperlichen Einwirkungen getan wurde. Es wurde zum erstenmal ein im Gesetzestext nicht ausgewiesenes Schutzgut der freien Willensentschließung und -betätigung mit den Mitteln der Beeinträchtigung dieses Schutzgutes gleichgesetzt. Nach meiner Meinung muß der Begriff der Gewalt das Mittel bezeichnen und dadurch den strafrechtlichen Schutz des Gutes genau eingrenzen. Das ist in diesem Urteil nicht erfolgt. Ich meine aber, dies ist notwendig, um die Strafbarkeit von friedlichen Sitzblockaden linker Demonstranten zu begründen. Es betraf bekanntlich den Protest gegen Fahrpeiserhöhungen mit Mitteln von Sitzblockaden auf Straßenbahnschienen. Die Organisatoren dieser Sitzblockaden kamen aus dem linken Spektrum. Der Bundesgerichtshof hat gegen sie ein Grundsatzurteil gefällt. Die Minderheit des verhandelnden Senats hat sich in ihrem Gegenvotum ausdrücklich gegen diese Vergeistigung des Gewaltbegriffs gewandt. Der Begriff der Gewalt begrenze die Nötigungsmittel. Diese Entscheidung des Gesetzgebers könne nicht der Richter aufheben, auch nicht durch einen Verweis auf den Schutzweck der Normen. Dies sicherzustellen ist auch einer der beiden Regelungszwecke des Analogieverbots, das die Normierung von Straftatbeständen strikt dem Gesetzgeber vorbehält und in dieser Bedeutung nicht allein auf der rechtsstaatlichen Forderung nach Vorhersehbarkeit beruht, sondern zugleich auf dem Demokratieprinzip und der daraus folgenden besonderen Verantwortung des Gesetzgebers. Ich bin deshalb in Verbindung mit dem, was in der Diskussion gesagt wurde, für die ersatzlose Streichung. Die Lösung der SPD ist dagegen unzureichend, auch weil sie die Verwerflichkeitsklausel letztlich unangetastet läßt. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch eine grundsätzliche Bemerkung zu dem machen, was hier über die Atmosphäre der Verschärfung des Strafrechts gesagt wurde, die jetzt allüberall getätigt wird. ({1}) Ich halte das für außerordentlich bedenklich. - Das ist in der Diskussion eingangs von dem Redner Ihrer Fraktion gesagt worden, Herr Geis. ({2}) Er hat gesagt, allüberall im Lande würde von Strafverschärfung geredet, und dem sollten wir auch Rechnung tragen. ({3}) Ich halte das auch deshalb für außerordentlich problematisch, weil es auch in diesen Diskussionen immer wieder gegen Extremismus jeder Art geht und gesagt wird: Weil die Täter von Mölln so sind, muß man jetzt über die Sitzblockaden von Böll und Walter Jens und anderen reden. ({4}) Ich bin der Meinung, daß hier in sehr vielem jede Verschärfung gegen rechts erklärt und dann gegen links vollzogen wird. Ich darf Ihnen etwas vorlesen, was in der heutigen „Frankfurter Rundschau" steht. Dort sagt jemand - das ist ein Richter am Oberlandesgericht Braunschweig, Helmut Kramer -: ({5}) Es gibt kaum einen unterschiedlich anwendbaren Rechtsgrundsatz, den unsere Strafjustiz nicht gegensätzlich anwendet, je nachdem, ob Verbrechen im NS-Staat oder in der DDR verfolgt worden sind. Ich meine, daß die Verschärfungen, die jetzt erfolgen, sei es der große Lauschangriff, sei es das Ruhen der Verjährung, ({6}) je nachdem, mit diesem oder jenem begründet werden und es Ihnen völlig gleichgültig ist, welche Gründe Sie für diese Verschärfung nehmen; Hauptsache, es gelingt Ihnen, die Kronzeugenregelung - wie heute geschehen - oder den großen Lauschangriff durchzubringen. ({7}) Ich will eines sagen: Ich bin gegen eine weitere Verschärfung des Strafrechts und bin deshalb für den Entwurf, den das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorgeschlagen hat. ({8}) Ich werde dann natürlich auch für den SPD-Antrag stimmen. Ich bin der Meinung, das Entscheidende ist eine Entkriminalisierung auf einer anderen Ebene, nämlich auf der Ebene des materiellen Rechts, ({9}) und eine Entwicklung, die nicht auf eine weitere Verschärfung des Strafrechts in dieser Gesellschaft hinausläuft. Ich danke. ({10})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Reinhard Göhner möchte seine Rede zu Protokoll geben.') Ich bitte um Zustimmung. ({0}) *) Anlage 3 Vizepräsident Helmuth Becker - Das ist geschehen. Vielen Dank. Ich will eine Bemerkung anknüpfen. Wir hatten in dieser Debatte drei Redner, die, egal, aus welchen Gründen, jetzt schon gar nicht mehr da sind. Es ist nicht ein besonders guter Zustand, wenn hier geredet wird und man den nachfolgenden Rednern zum selben Tagesordnungspunkt nicht mehr zuhört. Ich will das als eine ganz allgemeine Bemerkung für künftige Fälle verstanden wissen. Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 12/2166 und 12/2366 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Meine Damen und Herren, als letzten Punkt der heutigen Tagesordnung rufe ich auf: Aktuelle Stunde Die Haltung der Bundesregierung in bezug auf Berufsfreiheit, Datenschutz und Hochschulautonomie in Bundesländern, dokumentiert am Beispiel des Freistaates Sachsen Die Gruppe PDS/Linke Liste hat eine Aktuelle Stunde zu dem genannten Thema verlangt. Ich eröffne die Aussprache. Zunächst hat Herr Dr. Uwe-Jens Heuer das Wort.

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Meine Damen und Herren! Ich habe vor dem Bundestag bereits mehrfach auf die Willkürpraxis der Ausgrenzung aus politischen Gründen von Hunderttausenden aus dem öffentlichen Dienst in Ostdeutschland hingewiesen. Ich stieß dabei bei vielen der Abgeordneten auf Ungläubigkeit und Desinteresse. Auch im Ausland glaubt kaum jemand, daß in Ostdeutschland im Massenumfang Menschen aus dem öffentlichen Dienst aus politischen Gründen ausgegrenzt werden. Erst recht wird der Terminus „Berufsverbote" als unangemessen angesehen. Wir haben jetzt von einem Ereignis erfahren, das wohl in der Lage ist, vielen die Augen zu öffnen, wenn sie denn sehen wollen. Worum geht es? Der Wissenschaftsminister des Freistaats Sachsen, Hans-Joachim Meyer, verschickte im November zwei Listen mit den Namen von 884 sächsischen Akademikern, überwiegend Naturwissenschaftler, an alle Hochschulen des Landes. In einem Begleitschreiben wies er an: In allen Fällen ist eine Wiedereinstellung an einer sächsischen Hochschule ausgeschlossen. Ich zeige Ihnen hier diese Liste. Auf der ersten mir vorliegenden Liste sind zahlreiche Namen vermerkt, wo Kündigungen mangels persönlicher Eignung per Gerichtsurteil wieder zurückgenommen werden mußten. In 13 Fällen waren Bedarfskündigungen ausgesprochen worden. Ich will Ihnen eines dieser Schreiben vorlesen, damit Sie wissen, wie das lautet. Dort stand: Die Kündigung ist wegen mangelnden Bedarfs gemäß Einigungsvertrag vom 31. August 1990 erforderlich.... Ich bin bereit, auf Ihre entsprechende Bewerbung hin zu prüfen, ob Sie bei der Besetzung der Stelle bevorzugt berücksichtigt werden können. ... Ich bedaure, daß sich die Hochschule wegen der vorbezeichneten Umstände von Ihnen trennen muß. Ich möchte betonen, daß die Kündigung nicht im Zusammenhang mit einer negativen Empfehlung einer Personaloder Fachkommission steht.... Mit freundlichen Grüßen .. . Tatsächlich steht dieser Name aber jetzt auf einer Liste, auf der alle Hochschulen angewiesen werden, diejenigen nicht mehr einzustellen. Sie werden also, wie gesagt, aus politischen Gründen nicht mehr eingestellt, obwohl in der Bedarfskündigung ausdrücklich steht: Es gibt keine politischen Gründe, es gibt nur fehlenden Bedarf. Im Freistaat Sachsen verhängt man eben Berufsverbote auf neue Art, klammheimlich durch eine Liste des Ministers für Wissenschaft und Kunst. Bei der zweiten Liste mit 222 Namen liegen in den meisten Fällen noch gar keine rechtskräftigen Kündigungen vor. Vieles deutet darauf hin, daß es sich hier nur um die Spitze eines Eisberges handelt, daß sich hier ein politisches Regime entwickelt, das sehr viel Ähnlichkeit mit dem der Mc Carthy-Zeit in den USA und kaum Ähnlichkeit mit dem einer freiheitlichdemokratischen Grundordnung hat. In den schwarzen Listen sehen wir eine eklatante Verletzung der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes, der Wissenschaftsfreiheit, der Freiheit der Lehre und der Hochschulautonomie nach Art. 5 Abs. 3 und des Rechts auf gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt nach Art. 33 Abs. 2 des Grundgesetzes sowie von Bestimmungen des Einigungsvertrags. Der Datenschutzbeauftragte des sächsischen Landtages, Herr Giesen, sprach ausdrücklich von Rechtswidrigkeit im Zusammenhang mit der Verletzung datenschutzrechtlicher Bestimmungen. Wir sind offenbar mit einer neuen Dimension der Berufsverbote in der Bundesrepublik Deutschland konfrontiert. Per Rundschreiben werden entgegen dem Prinzip der Hochschulautonomie Wiedereinstellungsverbote gegen fast 1 000 Hochschullehrer und Universitätsmitarbeiter verfügt. In unzulässiger Weise wird damit auf die Arbeit der Hochschulorgane Einfluß genommen. An die Stelle des rechtsstaatlichen Prinzips der Einzelfallprüfung tritt der Grundsatz administrativer Willkür, wenn gegenüber Personen, deren Kündigungsverfahren nicht einmal abgeschlossen sind, für alle Zukunft ein Einstellungsverbot an sächsischen Hochschulen ausgesprochen wird, oft ohne daß diese Personen auch nur das geringste davon ahnen. Fast noch unglaublicher als dieser Vorgang, der elementare rechtsstaatliche Grundsätze verletzt, sind die Reaktionen von Landtag und Staatsregierung. Die Staatsregierung, insbesondere Ministerpräsident Biedenkopf, stellt sich hinter Minister Meyer. ({0}) Anträge der Fraktion PDS/Linke Liste, den Staatsminister für Wissenschaft und Kunst herbeizurufen und die Vorgänge im Landtag zu beraten, wurden bis jetzt abgelehnt. Ministerpräsident Biedenkopf erklärte, das sei richtig, es handle sich um politisch belastete Hochschulangehörige. Die Worte „politisch belastet" erhalten damit in Sachsen den Sinn: Mit derartigen Personen kann man alles machen; sie sind praktisch vogelfrei; für sie gelten die Grundrechte des Grundgesetzes nicht mehr. Zwei schwarze Listen sind zufällig bekannt geworden. Möglicherweise existieren derartige Listen auch für andere Bereiche in Sachsen, vielleicht aber auch in anderen Ländern Ostdeutschlands. Ich darf an die mehrfach zitierten Bemerkungen des Innenministers Sachsens, des Herrn Eggert, erinnern, der gesagt hat, er träume von einem Tag ohne Rechtsstaat. Justizminister Heitmann erklärte, wenn den Richtern keine Rechtsnormen einfielen, müßten sie die Gesetzbücher zuklappen und kreativ an die Decke blicken. Hier ist die Aufsicht der Bundesregierung gefragt. Der Freistaat Sachsen wird zum Flaggschiff der Untergrabung des Rechtsstaates in Ostdeutschland. Man kann dem Kapitän Biedenkopf die Verantwortung dafür nicht absprechen. Als Hüterin der Verfassung steht nach meiner Auffassung die Bundesregierung hier in der Verantwortung. Ich erwarte eine Stellungnahme der Bundesregierung. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Nun hat unser Kollege Dr. Michael Luther das Wort.

Dr. Michael Luther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001398, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wird Sie vielleicht wundern, aber letztendlich bin ich dankbar, daß die PDS diese Aktuelle Stunde beantragt hat. Ich werde dies gleich begründen. Zuvor muß ich jedoch feststellen, daß der Titel Ihrer Aktuellen Stunde nicht sehr sinnvoll ist. Die Bundesregierung hat das Recht, allgemeine Grundsätze des Hochschulwesens in Rahmenvorschriften zu erlassen. Für die inhaltliche Gestaltung und für die personelle Besetzung ist das Land allein verantwortlich. Das heißt, die Bundesregierung hat sich hierzu nicht zu äußern. Gibt es Rechtsbrüche, dann ist ebenfalls die Bundesregierung nicht zuständig. Dazu gibt es in diesem Land Gott sei Dank die Justiz. Die Bundesregierung ist keine Rechtsaufsichtsbehörde der Länder. ({0}) Aber lassen Sie uns trotzdem darüber reden. Das sächsische Hochschulerneuerungsgesetz legt eindeutig fest, daß sich belastete Personen nicht wieder an den sächsischen Hochschulen bewerben dürfen. Entsprechend dem geltenden Recht hat das Sächsische Staatsministerium die Beschäftigten, die Professoren und die Hochschullehrer hinsichtlich ihrer persönlichen Eignung überprüft. ({1}) Auf Grund dieser Überprüfung mußte das sächsische Staatsministerium eine Reihe von Personen entlassen. Diese Personen, die genau wissen, warum sie entlassen worden sind, bemühen sich trotz alledem wieder, ({2}) wenn auch nicht an derselben, so doch an einer anderen Einrichtung, eingestellt zu werden, und verlassen sich offenbar darauf, daß ihre persönlichen Verbindungen aus der Vergangenheit stark genug sind, um wieder einen solchen Job zu bekommen. Das sächsische Staatsministerium darf diese Betroffenen auch in Zukunft nicht berufen. Um das Verfahren zu vereinfachen, halte ich das Ansinnen von Herrn Meyer für gerechtfertigt, hierüber die verantwortlichen Hochschulen zu informieren. ({3}) Zugegeben, es gab offensichtlich einige formelle Fehler. ({4}) - Herr Heuer, von Rechtsbruch kann jedoch aus meiner Sicht keine Rede sein. Das sächsische Staatsministerium für Justiz hat den einzelnen Vorwürfen des Datenschutzbeauftragten entgegnet. Dem ist aus meiner Sicht nichts hinzuzufügen. Für die Betroffenen gibt es auch keine Rechtseinschränkungen. Sie nehmen ihr Grundrecht wahr und klagen gegen die Entscheidung des sächsischen Staatsministeriums. Herr Heuer, dagegen habe ich auch überhaupt nichts; denn das ist Grundrecht in der Bundesrepublik Deutschland und Grundrecht in Sachsen - Gott sei Dank nach langer Abstinenz wieder Grundrecht in Sachsen. ({5}) In diesem Zusammenhang scheint mir der Kommentar Ihres ehemaligen Zentralorgans, meine Damen und Herren mit dem neuen Etikett PDS, schon sehr merkwürdig. Sie sprechen von politisch motivierten Willküraktionen. Warum hat Ihr Zentralorgan das nicht schon vor fünf Jahren angesprochen? Warum hat es nichts gegen die Verbrechen in Waldheim und Bautzen gesagt? Warum haben Sie nicht die Berufsverbotspraxis der DDR angeprangert? ({6}) - Wer durfte denn bei Ihnen Professor werden? Hören Sie bitte zu. Sie haben das zu verantworten, was aus Ihrer Diktatur entstanden ist. Ich betrachte z. B. meine Situation: Ich konnte zwar relativ schnell promovieren ({7}) - bitte hören Sie bis zum Ende zu -, dann stellte sich jedoch für diesen Staat heraus, daß ich plötzlich politisch nicht brauchbar bin. Ich wurde nicht SED- Mitglied und auch nicht Mitglied der CDU, wie es mir von einer und derselben Person angeraten wurde. Ich bekannte mich zum Christentum. Der Kaderleiter der Technischen Hochschule Zwickau sagte dann in einem Gespräch zu mir fast freundschaftlich, aber sehr makaber: Sie werden ja wohl verstehen, daß Sie nicht förderungswürdig sind. Ich war eben nicht mehr förderungswürdig. Ich hatte keine Chance. Und heute? Wenn ich mich an einer Hochschule für eine Professur bewerbe, dann sagt man mir: Sie haben zu wenig Veröffentlichungen; Sie haben zu wenig Qualifikation. Wie gehen wir mit den Folgen der Berufsverbotspraxis der SED, also Ihrer Vergangenheit, heute um? Meine Damen und Herren, Sie werden vielleicht verstehen, daß ich am Anfang gesagt habe: Ich bin froh, daß Sie die Aktuelle Stunde beantragt haben. Aber ich denke, wir sollten über das Thema in der richtigen Nuancierung reden. Danke. ({8})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt Frau Kollegin Dr. Helga Otto.

Dr. Helga Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001667, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon etwas verwunderlich, warum gerade die PDS/Linke Liste heute eine Aktuelle Stunde zum Thema „Die Haltung der Bundesregierung in bezug auf Berufsfreiheit, Datenschutz und Hochschulautonomie in den neuen Bundesländern, dokumentiert am Beispiel des Freistaates Sachsen" hier im Bundestag einbringt. Ich habe selber eine Schwester, die als Mathematikerin keine Einstellung bei der Wismut AG bekam, nur weil wir eine Schwester im Westen und einen Bruder hatten, der als Diplomingenieur anderthalb Jahre ohne Arbeitsvertrag arbeiten mußte, weil er nicht Mitglied der SED werden wollte. Ich könnte Ihnen noch tausend Beispiele für Berufsverbote in der ehemaligen DDR nennen. Ja, ich denke schon, daß wir nun endlich in einem Rechtsstaat leben, und freue mich darüber. ({0}) Sachsen ist, wenn auch Freistaat, hoffentlich auch einer. Die Aufarbeitung der Vergangenheit gerade an den Hochschulen war bitter nötig. Leider bringen es die Deutschen dabei allerdings nicht zur Meisterschaft, wie sich herausstellt. Erstellen und Weiterreichen von schwarzen Listen ohne Wissen der Betroffenen, versehen mit Daten, ist zweifelsohne ein Verstoß gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Wir leben aber in einem Föderalstaat; und, meine Damen und Herren von der PDS/Linke Liste, über diese Vorgänge hat man dann auch im Sächsischen Landtag zu befinden. ({1}) Allerdings könnte von uns eine Empfehlung an den Datenschutzbeauftragten des Sächsischen Landtags gehen, sich mit dem Bundesbeauftragten für Datenschutz in Verbindung zu setzen. Die SPD-Landtagsfraktion hat zu diesem Problem im Landtag bereits zwei Anträge eingebracht, um prüfen zu lassen, ob mit diesem Schreiben des Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst vom 9. November 1992 eine Verletzung des Rechts auf Datenschutz Art. 33 Sächsische Verfassung - und weiterer datenschutzrechtlicher Bestimmungen vorliegt und ob mit diesem Schreiben in unzulässiger Weise in die Arbeit der Hochschulorgane, Berufungs-, Gründungs- und Auswahlkommissionen nach § 11 des Sächsischen Hochschulgesetzes Einfluß genommen worden ist. Außerdem wurde der Verfassungs- und Rechtsausschuß des Landtags ersucht, zu untersuchen, ob das Schreiben des Ministers ein rechtswidriger Eingriff in die Grundrechte der Betroffenen, insbesondere auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht, ist. Bedarfskündigungen sollte man natürlich nicht mit Kündigungen wegen personeller Nichteignung verwechseln. Es ist keine Frage, daß wir Sozialdemokraten mit dem Herunterfahren der ostdeutschen Hochschul- und Forschungslandschaft nicht einverstanden sind. Wir haben uns dazu mehrfach öffentlich geäußert. Die Schicksale unschuldiger hochqualifizierter Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wiegen für uns sehr schwer. Wir haben in vielen Anträgen versucht, das zu ändern. Ich hätte diesen Wissenschaftlern mehr Chancen gewünscht und werde mich weiter für diese einsetzen. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Der nächste Redner ist unser Kollege Dr. Gerhard Päselt.

Dr. Gerhard Päselt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den Hochschulgesetzen des Freistaates Sachsen ist der Verfahrensweg zur Erneuerung der Hochschulen des Landes Sachsen gesetzlich geregelt. Nach diesen Gesetzen ist, wie wir von den Vorrednern erfahren haben, gehandelt worden. Es ist unstrittig, daß belastete Hochschullehrer und Wissenschaftler nicht im öffentlichen Dienst bleiben können. Der sächsische Wissenschaftsminister hat nach Recht und Gesetz den betroffenen Personenkreis auf politische und persönliche Eignung überprüft. Wie meine Kollegen, die daran als Beobachter beteiligt waren, versicherten, sind dort alle Argumente gewichtet worden. Die beiden Listen, in denen die Betroffenen „mangels persönlicher Eignung" geführt wurden, sind sicher nicht zu beanstanden. Ob die Verwendung dieser Listen mit dem Datenschutz zu vereinbaren ist, muß der Datenschutzbeauftragte des Freistaates klären. Daß sich gerade die Nachfolgepartei der SED um die Freiheit von Lehre und Forschung, Berufsfreiheit, Datenschutz und Hochschulautonomie sorgt, ist makaber, hat sie sich doch über 40 Jahre anders verhalten und gerade die obengenannten Tatbestände mit Füßen getreten. Es ist aber nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, daß gerade die Klientel der SED/PDS betroffen ist. Peinlich ist, daß man auch alte Begriffe wie „Berufsverbot" bemüht. Mich berührt im Zusammenhang mit der Hochschulerneuerung eigentlich viel stärker die Tatsache, daß 5 000 integere Wissenschaftler aus finanziellen Gründen die Hochschulen Sachsens verlassen mußten. Hier bin ich mit meiner sozialdemokratischen Kollegin einig. Der sächsische Staatsminister Meyer kann einem leid tun. Als er einen radikalen Bruch an den Hochschulen scheute, da er die Dozenten der politisch unbedenklichen Fächer in ihren Positionen lassen und nur auf politische und fachliche Eignung überprüfen wollte, warf man ihm Blockadepolitik vor. Das Parlament beschloß die Ausschreibung aller Stellen. Auch hier beeilte sich Meyer nach Meinung der Opposition nicht. Man hielt ihm Verzögerung und Unterlaufen der Absichten des Landtags vor. Nachdem er gehandelt hat und ausschließen will - ich betone: ausschließen will -, daß belastete Personen wieder eingestellt werden, schlägt die Kritik um, und Meyer wird als übereifriger Erneuerer gescholten. Beides wird diesem Mann nicht gerecht. Die Schritte von Staatsminister Meyer sind geeignet, das Vertrauen in die sächsischen Hochschulen wiederherzustellen, damit die Freiheit der Hochschulen gesichert wird. ({0}) Zuletzt möchte ich an einem Beispiel darstellen, wie die SED solche Fälle in der Vergangenheit löste. Während meiner Studienzeit 1956 bis 1961 lehrte Professor Brödel in Jena Mathematik. Er hielt den Offiziellen den Spiegel vor. Besonders während der Ungarn-Ereignisse 1956 stellte er sich vor die protestierenden Studenten. Daß nach dem Mauerbau 1961 keine Bleibe an der Uni Jena mehr möglich sein würde, war vielen klar. Zu Semesterbeginn im Herbst 1961 wurde von der Universitätsparteileitung der SED - die SED weiß, welches Machtorgan das an den Hochschulen war - eine Flugblattaktion nach dem Muster „Aktion Ungeziefer" oder „Aktion Klassenfeind" gestartet, ({1}) der Zutritt zur Uni wurde ihm verwehrt, und Brödel wurde abgeschoben. ({2}) Gefragt war in diesem Zusammenhang die Meinung der Genossen bei Schott und Zeiß sowie in den roten Seminargruppen und den roten Fächern. Damals gaben sich die Naturwissenschaftler noch nicht zu solchen Aktionen hin, ({3}) Beispiele solcher Art ließen sich viele, viele, viele angeben. ({4}) - Ich hatte noch studiert, meine Dame. Danke. ({5})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, der Kollege Dr. Gerald Thalheim und die Frau Kollegin Angelika Pfeiffer möchten ihre Reden gern zu Protokoll geben. *) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist so. Dann hat als letzter Redner in der Aktuellen Stunde unser Kollege Parlamentarischer Staatssekretär Torsten Wolfgramm das Wort.

Torsten Wolfgramm (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002557

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Ich würde gern dem Beispiel meines Kollegen Göhner hinsichtlich des letzten Tagesordnungspunktes folgen. Aber es scheint mir, daß ich doch eine kurze grundsätzliche Betrachtung anstellen muß. Die Bundesregierung, Herr Kollege Heuer, kann im Rahmen einer Aktuellen Stunde unmittelbar nur zu Themen Stellung nehmen, die in ihrer Zuständigkeit liegen. Das auf Antrag der PDS/Linke Liste auf die Tagesordnung dieser Aktuellen Stunde gesetzte Thema macht nicht deutlich, welcher in der Verantwortung der Bundesregierung liegende einzelne Sachverhalt angesprochen wird. ({0}) - Die folgenden Ausführungen unterstützen, Frau Kollegin, Ihre Meinung. Das Grundrecht der Berufsfreiheit ist durch Art. 12, das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch Art. 1 und 2 GG, das Grundrecht der Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre durch Art. 5 GG gewährleistet. Die Grundrechte binden nach Art. 1 Abs. 3 GG Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben sind nach dem Art. 30 GG Sache der Länder, soweit das Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zuläßt. *) Anlage 4 Ich könnte das Gesetz zitieren, aber ich will aus Zeitgründen davon absehen. Herr Kollege Professor Dr. Heuer, Sie sind Rechtswissenschaftler; ich rufe Ihnen doch nachdrücklich den Art. 30 und natürlich auch das, was dazu gesagt worden ist, und die einschlägigen Verfassungsurteile ins Gedächtnis. Das heißt also, wenn Rechte tangiert sind, dann sind nach der Gewaltenteilung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland die Gerichte zuständig. Das gilt auch für den Datenschutz. Die Sicherstellung des Datenschutzes im Bereich der öffentlichen Verwaltung der Länder und damit auch der Hochschulen ist also nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes alleinige Angelegenheit der Länder, die hierfür ebenso wie der Bund Datenschutzbeauftragte eingesetzt haben. Das gilt selbstverständlich auch für den gesamten Bereich der Personalverwaltung der Hochschulen. Wenn dort Rechte tangiert sind, dann sind sie Gegenstand der ordentlichen Gerichte. Die Bundesregierung wäre die letzte, die in dieser Frage diese gute Ordnung in unserem föderalen System verändern oder tangieren wird. Ich will das hier nicht im einzelnen noch ausbreiten. Im übrigen ist für den 20. Dezember 1992 im Sächsischen Landtag dazu eine Sitzung angesetzt. Ich meine, es würde der Thematik angemessen gewesen sein, diese Debatte im Landtag politisch zu führen und nicht in einem nicht zuständigen Organ, nämlich im Deutschen Bundestag. Abschließend möchte ich eine vielleicht etwas politische Anmerkung machen. Für den Bundestag und für die Bundesregierung ist es problematisch, wenn sie sich mit Fragen beschäftigen, die vom Verfassungsrecht her überhaupt nicht in ihrem Zuständigkeitsbereich liegen. ({1}) Es wäre aber sicher interessant gewesen - das ist vorhin schon einmal angesprochen worden -, wenn diese Fragen des Datenschutzes und der Hochschulautonomie von dem Rechtsvorgänger Ihrer Partei seinerzeit einmal aufgeworfen worden wären, der damals, wenn ich das recht sehe, die absolute Mehrheit gehabt hat. Es wäre eine interessante Frage gewesen, wie das mit dem Staatssicherheitsdienst und seinen Befugnissen vereinbar gewesen wäre. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Helmuth Becker (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000127

Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 13. Januar 1993, 13 Uhr ein. Ich wünsche Ihnen ein paar geruhsame Tage zu Weihnachten und alles Gute im neuen Jahr. Die Sitzung ist geschlossen.